Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe

978-3-10-041510-3 Roman auf Grundlage der Vermutung, Christopher Marlowe habe als Geheimagent gearbeitet. Es gibt keine harten Beweise für diese Hypothese, aber Marlowes Bekanntschaft mit Agenten des Elisabethanischen Geheimdienst und nicht zuletzt die Anwesenheit Robert Poleys bei seinem Tod stützen entsprechende Spekulationen. Dieter Kühn erfindet die letzten Monate im Leben des Christopher Marlowe dementsprechend: Marlowe wird in Kühns Fiktion zum zweiten Male vom Geheimdienst angeworben und unter falscher Identität nach Paris geschickt. Die dortigen Ereignisse bilden eine nicht sehr originelle und nicht sehr detaillierte Agentenschmonzette, die damit endet, dass Marlowe vom französischen Geheimdienst enttarnt wird, der nun versucht, ihn als Doppelagenten zu instrumentalisieren. Als Marlowe nach England zurückkehrt, wird er in dieser Sache von seinen Arbeitgebern zur Rede gestellt. Marlowe macht den Vorschlag, ihn durch einen fingierten Tod aus dem Verkehr zu ziehen, was als Abschluss des Buches dann auch zu geschehen scheint.

Erzählt wird das ganze nun nicht als traditioneller Thriller, sondern als vorgebliches Aktenkonvolut des englischen Geheimdienstes. Kühn verzichtet zum Glück auf den Versuch, den tatsächlichen Ton irgendeiner Akte irgendeiner Zeit nachzubilden, was den Text aber nur unwesentlich spannender macht. Auch der echt witzige Einfall des Autors, sich selbst als Agent »Writer« in die Akte einzumischen, rettet das Buch nicht. Das ganze ist lahm, konstruiert und bemüht.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 262 Seiten. 18,90 €.

Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück

978-3-480-22544-6 Dritter Band der Herr-Eichhorn-Bücher von Sebastian Meschenmoser, und auch diesmal sind wieder der Igel und der Bär mit von der Partie. Ganz passend zum Ende des zweiten Bandes und zur Jahreszeit erwachen die drei Helden aus dem Winterschlaf in den neuen Frühling. Und während Eichhorn und Bär sich die Bäuche vollschlagen und sich Bewegung verschaffen, war der Igel unten am Teich und – hat sich verliebt! Leider weiß er aber nicht, wie er die schöne Igelin ansprechen soll. Doch Herr Eichhorn weiß Rat, und so ziehen die beiden auf eine echte Aventiure aus, damit der Igel sich Ruhm und Ehre erwerben kann. Wie man sich denken kann, läuft dabei nicht alles so ganz glatt ab; aber ich will hier nicht zu viel verraten.

Der dritte Band ist eine schöne und würdige Fortsetzung der Herr-Eichhorn-Reihe. Alle Freunden und jenen, die es werden wollen, warm ans Herz gelegt.

Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück. Esslingen: Esslinger Verlag, 2009. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 60 Seiten. 9,95 €.

Kafka: Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung

978-3-8321-8102-4 Eine kleine Auswahl von Kafka-Texten, vom einzelnen Satz bis zur knapp 30-seitgen Erzählung. Das Wichtige sind aber weder die Texte selbst (sie folgen der Kritischen Ausgabe bei S. Fischer), noch ihre Zusammenstellung, sondern die Illustrationen von Nikolaus Heidelbach, einem der spannendsten Illustratoren unserer Zeit. Allein für das Blatt zu dem Kafka-Satz »Tanzt ihr Schweine weiter; was habe ich damit zu tun?« lohnt die Anschaffung des Buches!

Frank Kafka: Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung. Ausgewählt und illustriert von Nikolaus Heidelbach. Köln: Dumont, 2009. Leinenrücken, Kunstdruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 120 Seiten. 19,95 €.

Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia

978-3-257-23064-2 Dürrenmatts Auseinandersetzung mit dem Ödipus-Stoff. Der Text entstand zwischen 1974 und 1976 innerhalb des sogenannten Mitmacher-Komplexes, der aus dem Stück Der Mitmacher, einem umfangreichen Nachwort zum Stück und einem Nachwort und einem Nachwort zum Nachwort besteht. Die selbstgestellte Aufgabe der Erzählung besteht darin, den Ödipus aus dem Schicksalhaften ins Zufällige zu übersetzen. Ödipus wird daher nicht Opfer des Ratschlusses der Götter, sondern der delphischen Orakelpriesterin, der Pythia, die, um Ödipus von seinem Aberglauben an die Orakelsprüche zu heilen, ihm eine gänzlich unwahrscheinliche Zukunft voraussagt.

Natürlich erweist sich der Orakelspruch als ein Volltreffer, wenn auch nicht in dem Sinne, wie uns der Ödipus-Mythos durch die Sophokleische Tragödie bekannt ist. Dürrenmatt behandelt im Gegenteil diese klassische Deutung des Mythos als oberflächlichste Variante, der er eine psychologische, eine politische und eine individualistische zur Seite stellt. Das ganze ist sehr überzeugend gemacht und darf wohl als eine der originellsten und intelligentesten Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts mit dem Ödipus-Stoff gelten.

Friedrich Dürrenmatt: Das Sterben der Pythia. In: Der Sturz, Abu Chanifa und Anan ben David, Smithy, Das Sterben der Pythia. detebe 23064. Zürich: Diogenes, 1998. 162 Seiten. 7,90 €.

Denis Johnson: Tree of Smoke

978-0-330-44921-2Merkwürdiger Agenten-Roman um eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Figuren, deren Geschichten mehr oder weniger eng miteinander verbunden sind. Heimliches Zentrum des Buches ist Colonel Francis Xavier Sands, ein Kriegsheld des Zweiten Weltkriegs, der inzwischen für die CIA arbeitet. Was genau er tut, bleibt eher schleierhaft; überhaupt scheint die gesamte Agententätigkeit des Buches unter dem Motto zu stehen: »Unsere Tätigkeit ist so geheim, dass nicht einmal wir wissen, was wir eigentlich tun.« Jedenfalls scheitert das einzige konkrete Projekt des Colonels, die Anwerbung eines Doppelagenten in Vietnam, mustergültig am Widerstand einer anderen US-Geheimdienst-Fraktion. Das dem Buch den Titel gebende Projekt »Tree of Smoke«, womit letzten Endes nichts anderes gemeint ist als die Feuer- bzw. Rauchsäule, die den Israeliten bei ihrem Zug durch die Wüste vorausgezogen sein soll, bleibt jedenfalls vollständig nebulös, ja scheint zeitweise nichts anderes zu sein als ein Hoax, mit dem sich Colonel Sands Geld und Einfluss verschafft.

Das Buch handelt im Wesentlichen in den Jahren 1963 bis 1970 auf den Philippinen und in Vietnam; beschlossen wird es mit einem Sprung in das Jahr 1983, womit der Autor versucht, wenigstens einige seiner Erzählstränge abzuschließen. Das Schicksal des Colonels bleibt auch am Ende des Buches ungeklärt: vielleicht ist er in Vietnam ermordet worden, vielleicht hat er seinen Tod auch nur vorgetäuscht und lebt als Waffenschieber in Thailand. Sein Enkel William »Skip« Sands jedenfalls wird im benachbarten Malaysia als Waffenhändler verurteilt und hingerichtet.

Das Buch hat einen relativ simplen Plot und erscheint ausschließlich aufgrund der einander abwechselnden Erzählstränge komplex. Nachdem man sich einmal daran gewöhnt hat, wird das Buch bald ein wenig langweilig, da sich der Autor über Seiten hinweg weigert, seine Geschichte voranzubringen. Man kann sich dem Eindruck kaum entziehen, dass das Buch für das, was es zu erzählen hat, deutlich zu lang geraten ist. Es kommt hinzu, dass der Autor konsequent jeden Versuch unterlässt, auch nur eine seiner Hauptfiguren mit einer einigermaßen anspruchsvollen Psyche auszustatten. Ersatzweise beschäftigt sich Skip mit der Hinterlassenschaft eines französischen Arztes und stochert in der Anthropologie Georges Batailles herum. Bei anderen Figuren muss statt einer psychischen Ausstattung die Religion oder der Anti-Kommunismus herhalten. Auch was die Geschichte des Vietnam-Krieges oder die Kultur Vietnams angeht, hat das Buch nur wenig anzubieten.

Angesichts eines solchen Befundes bleibt es mir unverständlich, warum ein solcher Hype um das Buch gemacht wurde und warum es den National Book Award 2007 gewonnen hat. Den auf dem Umschlag zitierten Vergleich mit Joseph Hellers Catch-22 hält das Buch jedenfalls nicht aus.

Denis Johnson: Tree of Smoke. London: Picador, 2008. Paperback, 616 Seiten. Ca. 10,– €.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte

978-3-406-58663-7 Der Band entstammt der Reihe der Oxford University Press A Very Short Introduction, aus der hier zuletzt Bände von Leofranc Holford-Strevens und Harry Sidebottom vorgestellt wurden. Nicholas Boyle ist in Deutschland bekannt durch seine großangelegte, bislang aber fragmentarisch gebliebene Goethe-Biografie. Seine Kleine deutsche Literaturgeschichte zielt wohl in der Hauptsache auf Studenten des Blütenfachs Germanistik an englischen und amerikanischen Universitäten. Es ist daher verständlich, dass Boyle einen bedeutenden Teil des Bändchens darauf verwendet, die historischen und sozialen Bedingungen zu vermitteln, unter denen die deutsche Literatur entstand. Dabei werden die Literaturen Österreichs und der Schweiz in kurzen getrennten Kapiteln behandelt, die allein vom Umfang her nur als ungenügend bezeichnet werden können.

Aber auch die im engeren Sinne deutsche Literatur wird in einer so abstrakten und oberflächlichen Weise vorgeführt, dass bezweifelt werden darf, ob das Buch überhaupt jemandem einen angemessenen Eindruck der deutschen Literatur vermittelt. So führt Boyle etwa die wichtigen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, die sich heute in der deutschen Literatur als wirksam zeigen, ausschließlich auf einen Konflikt innerhalb des bürgerlichen Lagers zurück: Hier habe es einen gesellschaftlichen Gegensatz von Staatsbeamten einerseits, die eine rationalistische Aufklärung betrieben hätten, und einer bürgerlich-liberale Aufklärung andererseits gegeben. Eine solche Dichotomie, die als hauptsächliches Erklärungsmuster Boyles bis ins 19. Jahrhundert hinein dienen muss, greift für die komplexe Lage des geistigen Umbruchs im 18. Jahrhundert offenbar zu kurz. Sie negiert, dass sich die Emanzipation des Bürgertums gegen eine höfisch geprägte Kultur mit zahlreichen aufklärerischen Bestrebungen kreuzt und auf diese Weise die unterschiedlichsten Position hervorbringt. Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts etwa als »Demontage der christlichen Heiligen Schriften« zu charakterisieren, beweist ein grundlegendes Unverständnis für bedeutende Teile der deutschen Aufklärung, zu deren Hauptforce neben Lessing auch Kant gehörte. Während sich diese deutschen Aufklärer einem französischen Projekt der Ersetzung des Christentums durch einen Kult der Vernunft gegenübersahen, versuchten sie selbst zu zeigen, dass sich Vernunft und ein Kernbestand an göttlicher Offenbarung nicht widersprachen, sondern als einander ergänzend gelesen werden konnten.

Als ebenso fragwürdig muss der Versuch angesehen werden, die Romantik in eine kritisch-fortschrittliche und eine »preußisch-eskapistische« aufteilen zu wollen. Die Behandlung Tiecks, Hoffmanns und Eichendorffs als Vertreter letzterer Richtung, die auf nicht mehr als 1½ Seiten geschieht, wird weder deren Einzelwerken noch deren Entwicklung innerhalb der Romantik in irgendeiner Weise gerecht.

Da sich Boyle nicht nur der Belletristik widmet, sondern sich immer auch Ausflüge in die Philosophie erlaubt, lässt sich leicht denken, dass man eine Rezension des Bändchen allein mit der Aufzählung all jener Schriftsteller füllen könnte, die Boyle nicht einmal erwähnt. Wenn dem wenigstens eine empathische und sinnvermittelnde Behandlung der erwähnten Werke gegenüberstünde, so wäre dies verzeihlich. Da Boyles Darstellung aber abgehoben und akademisch bleibt, ist das Buch für deutsche Leser überflüssig, und für die englischsprachige Welt ist seine Existenz nur zu bedauern.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München: C. H. Beck, 2009. Pappband, 272 Seiten. 17,90 €.

Fabio Stassi: Die letzte Partie

978-3-0369-5535-3 Ein Schach-Roman, wie die meisten anderen voller Fehler und Schlampigkeiten, weil die wenigsten Schriftsteller Schachspieler sind und noch weniger Schachspieler Schriftsteller. Diesmal dreht es sich um den dritten Schachweltmeister José Raúl Capablanca y Graupera (1888–1942), der den Titel 1921 dem alternden Lasker abgewann und ihn unerwartet schon 1927 an Alexander Aljechin wieder verlor. Den erzählerischen Rahmen des Buches bildet ein fiktiver Wettkampf zwischen Capablanca und einem namenlosen Amerikaner (es kann sich nach Lage der Dinge eigentlich nur um Samuel Reshevsky handeln), der 1941 in einem winzigen Ort in Portugal ausgetragen wird. Der Gewinner des Wettkampfes soll das Recht haben, gegen Aljechin um den Titel des Weltmeisters zu spielen.

Eingefügt in diesen erzählerischen Rahmen ist eine romanhafte Biografie Capablancas. Stassi betont in einer Vorbemerkung zum Buch, sein Held hieße »nur durch Zufall José Capablanca«, was wohl heißen soll, dass das Buch keinen Anspruch macht, zwischen Fiktion und historischer Tatsache zu unterscheiden. So ist es denn auch geworden: Frei erfundene Passagen, offenbare Anekdoten, Gerüchte und konkrete Lebensumstände werden munter miteinander gemischt. Man kann dem mit Vergnügen folgen, man darf es aber auch für gänzlich belanglos halten.

Ärgerlicher sind die in Schach-Erzählungen üblichen Schlampigkeiten, denen auch hier weder Autor noch Übersetzerin entkommen sind:

  • Beim Schach werden keine Notizblöcke verwendet, sondern Notationsformulare;
  • es gibt nichts in der Schachterminologie, das »eine Königsvariante« heißt;
  • der Satz »Unter Zugzwang machte er nie einen Fehler« ist blanker Unsinn, da Zugzwang genau die Situation im Schach bezeichnet, in der der Spieler durch seine Verpflichtung zu ziehen gezwungen ist, einen Fehler zu machen;
  • so etwas wie ein »Simultanschachturnier« existiert zwar, ist aber etwas anderes als die im Buch gemeinte »Simultanveranstaltung«;
  • Schachuhren surren nicht, sie ticken;
  • der Schachspieler Nabokovs heißt auf Deutsch Lushin und nicht Luzin, selbst wenn ihn die Italiener so schreiben sollten;
  • das 8×8-Schachbrett existiert nicht »seit Jahrtausenden«;
  • und auch das Folgende ist nur unfreiwillig komisch:

Wenn man keine groben Fehler beging, entschied sich alles am Schluss.
Nur am Schluss.

Nein, auch wenn man grobe Fehler begeht, entscheidet sich die Schachpartie stets am Schluss, nämlich dann, wenn sie aus ist.

Auch der Versuch, die historischen Rahmenbedingungen darzustellen, macht nur den Dilettantismus des Autors klar: Da weiß einerseits Capablanca bereits im März 1941, dass die Wehrmacht eines Tages in Moskau einmarschieren werde, und andererseits unterhält man sich angeblich 1938 in der Schweiz über die Erfolge Adolf Hitlers »bei den letzten Wahlen«.

Richtig ärgerlich ist aber Gewäsche wie dieses (ich kommentiere den Text fortlaufend in eckigen Klammern):

Die Figuren auf dem Schachbrett bildeten ein merkwürdig verzogenes Muster [eine ungewöhnliche Stellung], das nur schwer zu deuten war. Weiß hatte drei Bauern, einen Turm und beide Läufer und Springer eingebüßt. [Normalerweise sagt man, was noch auf dem Brett ist; die Information, welche Figuren Weiß eingebüßt hat, besagt gar nichts, solange wir nicht wissen, wie es bei Schwarz aussieht.] Wie es zu dieser seltsamen Konstellation gekommen war, wusste sich keiner der Anwesenden zu erklären. [Wahrscheinlich durch abwechselndes Ziehen der beiden Kontrahenten.] Schwarz war am Zug. Mit seinen kleinen Fingern hob José Raúl den Springer und verkündete [sagte] »Schach«, indem er ihn im Schutz des Läufers [gedeckt durch den Läufer] zwischen Dame und Turm platzierte. Der weiße König brachte sich in die letzte Reihe [auf der letzten Reihe] in Sicherheit. José Raúl zog einen der Türme in die Mitte des Spielfelds [ins Zentrum]. Der Unbekannte raubte [schlug] ihm einen Läufer und schöpfte neue Hoffnung. Doch Capablancas Turm wanderte [zog] zum Ende der Reihe [bis auf die Grundlinie? an den Rand?] und bot ein zweites Mal Schach. Der König wich zur Seite aus, wurde aber von der schwarzen Dame angegriffen. Er machte noch einen Schritt. [Mehr als einen Schritt pro Zug kann er wohl auch nicht machen.] Beharrlich zog der schwarze Turm nach. Der weiße Turm stellte sich ihm entgegen [wurde dazwischen gezogen]. José Raúl entwendete [schlug] einen Bauern. Da entfernte die weiße Dame selbstgewiss [es handelt sich um ein Stück Holz oder Elfenbein!] den schwarzen Springer. Dem Unbekannten war das Lächeln ins Gesicht zurückgekehrt, als hätte er nicht mehr einen Bengel von sechs Jahren vor sich, sondern als wäre er kurz davor, Golmayo oder Vázquez zu schlagen. José Raúl platzierte seine Dame ins letzte Feld [wo mag das »letzte Feld« eines Schachbretts sein?] und sagte mit seinem hellen Stimmchen ein viertes Mal: »Schach dem König.« Beruhigt begab sich der König in die Deckung seines Turms [zog der König hinter seinen Turm]. Dreist setzte Jose Raúl ihm seinen Turm vor die Nase und verkündete ein fünftes Mal Schach.

Es geht in diesem Stil noch einen ganzen Absatz weiter bis zum Schachmatt. Der Vorteil eines solchen Stils ist offensichtlich: Dem Nichtschachspieler wird der Eindruck eines wichtigen Geschehens vermittelt, ohne dass man ihm zumutet, wirklich etwas zu verstehen. Würde man ihm ein Diagramm einer konkreten Stellung zeigen und zudem eine konkrete Zugfolge, würde er bald ärgerlich, denn wenn er nach vieler Mühe vielleicht heraus hätte, was das Bildchen und die kryptischen Zeichen sollen, so müsste er feststellen, dass er dem Geschehen immer noch nicht folgen kann, ohne ein Schachbrett aufzubauen, wenn er denn überhaupt eines im Haus hat. Die wenigen Schachspieler, die sich über den poetischen Unfug ärgern, fallen da kaum ins Gewicht. Lesen die überhaupt Romane? – Angesichts des vorliegenden wahrscheinlich besser nicht!

Fabio Stassi: Die letzte Partie. Aus dem Italienischen von Monika Köpfer. Zürich: Kein & Aber, 2009. Pappband, Lesebändchen, 236 Seiten. 19,90 €.

John Updike: Gertrude und Claudius

978-3-570-19528-4 Erzählung der Vorgeschichte des Hamlet Shakespeares von der Hochzeit von Hamlets Eltern bis zum Anschluss an die zweite Szene des ersten Aktes bei Shakespeare. Reizvoll ist die Entscheidung Updikes, kenntlich zu machen, dass er aus drei verschiedenen Quellen schöpft, in dem er in den drei Teilen des Buches die Figuren unter verschiedenen  Namen (Amleth, Hamblet, Hamlet / Gerutha, Geruthe, Gertrude / Horwendil, Horvendile, Hamlet)  auftreten lässt. Damit hört aber die Treue zu den Quellen auch fast schon wieder auf. Wahrscheinlich soll es ein Ausdruck von Ironie gelten, dass alle Handelnden durchweg als Figuren modernen Zuschnitts auftreten. Was im Text allerdings daraus entsteht, ist und war zu allen Zeit Schwulst:

Gerutha erfuhr in diesem Augenblick ein Frauengeheimnis: zu lieben ist ein Vergnügen, das jenem, geliebt zu werden, entspricht, ihm antwortet, wie die Kamine zu beiden Seiten eines Saales einander ihre Wärme entgegenstrahlen. Die Liebe einer Frau ist ein Strömen, das, einmal ausgelöst, nur unter großen Schmerzen zum Versiegen gebracht werden kann. Die des Mannes ist im Vergleich dazu ein jähes Sprudeln. Sie eilte in ihrer schimmernden Nacktheit zum Bett, neben dem, auf einem kleinen Tisch, eine einzelne Kerze brannte, fand auf dem Kopfpolster ihre Nachtmütze, zusammengefaltet wie ein dicker rauher Liebesbrief, und in den Schatten von Horwendils dann und wann donnernden Schlummer geschmiegt, schlief sie ein.
[…]
Horwendil ließ es seither nicht an Tatenlust fehlen, wahrlich nicht, viele Ausrufe des Lobs und des Entzückens kamen ihm über die kundigen Lippen, wenn sie über ihren Leib hinglitten, und seine Stoßkraft entlud sich jedesmal so reichlich, daß er eine Kumme hätte füllen können, aber empfindsame Prinzessin, die sie war, spürte sie etwas Abstraktes in seiner Leidenschaft: sie war ein Ausdruck seiner allgemeinen Vitalität, nicht mehr. Er wäre mit jeder Frau wollüstig gewesen, und natürlich hatte seine Lust einer ganzen Reihe von Frauen gegolten, bevor sie da war.

Dies ist nur ein Beispiel aus dem ersten Teil; der geduldige Leser kann aber in allen Teilen solche missratenen Passagen finden.

Darüber hinaus macht Updikes Buch nur noch eines deutlich: Dass Shakespeares Entscheidung, Hamlet in das Zentrum seines Stücks zu stellen, statt seine Mutter und seinen Onkel, einmal mehr sein Genie unter Beweis stellt. Sowohl die »unglückliche« erste Ehe Gertrudes als auch ihre sexuell erfüllte zweite sind ödes Klischee, von Updike breitgetreten und bis ins Detail ausgeschwätzt. All das kennt man aus hundert anderen Büchern in gleicher Weise und in mehr als einem Dutzend origineller, konziser und präziser. Updike dagegen bleibt in Erfindung und Ausführung trivial.

John Updike: Gertrude und Claudius. Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 269 Seiten. 10,– €.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen

978-3-570-19532-1 Erzählt wird die Geschichte der Stadt Friendship und ihres Sheriffs, Predigers und Totengräbers Jacob Hansen, über die binnen weniger Tage gleich zwei Katastrophen hereinbrechen: Zum einen eine Diphtherie-Epidemie, zum anderen ein verheerendes Großfeuer, das sich aufgrund eines langanhaltenden trockenen Sommers unaufhaltsam ausbreitet. Weder die Zeit noch der Ort der Handlung werden präzise bezeichnet, doch offensichtlich handelt es sich um eine amerikanische Kleinstadt Ende des 19. Jahrhunderts: Der Telegraph ist schon etabliert, aber nicht das Telefon, Jacob Hansen fährt schon Fahrrad, aber es gibt noch keine Autos. Der Leser darf annehmen, dass O’Nan die Handlung absichtlich in die Zeit unmittelbar vor den ersten Erfolgen bei der Bekämpfung der Diphtherie in den 1890er Jahren gelegt hat.

Dabei geht es O’Nan nur in zweiter Linie um die Beschreibung der Folgen einer solchen Epidemie für eine Kleinstadt, sondern in der Hauptsache um die Auswirkungen auf seinen Protagonisten: Jacob Hansen verliert durch die Diphtherie bereits sehr früh im Roman seine kleine Tochter und seine Frau, bleibt aber dennoch bis zum Ende unermüdlich für seine Stadt tätig. Dies gelingt ihm durch eine Ablösung von der Realität des Geschehens, die er erst aufgibt, als das Ende der Stadt unmittelbar bevorsteht. Unterstützt wird die Beschreibung dieser Ablösung durch die durchgehende Verwendung der literarisch sehr seltenen Du-Erzählung: Der Erzähler – dass er mit dem Protagonisten identisch ist, kann nur vermutet werden – spricht den Protagonisten stets mit »Du« an. Diese Sonderform des personalen Erzählens erlaubt es O’Nan, eine deutliche Distanz zwischen Erzähler und Protagonist aufzubauen, ohne dabei auf einen auktorialen Erzähler zurückgreifen zu müssen. In dieser Hinsicht stellt das Buch ein interessantes erzähltechnisches Experiment dar.

Der Originaltitel des Buches A Prayer for the Dying setzt doch einen etwas anderen Ton als das etwas altruistische Das Glück der anderen, das der deutsche Verlag dem Buch aufs Titelblatt gepresst hat. Vielleicht war ihnen der Originaltitel zu negativ für ein  Buch, in dem mehr oder weniger alle Figuren am Ende tot sind. Der Originaltitel weist darauf hin, dass die Katastrophe bei Jacob Hansen auch eine religiöse Krise auslöst. Überhaupt ist die Hauptfigur recht differenziert und vollständig erfunden: Sein Umgang mit den Toten geht bis auf seine Zeit als Soldat im Amerikanischen Bürgerkrieg zurück, aus der auch seine Aversion gegen Pferde – daher das Fahrrad als Fortbewegungsmittel – stammt. Seit langer Zeit von Toten umgeben, sind für ihn die Unterschiede zwischen den Lebenden und den Toten geringer als für einen Alltagsmenschen. Hansens Glaube ist nur ein weiterer Aspekt dieser Verbundenheit des Lebenden mit den Toten.

Alles in allem ein interessanter Roman mit einer außergewöhnlichen, aber überzeugend eingesetzten Erzählperspektive.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 235 Seiten. 10,– €.

Jhumpa Lahiri: The Namesake

978-0-618-48522-2 Geschichte eines aus Calcutta stammenden, in die USA ausgewanderten bengalischen Ehepaars und seiner Kinder, in der Hauptsache des Sohnes Gogol, auf dessen Namen sich der Titel bezieht. Nachdem Gogol als erstes Kind der Gangulis geboren wurde, warten die Eltern auf einen Brief aus Kalkutta, in dem seine Urgroßmutter den Namen für das Kind mitteilt. Doch der Brief geht auf dem Postweg verloren, und da das Kind einen Namen braucht, damit es aus dem Krankenhaus entlassen werden kann, entschließen sich Ashima und Ashoke ihr Kind vorläufig Gogol zu nennen. Da Bengalen sowieso gewöhnlich zwei Namen haben, einen familiären Kosenamen und einen »ordentlichen«, machen sich die Eltern vorerst keine weiteren Gedanken.

Auf Gogol ist Vater Ashoke verfallen, da er selbst ein großer Verehrer Nikolai Gogols ist. An einer Stelle zitiert er den berühmten Ausspruch Dostojewskis: »We all came out of Gogol’s overcoat«, was für The Namesake auf ganz witzige Weise zutrifft, denn auch Der Mantel beginnt bekanntlich mit den Schwierigkeiten, einen Namen für den gerade geborenen Protagonisten zu finden.

Doch ansonsten ist Nikolai Gogol ein Nebenthema. In der Hauptsache dreht sich das Buch um das Nebeneinanderbestehen zweier Kulturen: Während Gogols Eltern versuchen, soweit wie möglich an ihrer bengalischen Kultur festzuhalten, wächst Gogol mehr und mehr in die US-amerikanische hinein. Seine Eltern, deren Freunde, die regelmäßig stattfindenden Reisen nach Kalkutta, das Essen, die Feste – von all dem entfremdet sich Gogol mehr und mehr. Aber der unverhoffte Tod des Vaters wird zu einem wichtigen Wendepunkt in Gogols Lebens.

The Namesake ist ein Entwicklungsroman, dessen Reiz nicht nur aus dem zugrundeliegenden Konflikt zweier Kulturen erwächst, sondern auch aus Lahiris ruhiger und distanzierter Erzählhaltung. Für einen Erstling ist der Roman erstaunlich abgeklärt und ausgewogen. Einzig Gogols Schwester Sonia bleibt als Figur ein wenig blass. Ansonsten eine rundum angenehme und intelligent unterhaltende Lektüre.

Jhumpa Lahiri: The Namesake. Boston, New York: Houghton Mifflin, 2004. Paperback, 291 Seiten. Ca. 10,– €.