P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit

wodehouse-onkeldynamit Erst jetzt bin ich durch einen Hinweis in de.rec.buecher und einen Auszug in der Süddeutschen Zeitung darauf aufmerksam geworden, dass seit einigen Jahren in der Schweiz eine neue Ausgabe der Bücher von P.G. Wodehouse veranstaltet wird. Das ist sehr zu begrüßen, da die alten Übersetzungen von Fred Schmitz wohl ein Haupthindernis für eine größere Popularität von Wodehouse in Deutschland dargestellt haben: Schmitz’ Übersetzungen waren nur bemüht komisch und – und das ist das Entscheidende – trafen den durchgehend ironischen Ton Wodehouses nicht. Es ist daher wundervoll, dass sich nun mit Thomas Schlachter ein Übersetzer der Sache angenommen hat, dem es mit scheinbar leichter Hand gelingt, den deutschen Texten ein den Originalen adäquates Flair zu geben.

In England ist Wodehouse selbstverständlich ein Klassiker der Unterhaltungsliteratur und in zahllosen Ausgaben und Anthologien erhältlich. In Deutschland hingegen scheint er in der Hauptsache durch die TV-Produktion der Geschichten um »Jeeves & Wooster« einige Bekanntheit erlangt zu haben. Es ist also vielleicht nicht ganz falsch, hier wenigstens einige Worte über den Autor zu verlieren: Wodehouse wurde 1881 im englischen Guilford geboren. Sein Vater war zu dieser Zeit Richter in Hongkong, so dass Wodehouse seine Schulzeit in der Hauptsache in Internaten verbrachte und viel seiner Ferienzeit bei seinen Tanten (die wahrscheinlich die Vorlage für die matronenhaften und tyrannischen Tanten Bertie Woosters geliefert haben dürften). Da sich die Familie ein Studium für ihren Sohn nicht leisten konnte, begann Wodehouse seine berufliche Karriere bei einer Bank, wechselte aber schon nach zwei Jahren ins journalistische Fach und landete schließlich als Drehbuch-Autor in Hollywood. Dort verdiente er eine Zeit lang gutes Geld und ließ sich dann in Frankreich nieder. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weigerte er sich beharrlich, die Lage irgendwie ernst zu nehmen und wurde daher von den Deutschen gefangen gesetzt und ein Jahr lang interniert. Anschließend nötigte man ihn, von Berlin aus über den Rundfunk anti-alliierte Propaganda zu verbreiten, was ihm in England viele Sympathien kostete. Nach dem Krieg lebte Wodehouse in New York und wurde 1955 US- amerikanischer Staatsbürger. Wodehouse starb 1975. Sein umfangreiches Werk enthält einige der markantesten englischen Charaktere, wobei viele seiner Figuren in diversen Erzählungen und Romanen auftauchen. Die zahlreichen Serien und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen, würde hier zu weit führen.

Bei Onkel Dynamit, dem Titelhelden des hier vorgestellten Bandes, handelt es sich um Frederick Altamont Cornwallis Twistleton, den 5. Graf von Ickenham, auch schlicht Onkel Fred, wie ihn sein Neffe Reginald »Pongo« Twistleton nennt. Pongo ist verlobt mit Hermione Bostock und hat sich auf den Weg gemacht, die Eltern seiner Braut in Ashenden Manor aufzusuchen, um sich vorzustellen. Unterwegs macht er Station bei seinem Onkel Fred, der gerade seine Gattin zum Schiff in Richtung Karibik gebracht hat, wo sie einer Hochzeit beiwohnen will. Onkel Fred sieht in der Abwesenheit seiner Gattin die günstige Gelegenheit mit seinem Neffen zusammen einmal wieder richtig auf den Putz zu hauen, wovon der – unverständlicherweise – nichts wissen will. Am nächsten Tag macht er sich auf nach Ashenden Manor, wo er binnen Kurzem nicht nur eines der Prunkstück aus der afrikanischen Sammlung seine Schwiegervaters in spe fallen lässt, sondern auch dessen Lieblingsbüste zerstört. In seiner Verzweiflung, wenigstens diesen zweiten Lapsus verbergen zu können, ersetzt er die Büste durch eine andere, die seine ehemalige Verlobte, Sally Painter, bei seinem Onkel zur Aufbewahrung gegeben hat. Natürlich braucht Sally diese Büste genau in diesem Moment dringend zurück und infolge eines missglückten Austauschversuchs entschließt sich Onkel Fred, sich unter falschem Namen in Ashenden Manor einzuquartieren. In seiner herzlichen, offenen und der Wahrheit nur wenig verpflichteten Art gelingt es Onkel Fred in kürzester Zeit ein allgemeines Chaos herzustellen, in dem er aber nicht, wie zu erwarten wäre, untergeht, sondern das er als fröhlich weiter fabulierendes Genie souverän beherrscht. Selbst die größten Katastrophen bringen ihn nicht aus der Ruhe, und so gerät am Ende alles ganz so, wie er sich das von Anfang an ausgemalt hat. Und zwischendurch bleibt noch Zeit für lehrreiche erzähltechnische Reflexionen wie etwa diese:

Kritische Stimmen werden hier anmerken, es sei ein an den Haaren herbeigezogenes und, rein handwerklich betrachtet, höchst unmotiviertes Zusammentreffen, daß in dieser bewegten Nacht sage und schreibe sechs Bewohner von Ashenden Manor unabhängig voneinander auf die Idee kamen, sich in den Salon zu begeben, um dort der Karaffe habhaft zu werden, die Jane, das Stubenmädchen, am Abend hingestellt hatte; andere werden darin lediglich jene Unausweichlichkeit erkennen, die sich in den großen griechischen Tragödien solcher Beliebtheit erfreute. Wie sagte doch Aischylos einmal zu Euripides: »Es geht nichts über die Unausweichlichkeit«, und Euripides antwortete, genau das habe er sich auch schon oft gedacht.

Wie ein Kurat mit Masern, ein in einen Ententeich gestoßener Polizist, ein verliebter, aber schüchterner Brasilien-Forscher und eine rasante Schriftstellerin mit all dem zusammenhängen, ist in wenigen Worten nicht nachzuerzählen und muss von jedem Leser selbst heraus- gefunden werden. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um eine der amüsantesten und zugleich elegantesten Geschichten handelt, die ich seit Langem gelesen habe.

Neben der bereits gelobten Übersetzung, die Wodehouse wohl zum ersten Mal angemessen auf Deutsch präsentiert, soll die Ausstattung der Bändchen nicht unerwähnt bleiben: Sie kommen mit Fadenheftung daher, haben mit 12,5 × 17 cm ein etwas ungewöhnliches, aber nicht unangenehmes Format, ein wundervoll geblümtes Vorsatzpapier und eine sorgfältige Typographie (wenn man einmal von dem unglücklichen Hurenkind auf S. 114 absieht). Auf den populären Unsinn eines Schutzumschlages wird verzichtet, stattdessen liegt der Waschzettel auf ein kleines Pappkärtchen aufgedruckt bei, das man gleich als Lesezeichen verwenden kann. Alles in allem sind die Bändchen eine Freude und dem Inhalt ganz angemessen. Wollen wir hoffen, dass sie recht viele Leser finden und uns noch zahlreiche weitere Bände Wodehouse beschert werden.

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2001. Pappband, Fadenheftung, 303 Seiten. 19,95 €.

Marcus Braun: Armor

braun-armor Dass Marcus Braun stark reduzierte Texte mit erstaunlichem Tiefgang schreibt, hatte er bereits mit seinem bemerkenswerten ersten Roman »Delhi« (Berlin Verlag, 1999) unter Beweis gestellt. Ich muss zugeben, dass ich ihn danach etwas aus den Augen verloren habe; zwar stehen »Nadiana« (Berlin Verlag, 2000) und »Hoch­zeits­vor­be­rei­tun­gen« (Berlin Verlag, 2003) seit dem Erscheinen im Bücherschrank, aber es ist immer wieder »etwas dazwischen gekommen«. Nun ist sein vierter Roman bei Suhrkamp erschienen und erfüllt die Erwartung, die ich an »Delhi« entwickelt hatte.

Braun hat einen äußerst reduzierten Erzählstil (angesichts der deutlichen Anspielungen auf Arno Schmidt, die »Delhi« enthält, dürfte man sicherlich auch von einem »dehydrierten Stil« sprechen, wenn das nicht zu viele Leser abschrecken würde), der wenig Überflüssiges enthält. Schon der Titel ist für diesen Stil bezeichnend: ›Armor‹ ist das, was bei Lewis Carroll ein Portmanteau-Wort heißt. Nicht nur ist es eine Kurzform von ›Aremorica‹, der keltischen Bezeichnung für die Nordwestküste Frankreichs, sondern in ihm steckt auch das lateinische arma (die Waffen, aber übertragen auch der Krieg oder gar die Arglist) und natürlich steckt auch die Liebe und die Leidenschaft, amor, darin.

Es ist dementsprechend nicht überraschend, dass »Armor« wenigstens auf den ersten Blick eine Liebesgeschichte erzählt, die in der Bretagne spielt. Protagonist ist Fabien, der mit Kate von Paris aus ans Meer unterwegs ist. Zwischen Saint-Malo und Cancale zerschlägt ihnen ein Stein die Windschutzscheibe ihres roten Alfa Romeo und sie kommen bei einer Zufallsbekanntschaft, Isabelle und ihrem sehr viel älteren Mann Jacques, unter. Da die einzige lokale Auto-Werkstatt nicht in der Lage ist, kurzfristig eine neue Frontscheibe zu besorgen, sehen sich Fabien und Kate genötigt, einige Zeit bei Jacques und Isabelle zu logieren. Jacques war früher Architekt und ist beim Bau eines Gezeitenkraftwerks reich genug geworden, um sich zur Ruhe zu setzen. Seine Frau Isabelle war zuerst die Geliebte seines Sohnes Arnaud, der vor einem Jahr beim Schwimmen ertrunken ist.

Was sich nun zwischen diesen vier Personen an zwi­schen­mensch­li­cher Dynamik entwickelt, könnte ohne weiteres als Vorlage eines Chabrol- Films dienen: Jacques, der weder den Tod seines Sohnes verarbeitet hat, noch Isabelles Unabhängigkeit oder seine eigene Untätigkeit so recht zu ertragen vermag, versucht ganz offensichtlich, Kate zu verführen, während Fabien zwischen seiner Begierde nach Isabelle (und Marie, aber das kann hier nicht auch noch dargestellt werden) und seiner Eifersucht hin- und hergerissen wird. Beinahe kann er Kate zur Abreise überreden, als er bei einem nächtlichen Badeausflug in einen Seeigel tritt, was weitere Verzögerungen und Verwicklungen mit sich bringt. Am Ende versorgt Braun den Leser gleich mit zwei Abschlüssen der Geschichte, wovon aber hier nichts weiter verraten werden soll.

All dies wird, wie schon gesagt, in einer kargen und durchtrainierten Prosa präsentiert, die mit Details geizt und den Leser zur aktiven Rekonstruktion des Geschehens zwingt. Man könnte hier den Verdacht haben, der Autor pflege einen artistischen Manierismus, aber diese Erzählweise ist tiefer begründet, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Bereits auf der Motto-Seite des Romans erscheint ein Zitat des Heiligen St. Malo (hier auch mit seinem keltischen Namen Maklou angeführt), der heute als nahezu komplett verschollen gelten darf. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass das Buch weit reicher unterfüttert ist, als es die beinahe banal anmutende Kri­mi­nal­hand­lung vermuten lässt: So ist Jacques etwa durch zahlreiche Details mit der Figur des Freibeuters Robert Surcouf, eines der berühmtesten Söhne der Stadt St. Malo, assoziiert. Sein wohl nicht ganz legal erworbener Reichtum, sein früher Rückzug ins Privatleben und nicht zuletzt sein an einen verwinkelten Fuchsbau gemahnendes Haus (Surcoufs letztes Schiff trug den Namen »Le Renard«, der Fuchs) sind einige der Anknüpfungspunkte für eine Verbindung der Figuren. Es kann hier nur vermutet werden, dass sich auch für die anderen Figuren derartige Verwurzelungen in der Geschichte Saint-Malos oder der Bretagne finden lassen. Nun ist aber gerade Brauns karge Prosa bestens dazu geeignet, solche Assoziationsfelder im Text hervortreten zu lassen, ohne dass sie den Erzählfluss oder die Oberflächenhandlung stören. Es ist wahrscheinlich nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass Braun bei Arno Schmidt nicht nur erfolgreich in die Schule gegangen, sondern auch mit einem eigenständigen Stil und Assoziationsfundus aus dieser Schule hervorgegangen ist.

Es wird abzuwarten bleiben, ob Marcus Braun sich mit dieser reduzierten und zugleich anspruchsvollen Prosa ein adäquates Publikum erobern kann. Für mich gehört er derzeit zu den artistisch interessantesten deutschsprachigen Autoren, auch wenn ich mit dem »Krimi«-Anteil dieses Buches nicht allzu viel anfangen kann.

Marcus Braun: Armor. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Pappband, 187 Seiten. 17,80 €.

Roger Paulin: Theodor Storm

Um Storm scheint es derzeit etwas ruhig zu sein: Außer der veralteten Rowohlt-Bildmonographie von Hartmut Vincon ist derzeit wohl keine Storms Leben vollständig beschreibende Biographie auf dem Markt. Die beiden letzten stammen, soweit ich sehe, von Georg Bollenbeck (Insel, 1988; demnächst in diesem Theater) und eben Roger Paulin, der innerhalb der Reihe der Beck’schen Autorenbücher ein Storm-Porträt abliefert.

Wie bei der Reihe üblich, ist das Buch zugleich Kurzbiographie und Werkeinführung und zielt auf eine studentische Leserschaft ab, die sich schnell einen Überblick zu einem Autor verschaffen will. Diesem Anspruch genügt das Buch vorbildlich. Paulin ist offensichtlich ein exzellenter Kenner Storms und findet bei der Besprechung ein ausgewogenes Verhältnis von Prosa und Lyrik – er schließt sich übrigens Storms Selbsteinschätzung an, einer der bedeutendsten Lyriker des 19. Jahrhunderts zu sein. Er geht bei der Erschließung der Werke von der Autorenpoetik aus und setzt Storms Dichtung von den zeitgenössischen Hauptströmungen ab, ohne sie dabei in die Kategorie Heimatdichtung abzuschieben. Auch persönliche und ökonomische Bedingungen der Produktion werden knapp, aber treffsicher thematisiert. Angesichts des derzeitigen Mangels an Biographischem zu Storm ist es trotz seinem nicht unbeträchtlichen Alter zu bedauern, dass dieses Buch von Beck nicht weiter aufgelegt worden ist.

Roger Paulin: Theodor Storm. Beck’sche Reihe 622. München: Beck, 1992. 144 Seiten.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch

buecherlesebuchDer Titel Bücherlesebuch ist etwas unspezifisch; im Mittelpunkt dieses Buchs steht der Gedanke, wie eine private Bibliothek aufzubauen wäre. Zwar werden auch öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken behandelt, auch dem Bibliographienwesen wird ein wenig Raum gewidmet, aber der Hauptteil des Buches besteht aus Empfehlungen zur europäischen Literatur, ergänzt um einige kurze Abschnitte zu Fachbereichen wie Philosophie, Geschichte, Jura, Naturwissenschaften, Kunst und einigen anderen. Sogar für ein Musikarchiv als Ergänzung der Bibliothek wird plädiert.

Die Stärke des Buches liegt in Günthers ganz subjektivem Ansatz, der um seine eigene Perspektive weiß, weder das deutliche Urteil scheut, noch glaubt, damit sei die Sache erledigt: »Man lege seiner Neugier keine Zügel an …« [S. 131], ist wahrscheinlich der Satz, der den Geist des Buches am besten zusammenfasst. Erfrischend ist es, etwa solche Einschätzungen zu lesen:

Was Thomas Mann betrifft, so nehme man einmal eine Seite aus dem Tod in Venedig und lege sie neben eine aus Goethes Wahlverwandtschaften und prüfe, wer schreiben kann. Er hat ja seine Verdienste, aber man lasse sich doch nicht einreden, daß ein Dokument des deutschen Zusammenbruchs wie der Doktor Faustus ein Meisterwerk sei. Er hat auf das Trauma mit einer opportunistischen Geschichtsdeutung reagiert, die dem gebildeten Philister ein Verhängnis mundgerecht vorlegt. [S. 102]

Das ist unfraglich ungerecht, aber eben von einer subjektiven Ungerechtigkeit, die aus einem Überblick heraus gewonnen ist und die Dinge in Relation zu setzen versteht. Solch klärende Subjektivität ist im Gespräch von Leser zu Leser – wohlgemerkt nicht unter Literaturwissenschaftlern, denn die sind einer höheren Objektivität verpflichtet, ohne sie in den meisten Fällen zu erreichen – meist nützlicher als abwägende Versuche, allem gerecht zu werden.

Kernstück ist eine sehr knapp gehaltene Geschichte der europäischen Literaturtradition beginnend beim Gilgamesch-Epos und endend im 20. Jahrhundert. Günthers Empfehlungen sind nicht überraschend und können sicher in ähnlicher Zusammenstellung an zahlreichen Stellen gefunden werden. Auch hier ist es der persönliche Zugriff Günthers, seine eigene Lesegeschichte, die das Buch aus der Masse heraushebt. Hier spricht – ich habe es schon gesagt – ein Leser zu Lesern, ohne Dünkel und auf gleicher Augenhöhe.

Günther behandelt sein breites Thema in kurzen, prägnanten Abschnitten, die es auch erlauben, im Buch zu blättern, kursorisch zu lesen, sich das eine anzueignen und das andere zu ignorieren. Eine kurzweilige und anregende Lektüre für alle leidenschaftlichen Leser und solche, die es erst noch werden wollen.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln: von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will. Wagenbach Taschenbuch 200. Berlin: Klaus Wagenbach, 1992. 166 Seiten. 8,50 €.

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf

braun-litgeschEine etwas andere Literaturgeschichte will Peter Braun mit diesem Buch liefern. Es wendet sich offensichtlich an jugendliche Leser, deren Sympathien Braun im Vorwort dadurch zu gewinnen sucht, dass er feststellt, er selbst erinnere sich an keine einzige seiner Schullektüren, habe dann aber später das Lesen für sich entdeckt usw. usf. Diese Misere sei durch eine falsche Präsentation der Literatur in den Schulen zu verantworten, und seine andere Literaturgeschichte erzähle nun die spannenden Geschichten über die Autoren klassischer Werke, die in Brauns Schulausbildung nie erwähnt wurden.

So weit, so gehöft. Man kann eine solche Theorie natürlich vertreten, und ob sie viel besser oder schlechter als irgendeine andere das Phänomen beschreibt, dass die Schule aus den wenigsten Schülern gute Leser macht, mag dahingestellt bleiben. Merkwürdigerweise fehlen ähnliche Klagen über den Mathematik-Unterricht beinahe vollständig, obwohl sicherlich noch deutlich weniger gute Mathematiker aus diesem Unterricht hervorgehen als gute Leser aus dem Deutsch-Unterricht. Lassen wir das auf sich beruhen.

Brauns Ansatz ist nach diesem Auftakt berauschend unoriginell. Auch er tut nichts als das, was ein guter Deutsch-Unterricht auch tun sollte: Er stellt Autoren und behandelte Werke in den Zeithorizont ein, erzählt, warum diese Bücher für die Zeitgenossen spannend waren und was die behandelten Texte vor anderen ihrer Zeit auszeichnet. Er bedient sich dabei einer lockeren Schreibe, von der ich mir durchaus vorstellen kann, dass Jugendliche damit ganz gut zurecht kommen. Ich schlage das Buch auf und lese:

Heine war aus dem geistig engen, miefigen Deutschland nach Paris gezogen. Von dort aus schrieb er gegen die gesellschaftliche Eiszeit in Deutschland an, das in der politischen Winterstarre verharrte, die Heine zeit seines Lebens nicht ruhen ließ. »Denk ich an Deutschland in der Nacht«, schrieb er in Deutschland. Ein Wintermärchen, »dann bin ich um den Schlaf gebracht.« Der Titel passte zu diesem bedeutendsten Werk Heinrich Heines. [S. 90]

Nein, das schrieb Heine nicht in Deutschland. Ein Wintermärchen, sondern im Gedicht Nachtgedanken, und selbstverständlich haben diese Zeilen auch gar nichts mit der politischen Opposition Heines gegen das bürgerliche Deutschland zu tun – auch wenn sie immer und immer wieder in diesem Zusammenhang zitiert werden von all denen, die Heine im Munde führen, aber nicht in den Köpfen haben –, sondern die Nachtgedanken des Gedichtes drehen sich um die Mutter, die in Deutschland lebt und die der Dichter seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat.

Deutschland hat ewigen Bestand,
Es ist ein kerngesundes Land;
Mit seinen Eichen, seinen Linden,
Werd ich es immer wiederfinden.

Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Ob nun tatsächlich Deutschland. Ein Wintermärchen Heines bedeutendstes Werk ist, mag immerhin Geschmackssache sein und soll daher nicht diskutiert werden. Doch beginnen wir mit dem Lesen vorn:

Kriegszeiten sind Notzeiten, und weil Lessing sich durchschlagen musste, wurde er Schreiber eines Generals. Die eintönigen Feldlager aber ließen ihm die Freiheit zu schreiben – und zu spielen. [S. 22]

Das ist ja verständlich: Siebenjähriger Krieg, Lessing Sekretär – nicht Schreiber; das war ein gänzlich anderer Beruf – bei einem General, da wird es wohl ein Leben in Feldlagern gewesen sein. Nun war Bogislaw von Tauentzien zwar preußischer General, aber er war wesentlich auch Stadtkommandant von Breslau, und die Belagerung Breslaus durch Gideon Ernst von Laudon im Sommer 1760 war längst vorüber, als Lessing in Breslau erscheint. Von Feldlager kann also keine Rede sein. Nun könnte man über Lessings Breslauer Zeit die spannende Geschichte von dem Verdacht erzählen, dass Lessing vielleicht in die illegalen Münzgeschäfte des Generals von Tauentzien verwickelt war, aber dazu müsste man sich eben auskennen. Doch vielleicht hat Braun ja wenigstens einige Kenntnise des Werks:

Tellheim will die Verlobung lösen, um Minna nicht ins Unglück zu stürzen. Minna greift zur List: Sie sei enterbt, weil sie zu ihm halte. Der redliche Tellheim borgt sich Geld, löst den Verlobungsring aus, den sie verpfändet hat, will Minna beistehen und heiraten. [S. 24]

Wie belieben? Minna hat einen Verlobungsring verpfändet, den Tellheim dann auslöst? Da hätte ein Blick ins Buch auch nicht geschadet. Lesen wir weiter bei Goethe:

Überall und ständig wurde von nun an geflucht, ob im Alltag oder an den Höfen, und so auch am Weimarer Hof, dessen Herzog gerade erst achtzehn geworden war, als er Goethe zu sich einlud, weil er vom Götz begeistert war.

»In Weimar geht es erschrecklich zu. Der Herzog läuft mit Goethe wie ein wilder Bursche auf den Dörfern herum, er besauft sich und genießet brüderlich einerlei Mädchen mit ihm.« Um den jungen Herzog zu zerstreuen, veranstaltete Goethe Feste, Jagden, lagerte mit ihm im Wald, badete mit ihm in eiskalten Bächen und wurde dafür belohnt.

Das geklitterte Zitat über die Weimarer Zustände stammt aus einem Brief von Johann Heinrich Voß an seine Verlobte Ernestine Boie vom 14. Juli 1776. Voß sitzt zu diesem Zeitpunkt in Wandsbek und unterhält seine Briefpartnerin mit dem neuesten literarischen Klatsch. Er selbst weiß gar nichts über die Lage in Weimar, sondern reproduziert – wie die meisten anderen auch – nur die vom erzürnten Weimarer Adel gestreuten Gerüchte, die Goethe diskreditieren sollen. Verlässlicher ist da ein Wort Wielands über diese frühe Zeit Goethes in Weimar:

[…] Göthe, dessen große Kunst von jeher darin bestand, die Convenienzen mit Füssen zu treten, und doch dabei immer klug um sich zu sehn, wie weit ers gerade überal wagen dürfe. [zu Böttiger, 19. Januar 1797]

»Das sieht schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.« – Und Goethe ist also Weimarer Minister geworden zum Dank für die Feste und Jagden, die er organisiert hat? Wie schrieb Herzog Karl August von Sachsen-Weimar in dieser Sache an seinen ersten Minister Jakob Friedrich von Fritsch:

Sie fordern … Ihre Dienstentlassung, weil, sagen Sie, Sie nicht länger in einem Collegio, wovon der Dr. Goethe ein Mitglied ist, sitzen können. Dieser Grund sollte eigentlich nicht hinlänglich sein, Ihnen diesen Entschluß fassen zu machen. Wäre der Dr. Goethe ein Mann eines zweideutigen Charakters, würde ein jeder Ihren Entschluß billigen. Goethe aber ist rechtschaffen, von einem außerordentlich guten und fühlbaren Herzen. Nicht alleine ich, sondern einsichtsvolle Männer wünschen mir Glück, diesen Mann zu besitzen. Sein Kopf und Genie ist bekannt. Sie werden selbst einsehen, daß ein Mann wie dieser nicht würde die langweilige und mechanische Arbeit, in einem Landescollegio von unten auf zu dienen, aushalten. Einem Mann von Genie nicht an den Ort gebrauchen, wo er seine außerordentlichen Talente nicht gebrauchen kann, heißt, denselben mißbrauchen … Was das Urteil der Welt betrifft, welche mißbilligen würde, daß ich den Dr. Goethe in mein wichtigstes Collegium setzte, ohne daß er zuvor weder Amtmann, Professor, Kammer- oder Regierungsrat war, dieses verändert gar nichts. Die Welt urteilt nach Vorurteilen, ich aber und jeder, der seine Pflicht tun will, arbeitet nicht, um Ruhm u erlangen, sondern um sich vor Gott und seinen eignen Gewissen rechtfertigen zu können, und suchet auch ohne den Beifall der Welt zu handeln. [10. Mai 1776; Hervorhebung nicht im Original.]

Und so geht das fort und fort bei Braun: Goethe »entledigt« sich Schillers, indem er ihm eine Professur in Jena verschafft [S. 45] – wo Braun wohl meint, dass Jena liegt? »Mit Schillers Tod war das Jahrzehnt der Weimarer Klassik zu Ende. Der Bund Goethes und Schillers war schon weit früher zerbrochen.« [S. 54]

Feine Damen […] träumten sich fort zu den Inseln der Südsee, weil der ausgesetzte Matrose Alexander Selkirk von seinem einsamen Eiland gerettet worden war und Daniel Defoe sein Schicksal in Robinson Crusoe bekannt gemacht hatte. [S. 74]

Die Südsee-Begeisterung des 18. Jahrhunderts wurde also durch Defoes Roman ausgelöst und nicht durch die märchenhaften Berichte von den Reisen Bougainvilles und Cooks? Und der Vorwurf, Defoe habe im Robinson Crusoe in der Hauptsache aus Selkirks Tagebuch abgeschrieben, wird durch sein ehrwürdiges Alter auch nicht richtiger. Was Wunder, dass da E. T. A. Hoffmanns Märchen einmal mehr »Der goldene Topf« [S. 75] und Kleists Theaterstück »Der zerbrochene Krug« [S. 60] heißen. Ich will es gut sein lassen.

Über den titelgebenden Taugenichts stehen drei nichtssagende Sätze in dem Buch – und so ist auch der Rest! Peter Braun hat wenig Ahnung, wovon er schreibt. Alles ist viertelsgewusst und halbverdaut, und es ist ein Armutszeugnis für unseren Umgang mit Literatur, dass ein solcher Käse gedruckt und positiv besprochen werden kann.

Von einer Verbreitung dieses Buches ist dringend abzuraten!

Peter Braun: Von Taugenichts bis Steppenwolf. Eine etwas andere Literaturgeschichte. Bloomsburry Kinderbücher & Jugendbücher. Berlin: Berlin Verlag, 2006. Pappband, 224 Seiten. 14,90 €.

August von Goethe: Reisetagebücher

AvG-Berlin Im kleinen Goethejahr 2007 hat der Aufbau Verlag das Reisetagebuch der ersten großen Reise August von Goethes nach Potsdam, Berlin, Dessau, Torgau und Dresden veröffentlicht. Die Reise fand zwischen dem 4. Mai und dem 27. Juni 1819 statt. August von Goethe reiste zusammen mit seiner Gemahlin Ottilie, die auf der Reise in der Hauptsache gedachte, ihre Verwandten zu besuchen. Für August war die Reise vom Vater als kleine Bildungsreise gedacht, aber August sollte auch für den Vater die Augen und Ohren offen halten, fleißig Bericht erstatten und schließlich zahlreiche Kontakte pflegen, die der Vater persönlich nicht aufsuchen konnte oder wollte.

Besonders in Berlin werden Ottilie und August denn auch entsprechend behandelt: Neben den verwandten, die Ottilie täglich aufsucht, um mit ihnen Zeit zu verbringen, kommen die beiden zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, werden bei Gelegenheit eines Festes beim Fürsten Radziwill sogar dem König vorgestellt und allseits liebenswürdig und äußerst erfreut aufgenommen. Man redet viel mit ihnen über den Vater. In der übrigen Zeit erledigt August ein umfangreiches Besichtigungsprogramm, schreibt Berichte nach Weimar, die er aus dem regelmäßig geführten Tagebuch extrahiert. Des öfteren verweist er darauf, dass er später mündlich genaueren Bericht zu geben gedenkt; auch hierfür sollte das Tagebuch als Gedächtnisstütze dienen.

Besonders im letzten Abschnitt der Reise verändert sich deren Charakter: Dresden besucht man hauptsächlich mit touristischen Ambitionen. Hier sind keine Visiten zu erledigen und August und Ottilie unternehmen die meisten Besichtigungen und Ausflüge gemeinsam, so auch einen dreitägigen Ausflug in die Sächsischen Schweiz, den man in Begleitung mehrerer Reisebekanntschaften genießt. Gerade für Dresden empfiehlt der Vater denn auch ausdrücklich, sich Zeit zu nehmen, da dort »die Kunstwerke aller Art […] näher beysammen stehen als irgendwo und auf einem echten Grund und Boden«. Er erwirkt daher dem Sohn auch eine Verlängerung seines Urlaubs um acht Tage.

Die Herausgeberin Gabriele Radecke, die sich um August von Goethe schon mit der Mitherausgeberschaft des Italien-Tagebuchs und dem Neudruck von Wilhelm Bodes »Goethes Sohn« verdient gemacht hat, vereint in dem vorliegenden Band das eigentlich Tagebuch mit den Briefen Augusts an Goethe. Hinzukommen Briefe des Vaters an August, zahlreiche weitere Briefe von und an Ottilie von Goethe sowie einige wenige Schreiben von Reisebekanntschaften, die sich im Anschluss direkt an Johann Wolfgang von Goethe wenden. All dies ist so gut es geht in eine chronologische Ordnung gebracht. Zwar ergeben sich dadurch notwendig Doppelungen des Berichteten, was aber – da die Briefe zumeist eine geraffte Fassung des Tagebuchtextes liefern – nicht wirklich stört. Alle Texte sind nach den Handschriften ediert, wobei man nur dort behutsam in die Texte eingegriffen hat, wo es dem Leser beim Verständnis der Lektüre hilft. Der Band ist ausführlich und – wie immer bei Gabriele Radecke – kompetent kommentiert. Es ist auf jeden Fall zu empfehlen, die Anmerkungen parallel zum Text zu verfolgen.

Durch das breit gewählte Umfeld an Briefen von Bekannten und Verwandten gewinnt das Buch deutlich, denn gerade in die Zeit der Reise des jungen Ehepaars fällt die Finanzkrise der Familie Johanna Schopenhauers, die durch den Konkurs des Danziger Bankhauses Muhl mit dem Verlust eines Großteils ihres Vermögens bedroht ist. Adele von Schopenhauer und Ottilie von Goethe sind langjährige, innigste Freundinnen, und so erfahren wir aus Adeles überschwänglichen Briefen von der Aufregung und den immer wieder wechselnden Reiseplänen der Schopenhauers, die sich am Ende doch entschließen, nach Danzig zu fahren.

Insgesamt bietet das Buch einen lebendigen und facettenreichen Ausschnitt der Goethezeit. Man muss der Herausgeberin sicherlich nicht folgen, wenn sie bereits in den berichten und Briefen von dieser Reise die spätere Zerrüttung der Ehe der jungen Goethes wahrnehmen will. Auch erscheint mir der andeutungsweise Versuch, Ottilie aufgrund ihres während der Reise chronischen Hustens in einer Art Opferrolle zu sehen, ein wenig überspannt. Aber das geschieht aus der Rückschau vom Ende dieser Ehe her natürlich leicht. Im Großen und Ganzen erscheinen Ottilie und August im Jahr 1819 noch als ein weitgehend »normales« bürgerliches Ehepaar; sicherlich keine Ehe, die im Himmel gestiftet wurde, aber auch keine, die geeignet scheint, mehr als das alltägliche Maß an Unglück hervorzubringen.

Eine angenehme und für denjenigen, der am frühen 19. Jahrhundert ein literarisches oder historisches Interesse hat, gewinnbringende Lektüre. Für Goethe-Kenner und solche, die es werden wollen, ohnehin ein Muss. Der einzige Wermutstropfen ist, dass hier einmal mehr Überlegungen der Verkaufbarkeit über die Ansprüche an Qualität gesiegt haben: Ein solches Buch, von dem zu erwarten ist, dass es für lange Zeit die einzige Ausgabe bleibt, hat einen Leineneinband und Fadenheftung verdient, auch wenn das den Verkaufspreis steigern sollte.

August von Goethe: »Wir waren sehr heiter«. Reisetagebuch 1819. Hg. v. Gabriele Radecke. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, Lese- bändchen, 334 Seiten. 24,95 €.

sternchen

AvG-Italien Das für die Einschätzung der Person August von Goethes sicherlich wichtigere zweite Tagebuch der Reise nach Italien erschien bereits im letzten großen Goethejahr 1999. Es ist umfangreicher und zugleich konzentrierter, da August von dieser Reise seine Tagebuchblätter direkt nach Weimar schickt und nicht zusätzlich darauf fußende Briefe verfasst. Auch hier hat August von Goethe eine Vorstufe in Form von Notizen auf einzelne Blättern geschrieben, was aber nichts daran ändert, dass in diesem Fall die Tagebuchtexte weitgehend für sich allein stehen.

Diese Reise begann am 22. April 1830 und endete bekanntlich mit dem Tod August von Goethes an einem Schlaganfall in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober desselben Jahres in Rom. Diesmal reist August unter deutlich anderen Vorzeichen: Er befindet sich sowohl privat als auch gesundheitlich in einer schweren Krise. Seine Ehe ist offenbar zerrüttet, seine Gesundheit seit längerer Zeit angegriffen. Der Aufbruch aus Weimar kommt einer Flucht gleich: Eigentlich wollten Johann Peter Eckermann und August von Goethe erst am 1. Mai aufbrechen, aber August hällt die Anspannung in Weimar nicht länger aus und drängt Eckermann kurzentschlossen zum verfrühten Aufbruch: »Leben Sie alle wohl ich kann nicht mehr.« (AvG an die Familie Gille am 21. April 1830.) Es ist schwer einzuschätzen, inwieweit August von Goethe seinen gesundheitlichen Zustand hypochondrisch übertreibt, aber er schreibt am 13. Mai aus Mailand in seinem ersten Brief an seine Gattin:

Ich bin nun 150 Meilen weit von Dir entfernt und will Dir doch auch ein vertrauliches Wort zukommen lassen, welches Dir meinen Zustand klar machen soll. Ich ging wirklich so krank aus Weimar daß ich nicht glaubte Frankfurth lebendig zu erreichen, durch die Anstrengung in den letzten 8 Tagen hatten sich alle eine Uebel so gesteigert, daß ich in einem verzweiflungsvollen Zustand den Postwagen bestieg, wie es aber Gott immer mit dem Menschen gut meint so schickte er mir auch hier einen Trost: es war ein gewisser Docter Wapritz Regiments-Arzt beim 1t Garde Regiment in Berlin, welcher nach Paris reißte, ein sehr gebildeter und zugl. lustiger Mann. Ich dachte wenn dir also etwas zustößt so hast du doch ärztliche Hülfe und das gab mir neuen Muth. Bis Frankfurth kam ich also obgleich sehr angegriffen und ohne kaum etwas genossen zu haben denn sogar das Kauen wurde mir beinahe unmöglich schlucken konnte ich auch kaum. Meine Füße waren mir an den Fußsohlen so wund geworden daß ich kaum von der Post in den Gasthoff forthinken konnte und so mußte ich denn in Frankfurth 4 Tage liegen bleiben.

Zumindest subjektiv empfand sich August also zu diesem Zeitpunkt als todkrank. Italien aber lässt ihn aufleben: »alle Systeme kommen ins Gleichgewicht und ich habe die bischen Hoffnung ohne Arzney ganz hergestellt zu werden«. Dies sollte sich letztlich als Trug erweisen.

Auch in Italien ist August im Auftrag des Vaters unterwegs. Das Tagebuch ist direkt an ihn gerichtet und auf die Reiseroute hat Johann Wolfgang von Goethe starken Einfluss genommen. Aber auch so ist sich August in jedem Moment klar, dass er in Stellvertretung reist: Er stellt seine Zeit und seine Wahrnehmung in den Dienst des Vaters und statt in Italien das zu tun, was für ihn am Dringlichsten wäre – sich zu erholen und Abstand zu seiner privaten Misere zu finden –, arbeitet er sich am Auftrag seines Vaters ab.

Und so wie er bis an den Fuß des Vesuv den väterlichen Signalen folgt, zielt auch eine seiner Hauptbeschäftigungen, der Erwerb von Münzen, Medaillen und anderen Kunstgegenständen. auf den kontinuierlichen Ausbau des Bestands der väterlichen Sammlungen. Noch in der Ferne ist August Kustos und Agent des Sammlers und der Seinigen. [Aus dem Nachwort der Hg., S. 286.]

Nicht zuletzt ist es auch sein Alkoholismus, der ihm keine Chance gelassen hat: August lehrte täglich mehrere Flaschen Wein, ein Getränk, an das er bereits von früh an gewöhnt war. August Kestner – der Sohn Charlotte Buffs –, der August von Goethe in seinen letzten Tagen ein Freund war und auch die traurige Pflicht auf sich nahm, den Vater in Weimar zu verständigen und für die Beisetzung auf dem Fremdenfriedhof bei der Pyramide des Cestius Sorge zu tragen, berichtet von Augusts auffallender Trunksucht, ohne dass der davon wirklich trunken geworden wäre. Die Autopsie August von Goethes ergab jedenfalls eine krankhaft vergrößerte Leber und krankhafte Veränderungen des Gehirns, so dass das Urteil der Ärzte lautete, August hätte ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben gehabt.

Gerade angesichts der italienische Reise darf man vielleicht die Frage stellen, wie man einem solchen Menschen gerecht werden könnte, außer vielleicht dadurch, dass man zwar seine Existenz zur Kenntnis nähme, ihn aber ansonsten in Ruhe ließe, wie das ja auch bei den Kindern anderer Berühmtheiten hier und da gelingt. Es ist leicht zu urteilen, August von Goethe habe ein verfehltes Leben gehabt; viel schwieriger aber ist es anzugeben, wohin dieses Leben denn hätte zielen sollen, um nicht zu verfehlen, und ob eine solch ganz andere Richtung unter den gegebenen Bedingungen denn überhaupt einzuschlagen gewesen wäre. August von Goethe jedenfalls ist es nicht gelungen, an dem Platz, auf den er gestellt wurde, zu sich selbst zu finden – mag sein, es hat letztlich nur die Zeit dazu gefehlt, mag auch sein, die übermächtige Vaterfigur (die gerade in diesem Fall nicht mit der Privatperson Goethe verwechselt werden sollte) hat dazu keine Chance gelassen. August von Goethe bleibt jedenfalls auch heute noch ein offen am Tage liegendes Rätsel, dem alles Geheimnisvolle zu fehlen scheint.

Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht eben da die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich aufschwingt oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?

Auch dieses Buch ist nach den Handschriften gedruckt. Auf den ersten Blick scheinen die glättenden Eingriffe in den Text geringer zu sein, was aber auch daran liegen kann, dass sich Augusts legasthenische Neigungen mit den Jahren und der Alkoholkrankheit verschlimmert haben. Der Anmerkungsteil ist hier sparsamer gehalten, genügt aber wohl den Ansprüchen der meisten Leser.

August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830. Hg. v. Andreas Beyer und Gabriele Radecke. München: Hanser, 1999. Leinen, Fadenheftung, 335 Seiten. 23,50 €.

Wilhelm Bode: Goethes Sohn

bode-AvG Auf meinem Schreibtisch liegt gerade der Band August von Goethe: »Wir waren sehr heiter«. Reisetagebuch 1819, zu dem hier in Kürze eine Rezension zu lesen sein wird. Das Buch ist herausgegeben von Gabriele Radecke, was mich daran erinnerte, dass ich im Jahr 2002 – also lange vor Beginn dieses Blogs – die ebenfalls von ihr herausgegebene Biographie August von Goethes aus der Feder Wilhelm Bodes gelesen und für die Goethe-Mailingliste rezensiert hatte. Ich erlaube mir, diesen Text überarbeitet und gekürzt hier noch einmal herzusetzen.

Wilhelm Bode (1862-1922) war wahrscheinlich der populärste Goethe-Forscher der vorletzten Jahrhundertwende. Immer dankbar wird die Forschung ihm für die drei Bände Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen 1749-1832 sein. Zuletzt wurde diese wichtige Sammlung im Goethejahr 1999 aufgelegt, aber auch diese Neuauflage ist inzwischen nurmehr antiquarisch zu bekommen; sehr schade. Bode hat überraschend wieder einigermaßen Konjunktur; so erschien ebenfalls im Goethejahr 1999 eine Neuauflage von »Goethes Liebesleben«, und schließlich die vorliegende Biographie Augusts von Goethes aus dem Jahr 1918, die sich zurecht dessen erste wirkliche Biographie nennt.

Es bleibt allerdings rätselhaft, warum sich der Aufbau Verlag dazu entschlossen hat, dieses Buch neu zu drucken. Es ist in weiten Teilen überholt, im Stil oft schwülstig und im Umgang mit dem Verbiographierten zum Teil unerträglich gönnerhaft. Zu seinem Vorteil muß gesagt werden, dass Bode an zwei Stellen umfangreiche Originalquellen von Augusts Hand zitiert, die sehr reizvoll zu lesen sind.

Den sachlichen Mängeln hat man versucht dadurch aufzuhelfen, dass man dem Buch einen umfangreichen Anhang beigegeben hat. Darin finden sich nicht nur dankenswerter Weise die Nachweise der Zitate – eine Seltenheit in der Goetheliteratur, die in weiten Teilen nur Daten gibt – und ein Personenverzeichnis mit kurzen einordnenden Kommentaren, sondern auch ein fast 40 Seiten starker Einzelstellen-Kommentar, der die Fehler und Ungenauigkeiten Bodes bereinigt. Allerdings fördert dies nicht gerade den Lesegenuss, da man gezwungen wird, stets vorn und hinten im Buch gleichzeitig zu lesen. Dieser Anhang hat der Herausgeberin viel Arbeit gemacht, aber es bleibt unverständlich, warum sie ihre unbestrittene Sachkenntnis nicht besser dazu genutzt hat, eine eigene Biographie August von Goethes vorzulegen, die dem Forschungsstand entspricht, statt dass ein Buch wieder in Verkehr gebracht wird, das höchstens noch historisch-dokumentarischen Wert hat.

Wilhelm Bode: Goethes Sohn. Aufbau Taschenbuch 1829. Berlin, 2002. 488 Seiten. 12,– €.

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Vorzuziehen ist als Biographie immer noch das Buch von Werner Völker: Der Sohn August von Goethe (Frankfurt/M. u. Leipzig: Insel, 1992), das aber auch nur antiquarisch greifbar ist. Völker hat eine deutlich angenehmere Diktion, versucht, auf gleiche Augenhöhe mit August zu kommen, und ist in den Details deutlich zuverlässiger als der unkorrigierte Bode.

Ergänzend zu den Biographien sollte in jedem Fall hinzutreten: August von Goethe: Auf einer Reise nach Süden. Tagebuch 1830 (Hg. Andreas Beyer u. Gabriele Radecke. München: Hanser, 1999). Es handelt sich um das von Goethe bei seinem Sohn in Auftrag gegebene Reisetagebuch von dessen Italienreise, von der er bekanntlich nicht zurückgekehrt ist, ergänzt um die Briefe Augusts nach Weimar aus derselben Zeit. All dies wird hier zum ersten Mal nach den Handschriften gedruckt, was dem Leser einen sehr unmittelbaren Eindruck gibt. Mehr dazu in der bald folgenden Rezension des Reisetagebuchs von 1819.

Nikolaus Heidelbach: Königin Gisela

heidelbach-gisela Nikolaus Heidelbach ist ein Meister des stillen Humors. Sein Bilderbuch »Königin Gisela« erzählt die Geschichte eines Mädchens, das mit seinem Vater allein am Meer Urlaub macht. Eigentlich kein besonderer Urlaub: Die beiden schwimmen, liegen auf einem Floß in der Sonne und essen abends im Hotel-Resaturant. Aber vor dem Einschlafen erzählt der Vater immer noch eine Episode der Geschichte von Königin Gisela: Gisela ist ein reiches Mädchen, das ohne Eltern eine Luxuskreuzfahrt um die Welt unternimmt.

Nur kam sie nicht so weit wie sie dachte, sondern viel weiter.

Gisela erleidet nämlich Schiffbruch und wird als einizge Überlebende auf einer Insel angetrieben, auf der sprechende Erdmännchen leben – eines spricht sogar Französisch. Gisela bekommt immer nur acht der Erdmännchen zugleich zu sehen und glaubt daher, es seien auch nicht mehr. Anfangs ist Gisela nur ein wenig verwöhnt und kommandiert gern herum, aber weil sie sich langweilt, macht sie die gastfreundlichen Erdmännchen langsam zu Untertanen und will sich zum Schluss gar zur Königin krönen lassen. Wie das ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten!

»Königin Gisela« ist eine kleine politische Fabel, ohne sich zu überheben. Brillant wird das Buch durch die Illustrationen Heidelbachs, der die kurze Erzählung in seiner unnachahmlichen Manier bebildert. Allein das Doppelblatt, das die acht Erdmännchen beim »Hofdienst« zeigt, ist umwerfend.

Ein wunderbares kleines Buch, besonders auch für etwas verwöhnte junge Damen zur »moralischen Warnung« geeignet.

Nikolaus Heidelbach: Königin Gisela. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2006. Fadenheftung, 32 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. 14,90 €.

François-René de Chateaubriand: Erinnerungen …

chateaubriand Ein Band aus der kleinen und feinen Bibliotheca Anna Amalia, die die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Wiedereröffnung der Anna-Amalien-Bibliothek zu Weimar am 24. Oktober 2007 herausgibt. Die Reihe umfasst ein Dutzend historische Ausgaben und ist – im Gegensatz zu den zurzeit gängigen Buchreihen von Zeitungen und Zeitschriften – gut ausgestattet: Schuber, geprägter Leineneinband, Fadenheftung und Lesebändchen sind Grundausstattung; hinzukommen eine großzügige Typographie und zwei Nachworte: eines, das Autor und Text in den kulturhistorischen Kontext einstellt und eines, das die reproduzierte Ausgabe und ihre Geschichte dokumentiert. All das schlägt sich natürlich auch im Preis nieder: Im Abonnement kostet die komplette Reihe immerhin 248 €; allerdings geht von jedem Buch 1 € als Spende an die Anna-Amalien- Bibliothek.

Zudem soll lobend erwähnt werden, dass die Reihe auf die sogenannte behutsame Modernisierung der Rechtschreibung unter Wahrung des Lautstandes verzichtet, sondern die Texte so darbietet, wie sie in ihrer Zeit gedruckt wurden. Von einheitlicher Orthographie – dieser Wahnvorstellung des 20. Jahrhunderts, von der wir uns zum Glück inzwischen unfreiwillig wieder entfernen – kann also keine Rede sein. Das stört beim Lesen auch gar nicht, ganz im Gegensatz zu dem, was manche immer wieder behaupten mögen.

Der hier besprochene Band enthält Auszüge aus den Memoiren Chateaubriands, die 1816, dem Zeitpunkt des Erscheinens dieser Auswahl, noch lange nicht abgeschlossen waren. Chateaubriand war ein für seine Zeit weitgereister Mann, so dass ein Großteil seiner Erinnerungen zugleich Reisebeschreibungen waren – ein Genre, das sich in der zweiten Hälfte des 18. und im ganzen 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Grundlage der deutschen Ausgabe war eine 1815 in London erschienene zweibändige Auswahl, von der der Leipziger Verleger Brockhaus in seiner französischen Dependance den ersten Band nachdrucken ließ. Noch im selben Jahr erschien dann bei Hilscher in Dresden die deutsche Übersetzung durch Wilhelm Adolf Lindau, der sich als Übersetzer etwa Walter Scotts einen Namen gemacht hatte. Dies blieb bis 1829 die einzige deutsche Ausgabe aus den Memoiren Chateaubriands. (Diese Informationen stammen im Wesentlichen alle aus dem Nachwort von Jan Volker Röhnert.)

Wie schon der Titel »Erinnerungen aus Italien, England und Amerika« besagt, hat der Band drei lokale Schwerpunkt: Im Italien- Teil geht es hauptsächlich um Rom – das sehr belehrt beschrieben wird – und Neapel, wobei hier eine Besteigung des Vesuv inklusive einem Einstieg in der Krater den Höhepunkt bildet. Abschließend werden anlässlich des Mont Blanc einige nicht unwitzige Beobachtungen über die Alpen vorgebracht, von denen hier bei nächster Gelegenheit eine Probe zu lesen sein wird.

England kommt weit weniger lokalisiert vor als vielmehr in einem allgemeinen kulturellen Vergleich mit Frankreich. Hier ist ohne Zweifel die Polemik gegen Shakespeare ein Glanzlicht, da auch Chateaubriands polemisches Unverständnis aufscheinen lässt, wie bedeutend das Ansehen Shakespeares zu seiner Zeit auch in Frankreich gewesen sein muss. Die nachfolgenden Betrachtungen über Young langweilen dagegen heute wohl eher und sind höchstens wegen der verwendeten Kategorien des Literaturgeschmacks noch von einiger Relevanz.

Der Amerika-Teil ist eher anekdotisch und – wenn man nicht sentimentalische Landschaftsschilderungen schätzt – unerheblich. Er schließt mit einem ausführlichen Referat aus Mackenzies Reiseberichten, das für die französischen Leser damals interessant gewesen sein mag, heutige Leser aber eher ermüdet.

Insgesamt ein hübsch gemachtes Buch, sowohl als leichte Nebenbei- Lektüre als auch als Geschenk durchaus zu empfehlen.

François-René de Chateaubriand: Erinnerungen aus Italien, England und Amerika. Aus dem Französischen von Wilhelm Adolf Lindau. Nachdruck der Ausgabe Dresden: Hilscher, 1816. Bibliotheca Anna Amalia. München: Süddeutsche Zeitung, 2007. Leinen, Fadenheftung, 164 Seiten, Lesebändchen. 19,90 €.

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P. S.: Vielleicht ist es sinnvoll, hier auch auf eine vollständigere Ausgabe der Chateaubriandschen Erinnerungen hinzuweisen: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und als Reisender 1768-1800. Neubearb., hrsg. u. Nachw. v. Brigitte Sändig. Neuried: ars una, 1994. Kartoniert, 376 Seiten. 43,50 €. – Auch dies ist, soweit ich sehe, nur eine Auswahl, aber zurzeit die einzige lieferbare deutschsprachige Alternative zum zuvor besprochenen Band.

Ein Peter-Weiss-Revival?

Jens-Fietje Dwars beginnt sein Buch »Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie« mit einer traurigen, aber nichtsdestoweniger richtigen Einschätzung der Bekanntheit und Beliebtheit von Peter Weiss: »In den vergangenen fünfzehn Jahren der ›Wiedervereinigung‹ war kein deutscher Autor von Rang weniger präsent als Peter Weiss.« [S. 10] Er überschreibt das einleitende Kapitel, in dem dieser Satz steht, allerdings auch mit der Zeile »Ein Unzeitgemäßer kehrt zurück«. Das ist Ausdruck dessen, wovon der Titel dieser Biographie spricht: Hoffnung. Vielleicht sogar der Hoffnung, dass sein Buch mit zu dieser Rückkehr beitragen wird. Wenigstens dies dürfte sich als illusorisch erweisen.

Das soll nicht heißen, dass diese Biographie schlecht ist; sie ist es nicht. Lesbar geschrieben, von einem persönlichen Zugang zum Autor und seinen Texten getragen, ist dieses Buch eine gute und umfassende Einführung in das Werk von Peter Weiss. Eine wirkliche Biographie ist es nicht; dafür kommen die genaueren zeitlichen, sozialen und persönlichen Umstände des Lebens von Peter Weiss besonders in der zweiten Hälfte zu sehr am Rande vor. Aber eine gute Einführung ins Werk ist es. Es ist auch ein Buch, in dem man nicht nur den Autor Peter Weiss kennenlernt, als der er berühmt geworden ist, sondern auch den Maler, als der er angefangen hat, und den Filmemacher, der er wurde, bevor er als Schriftsteller seinen Durchbruch hatte. Dwars widmet sich genauso gründlich und eingehend der »romantischen« Phase im Werk, wie er später die politische darstellt. Er wird Weiss in der einen ebenso gerecht wie in der anderen, und auch der Übergang von der einen zur anderen leuchtet uns nach der Lektüre wenigstens halbwegs ein. Dwars schreibt auch keine Hagiographie seines Autors:

Weiss hat sich das dreibändige Kapital ins Reisegepäck gelegt, als er im Sommer 1965 mit seiner Frau für ein paar Wochen nach Italien fuhr. In Bibione bei Venedig machten sie mit Hans Werner Richter Ferien. Der erzählt, wie verbissen der Lernbegierige in der sengenden Sonne über den fast tausend Seiten des ersten Bandes saß, von denen er nach drei Tagen zehn gelesen hatte. Dann ließ er das Buch im Hotel, wurde beim Baden von einem giftigen Fisch gestochen und laborierte den Rest des Urlaubs an Sonnenbrand. [S. 179 f.]

Alles, was Dwars schreibt, ist brav, richtig und fleißig. Aber es wird Peter Weiss und sein Werk nicht retten, wird zu keiner Renaissance der Weiss-Lektüre, zu keiner Wiederaufführung seiner Stücke – von denen, alles in allem betrachtet, vielleicht noch »Der Turm« (von dem mir bis heute unbegreiflich ist, warum es nicht viel bekannter ist) als merkwürdiges Pendant zu Wedekinds »Frühlingserwachen« und »Marat/Sade« als echtes Theaterfest Chancen auf eine Wiedererweckung hätten –, zu keiner Neuauflage, geschweige denn Erweiterung seiner Werkausgabe führen. Weiss wird vergessen bleiben aus denselben Gründen, warum er berühmt geworden ist: Weil man ihn nicht verstanden hat! Vielleicht sogar, weil er sich selbst so schlecht verstanden hat. Weil er dort auf Inhalte pochte, wo er seiner künstlerischen Kraft, der Eigenart seiner Sprache hätte vertrauen sollen. Weil er vielfach nur als ideologischer Teil einer politischen Bewegung wahrgenommen worden ist – und sich selbst auch so begriffen hat –, was den unverstellten Blick auf sein Werk bis heute behindert.

Es kommt eine Selbstdeutung des Autors hinzu, die zu einem weiteren Mißverständnis geführt hat, das auch Dwars mit seiner Darstellung bestärkt: Peter Weiss’ Prosa sei in der Hauptsache autobiographisch. So arbeitet sich Dwars immer wieder an der Feststellung ab, die »Wirklichkeit« – was auch immer das in der Biographie eines Autors ist – sei gar nicht so gewesen, wie Weiss es in »Abschied von den Eltern« oder »Fluchtpunkt« darstelle. Nun, deshalb steht ja auch »Erzählung« bzw. »Roman« als Gattungsbezeichnung unter den Titeln. Selbst bei der »Ästhetik des Widerstandes« wirft Dwars zusammen mit dem Autor erneut die fatale Frage auf, ob es sich bei dem Roman um den Entwurf einer »Wunschbiographie« handele:

Ein Wunschbild, sagen die Kritiker des Romans seit 25 Jahren, der nur eine »Wunschautobiographie« sei. So hatte Weiss den ersten Band selbst 1975 im Gespräch bezeichnet: als Experiment, wie sein Werdegang verlaufen wäre, wenn er in proletarischem Milieu begonnen hätte. Der Bürgersohn dichtet sich eine Arbeitervita an und versucht, seinen versäumten Antifaschismus nachträglich wiedergutzumachen, das ließe sich unter Schizophrenie verbuchen. [S. 257]

Viel schlimmer: Das verstellt den Blick auf das Werk und macht es zugleich beliebig. Wenn es nicht gelingt – und es wird nicht gelingen – Peter Weiss als Schriftsteller für die Leser zurückzugewinnen, wird ihm das gleiche Schicksal widerfahren, wie so vielen anderen »Autoren von Rang« – denn das ist Weiss unbestritten –: Sie werden im kleinen Kreis der Liebhaber und Spezialisten gelesen werden, auch die germanistische Forschung wird sie nicht gänzlich vergessen, aber »präsent« werden sie nicht wieder werden. Aber das muss nicht unbedingt ein schlechtes Schicksal für einen Autor sein; wenn wir ehrlich sind, ergeht es z. B. Jean Paul auch nicht viel anders …

Als Biographie zu lückenhaft, als Einführung ins Werk aber sehr zu empfehlen! Auf eine Rettung von Peter Weiss für unsere Zeit müssen wir aber leider wohl noch warten.

Jens-Fietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, 302 Seiten. 24,95 €.