Ian McEwan: Abbitte

mcewan_abbitteWhat a book! Ian McEwan war mir bislang nur dem Namen und einigen Titeln nach geläufig, und ich will gleich vorweg betonen, dass mich die Dichte und Intensität dieses Buches überwältigt haben! »Abbitte« ist ein gewaltiges Buch, ein Buch der Reflexion, der Introspektion, der erlebten Rede. Die wenigen Figuren, die im Fokus stehen, sind von einer Einprägsamkeit und Schlüssigkeit, wie man sie nur selten findet. Die sparsame Handlung ist der Figurenpsychologie deutlich nachgeordnet, obwohl es gerade die ausgefeilte Anfangskonstellation ist, die die differenzierte psychologische Darstellung fundiert und überhaupt erst ermöglicht.

Der Roman ist in drei Teile und einen Epilog gegliedert: Der erste Teil erzählt von einem einzigen Sommertag des Jahres 1935 auf dem Schloss der Familie Tallis. Anwesend sind außer der Hausherrin Emily Tallis ihre beiden Töchter Cecilia und Briony, 23 und 13 Jahre alt, Robbie Turner, der vom Hausherrn geförderte Sohn einer Bediensteten, sowie die Nichte Lola und zwei Neffen der Hausherrin. Im Laufe des Tages kommt noch Cecilias und Brionys Bruder Leon hinzu, der als Gast einen jungen, erfolgreichen Unternehmer, Paul Marshall, mitbringt. Der Hausherr befindet sich in London, wo ihn seine beruflichen Pflichten in einem Ministerium und eine Geliebte festhalten.

Die eigentliche Handlung des ersten Teils, der etwa die Hälfte des Romans umfasst, zusammenzufassen, fällt schwer, da er überaus reich an Perspektivwechseln und Mißverständnissen ist. Er ist in 13 Abschnitte gegliedert, die jeweils aus einer wechselnden personalen Perspektive erzählt sind. Wesentlich ist, dass sich an diesem Tag aus der Kinder- und Jugendfreundschaft zwischen Cecilia und Robbie eine leidenschaftliche Liebe entwickelt, was aufgrund einer Reihe von Zufällen, Mißverständnissen und Fehlleistungen in Briony den Eindruck wachruft, bei Robbie Turner handele es sich um einen »Psychopathen«, ohne dass sie eine genaue Vorstellung davon hat, was das bedeuten soll. Dieses Vorurteil, dessen Entstehung skrupulös nachgezeichnet wird, führt sie dazu, Robbie wenige Stunden später der Vergewaltigung ihrer Kusine Lola zu bezichtigen, obwohl sie sich schon zu diesem Zeitpunkt darüber im Klaren ist, dass sie den Täter im Dunkel der Nacht nicht wirklich erkannt hat.

Teil zwei spielt etwa fünf Jahre später: Robbie Turner ist nach dreieinhalb Jahren im Gefängnis in die Armee entlassen worden und befindet sich zusammen mit zwei Unteroffizieren auf der Flucht vor den deutschen Truppen Richtung Dünkirchen. Er ist verletzt, trägt einen Schrapnellsplitter in sich herum. Wir erfahren, dass sich Cecilia von ihrer Familie getrennt hat, in der Zeit, in der Robbie im Gefängnis war, Krankenschwester geworden ist und auf Robbies Rückkehr nach England wartet. Auch ihre Schwester Briony, die eigentlich Schriftstellerin hatte werden wollen, ist inzwischen in der Ausbildung zur Krankenschwester, und wir lesen in einem Brief Cecilias an Robbie, dass sich Briony inzwischen bewusst ist, was ihre Aussage angerichtet hat und sie sich auch sicher ist, wer der tatsächliche Vergewaltiger Lolas war. Der Abschnitt enthält eine intensive Schilderung der Flucht Robbies unter wiederholten Angriffen der deutschen Luftwaffe. Robbie und seine Begleiter erreichen zwar Dünkirchen, aber der Bericht wird zunehmend von den Fieberphantasien Robbies überlagert und bricht ab, bevor wir erfahren, ob Robbie lebend ausgeschifft wurde.

Teil drei berichtet über annähernd denselben Zeitraum wie Teil zwei, diesmal aus Brionys Sicht: Sie ist als Lehrschwester in einem Londoner Krankenhaus beschäftigt und muss die erste Welle verletzter Soldaten, die aus Frankreich herüberkommen, versorgen. Es sind diese Erfahrungen, die Briony endgültig erwachsen werden lassen und sie dazu bringen, sich der Verantwortung für ihre Lüge zu stellen. Am nächsten freien Tag besucht sie die Hochzeit ihrer Kusine Lola mit Paul Marshall und sucht anschließend ihre Schwester auf, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen hat. Dort findet sie auch Robbie vor, der ihr aufträgt, ihre Eltern von ihrer Lüge in Kenntnis zu setzen, sie auch vor einem Notar zu bezeugen und ihm einen Brief zu schreiben, in dem sie ausführlich die Umstände schildert, die zu ihrer Lüge geführt haben. Nicht versöhnt, aber doch einander wieder angenähert, trennen sich Cecilia, Robbie und Briony auf dem Londoner U-Bahnhof Balham. Der Abschnitt schließt mit der Unterschrift:

BT
London 1999

Die weiteren Überraschungen, die der Epilog noch bereit hält, sollen hier nicht verraten werden.

Sowohl die intensiven Beschreibungen der Kriegsschrecken als auch die Figurenpsychologie zeichnen dieses Buch aus. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor so klare und zugleich detaillierte und stimmig entwickelte psychologische Portraits gleich mehrerer Figuren gelesen zu haben. Ohne Frage eines der letzten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts!

Ian McEwan: Abbitte. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2002. Lizenzausgabe für die SPIEGEL-Edition: Hamburg, 2006. Pappband, 507 Seiten. 9,90 €.

Volker Hage: John Updike

hage_updikeUpdike gehört zu jenen nordamerikanischen Autoren, die über die Jahre auch eine treue deutsche Leserschaft erworben haben. Seit dem Weltbestseller »Ehepaare« (»Couples«, 1968, dt. 1969) ist das Erscheinen eines Romanes von Updike auch in Deutschland ein wichtiges literarisches Ereignis. Updike ist mit einer bewundernswerten Produktivität und Kontinuität gesegnet und hat weit mehr als das von ihm zu Anfang seiner Karriere angestrebte Soll von einem Buch pro Jahr vorgelegt. Etwa alle zwei Jahre erscheint ein umfangreicher Roman und man ist schon sehr beschäftigt, wenn man auch nur als Leser mit Updikes Produktion Schritt halten will.

Volker Hage hat seit 1983 sechs umfangreiche Interviews mit John Updike geführt und kann wohl als einer der deutschen Kenner des Werks bezeichnet werden. Mit diesem Band legt er die erste deutsche Biographie Updikes überhaupt vor, dessen Romane komplett, dessen Erzählungen weitgehend und dessen Essays und Gedichte wenigstens in Auswahl auf Deutsch vorliegen. Da das äußere Leben Updikes nicht so sehr abwechslungsreich verlaufen ist, ist das schmale Bändchen zugleich eine Einführung in das Werk, die die Romane (inklusive des 2006 erschienenen Buchs »Terrorist«) und die wichtigsten Erzählungen in den Mittelpunkt stellt.

Hage geht mit Updike insgesamt sehr freundlich um, selbst an den Stellen, an denen er seine Bücher offensichtlich nicht besonders goutiert: So fällt etwa die Besprechung von »Terrorist« ungewöhnlich distanziert aus, zugleich lobt Hage an dem Buch aber, was er nur loben kann. Eine solche Herangehensweise ist für eine so kurze und zugleich konkurrenzlose Biographie sicherlich angemessen.

Allerdings handelt es sich bei dem Büchlein in anderer Hinsicht um eine Mogelpackung: Umfang, Layout und Aufbau des Bandes machen ihn zu einem typischen Vertreter der »rororo Monographien«. Nun scheint man bei Rowohlt schließlich doch bemerkt zu haben, dass man sonst über keine Biographie des Hausautors Updike verfügt, und so hat man sich entschlossen, den Band durch einen festen Pappeinband und einen Schutzumschlag aufzuwerten. Diese »Zusatzausstattung« lässt man sich vom Käufer mit einem satten Aufschlag honorieren: Mit 16,90 € kostet das Buch beinahe das Doppelte eines Bandes der Monographien-Reihe. Die Verantwortlichen des Rowohlt-Verlages mögen sich einmal das Preis-Leistungs-Verhältnis der Reihe »dtv portrait« anschauen, die zwar nur mit einem Softcover, dafür aber mit Fadenheftung ausgestattet ist – und das zum selben Preis wie die »rororo Monographien«.

Das Buch kann uneingeschränkt zur Einführung empfohlen werden, macht aber zugleich das Fehlen einer umfangreichen und kritischen Updike-Biographie spürbar.

Volker Hage: John Updike. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt, 2007. Pappband, 159 Seiten. 16,90 €.

Ein guter Jahrgang / Ein gutes Jahr

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»Ein guter Jahrgang« von Peter Mayle ist ein seichter, routiniert geschriebener Unterhaltungsroman über den Londoner Börsenmakler Max Skinner, der, gerade als er seinen Job hingeworfen hat, erfährt, dass sein Onkel Henry verstorben ist und ihm ein Weingut in der Provence vermacht hat. Da er sowieso nichts Besseres zu tun hat, fährt er nach St. Pons im Luberon, um sich anzuschauen, ob sich das Gut gewinnbringend verkaufen lässt. Die weitere Handlung ist ebenso beliebig wie unerheblich: Ein wenig Verbrechen, ein bißchen Liebesgeschichte, eine uneheliche Tochter Henrys usw. usf. Ein Buch zum Zeitvertreib, das auch nicht viel länger als einen Sommertag hält.

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Entstanden ist die Idee zu diesem Buch aus einem Gespräch zwischen Ridley Scott und Peter Mayle (beide in der Provence ansässige Engländer, Nachbarn und Freunde) auf der Silversterfeier Mayles im Jahr 2002 über die Erfahrungen, die ein Engländer in Frankreich so machen kann. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Scott nur wenige Monate nach Erscheinen des Romans in der Provence frei nach der Buchvorlage einen Film gedreht hat: »Ein gutes Jahr«. Der Film ist hochkarätig besetzt (Russell Crowe, Albert Finney, Didier Bourdon), ansonsten aber ebenso seicht und routiniert wie das Buch. Das Drehbuch hat erheblich in die Romanvorlage eingegriffen, insbesondere die Frauengestalten sind weit weniger eindimensional und blass als bei Mayle. Ein ganz netter Film, der einmal mehr zeigt, dass Ridley Scotts Filme vom Licht her konzipiert sind und nicht von der Handlung.

Peter Mayle: Ein guter Jahrgang. Aus dem Englischen von Ursula Bischoff. München: Blessing, 2004. Pappband, 288 Seiten. 18,– €.

Ein gutes Jahr. Ridley Scott, USA, 2006. DVD (Region 2), 20th Century Fox. Länge: ca. 113 Minuten. Sprachen: Deutsch und Englisch. Extras: Kommentar (inkl. Making-of) von Regisseur und Drehbuch-Autor. FSK: o. Altersbeschr. Preis: ca. 18,– €.

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

mulischAngesichts des bevorstehenden 80. Geburtstags von Harry Mulisch habe ich mich entschlossen, endlich einen seiner Romane zu lesen: »Die Entdeckung des Himmels« hat es immerhin auf Platz 25 der ZDF-Liste der Lieblingsbücher der Deutschen geschafft, noch vor »Die Entdeckung der Langsamkeit« und »Die unerträgliche Seichtigkeit des Leims«. Aber wer weiß schon, ob das ein ausreichendes Qualitätskriterium ist.

»Die Entdeckung des Himmels« spielt auf zwei Ebenen: Zum einen im jüdisch-christlichen und eventuell auch moslemischen Himmel, wo sich zwei offenbar geistige Potenzen über ein geheimnisvolles Projekt unterhalten, »das Retournieren des Testimoniums« [S. 416]. Der überwiegende Teil des Textes handelt aber in ganz irdischen Verhältnissen: Erzählt wird die Geschichte von drei bzw. vier Personen: Onno Quist, Sohn eines ehemaligen Ministerpräsidenten der Niederlande und während der meisten Zeit Berufspolitiker, Max Delius, Sohn eines ehemaligen Kriegsverbrechers und einer Jüdin, von Beruf Astronom, sowie Ada Brons, Tochter eines Antiquars und Cello-Spielerin. Hinzukommt ihr mutmaßlich durch direktes himmliches Eingreifen zu dritt gezeugter Sohn Quinten (wegen des ⅔-Frequenzverhältnisses der Quinte so benannt), der sich als Erfüller eines himmlischen Auftrags erweisen wird.

Bevor es aber auf den letzten etwa 200 von gut 800 Seiten dazu kommt, müssen erst einmal die Eltern aufeinandergehetzt werden, unter Verwirrungen nach Kuba reisen, um dort das Kind zu zeugen, in einem Unwetter einen Unfall erleiden, bei dem Ada von der mutmaßlichen Mutter zu einer komatösen Gebärerin reduziert wird, Onno Politiker und anschließend Einsiedler, Max von einem Meteoriten erschlagen werden und Quinten umständlichst aufwachsen und sich schließlich auf die Suche nach seinem untergetauchten Vater machen, den er dann auch zufällig in Rom trifft.

Danach dreht der Roman vollständig durch: Quinten identifiziert in Rom die Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateran aufgrund wüster Spekulationen als Lagerort der echten mosaischen Steintafeln mit den zehn Geboten. Quinten und Onno finden und rauben diese Tafeln in einer nächtlichen Aktion und bringen sie nach Jerusalem, wo sich Quinten in einem von innen verschlossenen Zimmer und die Tafel in einem verschlossenen Safe in Nichts auflösen – natürlich kehren sie in die himmlischen Gefilde zurück, von wo aus das Ganze mit englischer List inszeniert wurde.

Sehen wir von dem hanebüchenen Ende des Romans einmal ab und befreien wir ihn damit zugleich von dem himmlischen Drahtzieher, so ist das Buch in Teilen ein ganz angängiger und interessanter Roman. Der Autor hat zwar eine schwere Neigung zum Geschwätz und dazu, seine Klippschulbildung seinen Figuren als raunendes Geheimnis in den Mund zu legen, aber abgesehen davon ist der Text recht ordentlich geraten. Wenn er auf 400 Seiten zusammengekürzt worden und dem Autor ein vernüftiges Ende eingefallen wäre, hätte das ein wirklich gutes Buch sein können. Aber so müssen wir damit leben, dass uns ständig Nachhilfe erteilt wird, dass Quinten – und eben leider auch zugleich dem Leser – die Struktur des Katholizismus erklärt wird: »Die Päpste betrachten sich als Nachfolger Petri.« [S. 700] Achwas? – Wir bekommen Unterricht in amerikanischer Literaturgeschichte:

»Warum hast du ihn [den Raben] Edgar genannt?«

»Nach Edgar Allan Poe natürlich. Der hat ein berühmtes Gedichte über einen Raben geschrieben. The Raven.« [S. 696]

What you not say! – Und auch die Musikgeschichte kommt zu ihrem Recht:

Max war noch geblieben. Seine Kenntnisse über Beethovens Große Fuge in B-Dur, Opus 133, von einem bulgarischen Quartett aufgeführt, hatten auf eine kubanische Medizinstudentin großen Eindruck gemacht, eine große Frau mit langen, schlanken Fingern, die sie hoch auf seinen Oberschenkel legte, als er ihr erzählte, daß das Stück aus dem Schlußteil von Opus 130 entstanden sei. [S. 195 f.]

Mit solch intimen Kenntnissen der Streichquartett-Literatur ist natürlich das Verführen großer Frauen – gemeint sind »lange«, nicht »große« – eine Kleinigkeit. Tja, man müsste Klavierspielen können! Von der dreimaligen Wiederholung des Wortes »groß« in diesem einen Absatz wollen wir dabei einmal gnädig absehen, denn wir kennen das Original nicht.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, das Buch sei durchweg so provinziell, aber es ist es eben über weite Strecken. Einigen Passagen liegt eine sorgfältige und umfassende Recherche des Autors zugrunde, aber eine viel zu große Menge des Textes erschöpft sich in hohlem Geschwätz besonders der beiden Hauptfiguren Max und Onno. Dem stehen auf der anderen Seite eine durchaus einfühlende und originelle Beschreibung etwa der späten 60er-Jahre oder die beinahe durchweg interessanten Nebenfiguren wie etwa Theo Kern oder Verloren van Themaat gegenüber. Wenn nur der Autor nicht so geschwätzig wäre … Aber das erwähnte ich wohl schon?

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt. Rowohlt Taschenbuch 13476. 871 Seiten. 9,90 €.

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P. S.: Nur um keine Unklarheit aufkommen zu lassen: Spekulationen über die Moral des Romans, also die Bedeutung der Tatsache, dass der Himmel den mosaischen Dekalog wieder zurücknimmt, sind hier absichtlich unterblieben. Dem mögen sich Berufenere widmen!

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

taylor_adressatDas schmale Bändchen enthält 19 fiktive Briefe eines Briefwechsels zwischen dem amerikanischen Kunsthändler Max Eisenstein und seinem nach Deutschland zurückgekehrten Freund und ehemaligen Geschäftspartner Martin Schulse. Der Briefwechsel beginnt mit einem Schreiben vom 12. November 1932 und endet mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934. Die Erzählung ist 1938 zum ersten Mal erschienen und war sofort ein Verkaufserfolg, der sich bei der Wiederveröffentlichung im Jahr 1995 wiederholt hat. Auch die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2000 wurde ein Bestseller.

Erzählt wird die Geschichte zweier Freunde, die in San Francisco gemeinsam eine Kunsthandlung betrieben haben. Martin Schulse entschließt sich 1932 nach Deutschland zurückzukehren, besonders um seine Kinder wieder auf eine deutsche Schule schicken zu können. Er wird innerhalb kurzer Zeit von einem Mitläufer der politisch erfolgreichen Nationalsozialisten zu einem bekennenden Anhänger der »Bewegung« und macht Karriere als Bankbeamter. Ganz konsequent bricht er den Kontakt zu seinem jüdischen Freund und Geschäftspartner in Amerika ab und kündigt ihm die Freundschaft auf.

Verwickelt wird die Geschichte dadurch, dass Max Eisensteins Schwester Giselle als Schauspielerin von Österreich nach Deutschland kommt und in Berlin rassistischen Repressionen ausgesetzt wird. Sie flieht aus Berlin nach München, wird offenbar auch dort erkannt und flüchtet sich vor einem Trupp SA-Männer zur Villa ihres ehemaligen Geliebten Martin Schulse. Der lässt sie aus Sorge um seine Reputation und Stellung nicht ins Haus, sondern rät ihr, durch den Garten zu fliehen, wo sie dann von der SA gestellt und ermordet wird. Der Brief, in dem er diese Tatsache seinem ehemaligen Freund mitteilt, beginnt mit den Worten:

Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.

Nach diesem Brief beginnt Max Eisenstein mit einem Telegramm und Briefen, die er an Martin Schulses Privatadresse richtet und von denen er weiß, dass sie von der nationalsozialistischen Zensur gelesen werden, den deutschen Behörden eine Verwicklung Martin Schulses in eine illegale, gegen den Staat gerichtet Verschwörung zu suggerieren. Er erfindet eine »Gesellschaft Junger Deutscher Maler«, mit der Schulse vorgeblich in Zusammenhang steht und die offensichtlich Waffenlieferungen aus den USA erhält. Außerdem suggeriert er eine in Amerika lebende jüdische Verwandschaft Schulses. Schulse wird – wie wir aus einem letzten, verzweifelten Schreiben an Max Eisenstein erfahren – daraufhin von den Behörden vorgeladen und aufgefordert, den Code für die Briefe zu liefern, was er natürlich nicht kann, da er nie zuvor von einer »Gesellschaft Junger Deutscher Maler« gehört hat und auch sonst nichts zu den erfundenen Vorgängen sagen kann. Max Eisenstein Racheplan funktioniert: Seinen letzten Brief an Martin Schulse vom 3. März 1934 erhält er mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934 zurück. Wie bereits zuvor im Fall von Max’ Schwester Giselle soll dieser Stempel besagen, dass Martin Schulse von den Nationalsozialisten ermordet wurde oder zumindest in einem KZ gelandet ist.

Die Erzählung ist fraglos »gut gemacht«. Sie ist dicht gearbeitet und die dramatische Entwicklung konsequent und ökonomisch vorangetrieben. Große Schwierigkeiten habe ich allerdings mit ihrer Moral: Sicherlich ist es einerseits so, dass die Perversität und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Machtstaates sich gerade darin zeigt, dass es einem Außenstehenden mit wenigen Briefen gelingt, einen treuen und begeisterten Nationalsozialisten zu verleumden und der Vernichtungsmachinerie des von ihm verherrlichten Systems auszuliefern. Andererseits handelt es sich bei den Briefen Max Eisensteins um eine Intrige zum Zweck einer privaten Rache, die ihn moralisch beinahe ununterscheidbar werden lässt von dem, den er dem Untergang ausliefert.

Immanuel Kant gibt uns in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« unter anderen folgende einprägsame Formulierung des kategorischen Imperativs:

Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. [BA 66 f.]

Gemessen an diesem Leitsatz handelt Max Eisenstein ebenso verwerflich wie zuvor sein Pendant Martin Schulse, und ich bin durchaus nicht sicher, ob dies von der Autorin auch so intendiert wurde. Auch spielt – soweit ich sehe – dieser Aspekt in den deutschen Besprechungen des Buches keine Rolle.

Immerhin lässt Kant der zitierten Passage den bedenkenswerten Satz folgen: »Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse.« Im vorliegenden Fall war dem wohl nicht so. – Ein Buch, dessen verstörende Ambivalenz wahrscheinlich nicht von allzu vielen Lesern wahrgenommen wird.

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2000. Pappband, 69 Seiten. 10,– €.

Émile Zola: Germinal

germinalNachdem ich bislang von Zola nur »Nana« kannte, war ich schon von den ersten Seiten dieses umfangreichen Romans zugleich überrascht und fasziniert. Hatte »Nana« in weiten Teilen den Eindruck auf mich gemacht, hier versuche einer wie Flaubert zu schreiben, reiche aber nicht ganz an das Vorbild heran, besticht »Germinal« von Anfang an mit einem sehr eigenen, präzisen Blick auf soziale und technischen Voraussetzungen des Erzählten. Zolas Schilderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einem nordfranzösischen Kohlerevier in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entspringt offensichtlich einer genauen Kenntniss und sorgfältigen Beobachtung vor Ort. Ich hatte eine solche Exaktheit der Beschreibungen und der evozierten Bilder nicht erwartet.

Erzählt wird die Geschichte Etienne Lantiers und der Familie Maheu. Über die Figur Etiennes stellt Zola die recht lockere Verbindung dieses Romans mit dem Zyklus der Rougon-Macquart her: Etienne ist Sohn von Gervaise Macquart und Auguste Lantier und erbt – nach Zolas Vererbungstheorie sozialer Charaktere – die durch den Alkoholismus seiner Eltern verursachte Neigung zur Gewalttätigkeit, die besonders in der zweiten Hälfte des Buches eine Rolle spielt. Etienne ist gelernter Maschinist, und ihn verschlägt es auf der Suche nach Arbeit in eine Bergwerksgegend, wo er durch einen Zufall im Bergwerk Le Voreux angeheuert wird. Er kommt zur Gruppe, in der auch Vater Maheu mit seiner Tochter Catherine arbeiten. Catherine und Etienne sind sich von Anfang an sympathisch und ihre nicht ausgelebte Beziehung ist einer der wesentlichen Spannungsbögen des Romans.

Die Familie Maheu, die in weiten Teilen des Buches im Zentrum des Interesses steht, besteht aus den beiden Eltern, sieben Kindern – von denen die Ältesten natürlich auch im Bergwerk arbeiten – und dem Großvater. Die Familie lebt am Rande des Existenzminimums, geplagt von Geldsorgen, gedrückt von Schulden, mit ihrer kärglichen Versorgung kaum dem Hunger trotzend. Zola benutzt das erste Drittel des Romans zu einer sorgfältigen und detaillierten Schilderungen der sozialen Verhältnisse im »Dorf der 240«, das schon über diesen Namen als reine Funktionssiedlung gekennzeichnet ist, von der Bergwerksgesellschaft aus dem Boden gestampft, um die für ihr Geschäft notwendigen Arbeiter irgendwo unterbringen zu können. Er erspart seinen wohl zumeist gutbürgerlichen Leserinnen weder eine ausführliche Beschreibung des alltäglichen Elends noch die Vorführung des Gegensatzes zu den Haushalten der Bergwerksbesitzer und -verwalter, weder die gesundheits- und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen noch die soziale und sittliche Verrohung der Arbeiter, die er klar als Folge der herrschenden Armut und Perspektivlosigkeit herausstellt. Einige seiner Beschreibung düften noch heute für »empfindsame Seelen« an die Grenze des Zumutbaren gehen; wieviel heftiger müssen sie auf Leserinnen gewirkt haben, die die bigotte Doppelmoral des ausgehenden 19. Jahrhunderts verinnerlicht hatten.

Der Hauptstrang der Fabel erzählt von einem Streik der Arbeiter des Bergwerks Le Voreux. Anlass des Streiks ist die Einführung eines neuen Lohnabrechnungssystems, mit dem die Gesellschaft des Bergwerks eine nochmalige Reduktion der Entlohnung durchsetzen will. Etienne, der schon zuvor Kontakt zu Sozialisten hatte, wird rasch zu einem Wortführer für den Streik. Zwar verfügen die Arbeiter über eine kleine Streikkasse, die aber nur für wenige Tage die Versorgung sicheren kann. Danach verschärft die Arbeitsniederlegung das sowieso schon vorhandene Elend kontinuierlich weiter. Obwohl auch die Bergwerksgesellschaft wirtschaftlich durch den Streik heftige Einbußen zu verzeichnen hat, weigert sie sich prinzipiell, den offenbar gerechten Forderungen der Arbeiter nachzugeben.

Nach Wochen spitzt sich die Lage soweit zu, dass die streikenden Arbeiter auch die Kollegen der benachbarten Bergwerke zwingen wollen, in den Streik einzutreten. Dabei verursachen sie in diversen Minen umfangreiche Zerstörungen, die die Minenbesitzer veranlassen, ihren Besitz durch das Militär schützen zu lassen. Nach einer weiteren Phase der Ruhe kommt es zu der unvermeidlichen Konfrontation zwischen den immer verzweifelteren Arbeitern und den Soldaten, an deren Ende zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen sind. Zwar sind nach dieser katastrophalen Wendung beide Seiten nur allzu bereit, den Streik zu beenden, und für den Augenblick sieht es danach aus, als hätte die Bergwerksgesellschaft sich einmal mehr durchsetzen können. Aber Zola ist damit noch nicht am Ende seiner Erzählung angekommen, die noch eine weitere dramatische Wendung nehmen muss …

Ohne Frage handelt es sich bei »Germinal« um eines der Meisterwerke der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Zola erobert dem Roman hier quasi im Handstreich ein gänzlich neues Gebiet und führt zugleich mustergültig dessen Behandlung vor: Arbeits- und Lebenswelt der (Industrie-)Arbeiter, die drängenden sozialen Fragen, die sich aus deren Lebensbedingungen ergeben, die Macht des Kapitals und die Ohnmacht der Armut, die zugrunde liegende Menschenverachtung, die leichthin und wie nebenbei von den Besitzenden geduldet wird, und deren Folgen für sie gänzlich überraschend und unverständlich sind. Wie nebenbei wird die Rolle der sozialistischen Berufsagitatoren beleuchtet, ebenso die der christlichen Moral und Kirche in diesem Spiel der sozialen Kräfte.

Mir bleibt nur, den Rat Lichtenbergs einmal mehr zu zitieren: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Émile Zola: Germinal. Unter der Verwendung der Übersetzung von Armin Schwarz mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Koeppen. Reclam UB 4928. 622 Seiten. 10,80 €.

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P. S.: Siehe auch Miniaturen (1) in diesem Blog.

Beinahe der komplette Kraus

Kraus_FackelKarl Kraus ist am 12. Juni 1936 in Wien an den Folgen einer Embolie gestorben; ihm ist dadurch erspart geblieben, die Erfüllung seiner schlimmsten Befürchtungen miterleben zu müssen. Am 1. Januar 2007, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, sind seine Schriften gemeinfrei geworden. Dies wurde dazu genutzt, die beiden großen Sammlungen Krausscher Schriften in elektronischer Form erneut zu publizieren.

Zum Werk von Karl Kraus gibt es im wesentlichen diese beiden Zugänge: Entweder man kann sich durch einzelne Jahrgänge der »Fackel« arbeiten oder man nimmt die Werkausgabe Christian Wagenknechts zu Hand, die das Werk hauptsächlich entlang der von Kraus selbst zusammengestellten und herausgegebenen Bücher erschließt. Beide liegen nun auch in elektronischer Form vor: »Die Fackel« bei Zweitausendeins, die viele Jahre lang auch die gedruckte Ausgabe verlegt haben, als Sonderband der Digitalen Bibliothek, die »Schriften« in der Hauptreihe der Digitalen Bibliothek als Bd. 156.

kraus_schriftenBeide Ausgaben werden wohl kaum die gedruckten Fassungen ersetzen, bei der »Fackel« noch eher als bei den »Schriften«, bei der sich manch einer wohl überlegen wird, ob er die 70 cm Regalbrett nicht doch für etwas anderes verwenden kann. Beide Ausgaben haben aber natürlich vor den gedruckten Ausgaben den Vorteil der Volltextsuche, der bei einem so umfangreichen Werk wie dem Krausschen (»Die Fackel« hat in der elektronischen Ausgabe mehr als 34.550 reine Textseiten, die »Schriften« immerhin auch noch knapp 14.700) gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. So ist die Zitatsuche bei Kraus – per fas et nefas – endlich auf ein solides Fundament gestellt, wenigstens zum großen Teil, denn vor allem die »Schriften« weisen doch Scanfehler auf, die Kraus selbst sicherlich wenig Freude gemacht hätten (der Buchstabe »l« wird etwa an einigen Stellen als »i« wiedergegeben; aus Felix Salten wird also Felix Saiten, was – besonders im Schwäbischen – wieder ein ganz eigenes Geschmäckle mit sich bringt). Aber derlei sind Kleinigkeiten, die sich mit ein wenig Übung durch geschicktes Suchen ausgleichen lassen.

Die elektronische »Fackel« enthält dabei nicht nur den kompletten Text aller 922 Ausgaben, sondern zudem alle Seiten im Faksimile, das durch einen einfachen Rechtsklick in den Text aufgerufen werden kann. Die »Schriften« bringen auch die erschließenden Anhänge Christian Wagenknechts (inklusive aller Abbildungen), die in der Abfolge so etwas wie eine detaillierte Werkgeschichte zu Karl Kraus liefern.

Trotz der ungeheuren Textmenge liegt hiermit aber immer noch nicht der »ganze Kraus« vor. Bei der »Fackel« wurde leider darauf verzichtet, die der gedruckten Ausgabe bei Zweitausendeins mitgegebene Aktausgabe der »Letzten Tage der Menschheit« von 1918/1919 zu reproduzieren, was eine gute Vergleichbarkeit mit der in den »Schriften« gelieferten überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1921 erlaubt hätte. Den »Schriften« wiederum fehlen – wie schon in der Druckfassung – unkommentiert die Frühschriften, hier am wichtigsten sicher »Die demolierte Literatur« und »Eine Krone für Zion«, die auch weiterhin nur in einer hochpreisigen Ausgabe bei Suhrkamp lieferbar sind. Hier hätte es die Kraus-Fachleute, an die sich diese elektronischen Ausgaben ja in der Hauptsache richten, sicherlich begrüßt, wenn man die »Schriften« um die drei Bände der »Frühen Schriften« ergänzt hätte.

Abgesehen von solch eher marginalen Einwänden kann man die elektronischen Ausgaben nur begrüßen. Die von mir immer wieder als vorbildlich empfundene Software der Digitalen Bibliothek rundet den guten Gesamteindruck der beiden Ausgaben ab.

Die Fackel (1899–1936). Digitale Bibliothek Sonderband 34. Frankfurt: Zweitausendeins, 2007. 1 DVD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 128 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; DVD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; DVD-ROM-Laufwerk. 19,95 €.

Karl Kraus: Schriften. Digitale Bibliothek Band 156. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 75,– €.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

Widmer_MutterUrs Widmer genießt (oder erträgt) gerade einige Aufmerksamkeit, da er den Friedrich-Hölderlin-Preis 2007 erhalten hat. Widmer produziert seit vielen Jahren mit großer Kontinuität, ohne groß im Fokus einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zu stehen. Ich kannte bislang nur seine Prosaversionen von »Shakespeares Geschichten«, die er ergänzend zu Walter E. Richartz Übersetzungen der Nacherzählungen von Mary Lamb verfasst hatte. »Der Geliebte der Mutter« wurde mir empfohlen, und so habe ich die Gelegenheit genutzt, als der Text in der Buchreihe der »Süddeutschen Zeitung« erschien.

Es handelt sich in der Hauptsache um die Geschichte einer unglücklichen Liebe: Clara Molinari – deren vollständigen Namen wir erst nach viel zu vielen Seiten erfahren – verliebt sich als junge Frau in Edwin, einen begabten jungen Dirigenten aus ärmsten Verhältnissen. Edwin hat eine Weile lang eine für ihn eher gleichgültige Affäre mit ihr, heiratet dann aber reich und gesellschaftsfähig und sieht Clara nie wieder. Clara wiederum, die während der Zeit der Affäre den finanziellen Ruin ihrer Familie und den Tod ihres Vaters am Tag nach dem Schwarzen Freitag 1929 ertragen muss und die Abtreibung eines Kindes von Edwin über sich ergehen lässt, heiratet auf die Nachricht von Edwins Hochzeit hin »den ersten besten Mann«, der im ganzen Buch dann überhaupt gar keine Rolle spielt, auch in den Gedanken des Erzählers nicht vorkommt. Nach einer weiteren Schwangerschaft, aus der der Erzähler hervorgeht, verliert sie zunehmend ihr psychischens Gleichgewicht, ist akut selbstmordgefährdet und wird in eine Klinik eingewiesen, wo sie mit Elektroschocks behandelt wird.

Aus der Klinik entlassen, therapiert sie sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs selbst durch Gartenarbeit. Sie betreibt auch weiterhin einen Kult um Edwin, der inzwischen ein weltberühmter und steinreicher Dirigent geworden ist und seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzt. Sein Tod ist der eigentliche Erzählanlass der Geschichte und bildet den erzählerischen Rahmen. Nebenbei erzählt uns Widmer auch ein wenig von der Karriere Edwins, die Familiengeschichte des Vaters von Clara, lässt Mussolini leibhaftig auftreten und was der Anhängsel mehr sind, die den Text wenigstens auf eine einigermaßen angängige Länge bringen. Alles das ist sehr locker gestrickt, was einen nicht unbedingt stören muss, den Text aber in einigen Passagen merkwürdig beliebig macht.

Wirklich störend aber ist die Sprache Widmers. Die Absicht scheint zu sein, einen lakonischen Ton zu treffen, aber gerade dafür fehlt Widmers Beschreibungen und Wendungen die Präzision. Das meiste kommt sehr lax daher:

Für die eingemachten Birnen, Aprikosen, Zwetschgen hatte sie grüne Gläser aus Bülach. Daß sie aus Bülach waren, das war irgendwie wichtig.

Und bei diesem »irgendwie« bleibt es. Mehr weiß der Erzähler nicht, und um mehr hat er sich auch nicht gekümmert; und der Autor eben auch nicht!

Sie blieb jetzt im Haus am Stadtrand, auch in den Sommern. Es stand längst nicht mehr am Rand der Stadt, war eingeschlossen von neuen Häusern.

Mir sind solche sprachlichen Albernheiten unzugänglich, und ich kann darin nichts anders erkennen, als eine gewisse Gleichgültigkeit des Autors dem Leser gegenüber. – Von der mit einem schweren Stein in der Hand voller Verzweiflung in den See watenden Clara heißt es:

Der Stein entglitt ihr, ohne daß sie es bemerkte.

Spätestens wenn der Stein auf ihren Füßen gelandet ist, wird sie es wohl doch bemerkt haben. Und weiter schreibt Widmer:

So verharrte sie. Endlich machte sie rechtsum kehrt – vielleicht weil ein Nachtvogel schrie, oder weil ein fernes Auto hupte –, stakste ans Ufer zurück und rannte nach Hause.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Erzähler genau weiß, dass sich seine Mutter rechts herum gedreht hatte, aber nur Mutmaßungen darüber anstellen kann, was der Grund für ihr Erwachen aus der Starre ist? Der Autor scheint weder besonders auf die von ihm verwendeten Worte zu achten, noch eine besonders präzise Vorstellung von der von ihm geschilderten Szene entwickelt zu haben. Und aus der mangelhaften Präzision der Vorstellung resultiert eine Beliebigkeit der Sprache. Leider hinterlässt das Buch auch insgesamt genau diesen Eindruck.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung | Bibliothek. München, 2007. Pappband, 129 Seiten. 5,90 €.

Anne Fadiman: Ex Libris

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Anne Fadiman dürfte in Deutschland vor diesem Buch nur einigen wenigen Fachleuten, Soziologen und Medizinern, aufgrund ihres Buches »The Spirit Catches You and You Fall Down« bekannt gewesen sein. Sie ist die Tochter des in den Vereinigten Staaten bekannten Autors und Radiomoderators Clifton Fadiman, der unter anderem zahlreiche Anthologien und einen weitverbreiteten Lesekanon herausgegeben hat. Auch ihre Mutter ist Journalistin und Autorin. Anne Fadiman entstammt also einer Familie von Lesern, und sie hat diese Tradition mit ihrer eigenen Familie fortgesetzt: Sie hat einen Leser geheiratet und ihre Kinder zeigen alle Anzeichen dafür, dass sie dieses Erbe fortsetzen werden.

Und genau das ist das Kernthema der meisten der 17 kurzen Essays, die der Band versammelt: Eine Familie von Lesern und ihre Abenteuer mit Bücher, ihre Verhältnisse mit (nicht »zu«!) Büchern, ihre Freuden und Leiden. Für die deutsche Ausgabe hat man den schönen englischen Untertitel »Confessions of a Common Reader«, der sich auf einen Buchtitel Virginia Woolfs stützt, in das etwas reißerische »Bekenntnisse einer Bibliomanin« verwandelt, denn wer will heutzutage schon ein »gewöhnlicher Leser« oder gar ein »gemeiner Leser« sein. Allerdings muss man auch zugestehen, dass Anne Fadiman Selbstbezeichnung höchstens noch als kokett durchgeht, denn ihre Essays machen wenigstens eines deutlich: Sie ist eine obsessive Leserin und eine passionierte Sammlerin antiqarischer Bücher.

Wie schon gesagt, nimmt ein Großteil der Essays bei sehr persönlichen Erfahrungen Fadimans seinen Anfang: Die Vereinigung ihrer eigenen Bibliothek mit der ihres Mannes (nachdem die beiden bereits fünf Jahre lang miteinander verheiratet waren und noch länger zusammen lebten), ihre Freude an ausgefallenen und langen Wörtern, die bereits in ihrer Kindheit angeregt und gefördert wurde, ihre Neigung, alle gelesenen Texte zugleich auch Korrektur zu lesen, ihre Neigung dazu, Kataloge zu lesen, die unterschiedlichen Lesertypen in ihrer Verwandt- und Bekanntschaft usw. usf. Das alles ist unterhaltsam und leicht geschrieben, ohne seicht zu werden. Immer ist Fadimans breiter Lektürehintergrund zu erkennen, ihre lebenslange Auseinandersetzung mit der englischen und nordamerikanischen Literatur.

Nur einmal holt Fadiman richtig aus: Mit »Nichts Neues unter der Sonne« schreibt sie einen Essay zum Thema Plagiat, der voller Zitate und Plagiate steckt, die sie selbst fein säuberlich in Fußnoten nachweist. Das ist sehr virtuos gemacht, denn jede im Essay beschriebene Form des Plagiats findet sich zugleich auch in ihm umgesetzt.

Eine vergnügliche Lektüre für obsessive Bücherfreunde und jene Vielleser, die es werden wollen.

Anne Fadiman: Ex Libris. Bekenntnisse einer Bibliomanin. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Diogenes Taschenbuch 23646. Zürich, 2007. 8,90 €.

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P. S.: Bei der in Fußnote 25 auf S. 146 unbekannten Quelle handelt es sich natürlich um Robert Mertons Buch »Auf den Schultern von Riesen«.

P. P. S.: An zwei Stellen (S. 111 u. 113) benutzt die Übersetzerin für das mit Apostroph abgetrennte Genitiv-s (im Volksmund auch »Deppen-Apostroph«) die nicht unpassende Bezeichnung »sächsischer Genitiv«. Hat einer das Original zur Hand und kann sagen, welche englische Phrase dem gegenübersteht?

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott

Auslander_Gott15 »fiese Storys« – so der treffende Untertitel –, die sich alle um Gott, Religion und das Phänomen des Glaubens drehen. Nicht alle halten das Niveau, aber einige haben wirklich Biss. So etwa »Sensationelle Offenbarungen aus dem verschollenen Buch Stan«, das von einer banalen und schlecht erfundenen Voraussetzung aus (Stan Fisher findet 13 Steintafeln mit der ältesten Fassung des Alten Testaments, das »leider« auf der ersten Tafel explizit als fiktionales Werk bezeichnet wird) zu einem kurzen, beinahe absurden Rundumschlag gegen den Wirtschaftszweig Religion ausholt. Oder auch »Sie sind alle gleich«, in dem Gott als Kunde einer Werbeagentur auftritt, um die Präsentation für eine große Kampagne abzunehmen. Von einer brillanten Mischung aus erkünstelter Naivität und ausgesuchter Bosheit sind die »Holocaust-Tipps für Kids«.

Anderes dagegen gerät eher platt, so die pubertäre Seelenqual in »Heimisch weiß alles« oder die fade Mischung aus Terry Pratchett und »Pulp Fiction« in »Die schützende Hand ganz oben«. Eine nette Lektüre für Atheisten und Agnostiker an einem verregneten Nachmittag, aber man sollte nicht zuviel erwarten.

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott. Fiese Storys. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Berlin Verlag Taschenbuch 459. Berlin, 2007. 157 Seiten. 7,90 €.