Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

mulischAngesichts des bevorstehenden 80. Geburtstags von Harry Mulisch habe ich mich entschlossen, endlich einen seiner Romane zu lesen: »Die Entdeckung des Himmels« hat es immerhin auf Platz 25 der ZDF-Liste der Lieblingsbücher der Deutschen geschafft, noch vor »Die Entdeckung der Langsamkeit« und »Die unerträgliche Seichtigkeit des Leims«. Aber wer weiß schon, ob das ein ausreichendes Qualitätskriterium ist.

»Die Entdeckung des Himmels« spielt auf zwei Ebenen: Zum einen im jüdisch-christlichen und eventuell auch moslemischen Himmel, wo sich zwei offenbar geistige Potenzen über ein geheimnisvolles Projekt unterhalten, »das Retournieren des Testimoniums« [S. 416]. Der überwiegende Teil des Textes handelt aber in ganz irdischen Verhältnissen: Erzählt wird die Geschichte von drei bzw. vier Personen: Onno Quist, Sohn eines ehemaligen Ministerpräsidenten der Niederlande und während der meisten Zeit Berufspolitiker, Max Delius, Sohn eines ehemaligen Kriegsverbrechers und einer Jüdin, von Beruf Astronom, sowie Ada Brons, Tochter eines Antiquars und Cello-Spielerin. Hinzukommt ihr mutmaßlich durch direktes himmliches Eingreifen zu dritt gezeugter Sohn Quinten (wegen des ⅔-Frequenzverhältnisses der Quinte so benannt), der sich als Erfüller eines himmlischen Auftrags erweisen wird.

Bevor es aber auf den letzten etwa 200 von gut 800 Seiten dazu kommt, müssen erst einmal die Eltern aufeinandergehetzt werden, unter Verwirrungen nach Kuba reisen, um dort das Kind zu zeugen, in einem Unwetter einen Unfall erleiden, bei dem Ada von der mutmaßlichen Mutter zu einer komatösen Gebärerin reduziert wird, Onno Politiker und anschließend Einsiedler, Max von einem Meteoriten erschlagen werden und Quinten umständlichst aufwachsen und sich schließlich auf die Suche nach seinem untergetauchten Vater machen, den er dann auch zufällig in Rom trifft.

Danach dreht der Roman vollständig durch: Quinten identifiziert in Rom die Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateran aufgrund wüster Spekulationen als Lagerort der echten mosaischen Steintafeln mit den zehn Geboten. Quinten und Onno finden und rauben diese Tafeln in einer nächtlichen Aktion und bringen sie nach Jerusalem, wo sich Quinten in einem von innen verschlossenen Zimmer und die Tafel in einem verschlossenen Safe in Nichts auflösen – natürlich kehren sie in die himmlischen Gefilde zurück, von wo aus das Ganze mit englischer List inszeniert wurde.

Sehen wir von dem hanebüchenen Ende des Romans einmal ab und befreien wir ihn damit zugleich von dem himmlischen Drahtzieher, so ist das Buch in Teilen ein ganz angängiger und interessanter Roman. Der Autor hat zwar eine schwere Neigung zum Geschwätz und dazu, seine Klippschulbildung seinen Figuren als raunendes Geheimnis in den Mund zu legen, aber abgesehen davon ist der Text recht ordentlich geraten. Wenn er auf 400 Seiten zusammengekürzt worden und dem Autor ein vernüftiges Ende eingefallen wäre, hätte das ein wirklich gutes Buch sein können. Aber so müssen wir damit leben, dass uns ständig Nachhilfe erteilt wird, dass Quinten – und eben leider auch zugleich dem Leser – die Struktur des Katholizismus erklärt wird: »Die Päpste betrachten sich als Nachfolger Petri.« [S. 700] Achwas? – Wir bekommen Unterricht in amerikanischer Literaturgeschichte:

»Warum hast du ihn [den Raben] Edgar genannt?«

»Nach Edgar Allan Poe natürlich. Der hat ein berühmtes Gedichte über einen Raben geschrieben. The Raven.« [S. 696]

What you not say! – Und auch die Musikgeschichte kommt zu ihrem Recht:

Max war noch geblieben. Seine Kenntnisse über Beethovens Große Fuge in B-Dur, Opus 133, von einem bulgarischen Quartett aufgeführt, hatten auf eine kubanische Medizinstudentin großen Eindruck gemacht, eine große Frau mit langen, schlanken Fingern, die sie hoch auf seinen Oberschenkel legte, als er ihr erzählte, daß das Stück aus dem Schlußteil von Opus 130 entstanden sei. [S. 195 f.]

Mit solch intimen Kenntnissen der Streichquartett-Literatur ist natürlich das Verführen großer Frauen – gemeint sind »lange«, nicht »große« – eine Kleinigkeit. Tja, man müsste Klavierspielen können! Von der dreimaligen Wiederholung des Wortes »groß« in diesem einen Absatz wollen wir dabei einmal gnädig absehen, denn wir kennen das Original nicht.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, das Buch sei durchweg so provinziell, aber es ist es eben über weite Strecken. Einigen Passagen liegt eine sorgfältige und umfassende Recherche des Autors zugrunde, aber eine viel zu große Menge des Textes erschöpft sich in hohlem Geschwätz besonders der beiden Hauptfiguren Max und Onno. Dem stehen auf der anderen Seite eine durchaus einfühlende und originelle Beschreibung etwa der späten 60er-Jahre oder die beinahe durchweg interessanten Nebenfiguren wie etwa Theo Kern oder Verloren van Themaat gegenüber. Wenn nur der Autor nicht so geschwätzig wäre … Aber das erwähnte ich wohl schon?

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt. Rowohlt Taschenbuch 13476. 871 Seiten. 9,90 €.

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P. S.: Nur um keine Unklarheit aufkommen zu lassen: Spekulationen über die Moral des Romans, also die Bedeutung der Tatsache, dass der Himmel den mosaischen Dekalog wieder zurücknimmt, sind hier absichtlich unterblieben. Dem mögen sich Berufenere widmen!

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

taylor_adressatDas schmale Bändchen enthält 19 fiktive Briefe eines Briefwechsels zwischen dem amerikanischen Kunsthändler Max Eisenstein und seinem nach Deutschland zurückgekehrten Freund und ehemaligen Geschäftspartner Martin Schulse. Der Briefwechsel beginnt mit einem Schreiben vom 12. November 1932 und endet mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934. Die Erzählung ist 1938 zum ersten Mal erschienen und war sofort ein Verkaufserfolg, der sich bei der Wiederveröffentlichung im Jahr 1995 wiederholt hat. Auch die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2000 wurde ein Bestseller.

Erzählt wird die Geschichte zweier Freunde, die in San Francisco gemeinsam eine Kunsthandlung betrieben haben. Martin Schulse entschließt sich 1932 nach Deutschland zurückzukehren, besonders um seine Kinder wieder auf eine deutsche Schule schicken zu können. Er wird innerhalb kurzer Zeit von einem Mitläufer der politisch erfolgreichen Nationalsozialisten zu einem bekennenden Anhänger der »Bewegung« und macht Karriere als Bankbeamter. Ganz konsequent bricht er den Kontakt zu seinem jüdischen Freund und Geschäftspartner in Amerika ab und kündigt ihm die Freundschaft auf.

Verwickelt wird die Geschichte dadurch, dass Max Eisensteins Schwester Giselle als Schauspielerin von Österreich nach Deutschland kommt und in Berlin rassistischen Repressionen ausgesetzt wird. Sie flieht aus Berlin nach München, wird offenbar auch dort erkannt und flüchtet sich vor einem Trupp SA-Männer zur Villa ihres ehemaligen Geliebten Martin Schulse. Der lässt sie aus Sorge um seine Reputation und Stellung nicht ins Haus, sondern rät ihr, durch den Garten zu fliehen, wo sie dann von der SA gestellt und ermordet wird. Der Brief, in dem er diese Tatsache seinem ehemaligen Freund mitteilt, beginnt mit den Worten:

Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.

Nach diesem Brief beginnt Max Eisenstein mit einem Telegramm und Briefen, die er an Martin Schulses Privatadresse richtet und von denen er weiß, dass sie von der nationalsozialistischen Zensur gelesen werden, den deutschen Behörden eine Verwicklung Martin Schulses in eine illegale, gegen den Staat gerichtet Verschwörung zu suggerieren. Er erfindet eine »Gesellschaft Junger Deutscher Maler«, mit der Schulse vorgeblich in Zusammenhang steht und die offensichtlich Waffenlieferungen aus den USA erhält. Außerdem suggeriert er eine in Amerika lebende jüdische Verwandschaft Schulses. Schulse wird – wie wir aus einem letzten, verzweifelten Schreiben an Max Eisenstein erfahren – daraufhin von den Behörden vorgeladen und aufgefordert, den Code für die Briefe zu liefern, was er natürlich nicht kann, da er nie zuvor von einer »Gesellschaft Junger Deutscher Maler« gehört hat und auch sonst nichts zu den erfundenen Vorgängen sagen kann. Max Eisenstein Racheplan funktioniert: Seinen letzten Brief an Martin Schulse vom 3. März 1934 erhält er mit dem amtlichen Stempel »Adressat unbekannt« vom 18. März 1934 zurück. Wie bereits zuvor im Fall von Max’ Schwester Giselle soll dieser Stempel besagen, dass Martin Schulse von den Nationalsozialisten ermordet wurde oder zumindest in einem KZ gelandet ist.

Die Erzählung ist fraglos »gut gemacht«. Sie ist dicht gearbeitet und die dramatische Entwicklung konsequent und ökonomisch vorangetrieben. Große Schwierigkeiten habe ich allerdings mit ihrer Moral: Sicherlich ist es einerseits so, dass die Perversität und Menschenverachtung des nationalsozialistischen Machtstaates sich gerade darin zeigt, dass es einem Außenstehenden mit wenigen Briefen gelingt, einen treuen und begeisterten Nationalsozialisten zu verleumden und der Vernichtungsmachinerie des von ihm verherrlichten Systems auszuliefern. Andererseits handelt es sich bei den Briefen Max Eisensteins um eine Intrige zum Zweck einer privaten Rache, die ihn moralisch beinahe ununterscheidbar werden lässt von dem, den er dem Untergang ausliefert.

Immanuel Kant gibt uns in seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« unter anderen folgende einprägsame Formulierung des kategorischen Imperativs:

Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. [BA 66 f.]

Gemessen an diesem Leitsatz handelt Max Eisenstein ebenso verwerflich wie zuvor sein Pendant Martin Schulse, und ich bin durchaus nicht sicher, ob dies von der Autorin auch so intendiert wurde. Auch spielt – soweit ich sehe – dieser Aspekt in den deutschen Besprechungen des Buches keine Rolle.

Immerhin lässt Kant der zitierten Passage den bedenkenswerten Satz folgen: »Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse.« Im vorliegenden Fall war dem wohl nicht so. – Ein Buch, dessen verstörende Ambivalenz wahrscheinlich nicht von allzu vielen Lesern wahrgenommen wird.

Kressmann Taylor: Adressat unbekannt. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Böhm. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2000. Pappband, 69 Seiten. 10,– €.

Émile Zola: Germinal

germinalNachdem ich bislang von Zola nur »Nana« kannte, war ich schon von den ersten Seiten dieses umfangreichen Romans zugleich überrascht und fasziniert. Hatte »Nana« in weiten Teilen den Eindruck auf mich gemacht, hier versuche einer wie Flaubert zu schreiben, reiche aber nicht ganz an das Vorbild heran, besticht »Germinal« von Anfang an mit einem sehr eigenen, präzisen Blick auf soziale und technischen Voraussetzungen des Erzählten. Zolas Schilderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einem nordfranzösischen Kohlerevier in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entspringt offensichtlich einer genauen Kenntniss und sorgfältigen Beobachtung vor Ort. Ich hatte eine solche Exaktheit der Beschreibungen und der evozierten Bilder nicht erwartet.

Erzählt wird die Geschichte Etienne Lantiers und der Familie Maheu. Über die Figur Etiennes stellt Zola die recht lockere Verbindung dieses Romans mit dem Zyklus der Rougon-Macquart her: Etienne ist Sohn von Gervaise Macquart und Auguste Lantier und erbt – nach Zolas Vererbungstheorie sozialer Charaktere – die durch den Alkoholismus seiner Eltern verursachte Neigung zur Gewalttätigkeit, die besonders in der zweiten Hälfte des Buches eine Rolle spielt. Etienne ist gelernter Maschinist, und ihn verschlägt es auf der Suche nach Arbeit in eine Bergwerksgegend, wo er durch einen Zufall im Bergwerk Le Voreux angeheuert wird. Er kommt zur Gruppe, in der auch Vater Maheu mit seiner Tochter Catherine arbeiten. Catherine und Etienne sind sich von Anfang an sympathisch und ihre nicht ausgelebte Beziehung ist einer der wesentlichen Spannungsbögen des Romans.

Die Familie Maheu, die in weiten Teilen des Buches im Zentrum des Interesses steht, besteht aus den beiden Eltern, sieben Kindern – von denen die Ältesten natürlich auch im Bergwerk arbeiten – und dem Großvater. Die Familie lebt am Rande des Existenzminimums, geplagt von Geldsorgen, gedrückt von Schulden, mit ihrer kärglichen Versorgung kaum dem Hunger trotzend. Zola benutzt das erste Drittel des Romans zu einer sorgfältigen und detaillierten Schilderungen der sozialen Verhältnisse im »Dorf der 240«, das schon über diesen Namen als reine Funktionssiedlung gekennzeichnet ist, von der Bergwerksgesellschaft aus dem Boden gestampft, um die für ihr Geschäft notwendigen Arbeiter irgendwo unterbringen zu können. Er erspart seinen wohl zumeist gutbürgerlichen Leserinnen weder eine ausführliche Beschreibung des alltäglichen Elends noch die Vorführung des Gegensatzes zu den Haushalten der Bergwerksbesitzer und -verwalter, weder die gesundheits- und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen noch die soziale und sittliche Verrohung der Arbeiter, die er klar als Folge der herrschenden Armut und Perspektivlosigkeit herausstellt. Einige seiner Beschreibung düften noch heute für »empfindsame Seelen« an die Grenze des Zumutbaren gehen; wieviel heftiger müssen sie auf Leserinnen gewirkt haben, die die bigotte Doppelmoral des ausgehenden 19. Jahrhunderts verinnerlicht hatten.

Der Hauptstrang der Fabel erzählt von einem Streik der Arbeiter des Bergwerks Le Voreux. Anlass des Streiks ist die Einführung eines neuen Lohnabrechnungssystems, mit dem die Gesellschaft des Bergwerks eine nochmalige Reduktion der Entlohnung durchsetzen will. Etienne, der schon zuvor Kontakt zu Sozialisten hatte, wird rasch zu einem Wortführer für den Streik. Zwar verfügen die Arbeiter über eine kleine Streikkasse, die aber nur für wenige Tage die Versorgung sicheren kann. Danach verschärft die Arbeitsniederlegung das sowieso schon vorhandene Elend kontinuierlich weiter. Obwohl auch die Bergwerksgesellschaft wirtschaftlich durch den Streik heftige Einbußen zu verzeichnen hat, weigert sie sich prinzipiell, den offenbar gerechten Forderungen der Arbeiter nachzugeben.

Nach Wochen spitzt sich die Lage soweit zu, dass die streikenden Arbeiter auch die Kollegen der benachbarten Bergwerke zwingen wollen, in den Streik einzutreten. Dabei verursachen sie in diversen Minen umfangreiche Zerstörungen, die die Minenbesitzer veranlassen, ihren Besitz durch das Militär schützen zu lassen. Nach einer weiteren Phase der Ruhe kommt es zu der unvermeidlichen Konfrontation zwischen den immer verzweifelteren Arbeitern und den Soldaten, an deren Ende zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen sind. Zwar sind nach dieser katastrophalen Wendung beide Seiten nur allzu bereit, den Streik zu beenden, und für den Augenblick sieht es danach aus, als hätte die Bergwerksgesellschaft sich einmal mehr durchsetzen können. Aber Zola ist damit noch nicht am Ende seiner Erzählung angekommen, die noch eine weitere dramatische Wendung nehmen muss …

Ohne Frage handelt es sich bei »Germinal« um eines der Meisterwerke der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Zola erobert dem Roman hier quasi im Handstreich ein gänzlich neues Gebiet und führt zugleich mustergültig dessen Behandlung vor: Arbeits- und Lebenswelt der (Industrie-)Arbeiter, die drängenden sozialen Fragen, die sich aus deren Lebensbedingungen ergeben, die Macht des Kapitals und die Ohnmacht der Armut, die zugrunde liegende Menschenverachtung, die leichthin und wie nebenbei von den Besitzenden geduldet wird, und deren Folgen für sie gänzlich überraschend und unverständlich sind. Wie nebenbei wird die Rolle der sozialistischen Berufsagitatoren beleuchtet, ebenso die der christlichen Moral und Kirche in diesem Spiel der sozialen Kräfte.

Mir bleibt nur, den Rat Lichtenbergs einmal mehr zu zitieren: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Émile Zola: Germinal. Unter der Verwendung der Übersetzung von Armin Schwarz mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Koeppen. Reclam UB 4928. 622 Seiten. 10,80 €.

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P. S.: Siehe auch Miniaturen (1) in diesem Blog.

Beinahe der komplette Kraus

Kraus_FackelKarl Kraus ist am 12. Juni 1936 in Wien an den Folgen einer Embolie gestorben; ihm ist dadurch erspart geblieben, die Erfüllung seiner schlimmsten Befürchtungen miterleben zu müssen. Am 1. Januar 2007, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, sind seine Schriften gemeinfrei geworden. Dies wurde dazu genutzt, die beiden großen Sammlungen Krausscher Schriften in elektronischer Form erneut zu publizieren.

Zum Werk von Karl Kraus gibt es im wesentlichen diese beiden Zugänge: Entweder man kann sich durch einzelne Jahrgänge der »Fackel« arbeiten oder man nimmt die Werkausgabe Christian Wagenknechts zu Hand, die das Werk hauptsächlich entlang der von Kraus selbst zusammengestellten und herausgegebenen Bücher erschließt. Beide liegen nun auch in elektronischer Form vor: »Die Fackel« bei Zweitausendeins, die viele Jahre lang auch die gedruckte Ausgabe verlegt haben, als Sonderband der Digitalen Bibliothek, die »Schriften« in der Hauptreihe der Digitalen Bibliothek als Bd. 156.

kraus_schriftenBeide Ausgaben werden wohl kaum die gedruckten Fassungen ersetzen, bei der »Fackel« noch eher als bei den »Schriften«, bei der sich manch einer wohl überlegen wird, ob er die 70 cm Regalbrett nicht doch für etwas anderes verwenden kann. Beide Ausgaben haben aber natürlich vor den gedruckten Ausgaben den Vorteil der Volltextsuche, der bei einem so umfangreichen Werk wie dem Krausschen (»Die Fackel« hat in der elektronischen Ausgabe mehr als 34.550 reine Textseiten, die »Schriften« immerhin auch noch knapp 14.700) gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. So ist die Zitatsuche bei Kraus – per fas et nefas – endlich auf ein solides Fundament gestellt, wenigstens zum großen Teil, denn vor allem die »Schriften« weisen doch Scanfehler auf, die Kraus selbst sicherlich wenig Freude gemacht hätten (der Buchstabe »l« wird etwa an einigen Stellen als »i« wiedergegeben; aus Felix Salten wird also Felix Saiten, was – besonders im Schwäbischen – wieder ein ganz eigenes Geschmäckle mit sich bringt). Aber derlei sind Kleinigkeiten, die sich mit ein wenig Übung durch geschicktes Suchen ausgleichen lassen.

Die elektronische »Fackel« enthält dabei nicht nur den kompletten Text aller 922 Ausgaben, sondern zudem alle Seiten im Faksimile, das durch einen einfachen Rechtsklick in den Text aufgerufen werden kann. Die »Schriften« bringen auch die erschließenden Anhänge Christian Wagenknechts (inklusive aller Abbildungen), die in der Abfolge so etwas wie eine detaillierte Werkgeschichte zu Karl Kraus liefern.

Trotz der ungeheuren Textmenge liegt hiermit aber immer noch nicht der »ganze Kraus« vor. Bei der »Fackel« wurde leider darauf verzichtet, die der gedruckten Ausgabe bei Zweitausendeins mitgegebene Aktausgabe der »Letzten Tage der Menschheit« von 1918/1919 zu reproduzieren, was eine gute Vergleichbarkeit mit der in den »Schriften« gelieferten überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1921 erlaubt hätte. Den »Schriften« wiederum fehlen – wie schon in der Druckfassung – unkommentiert die Frühschriften, hier am wichtigsten sicher »Die demolierte Literatur« und »Eine Krone für Zion«, die auch weiterhin nur in einer hochpreisigen Ausgabe bei Suhrkamp lieferbar sind. Hier hätte es die Kraus-Fachleute, an die sich diese elektronischen Ausgaben ja in der Hauptsache richten, sicherlich begrüßt, wenn man die »Schriften« um die drei Bände der »Frühen Schriften« ergänzt hätte.

Abgesehen von solch eher marginalen Einwänden kann man die elektronischen Ausgaben nur begrüßen. Die von mir immer wieder als vorbildlich empfundene Software der Digitalen Bibliothek rundet den guten Gesamteindruck der beiden Ausgaben ab.

Die Fackel (1899–1936). Digitale Bibliothek Sonderband 34. Frankfurt: Zweitausendeins, 2007. 1 DVD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 128 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; DVD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; DVD-ROM-Laufwerk. 19,95 €.

Karl Kraus: Schriften. Digitale Bibliothek Band 156. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 75,– €.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

Widmer_MutterUrs Widmer genießt (oder erträgt) gerade einige Aufmerksamkeit, da er den Friedrich-Hölderlin-Preis 2007 erhalten hat. Widmer produziert seit vielen Jahren mit großer Kontinuität, ohne groß im Fokus einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zu stehen. Ich kannte bislang nur seine Prosaversionen von »Shakespeares Geschichten«, die er ergänzend zu Walter E. Richartz Übersetzungen der Nacherzählungen von Mary Lamb verfasst hatte. »Der Geliebte der Mutter« wurde mir empfohlen, und so habe ich die Gelegenheit genutzt, als der Text in der Buchreihe der »Süddeutschen Zeitung« erschien.

Es handelt sich in der Hauptsache um die Geschichte einer unglücklichen Liebe: Clara Molinari – deren vollständigen Namen wir erst nach viel zu vielen Seiten erfahren – verliebt sich als junge Frau in Edwin, einen begabten jungen Dirigenten aus ärmsten Verhältnissen. Edwin hat eine Weile lang eine für ihn eher gleichgültige Affäre mit ihr, heiratet dann aber reich und gesellschaftsfähig und sieht Clara nie wieder. Clara wiederum, die während der Zeit der Affäre den finanziellen Ruin ihrer Familie und den Tod ihres Vaters am Tag nach dem Schwarzen Freitag 1929 ertragen muss und die Abtreibung eines Kindes von Edwin über sich ergehen lässt, heiratet auf die Nachricht von Edwins Hochzeit hin »den ersten besten Mann«, der im ganzen Buch dann überhaupt gar keine Rolle spielt, auch in den Gedanken des Erzählers nicht vorkommt. Nach einer weiteren Schwangerschaft, aus der der Erzähler hervorgeht, verliert sie zunehmend ihr psychischens Gleichgewicht, ist akut selbstmordgefährdet und wird in eine Klinik eingewiesen, wo sie mit Elektroschocks behandelt wird.

Aus der Klinik entlassen, therapiert sie sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs selbst durch Gartenarbeit. Sie betreibt auch weiterhin einen Kult um Edwin, der inzwischen ein weltberühmter und steinreicher Dirigent geworden ist und seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzt. Sein Tod ist der eigentliche Erzählanlass der Geschichte und bildet den erzählerischen Rahmen. Nebenbei erzählt uns Widmer auch ein wenig von der Karriere Edwins, die Familiengeschichte des Vaters von Clara, lässt Mussolini leibhaftig auftreten und was der Anhängsel mehr sind, die den Text wenigstens auf eine einigermaßen angängige Länge bringen. Alles das ist sehr locker gestrickt, was einen nicht unbedingt stören muss, den Text aber in einigen Passagen merkwürdig beliebig macht.

Wirklich störend aber ist die Sprache Widmers. Die Absicht scheint zu sein, einen lakonischen Ton zu treffen, aber gerade dafür fehlt Widmers Beschreibungen und Wendungen die Präzision. Das meiste kommt sehr lax daher:

Für die eingemachten Birnen, Aprikosen, Zwetschgen hatte sie grüne Gläser aus Bülach. Daß sie aus Bülach waren, das war irgendwie wichtig.

Und bei diesem »irgendwie« bleibt es. Mehr weiß der Erzähler nicht, und um mehr hat er sich auch nicht gekümmert; und der Autor eben auch nicht!

Sie blieb jetzt im Haus am Stadtrand, auch in den Sommern. Es stand längst nicht mehr am Rand der Stadt, war eingeschlossen von neuen Häusern.

Mir sind solche sprachlichen Albernheiten unzugänglich, und ich kann darin nichts anders erkennen, als eine gewisse Gleichgültigkeit des Autors dem Leser gegenüber. – Von der mit einem schweren Stein in der Hand voller Verzweiflung in den See watenden Clara heißt es:

Der Stein entglitt ihr, ohne daß sie es bemerkte.

Spätestens wenn der Stein auf ihren Füßen gelandet ist, wird sie es wohl doch bemerkt haben. Und weiter schreibt Widmer:

So verharrte sie. Endlich machte sie rechtsum kehrt – vielleicht weil ein Nachtvogel schrie, oder weil ein fernes Auto hupte –, stakste ans Ufer zurück und rannte nach Hause.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Erzähler genau weiß, dass sich seine Mutter rechts herum gedreht hatte, aber nur Mutmaßungen darüber anstellen kann, was der Grund für ihr Erwachen aus der Starre ist? Der Autor scheint weder besonders auf die von ihm verwendeten Worte zu achten, noch eine besonders präzise Vorstellung von der von ihm geschilderten Szene entwickelt zu haben. Und aus der mangelhaften Präzision der Vorstellung resultiert eine Beliebigkeit der Sprache. Leider hinterlässt das Buch auch insgesamt genau diesen Eindruck.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung | Bibliothek. München, 2007. Pappband, 129 Seiten. 5,90 €.

Anne Fadiman: Ex Libris

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Anne Fadiman dürfte in Deutschland vor diesem Buch nur einigen wenigen Fachleuten, Soziologen und Medizinern, aufgrund ihres Buches »The Spirit Catches You and You Fall Down« bekannt gewesen sein. Sie ist die Tochter des in den Vereinigten Staaten bekannten Autors und Radiomoderators Clifton Fadiman, der unter anderem zahlreiche Anthologien und einen weitverbreiteten Lesekanon herausgegeben hat. Auch ihre Mutter ist Journalistin und Autorin. Anne Fadiman entstammt also einer Familie von Lesern, und sie hat diese Tradition mit ihrer eigenen Familie fortgesetzt: Sie hat einen Leser geheiratet und ihre Kinder zeigen alle Anzeichen dafür, dass sie dieses Erbe fortsetzen werden.

Und genau das ist das Kernthema der meisten der 17 kurzen Essays, die der Band versammelt: Eine Familie von Lesern und ihre Abenteuer mit Bücher, ihre Verhältnisse mit (nicht »zu«!) Büchern, ihre Freuden und Leiden. Für die deutsche Ausgabe hat man den schönen englischen Untertitel »Confessions of a Common Reader«, der sich auf einen Buchtitel Virginia Woolfs stützt, in das etwas reißerische »Bekenntnisse einer Bibliomanin« verwandelt, denn wer will heutzutage schon ein »gewöhnlicher Leser« oder gar ein »gemeiner Leser« sein. Allerdings muss man auch zugestehen, dass Anne Fadiman Selbstbezeichnung höchstens noch als kokett durchgeht, denn ihre Essays machen wenigstens eines deutlich: Sie ist eine obsessive Leserin und eine passionierte Sammlerin antiqarischer Bücher.

Wie schon gesagt, nimmt ein Großteil der Essays bei sehr persönlichen Erfahrungen Fadimans seinen Anfang: Die Vereinigung ihrer eigenen Bibliothek mit der ihres Mannes (nachdem die beiden bereits fünf Jahre lang miteinander verheiratet waren und noch länger zusammen lebten), ihre Freude an ausgefallenen und langen Wörtern, die bereits in ihrer Kindheit angeregt und gefördert wurde, ihre Neigung, alle gelesenen Texte zugleich auch Korrektur zu lesen, ihre Neigung dazu, Kataloge zu lesen, die unterschiedlichen Lesertypen in ihrer Verwandt- und Bekanntschaft usw. usf. Das alles ist unterhaltsam und leicht geschrieben, ohne seicht zu werden. Immer ist Fadimans breiter Lektürehintergrund zu erkennen, ihre lebenslange Auseinandersetzung mit der englischen und nordamerikanischen Literatur.

Nur einmal holt Fadiman richtig aus: Mit »Nichts Neues unter der Sonne« schreibt sie einen Essay zum Thema Plagiat, der voller Zitate und Plagiate steckt, die sie selbst fein säuberlich in Fußnoten nachweist. Das ist sehr virtuos gemacht, denn jede im Essay beschriebene Form des Plagiats findet sich zugleich auch in ihm umgesetzt.

Eine vergnügliche Lektüre für obsessive Bücherfreunde und jene Vielleser, die es werden wollen.

Anne Fadiman: Ex Libris. Bekenntnisse einer Bibliomanin. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Diogenes Taschenbuch 23646. Zürich, 2007. 8,90 €.

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P. S.: Bei der in Fußnote 25 auf S. 146 unbekannten Quelle handelt es sich natürlich um Robert Mertons Buch »Auf den Schultern von Riesen«.

P. P. S.: An zwei Stellen (S. 111 u. 113) benutzt die Übersetzerin für das mit Apostroph abgetrennte Genitiv-s (im Volksmund auch »Deppen-Apostroph«) die nicht unpassende Bezeichnung »sächsischer Genitiv«. Hat einer das Original zur Hand und kann sagen, welche englische Phrase dem gegenübersteht?

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott

Auslander_Gott15 »fiese Storys« – so der treffende Untertitel –, die sich alle um Gott, Religion und das Phänomen des Glaubens drehen. Nicht alle halten das Niveau, aber einige haben wirklich Biss. So etwa »Sensationelle Offenbarungen aus dem verschollenen Buch Stan«, das von einer banalen und schlecht erfundenen Voraussetzung aus (Stan Fisher findet 13 Steintafeln mit der ältesten Fassung des Alten Testaments, das »leider« auf der ersten Tafel explizit als fiktionales Werk bezeichnet wird) zu einem kurzen, beinahe absurden Rundumschlag gegen den Wirtschaftszweig Religion ausholt. Oder auch »Sie sind alle gleich«, in dem Gott als Kunde einer Werbeagentur auftritt, um die Präsentation für eine große Kampagne abzunehmen. Von einer brillanten Mischung aus erkünstelter Naivität und ausgesuchter Bosheit sind die »Holocaust-Tipps für Kids«.

Anderes dagegen gerät eher platt, so die pubertäre Seelenqual in »Heimisch weiß alles« oder die fade Mischung aus Terry Pratchett und »Pulp Fiction« in »Die schützende Hand ganz oben«. Eine nette Lektüre für Atheisten und Agnostiker an einem verregneten Nachmittag, aber man sollte nicht zuviel erwarten.

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott. Fiese Storys. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Berlin Verlag Taschenbuch 459. Berlin, 2007. 157 Seiten. 7,90 €.

Lushins Verteidigung / The Luzhin Defence

lushinsVladimir Nabokovs Roman über einen langsam dem Wahnsinn verfallenden Großmeister gehört unfraglich zum Besten, was über Schachspieler je geschrieben worden ist. Er überragt turmhoch – man verzeihe den faden Wortwitz – etwa die unverständlicherweise allgemein hochgeschätzte »Schachnovelle« Stefan Zweigs, die nicht nur vor faktischen, sondern auch vor psychologischen Unwahrscheinlichkeiten strotzt. Das liegt sicherlich auch daran, dass Nabokov selbst ein starker Schachspieler und ein Problemkomponist von einiger Bedeutung war.

Alexander Iwanowitsch Lushin – seinen Vor- und Vatersnamen erfahren wir erst auf der letzten Seite des Buches – ist ein gelangweiltes und träges Kind, das einzige aus einer nicht sehr glücklichen Petersburger Ehe. Lushin geht ungern zur Schule, hat keine Freunde und findet an nichts so recht gefallen, bis er als Zwölfjähriger das Schachspielen erlernt, das nun seine einzige Leidenschaft und der Fluchtpunkt seiner Existenz wird. Er macht in kurzer Zeit ungeheuerliche Fortschritte und durchreist bald zusammen mit seinem Vater und dem Impressario Walentinow als Schach-Wunderkind Europa.

Die Haupthandlung des Romans setzt im Jahr 1928 ein. Lushin befindet sich zur Erholung und zur Vorbereitung eines Berliner Turniers in einem Kurort, in dem er bereits als Kind einmal in einem bedeutenden Turnier Dritter geworden ist. Dort lernt der kontaktscheue Mann eine junge Frau kennen, die wie er aus Russland stammt und mit ihren wohlhabenden Eltern in Berlin im Exil lebt. Lushin macht Eindruck auf die junge Frau und aus einer Mischung von Faszination, Neugier und Mitleid heraus befreundet sich mit ihm. Lushin weiß sich gegen den plötzlichen nahen Umgang mit einer Frau nicht anders zu wehren, als ihr einen Heiratsantrag zu machen. Der Antrag bleibt vorerst unentschieden, auch weil die Mutter der Braut von Lushin alles andere als angetan ist.

Lushin reist nach Berlin ab, um dort das Turnier zu spielen. Wenig später kommen seine zukünftige Gattin und Schwiegermutter auch zurück nach Berlin, und Lushin verkehrt nun täglich in ihrem Haus. Das Turnier entwickelt sich dramatisch, und je weiter es fortschreitet, desto weniger vermag Lushin sich vom Spiel gedanklich zu lösen. Schließlich erleidet er während der entscheidenden Partie des Turniers einen kompletten nervlichen Zusammenbruch.

Nun übernimmt seine Verlobte das Ruder: Sie kümmert sich um seine Genesung, setzt die Hochzeit bei ihren Eltern durch und sorgt dafür, dass Lushin ein neues Leben fern vom Schachspiel beginnt. Aber das gelingt nur scheinbar: Langsam aber sicher kehren für Lushin die alten Denkmuster zurück, nur dass er sich diesmal selbst in eine gegen ihn geführte Schachpartie versetzt fühlt, in der er zugleich eine der Figuren ist. Er verliert zunehmend den Kontakt zur Realität und als schließlich auch noch sein alter Impressario Walentinow wieder auftaucht, sieht Lushin nur noch einen Ausweg aus der verfahrenen Partie seines Lebens.

Der Roman gehört noch in die russische Phase Nabokovs: Er ist 1929 in drei Fortsetzungen in einer russischen Exil-Literaturzeitschrift in Paris und ein Jahr später als Buch erschienen. Wie viele andere seiner Texten hat Nabokov auch diesen Roman selbst ins Englische übersetzt, dabei aber kaum Änderungen vorgenommen. Die deutsche Übersetzung stellt eine kleine Hybridfassung der russischen und englischen Versionen her, indem es der jeweils differenzierteren Textvariante folgt. Zum Beispiel siezen sich Lushin und seine Frau in der deutschen wie der russischen Fassung bis zum Ende, während diese Differenz in der englischen Übersetzung aus offensichtlichen Gründen entfallen musste.

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luzhindefence»Lushins Verteidigung« gehört zu jenen Büchern Nabokovs, die verfilmt wurden: »The Luzhin Defence« von Marleen Gorris aus dem Jahr 2000 illustriert die Geschichte mit den beiden Hauptdarstellern John Turturro und Emily Watson. Man muss dem Film dabei zugute halten, dass er mit einigen Details des Romans sehr sorgfältig und liebevoll umgeht; andere werden vereinfacht oder den Bedürfnissen des Films angepasst, ohne dabei im wesentlichen den »Geist« des Buches zu stören. Andererseits finden sich auch deutliche Eingriffe: Natürlich wurde der Ablauf der Handlung gerafft; die ganze Geschichte spielt sich nun in dem Kurbad ab, das offensichtlich an den Comer See verlegt wurde. Valentinov (Stuart Wilson) bekommt eine größere und aktivere Rolle zugeschrieben: Er ist nicht nur der endgültige Auslöser von Luzhins Wahn, sondern treibt ihn aus (nur schlecht motivierter) Rachsucht systematisch in die Krise hinein, die zum Zusammenbruch führt. Wesentlich verändert wird auch die Figur von Luzhins Frau – im Roman hat sie gar keinen eigenen Namen, was in einem Film zu umständlichsten Konstruktionen führen würde, weshalb sie hier Natalia Katkov heißt –, die im Film zu einer emanzipierten und nach Unabhängigkeit strebenden jungen Frau umgestaltet wird, die mit den gesellschaftlichen Usancen ihrer Mutter wenig anfangen kann und von Luzhin fasziniert ist, weil er weitgehend außerhalb gesellschaftlicher Konventionen lebt. Schließlich könnte man sich noch fragen, ob es eine glückliche Entscheidung ist, den dicken und kurzatmigen Luzhin Nabokovs mit dem hageren John Turturro zu besetzen, aber die Figur gewinnt durch dessen Schauspielkunst wahrscheinlich mehr als sie durch den körperlichen Unterschied verliert.

Woran aber die meisten Filme, in denen Schach und Schachspieler vorkommen, kranken, ist die gänzlich unrealistische und unprofessionelle Art und Weise, das Spiel darzustellen. Davor wollte man bei diesem Projekt wohl gefeit sein, und so hat man mit Jonathan Speelman einen der führenden englischen Großmeister als technischen Berater eingekauft. Letztlich genützt hat es aber auch hier nicht. Zwar muss man einräumen, dass die Turnierspieler hier wenigstens nicht »Schach« und »Schachmatt« rufen oder mit eindringlich-unheimlichem Blick auf den Gegner den entscheidenden Zug ausführen. Auch hat das Art Department ganze Arbeit geleistet und mit den Figuren der Players Series des House of Staunton ästhetisch eine ausgezeichnete Wahl getroffen; auch die verwendete Schachuhr passt genau in die Epoche. Und das ewige Königumlegen zum Zeichen des Aufgebens mag man noch als »notwendige Visualisierung« durchgehen lassen. Aber mehr Positives lässt sich kaum noch anführen.

Dem stehen schwerwiegende Fehler gegenüber: So präsentiert uns der Film zum Beispiel einige Kombinationen Luzhins, darunter auch zwei aus dem Turnier, das im Zentrum des Films steht. Die erste Kombination ist der Partie Vidmar–Euwe, Karlsbad 1929, entnommen.

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Weiß am Zug

Vidmar, einen Zug vor dem Matt stehend, ließ hier folgende brillante Kombination vom Stapel: 34.Te8+ Lf8 (das Ausweichen 34…Kh7 verliert nach 35.Dd3+ den Turm und die Partie) 35.Txf8+ Kxf8 36.Sf5+.

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An dieser Stelle gab Euwe auf; der Film nimmt Rücksicht auf die Zuschauer und zeigt auch das Ende der Kombination: 36…Kg8 (36…Ke8 37.De7#) 37.Df8+ Kxf8 (37…Kh7 38.Dg7#) 38.Td8#.

So weit, so gut. Nur passierte dem Filmteam beim Aufstellen der Figuren ein kleiner, verhängnisvoller Fehler, der die ganze Wirkung zunichte macht: Der schwarze Turm wurde nicht auf c2 platziert, sondern auf c1, und das mit schrecklichen Folgen!

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Nicht nur könnte Weiß hier mit dem einfachen Zug Txc1 die Partie für sich entscheiden, sondern noch schlimmer ist, dass Vidmars Kombination in dieser Stellung überhaupt nicht funktioniert, da nach dem einleitenden Zug 34.Te8+ der weiße Turm auf d1 gefesselt ist und daher nicht das abschließende Matt auf d8 geben kann.

Sie gingen auch ins Theater und in den Zoo und ins Kino, wobei sich herausstellte, daß Lushin noch nie im Kino gewesen war. Unter weißem Geflimmer liefen die Bilder vorüber, und nach vielen Abenteuern kehrte die Tochter – nun eine berühmte Schauspielerin – in ihr Elternhaus zurück, blieb in der Tür stehen, während in der Stube ihr ergrauter Vater mit dem Arzt, einem treuen Freund des Hauses, der sich in all den Jahren überhaupt nicht verändert hatte, Schach spielte und sie noch nicht sah. Plötzlich lachte Lushin in der Dunkelheit auf. «Eine völlig unmögliche Figurenstellung», sagte er […].

«Sehr, sehr gut, dieser Film.» Er dachte noch etwas nach und fügte hinzu: «Aber vom Spielen haben sie keine Ahnung.» – «Wie meinen Sie das, sie haben keine Ahnung?» fragte seine Frau überrascht. «Die Schauspieler waren doch erstklassig.» Lushin schaute sie von der Seite an und wandte den Blick sogleich wieder ab […].

Aber es kommt noch ärger. Die Abbruchstellung der Partie Turati–Luzhin, nach der Luzhin schließlich zusammenbricht, sieht wie folgt aus:

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Schwarz am Zug

Diese Stellung wird im Film von Valentinov wie folgt eingeschätzt: Schwarz könne zwar unmittelbar einen Offizier zurückgewinnen, sähe sich danach aber einem unangenehmen Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern gegenüber. Diese Einschätzung basiert etwa auf der folgenden, leicht zu sehenden Zugfolge: 43…Te3+ 44.Kg4 (44.Kf2 ist natürlich ein schwerer Fehler, da nach 44…Txc3+ nicht nur der Springer, sondern auch der weiße Turm verloren wäre) Ld4 45.Lxa6 Txc3 46.Txc3 Lx3 und Weiß hat aufgrund der verbundenen Freibauern am Damenflügel als einziger noch Gewinnaussichten. Allerdings ist in der Stellung eine Mattkombination versteckt, die Luzhin kurz vor seinem Zusammenbruch entdeckt und aufschreibt: 43…Te3+ 44.Kg4 f5+ 45.Kg5 Kg7 (droht 46…Le7#) 46.Sd5 Th3!! 47.gxh3 h6+ 48.Kh4 Lf2#.

Das ist alles fein ausgedacht und die Kombination – immerhin ein Matt in 5, für das ich kein Vorbild habe finden können – ist mit ihrem Schlüsselzug 46…Th3!! wirklich nicht leicht zu sehen. Es scheint, dass Speelman gute Arbeit geleistet hat. Was aber macht nun der Film daraus? Unzufrieden mit dem tragischen Ausgang des Romans wird uns folgender Wurmfortsatz präsentiert: Beim Packen von Luzhins Sachen findet Natalia den Notizzettel mit der Kombination. Sie lässt sich von einem Bekannten – Jean de Stassard (Christopher Thompson), der zuvor als mäßiger Schachspieler und potentieller Ehekandidat eingeführt worden ist – die Notizen erklären, und dann findet das Unglaubliche statt (wofür Speelman natürlich gar nichts kann): Natalia setzt mit Luzhins Zettel in der Hand die Partie gegen Turati fort, und Luzhin gewinnt auf diese Weise postum das Turnier, das, um allem die Krone aufzusetzen, auch noch eine Weltmeisterschaft darstellen soll. Ein solch blödsinniger Kitsch ist in einem Schachfilm schon lange nicht mehr produziert worden, und die einzige Hoffnung ist, dass Nabokov sich inzwischen so oft im Grabe hat herumdrehen müssen, dass er jetzt wieder richtig liegt.

Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass die derzeit einzige Region-2-DVD nur eine 4:3-Letterbox-Version des Films ausschließlich in Englisch präsentiert. Die Extras sind kaum erwähnenswert.

Vladimir Nabokov: Lushins Verteidigung. Deutsch v. Dietmar Schulte, berarb. v. Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch 22550. 318 Seiten. 8,90 €.

The Luzhin Defence. UK/Frankreich, 2000. Entertainment in Video. Import-DVD (Region 2). Länge ca. 104 Minuten. Sprache: Englisch. Extras: Trailer; Featurette (ca. 4 Minuten!). Ca. 10,– €.

Mark Haddon: Der wunde Punkt

haddon_punktWahrscheinlich gibt es für die meisten Autoren kaum etwas schwierigeres, als den nächsten Roman nach einem Weltbestseller zu schreiben, schon gar, wenn der Weltbestseller auch noch der erste Roman des Autors war. Mark Haddons »The Curious Incident of the Dog in the Night-Time« war ein kleines, überraschendes und sehr originelles Buch, das seinen Witz in der Hauptsache aus der verfremdenden Perspektive seines autistischen Protagonisten bezogen hatte. So etwas lässt sich einerseits nur schwer wiederholen, andererseits sind die Erwartungen der meisten Leser durch das erste Buch in gewisser Weise vorbestimmt.

Haddon hat weder den Fehler gemacht zu versuchen, sich selbst zu übertreffen, noch hat er eine Fortsetzung zu seinem Erstling geschrieben. Sicherlich findet sich manche Ähnlichkeit (auch diesmal ist es wieder eine Familiengeschichte; auch diesmal haben die Protagonisten Geheimnisse voreinander; auch diesmal spielt ein Großteil der Handlung in einer Wohnsiedlung in der Nähe einer größeren Stadt etc.), aber nichts ist so, dass es aufdringlich erschiene. Das liegt sicherlich auch daran, dass Haddon diesmal einen personalen Erzähler wählt, der sich jeweils an der Perspektive eines der vier Protagonisten anbindet.

Die Protagonisten sind die Mitglieder der Familie Hall: Jean und George und ihre erwachsenen Kinder Katie und Jamie. George ist vor nicht allzu langer Zeit in Rente gegangen; er war Manager in einer Fabrik für Spielplatzausrüstung. Seine Frau Jean arbeitet stundenweise in einer Buchhandlung und hat seit einiger Zeit ein Verhältnis mit David, einem von Georges ehemaligen Arbeitskollegen. Katie hat eine erste Ehe bereits hinter sich, aus der sie einen Sohn, Jacob, hat, und ist zu Beginn des Romans gerade dabei, sich zum zweiten Mal zu verheiraten, mit Ray, einem Mann, den weder ihre Eltern, noch ihr Bruder gutheißen. Ihr Bruder Jamie ist Immobilienmakler und homosexuell. Er scheint zu Anfang des Romans sein Leben am besten im Griff zu haben: Er verdient gut, hat einen festen Freund, aber trotzdem seine Unabhängigkeit bewahrt, hat eine Wohnung, die ihm gefällt usw. usf. Aber die Hochzeitpläne seiner Schwester werfen ihn überraschend aus der wohlgeordneten Bahn seines Lebens.

Am schlechtesten geht es George, der seine Pensionierung trotz allen guten Vorsätzen und bewusster Aktivität – George baut sich als Anbau zu seinem Haus ein Studio, um seine alte Leidenschaft fürs Zeichnen wieder aufleben zu lassen – als einen wesentlichen Schritt zum Tode zu begreifen scheint. Er wird geplagt von Todesangst und Hypochondrie und entdeckt gleich zu Anfang des Romans ein Ekzem an seiner Hüfte, das er hartnäcknig und auch entgegen ärztlicher Diagnose für Krebs halten will.

Das erzählerische Rückgrat des Romans bilden die Vorbereitungen zu Katies Hochzeit bis hin zur eigentlichen Feier und die Schwierigkeiten zwischen ihr und Ray, die in dieser Zeit auftauchen. George gerät in dieser Zeit in eine echte Krise, die sich zu einer handfesten Psychose ausweitet. Einige Passagen von Georges Geschichte sind derartig überraschend und bewegend, dass sich das Buch allein wegen dieses Erzählstrangs zu lesen lohnt.

Allerdings muss man mit dem Buch Geduld haben. Erst nach über 200 Seiten gewinnt das Buch deutlich an Tempo, Dynamik und Humor. Die Übersetzung scheint – ohne Ansehung des Originals – solide, wenn auch nicht gänzlich fehlerfrei zu sein.

Mark Haddon: Der wunde Punkt. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Blessing, 2007. Pappband, 447 Seiten. 19,95 €.

Martin Rowson’s Tristram Shandy

rowson_shandyAngeregt durch die »Verfilmung« von Sternes »The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« habe ich wieder mal Martin Rowsons Tristram-Shandy-Comic aus dem Jahr 1996 aus dem Bücherschrank gezogen. Rowsons schwarz-weißer Comic ist eine höchst originelle und eigenständige Aneignung des Romans, die weit über den Status einer reinen Illustration oder bildlichen Umsetzung hinausgeht. Dabei fängt das Buch noch einigermaßen konventionell an, indem Rowson Tristram Shandy als Erzähler seines Lebens auftreten lässt, der – eine Leserin und einen Leser im Schlepptau – durch den Anfang des Romans führt, den er wortwörtlich im Munde führt. Dementsprechend ist die erste Episode dem Weg des Homunkulus zu seiner neunmonatigen Ruhestätte gewidmet.

Aber sehr bald tritt auch Rowson selbst in seinem Werk auf, immer begleitet von seinem treuen Hund Pete, der das ganze Unternehmen aber zum großen Teil schlicht für lästigen Humbug hält. Dem Zeichner verschärft sich bald das bekannte Problem Shandys, der ja sein Leben und seine Ansichten derart ausschweifend erzählt, dass er mit dem Erzählen dem Leben immer mehr hinterherhinkt, da Rowsons Fassung zum Teil so detailliert ist, dass er nach 126 (von insgesamt 182) Seiten erst am Ende von Buch III angelangt ist und schließlich nur 20 Seiten für die Bücher V bis IX übrig hat, so dass – zu seiner eigenen Überraschung – die Bücher VI und VIII komplett ausfallen müssen, damit es sein Buch gerade noch so schafft, das Ende von Buch IX des »Tristram Shandy« unterzubringen.

Rowsons bildliche Einfälle können nur als kongenial bezeichnet werden: Nicht nur zitiert er ständig zeitgenössische Illustratoren und Illustrationen, die Geschichte des Hafen Slawkenbergius aus Buch IV etwa wird in eine Reihe von Großbildern umgesetzt, die vom frühen Holzschnitt über einen Dürer-Stich, eine Hogarth-Doppelseite bis hin zu Aubrey Beardsley und George Grosz reicht. Und bei den bildlichen Einfällen bleibt es nicht: So gerät z. B. eine Fahrt in dem Segelwagen des Stevinus (Buch II) unter anderem auch in ein Kino, in dem eine kurze Szene aus »Oliver Stone’s ›Tritram Shandy‹« mit der Tagline »From a Place Called Namur to Hell and Back« zu sehen ist, mit Robert De Niro als Walter Shandy, Tom Cruise als Onkel Toby und Meryl Streep in der Rolle des Korporals Trim. Leider können wir nur raten, in welcher Rolle Danny DeVito zu sehen ist.

Rowsons »Tristram Shandy« ist sicherlich nur etwas für echte Liebhaber und Kenner des Buches; die aber werden es nicht mehr missen wollen, nachdem sie es einmal in die Hand genommen haben. Darf in keinem Bücherschrank eines echten Shandyisten fehlen!

Martin Rowson: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Woodstock: The Overlook Press, 1997. Leinenrücken, fadengeheftet, 182 unpaginierte Seiten. Preis ca. 20,– $.

Es existiert auch eine broschierte Ausgabe! Die bei amazon.de angebotenen Exemplare sind leider gänzlich überteuert (> 50,– €).