Prinz Eisenherz – Die ersten Jahre

Foster_Eisenherz_01Im Jahr 1937 erschienen die ersten Seiten einer Comic-Serie, die sich bis heute in ihrer Besonderheit erhalten hat. Erzählt werden seit nun beinahe 70 Jahren die Abenteuer von Prinz Valiant – in der deutschen Ausgabe Prinz Eisenherz –, einer Figur, die der Zeichner und Autor der Serie, Hal Foster, in den Mythenkreis um den Hof von König Artus in Camelot hineinerfunden hat. Eine neue Gesamtausgabe des Fosterschen »Eisenherz« bei Bocola liefert im ersten Band in ansprechender Druckqualität die farbigen Originale der beiden ersten Jahrgänge zusammen mit einer deutschen Übersetzung.

Was »Prinz Eisenherz« so besonders machte und wahrscheinlich bis heute überleben ließ – die Reihe wird noch immer durch neue Abenteuer ergänzt! – sind wahrscheinlich zwei Eigenschaften: Zum einen die sorgfältigen Zeichnungen Fosters und zum anderen sein Humor.

Da »Prinz Eisenherz« nur einmal in der Woche mit einer kompletten großformatigen Seite erschien, konnte Foster 40 bis 50 Arbeitststunden für jede Seite inverstieren. Das ermöglichte ihm, einen sehr sorgfältigen und detailverliebten Zeichenstil zu pflegen, der die Serie aus der damaligen Comic-Produktion deutlich heraushob. Zum anderen hatte Foster genügend Zeit, sich mit den historischen Hintergründen seiner Geschichte auseinanderzusetzen.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: In Bezug auf das, was man über die Zeit des frühen Mittelalters in England weiß, ist Fosters »Prinz Eisenherz« in etwa so exakt wie jeder beliebige Ritterfilm aus Hollywood. Aber Foster war sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Er musste sich den Erwartungen seiner Leser anpassen, die sich König Artus und seinen Hof im hochmittelalterlichen Kostüm vorstellten und einen Artus im Bärenfell, mit den Fragmenten einer römischen Rüstung angetan, einfach abgelehnt hätten. Also wird auch bei Foster Camelot ein idealer Hof des Hochmittelalters, so wie man ihn sich seit eben dieser Zeit immer und immer wieder ausgemalt hat. Aber darin eben hudelt Foster nicht, sondern wendet große Sorgfalt und Detailliebe für seinen Artushof und die Geschichte seines Prinzen auf.

Das andere aber ist Fosters Humor. Da »Prinz Eisenherz« von Anfang an als illustrierter Roman und nicht als Sprechblasen-Comic angelegt war, entwickelte Foster eine ganz eigene, leicht ironische Distanz zu seiner Erfindung. Er nimmt seine Helden in ihren großen Posen nie so ganz ernst, setzt auch die besten Ritter immer wieder einmal außer Gefecht und gibt Dummheit, Ungeschicklichkeit, Übermut und menschlicher Fehlerhaftigkeit ihren Raum. Zudem nutzt Foster die Möglichkeit, Bilder und Text, die ja beide aus seiner Feder stammen, einander spiegeln und widerspiegeln zu lassen. Das macht »Prinz Eisenherz« zu einem besonderen Comic, vielleicht dem frühesten Beispiel für einen Comic, der die Grenze zur ernstzunehmenden Literatur hin überschreitet.

Bocola hat nun den ersten Band einer auf 18 Bände angelegten Gesamtausgabe des Forsterschen »Prinz Eisenherz« vorgelegt. Der Band ist mit großer Sorgfalt zusammengestellt und durchgehend nach den Erstdrucken koloriert. Eröffnet wird er durch ein kluges und kenntnisreiches Vorwort von Wolfgang J. Fuchs. Band 1 umfasst die 98 Blätter der Jahre 1937 und 1938; Band 2 mit den Jahren 1939 und 1940 soll im Februar 2007 folgen.

Hal Foster Gesamtausgabe, Bd. 1: Prinz Eisenherz. Jahrgang 1937/1938. Bocola Verlag, 2006. Pappband, 32 cm hoch, fadengeheftet. 19,90 €.

Katze, Katze – Tatze, Tatze

katzenkalender2007Es gibt – abgesehen von den Übrigen – im Grunde nur drei große Gruppen von Menschen: Hundemenschen, Katzenmenschen und jene gesegneten Exemplare, die mit beiden leben können und wollen. Für die letzten beiden Gruppen stellt der Verlag Schöffling & Co. seit über zehn Jahren seinen »Literarischen Katzenkalender« her. Er ist für jede Woche im Jahr gerade richtig: jeweils ein Blatt mit einem ausgesuchten Katzenbild und einem Zitat, Sprichwort oder Bonmot – gerade kurz genug, dass man sich nicht daran satt sieht, und gerade lang genug, dass man Zeit hat, Bild und Text wirklich auszukosten.

Ich verfolge den »Literarischen Katzenkalender« nun seit einigen Jahren und jedes Jahr erwarte ich, dass er nun eigentlich nachlassen müsste. Soviel gute Katzen-Fotos kann es doch nicht geben und die Zitate müssten denen bei Schöffling & Co. doch auch langsam ausgehen. Und jedes Jahr ist der Kalender wieder eine Freude. Sicher: Hier und da schmuggeln sie ein Zitat ein, dass nur indirekt mit Katzen zu tun hat, so etwa einige Verse aus Goethes »Zauberlehrling« zu einem Bild, auf dem nur ein Katzeschwanz über den Rand einer Badewanne lugt, aber auch in diesen Fällen überzeugt immer die Kombination von Bild und Text.

Und gleich auf dem nächsten Blatt liegt ein junger, frecher Katz in einer halboffenen Schublabe und darunter steht:

Cyril blinzelte träge und begab sich wieder an seine Morgentätigkeit, Racers Schublade auszuleeren. Als der Kater fertig war, hob er den Kopf, als ob die Aufgabe ihn nun langweile.

Martha Grimes

Wer ihn nicht selbst gebrauchen möchte, sollte ihn wenigstens verschenken; ich habe es mir dieses Jahr ausgebten, dass ich nach Ablauf des Jahres den alten Kalender im Tausch gegen den fürs neue Jahr zurückbekomme. Ich werde mir eine kleine Sammlung anlegen, denn die Kalender sind wie kleine Bildbände, die man auch Jahre später noch einmal mit Freude durchblättert. Für jede und jeden, die/der eine Katze hat, gerne eine hätte oder eine haben sollte!

Der literarische Katzenkalender 2007. Schöffling & Co. 56 Blatt. Spiralbindung. 19,90 €.

P.S.: »Der Literarische Katzenkalender« hat auch eine eigene Homepage.

Walter Hinck: Roman-Chronik

Hinck_RomanchronikKurz gefasste Literaturgeschichten treffen offenbar ein Bedürfnis der Zeit. So hat jetzt auch der Germanist Walter Hinck – emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln – mit seiner »Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts« einen kurzgefassten Durchgang durch die deutschsprachige Romanliteratur des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Der Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« ist dabei zwar etwas vollmundig geraten, aber ansonsten ist Hincks kleine Literaturgeschichte so schlecht nicht.

Hinck bespricht insgesamt 37 Romane, die zwischen 1900 und 2000 erschienen sind. Jeder Autor ist nur mit einem Werk vertreten (die einzige Ausnahme bildet Herman Broch, dessen Trilogie »Die Schlafwandler« aufgenommen worden ist), und die Liste der Autoren entspricht dem, was man bei einem solchen Buch erwarten darf: Heinrich und Thomas Mann, Franz Kafka und Hermann Hesse, Heinrich Böll und Alfred Andersch, Thomas Bernhard und Arno Schmidt usw. usf. Auch die Auswahl der Romane ist großteils eher sehr konventionell, nur hier und da erlaubt sich Walter Hinck einen Ausreißer: Dass von Thomas Mann etwa der selbstverliebte und zeitferne Roman »Königliche Hoheit« statt des »Zauberbergs« gewählt wurde, begründet Hinck damit, dass er keine Lust gehabt habe »Hunderte von Auslegungen und Spekulationen wiederzukäuen«, ohne allerdings zu verraten, wer solches denn von ihm verlangt oder auch nur erwartet hätte. Auch dass er von Günter Grass statt des einzig im Sinne einer Chronik relevanten Romans »Die Blechtrommel« den weitgehend formlosen und in seinem Anspruch hybriden Spätling »Ein weites Feld« bespricht, bleibt unverständlich. Als einzige wirkliche Überaschung und spannende Ausnahme in der sonst konventionellen Zusammenstellung dürfte Norbert Gstreins »Die englischen Jahre« aus dem Jahr 1999 gelten.

Im Einzelnen findet der Kenner zahlreiche kleinere Fehler, die aber bei der Lektüre des Bandes gar nicht stören müssen. Hincks Roman-Chronik ist ein anregendes Lesebuch, das einen, wenn man den Empfehlungen folgt, mit einer breiten Palette von interessanten deutschsprachigen Roman-Autoren des 20. Jahrhunderts bekannt macht. Gerade den notorisch schlecht belesenen Studenten der Neueren deutschen Literatur kann man das Buch als Lektüreplan sorglos an die Hand geben, und auch der eine oder andere Leser wird aus dem Buch eine knappe Orientierung in der verzweigten Geschichte der Romanliteratur des vergangenen Jahrhundert finden können.

Der mitgelieferte Anspruch, die Roman-Chronik lassen »eine Geschichtschronik durchscheinen«, der sich auch in dem etwas protzigen Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« niedergeschlagen hat, erweist sich letztendlich als gänzlich banal:

Besondere Aufmerksamkeit richtet sich also auf Romane, in denen der Gang der politischen und der Sozialgeschichte, der Kultur-, der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte seinen Fußabdruck in der Erzählung hinterlassen hat. [S. 9]

Das gilt in dieser Allgemeinheit offensichtlich für jeden Roman – wie weltabgewandt er sich auch immer geben mag, da sein Autor immer auch »ein Mensch mit Menschen« ist – und wird auch nicht weiter spezifiziert. Man kann diesen Aspekt daher getrost auf sich beruhen lassen.

Wer nicht zuviel von diesem Buch erwartet, sondern es als Anregung und kleinen Wegweiser benutzt, dem kann es wahrscheinlich gute Dienste leisten. Wer etwas mehr erwartet, ist sicherlich mit den Bänden 3–5 des Romanlexikons in der Reclamschen Universalbibliothek besser bedient.

Walter Hinck: Roman-Chronik. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. DuMont, 2006. Pappband, 282 Seiten. 24,90 €.

Hier geht’s um die Wurst

Heidelbach_Wurst Wiglaf Droste und Vincent Klink geben seit einiger Zeit zusammen das Magazin »Häuptling Eigener Herd« heraus, das inzwischen bei Heft 28 angekommen ist. Darin geht es ums Essen, Kultur und Unkultur, und das Schönste daran ist, dass die Herausgeber und Autoren sich selbst nicht so besonders ernst nehmen. Nikolaus Heidelbach ist einer der bemerkenswertesten Illustratoren in der deutsche Buchlandschaft. Sein Stil ist unverkennbar, seine Illustrationen sind anspielungsreich und hintergründig, hier und da auch unvergleichlich böse. Heidelbach hat u. a. zahlreiche Kinderbücher illustriert und dabei sehr oft in einmaliger Weise die Abgründigkeit der kindlichen Welt getroffen. Und diese drei haben nun zusammen ein Buch gemacht: »Wurst«.

Eigentlich sollte »Wurst« ein Heft des Magazin »Häuptling Eigener Herd« werden, aber Heidelbachs farbige Illustrationen verlangten nach einem anderen Publikationsort. Und so hat Wiglaf Droste den Kölner Verlag DuMont dazu überredet, ein Buch daraus zu machen. Das Buch bringt genau das, was der Titel verspricht: Es dreht sich alles um die Wurst.

Die Beiträge – deren Autoren jeweils mit einer Heidelbachschen Vignette bezeichnet sind – reichen von der autobiographisch gefärbten Erzählung über eine kosmologische Theorie der Fenchelsalami, Listen mit Wursttiteln in Film und Literatur sowie klassischen Wurstzitaten (dass Heine mit seinen »Göttinger Wurstzitaten« hier fehlt, schmerzt gerade im Heine-Jahr ein wenig), einer kleinen Wurstkunde bis hin zu Rezepten, bei denen dem Fleischfresser bereits beim Lesen der Zutatenliste das Wasser im Munde zusammenrinnt.

Dabei beweist sich insbesondre Vincent Klink einmal mehr als begnadeter Erzähler: Seine Geschichte »Allah schaut weg« über vier Köche aus Afrika, die in München die lokale Küche kennenlernen wollen, um später in der Heimat Touristen bekochen zu können, ist ein kleines Meisterstück lakonischer Erzählkunst.

Und der Band ist reichhaltigst illustriert: Nikolaus Heidelbach setzt die Themen Wurst und Erotik, Wurst und Religion und insbesondere Wurst und Tod auf immer neue Weise ins Bild: Eine Saitenwurst, in der sich der Tod versteckt, eine modebewusste Dame auf hochhackigen Schuhen, die sich als Gipfel der Eleganz eine Scheibe Blutwurst umgeschlagen hat, eine verführerische »Kleine Wurstgöttin« mit Senftöpchen, ein goyascher schlafender Koch, dessen Schlaf Flederwürste gebiert. Mein Lieblingsstück ist vielleicht das ganz stille Doppelblatt »Die Hl. Martha führt den Tod mit Blutwurst in Versuchung«.

Ein Lesebuch, ein Bilderbuch, ein Rezeptbuch, ein Verschenk- und Sichselbstbeschenkbuch – und das alles zum Preis eines bescheidenen Abendessens beim Italiener um die Ecke.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst. DuMont, 2006. Leinen, fadengeheftet, 160 Seiten. 24,90 €.

Der Große der Kleinen

LK 07Seit mehr als 50 Jahren liefert Reclam, Stuttgart, jedes Jahr seinen kleinen Literaturkalender, der auf etwas mehr als 100 Seiten die literarischen Geburts- und Gedenktage des kommenden Jahres versammelt und zu einer Auswahl der wichtigsten Jubiläen kurze Autorenporträts und Textausschnitte liefert: Eine Einstimmung auf das kommende Lesejahr und eine angenehme Anregung zu der einen oder anderen (Wieder-)Lektüre. Und ein literarisches Jubiläums-Rätsel gibt es obendrein.

Natürlich steht im nächsten Jahr Joseph von Eichendorff auf dem Programm, dessen 150. Todestages wir gedenken. Als einer der langlebigsten Romantiker hatte er zu Ende seines Lebens seine Zeit derartig überlebt, dass ihn einige Lexika bereits voreilig für tot erklärt hatten. 2007 wäre eine gute Gelegenheit, wieder einmal in einer Gedichtsammlung Eichendorffs zu blättern oder die lang zurückliegende Schullektüre des »Taugenichts« durch die des Romans »Dichter und ihre Gesellen« zu ergänzen.

Bei den neueren Autoren wird ausführlich auf Martin Walsers 80. Geburtstag hingewiesen, und wir erfahren, dass Peter Handke, in den wilden Jahren um 68 herum als revolutionär-konservativ- individualistisches Alternativprogramm gestartet, endlich das Rentenalter erreicht, von dem sein Werk seit vielen Jahren Zeugnis ablegt. Aber auch an den ersten Todestag von Robert Gernhardt, den wir gern noch ein paar Jahre mehr bei uns gehabt hätten, wird erinnert.

Unter den nicht ganz so populären Autoren fällt der 200. Geburtstag von Friedrich Theodor Vischer ins Gewicht: Der schwäbische Philosophie-Professor hatte neben der Arbeit an seiner umfangreichen »Aesthetik« noch Zeit für mancherlei gefunden: Umfangreiche Vorlesungen zu Shakespeare, den autobiographisch unterfütterten Roman »Auch Einer«, in dem er »die Tücke des Objekts« erfunden hat, und der einzigen, wirklich gelungenen Parodie des Goetheschen Faust: »Faust, der Tragödie dritter Teil. Treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky«, in der er sich nicht nur über den Goetheschen Text, sondern auch über die Goethe-Forscher seiner Zeit lustig macht. Vielleicht entschließt sich ja im Jubiläums-Jahr ein Verlag, einmal wieder Vischers »Kritische Gänge« aufzulegen.

Man sieht: Der kleine Literaturkalender von Reclam liefert so manche Anregung und Gelegenheit zum Schmökern. Man kann ihn ein Jahr lang in der Tasche tragen und immer mal wieder einen Blick hineinwerfen und einige Seiten lesen. Ein kleines Buch fürs ganze Jahr, und das für nur 2,60 €.

Reclams Literatur Kalender 2007 (53. Jahrgang). RUB 18436. Broschiert, 128 Seiten. 2,60 €.

Capote am Wendepunkt

capoteWenn sich ein Film eines durch und durch literarischen Themas annimmt, so soll er auch in einem Buch-Blog besprochen werden. Bennett Miller hat im Jahr 2005 mit »Capote« einen Welterfolg gedreht, dessen überragender Hauptdarsteller 2006 nicht nur den Golden Globe, sondern auch den Oscar für sein außergewöhnliches Porträt Truman Capotes gewonnen hat. Der Film liegt jetzt auch in Deutschland als DVD vor.

Der Film konzentriert sich auf eine Phase im Leben Capotes, die letztendlich nicht nur seinen Weltruhm begründet hat, sondern auch der Anfgng von seinem Ende als Autor war. Die Geschichte beginnt im November 1959 mit der Ermordung einer vierköpfigen Familie, der Clutters, in Holcomb, Kansas. Die Täter hatten im Haus eine große Summe von Geld vermutet und wollten eigentlich nur einen Raubüberfall vornehmen, der aber eine für die Opfer tödliche Wendung nimmt. Capote, der als Autor von »Frühstück bei Tiffany« schon einen gewissen Ruhm genießt, stößt in der »New York Times« auf eine Meldung dieses ungewöhnlich grausamen Verbrechens, dessen Täter zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt sind. Er entschließt sich, für das Magazin »The New Yorker« als Reporter nach Kansas zu fahren. Er wird begleitet von seiner langjährigen Bekannten Harper Lee, die zu dieser Zeit für ihr Buch »Wer die Nachtigall stört« einen Verleger zu finden.

Die Begegnung Capotes mit den Menschen von Holcomb, den den Fall untersuchenden Beamten und schließlich auch den Tätern läßt in ihm die Idee zu einem neuen Buch entstehen, einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion, die das Verbrechen in seiner Vorgeschichte, seiner Durchführung und seinen Folgen sowohl für die Freunde und Nachbarn der Opfer als auch für die Täter darstellt. Das Buch wird nicht nur Truman Capote zu einem weltberühmten und reichen Autor machen, die Erfahrungen, die Capote in den sechs Jahren der Auseinandersetzung mit dem Verbrechen und den Verbrechern macht, werden ihn so verändern, dass er in eine ernste Lebenskrise stürzte, von der er sich nie wieder wirklich erholen sollte.

»Capote« ist einer der Glücksfälle im Filmgeschäft, bei dem ein exzellentes Drehbuch (von Dan Futterman) auf einen inspirierten Regisseur trifft und in den Hauptrollen hervorragend besetzt werden kann. Überragend Philip Seymour Hoffman, der nicht nur das auffällige Gebaren Truman Capotes – das für deutsche Zuschauer sicherlich gewöhnungsbedürftiger ist als für die Amerikaner, die in vielen Fällen Truman Capote noch von seinen zahlreichen Fernsehauftritten in Erinnerung haben dürften – in unglaublich genauer Manier reproduziert, sondern der auch verständlich werden lässt, was an diesem Menschen so faszinierend war und weshalb so viele Menschen sich ihm anvertraut haben. Capote muss ein wirklich außergewöhnliches Individuum gewesen sein, und Hoffman gelingt es, diese Ausnahmeerscheinung lebendig werden zu lassen. Dabei liegt dem Film jede Glorifizierung seines Protagonisten fern: Capote wird auch als berechnender, eigennütziger und feiger Nutznießer des Vertrauens eines der Mörder vorgeführt; dass er sich selbst diese Rolle später sehr übel nehmen wird, deutet der Film mehr an, als er es vorführt. Die persönliche Katastrophe, die für Capote dem Ruhm folgte, bleibt im Film ausgeblendet.

Auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt: Catherine Keener als Nelle Harper Lee, Chris Cooper als Alvin Dewey, einer der Beamten, die den Fall untersucht haben, und nicht zuletzt Clifton Collins jr. als Perry Smith, einer der beiden Mörder, um nur einige wichtige Rollen des Films zu nennen. Ein solch harmonisches Ensemble auch bis in kleinere Rollen hinein, ist tatsächlich selten. Ein ruhiger und unaufgeregter Film, der unter die Haut geht; ein beeindruckendes und schonungsloses Autorenporträt. Wenn irgend möglich sollte man den Film im englischen Original anschauen, um die Leistung Hoffmans möglichst unverfälscht genießen zu können. Kino für Leser at it’s best!

Capote. Kanada, 2005. Sony Pictures Classic. DVD. Länge ca. 110 Minuten. Sprachen: Englisch und Deutsch. Extras: Zwei Kommentar-Tracks (Regisseur und Hauptdarsteller, Regisseur und Kameramann), eine Dokumentation und ein mehrteiliges »Making of«. Ca. 18,– €.

Der elektronische Goethe

Goethe_DigibibDie Digitale Bibliothek hatte schon sehr früh zwei umfangreiche Textsammlungen zu Johann Wolfgang von Goethe herausgebracht: Bd. 4 enthielt eine umfangreiche Werkauswahl und Bd. 10 versammelte die Briefe und Tagebücher in der Fassung nach der sogenannten Sophienausgabe sowie eine frühe Fassung der Sammlung der Gespräche Goethes durch Woldemar von Biedermann. Nun bringt die Digitale Bibliothek einen Sonderband, der die beiden Bände zusammenfasst und so die umfassendste elektronische Quelle zu Goethe darstellt.

Da Goethe ohne Frage nicht nur für das 19., sondern auch noch für das 20. Jahrhundert einer der einflussreichsten deutschsprachigen Schriftsteller ist, bedarf eine elektronische Fassung seiner umfangreichen Schriften kaum einer Rechtfertigung. Was ist Goethe nicht alles zu Recht und zu Unrecht zugeschreiben worden, wer hat sich in den vergangenen 250 Jahren nicht alles auf Goethe berufen. Das Internet ist eine neue, reiche Quelle sogenannter zugeschriebener Zitate für die keinerlei Beleg angeführt werden und in vielen Fällen auch nicht anzuführen sind. Eine elektronische Ausgabe in dem Ufang, wie die Digitale Bibliothek jetzt anbietet, ist da eine solide Grundlage zur Überprüfung und Recherche.

Sie wird aber auch für den einen oder die andere Leser/in eine sinnvolle Ergänzung zur gedruckten Werkauswahl in seinem bzw. ihrem Bücherschrank sein. Denn wer hat schon vor, die Briefe Goethes in ihrer Gesamtheit zu lesen? Da braucht man eine durchsuchbare Quelle, in der man effizient nach Stichwörtern suchen und die Fundstellen vergleichen kann. Das alles bietet die seit vielen Jahren gut ausgereifte Software der Digitalen Bibliothek. Ähnliches gilt natürlich auch für die Sammlung der Gespräche, die zwar in der reproduzierten Sammlung von 1889 ff. nicht auf dem neusten Stand ist, für die allermeisten Belange auber vollständig ausreichen dürfte.

Grundlage der Werkauswahl sind in der Hauptsache die etwas ältliche aber recht umfangreiche Berliner Ausgabe der Werke Goethes und die immer populäre Hamburger Ausgabe. Auch dies ist nicht ideal, für praktische Zwecke völlig ausreichend. Die Briefe und Tagebücher werden – wie bereits erwähnt – nach der grundlegenden Sophien-Ausgabe präsentiert.

Abgerundet wird die umfangreiche Zusammenstellung durch den Text der kurzen Goethe-Biographie von Anja Höfer – gedruckt in der Reihe »dtv-portrait« – und dem sehr nützlichen »Who’s who bei Goethe« von Michael Lösch (ebenfalls im Druck bei dtv), einem ausführlichen Figurenlexikon zu den Werken Goethes. Insgesamt umfasst die CD-ROM mehr als 46.000 Bildschirmseiten, was in etwa 23.000 Buchseiten entsprechen dürfte. Der Preis von 19,90 € ist bei einem solchen Angebot kaum der Rede wert.

Johann Wolfgang von Goethe – Leben und Werk. Digitale Bibliothek Sonderband 30. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) – MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 19,90 €.

Software für Mac- und Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Katharina Hacker: Die Habenichtse

habenichtseNun waren die Preisrichter mit ihrem Urteil doch rascher fertig als ich mit meiner Lektüre. Katharina Hackers Roman »Die Habenichtse« ist mit dem Deutschen Buchpreis 2006 ausgezeichnet worden. Die Auswahl der Shortlist im Jahr 2005 war von erstaunlicher Qualität gewesen und das Buch, das den Preis schließlich erhielt, Arno Geigers »Es geht uns gut«, war eine durchweg positive Überraschung. Das ließ für dieses Jahr viel hoffen.

»Die Habenichtse« beginnt mit drei Erzählsträngen, die sich nach etwas mehr als einem Drittel des Buches miteinander vereinen:

1. Die Geschichte von Jakob und Isabelle beginnt in Berlin, wo sich die beiden nach vielen Jahren wieder begegnen. Sie kennen einander aus ihrer Studienzeit in Freiburg, haben damals eine einzige Nacht miteinander verbracht, die Jakob offenbar so einprägsam war, dass er – inzwischen Jurist in Berlin – für viele Jahre darauf wartet, ob ihm das Schicksal Isabelle noch einmal über den Weg führt. Isabelle arbeitet als Graphikerin in Berlin für eine kleine Werbeagentur. (Wer erstellt einmal eine Bibliografie all jener Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, in denen wenigstens eine der Hauptfiguren in der Werbung arbeitet?) Und sie begegnen einander auf einer Feier am Abend jenes unvergesslichen 11. September 2001. Jakob und Isabelle heiraten rasch, und Jakob geht im Auftrag seiner Berliner Firma nach London, in Vertretung eines Kollegen, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen ist – auch dies schicksalhaft, wie Jakob meint, denn eigentlich wäre er an jenem Tag im WTC gewesen, hätte er nicht, um Isabelle sehen zu können, seine Reise vorverlegt.

2. Jim ist ein Londoner Kleinkrimineller und Dealer, der mit Leidenschaft an Mae hängt, einer labilen und drogensüchtigen jungen Frau, die früh aus dem Roman verschwindet, nachdem Jim einmal mehr seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte. Jim sucht nach Mae, versucht dem Einfluss seines Bosses zu entkommen und nistet sich in der Wohnung eines entfernten Bekannten ein, der sich für längere Zeit nicht in London aufhält. Jims Geschichte steckt voller Klischees, sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher, und sein Milieu wird ungefähr so geschildert, wie sich ein deutscher »Tatort«-Zuschauer die Verbrecherwelt vorstellen mag. Jim bleibt als Figur mager und ohne rechten Hintergrund; wir verstehen nur, dass er ein Umhergetriebener ist, aber wir verstehen nicht, warum. Eine schlimme Kindheit wird angedeutet, das frühe Ausreißen von Zuhause, das diesen Mann »hart« gemacht hat etc. Aber das alles bleibt vage und eher entworfen als erzählt.

3. Sara ist ein kleinwüchsiges und vielleicht auch geistig zurückgebliebenes kleines Mädchen, das mit ihrem älteren Bruder Dave und ihren Eltern in derselben Straße Londons wohnt, in die auch Jakob und Isabelle einziehen werden und in der Jim seine Fluchtwohnung hat. Sara lebt in einem zerrütteten Elterhaus: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter gänzlich willenlos, der Bruder die einzige Person, die sich um Sara kümmert. Die Eltern halten Sara im Haus, lassen sie nicht in die Schule gehen, ob aus Scham, aus Bequemlichkeit oder aus Gedankenlosigkeit wird letztendlich nicht klar, weil Saras Eltern recht schemenhaft bleiben. Sara wird von ihrem Vater geschlagen, eine Stelle des Romans deutet auch einen sexuellen Missbrauch an, sie muss oft mehrere Tage hungern, wenn beide Eltern aus dem Haus sind und auch ihr Bruder den häuslichen Missständen zu entfliehen versucht.

Alle diese Personen und einige Neben- und Randfiguren werden in den beiden hinteren Dritteln des Buches miteinander in Beziehung gesetzt. Genauso aseptisch, wie das klingt, ist es auch. Der größte Mangel des Buches scheint mir zu sein, dass es sich bei allen Figuren um Gedankenkonstrukte, um Platzhalter in einer Installation der Autorin handelt: Keine der Figuren hat Geist, keine der Figuren hat Leben, selbst ihre inneren Widersprüche sind konstruiert und erzeugen keine Spannung. Jim steht für die Gewalt, Isabelle für die Sexualität, Jakob für Weltflucht und Konfliktscheu, Sara für das geschundene, unschuldige Opfer usw. usf. Katahrina Hacker schiebt diese Figuren auf dem Schachbrett ihres Romans 300 Seiten lang herum, ohne dass dabei irgendetwas Relevantes oder auch nur Überraschendes herauskommen würde. Und tatsächlich spielt sie mit all dem bloß: Nichts hat tatsächlich ernsthafte Konsequenzen in diesem Roman – zwei Katzen sterben, das ist aber schon das Ärgste, obwohl die Allgegenwart von Gewalt immer wieder behauptet wird – und von der Gnadenlosigkeit der Zerstörung eines Shakespeares, dessen »King Lear« Katharina Hacker kokett zitiert, hat der Roman auch nicht einen Schimmer. Alles bleibt papieren und – und das ist das Schlimmste überhaupt – langweilig. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch über weite Strecken gänzlich humorfrei zu sein scheint.

Nur hier und da blitzt einmal auf, dass das auch ein spannendes Buch hätte werden können: Wenn Jakob sich etwa im Auftrag eines Klienten mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorf beschäftigt, bekommt man plötzlich eine Seite lang einen Eindruck davon, was die Autorin alles hätte erzählen können. Hier und da sind Wirklichkeitsdetails genau recherchiert und punktgenau getroffen. Aber das geht rasch vorbei und wieder zieht Katharina Hacker seitenlang ihre Figuren übers Brett. Ich jedenfalls habe mich herzlich gelangweilt bei der Lektüre.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. Pappband, 309 Seiten. 17,80 €.

Das witzigste Buch der Welt

shandy

Anlässlich der stark beworbenen Neuausgabe der Übersetzung von Michael Walter beim Eichborn Verlag möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, auf eines der witzigsten Bücher der Weltliteratur hinzuweisen: Laurence Sternes »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman«. Es gibt nicht viele Bücher, die man in seinem Leben immer und immer wieder lesen kann, ohne dass sie ihren Reiz und Witz irgendwann einmal verlieren; der »Tristram Shandy« gehört sicherlich dazu.

Denn ungewöhnlich ist das Buch in beinahe jeder Hisicht. Aber langsam! Fangen wir mit dem an, was sich ohne zu große Verwirrung zu stiften, sagen lässt: »Tristram Shandy« ist zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden in London erschienen. Sein Autor, Laurence Sterne (1713–1768), entstammte einer englischen Offiziersfamilie, war in Irland geboren worden, und zu dem Zeitpunkt, als er seinen Roman schrieb, seit 20 Jahren Geistlicher. Die ersten beiden Bände des »Tristram Shandy« machten den Autor über Nacht berühmt und zu einem gefeierten und gesuchten Gast der Londoner Salons. Auch in Paris, das er Ende 1762 auf dem Weg nach Südfrankreich besuchte, wurde er triumphal empfangen und gefeiert. Er war einer der Literaturstars seiner Zeit. Neben dem »Tristram Shandy« existiert noch eine Sammlung von Predigten und im Todesjahr 1768 erschien »A Sentimental Journey through France and Italy« in zwei Bänden. Damit ist Sternes Werk auch schon so gut wie ausgeschöpft.

Der Ich-Erzähler und Held des »Tristram Shandy« ist wahrscheinlich einer der ungewöhnlichsten, sicherlich aber der unordentlichste Erzähler der Weltliteratur. Von jedem Gedanken, jedem Einfall lässt er sich ablenken, immer fällt ihm noch etwas ein, das er noch kurz erzählen muss, bevor er mit seiner Geschichte weiterkommen kann, wobei er in der Abschweifung gleich die nächste Abschweifung beginnt und so weiter und so fort. Den Anfang seiner Lebensgeschichte macht er mit einem Bericht, beinahe schon einer Klage über seine eigene Zeugung:

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie vornahmen, als sie mich zeugten! Hätten sie geziemend erwogen, wieviel von dem abhinge, was sie damals taten – daß es also nicht nur die Erzeugung eines vernünftigen Wesens galt, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und ausgiebige Wärme des Körpers, daß vielleicht des Menschen Geist und seine ganze Gemütsbeschaffenheit, ja sogar – denn was wußten sie vom Gegenteile? – das Wohl und Geschick seines ganzen Hauses durch ihren damals vorherrschenden Seelen- und Körperzustand bestimmt werden konnte; – wenn sie, wie gesagt, das alles getreulich erwogen und überdacht hätten und dementsprechendvorgegangenwären, sowürde ich nach meiner Uberzeugung eine ganz andere Figur in der Welt gemacht haben als die, in welcher mich fortan der Leser dieses Buches erblicken wird.

(Übers. v. Rudolf Kassner)

Und nachdem er im Folgenden die Umstände seiner Zeugung mit einiger Sorgfalt »ab ovo« – um wie Tristram Shandy selbst mit Horaz zu sprechen – dargelegt hat, braucht der Erzähler immerhin bis ins dritte Buch hinein, um überhaupt bis zu seiner Geburt und zugleich Nottaufe vorzudringen. Im Weiteren erfahren wir, warum nach Auffassung der Kirche Kinder nicht mit ihren Müttern verwandt sind, was für eine geheimnisvolle Bewandnis es mit Nasen und Namen hat, wie und – im doppelten Sinne – wo Tristrams Onkel Toby in Flandern bei der Belagerung von Namur verletzt wurde und was diese Verletzung für Folgen zeitigte, wir kommen an der berühmten schwarzen und der noch berühmteren bunten Seite des Buches vorüber – jene ein Symbol der Trauer, diese ein Symbol der Buntscheckigkeit des Buches und des Lebens –, vermissen ein ganz und gar aus dem Buch herausgerissenes Kapitel, werden vom Erzähler zum Kapitelanfang zurückgeschickt, weil wir beim Lesen nicht gut genug aufgepasst haben, und was der Leseabenteuer mehr sind. »Tristram Shandy« ist eine solch übersprudelnde Quelle von Einfällen, Pointen, nichtsnutzigen Verweisen, falschen und richtigen Zitaten, philosophischen Weis- und Dummheiten, dass es eine reine Freude ist. In diesem Buch kann man versinken, die Welt vergesssen und sie wiederfinden. In jeglicher Hinsicht ein Zauberbuch.

Das Buch war im 18. Jahrhundert ein solch grandioser Erfolg, dass es nicht nur rasch in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt wurde, sondern dass es eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden hat: Die Sterneiana sind auch in Deutschland eine wichtige Literaturtradition, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert fortgesetzt hat; aber davon müssen wir ein andermal erzählen.

Die nun bei Eichborn wieder aufgelegte Übersetzung Michael Walters ist die späteste und modernste Übersetzung des Textes. Die erste deutsche Übersetzung stammt von dem bedeutenden Verleger und Übersetzer Johann Christoph Bode und erschien 1774. Später ist das Werk noch des öfteren übersetzt worden; die Eindeutschungen von Seubert (1880) und Kassner (1937) dürften auch heute noch bedeutsame Alternativen darstellen. Dass sich schließlich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer der besten deutschen Übersetzer – Michael Walter – daran gemacht hat, den »Tristram Shandy« neu ins Deutsche zu übertragen, hatte seine erste Ursache in einem Aufsatz Arno Schmidts. Der hatte in »Alas, poor Yorick!« (1963) nicht nur eine der damals noch im Druck befindlichen Überarbeitungen der Bodeschen Übersetzung auf gut irokesisch massakriert, sondern verstärkt auch auf den seiner Meinung nach weitgehend ignorierten sexuellen Grundbass des Buches hingewiesen.

Michael Walter machte es sich nun zur Aufgabe, eine Übersetzung zu liefern, die gerade diesen Basso continuo sexueller Anspielungen und Wortspiele deutschen Lesern sichtbar machen sollte. Dabei ist ihm dieser Klang zum Teil recht deutlich geraten, hier und da sicher auch deutlicher als im Original. Aber wenigstens eines kann der deutsche Leser der Walterschen Übersetzung nur mit Mühe: Ignorieren, dass es sich bei »Tristram Shandy« auch um ein Buch des sexuellen Witzes handelt.

Ohne jede Frage ist die Waltersche Eindeutschung grandios und virtuos geraten. Aber vielleicht ist es doch besser, das Buch zuerst einmal – mehrmals lesen wird man es ohnehin, wenn man es denn einmal mit Genuss gelesen hat – in der Übersetzung von Rudolf Kassner zu lesen (Diogenes Taschenbuch 20950). Auch Kassner hat die sexuelle Ebene des Textes durchaus wahrgenommen und mitübersetzt, ist aber deutlich dezenter als Walter. Und so mag es der einen oder dem anderen eher gelingen, auch auf die anderen Töne zu hören, die bei Walter manchmal drohen im allzureichen Glockenklang unterzugehen. Aber ganz gleich, welchen Zugang man auch wählt, für »Tristram Shandy« gilt der alte Satz Lichtenbergs: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Laurence Sterne: Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys. Aus dem Englischen von Rudolf Kassner. Zürich: Diogenes, 1982. (detebe-Klassiker 20950). Broschiert, 810 Seiten. 14,90 €.

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Ins Deutsche übertr. u. hrsg. v. Michael Walter. Neuausgabe Frankfurt: Eichborn, 2006. 852 Seiten. 39,90 €.

Die gänzlich »Andere Bibliothek«

Kann sich noch jemand außer mir erinnern, wie alles angefangen hat? Ende 1984 flutete der noch junge Greno Verlag die Buchhandlungen mit zwei Werbebroschüren: Eine zur Ankündigung einer neuen Buchreihe, der »Anderen Bibliothek«, die zweite speziell für den ersten Band der Reihe, Lukian von Samosatas »Lügengeschichten«. Und im Januar 1985 erschien dieser erste Band: Blauer Einband und ein Pappschuber, rotes Rückenschildchen, Fadenheftung und rotes Lesebändchen und – wichtigster handwerklicher Punkt der Ideologie der Reihe – im Bleisatz gesetzt; Preis: 25 Deutsche Mark (so hieß bei uns das Geld damals). Und ein Wunder geschah: Lukian von Samosata, der seit vielen Jahrzehnten nur noch einige Altphilologen zu einem zurückhaltendem Grinsen gebracht hatte, verkaufte sich so gut wie vielleicht niemals zuvor in der Geschichte des Buchhandels. Ein weiterer Sieg des Marketings über die Trägheit des Publikums!

Nun meldete Spiegel online, dass der Eichborn Verlag die »Andere Bibliothek« auch nach dem Bruch mit Hans Magnus Enzensberger fortsetzen wird. Es wurden zwei neue Herausgeber gefunden: Michael Naumann – ehemaliger Staatsminister für Kultur und Medien und jetziger Mitherausgeber der »Zeit« – und Klaus Harpprecht – ehemaliger Redenschreiber Willy Brandts und heute in Frankreich ansässiger Publizist – werden für die Reihe verantwortlich zeichnen.

Das bedeutet, dass alles seinen Gang so gehen wird, wie seit vielen Jahren: Das Lektorat des Eichborn Verlags würfelt die 12 Bände im Jahr aus dem zusammen, was ihm so unterkommt, und hier und da wird mal einer der Herausgeber einen Vorschlag machen, was man noch bringen könnte. Das wird dann gemacht und damit haben auch die Herausgeber ihr Scherflein beigetragen. Den Rest regelt der Markt.

Sagen wir es offen: Nachdem Eichborn die Reihe zur Buchmesse 1989 übernommen hatte, hat sie mit der Zeit jegliches Profil und alle ihre alten Qualitäten beinahe komplett eingebüßt. Man hätte die »Andere Bibliothek« damals zusammen mit dem Greno Verlag sterben lassen sollen, aber einerseits war es verständlich, dass der insolvente Franz Greno froh war, wenigstens aus dem Verkauf seines einzigen Renommierprojekts noch einiges Geld schlagen zu können, andererseits war es für Eichborn, der mit der Vermarktung von Cartoons und Witzen groß geworden war, eine Chance sich endgültig als literarischer Verlag zu etablieren.

Doch mit der Reihe ging es bergab: Hatte schon Greno die Preise erst langsam, dann immer heftiger ansteigen lassen müssen, fiel die »Andere Bibliothek« jetzt unter die Controller: Für einige Jahre wurden wenigstens noch die Erstauflagen im Bleisatz – auch weiterhin in der Nördlinger Druckerei Grenos – hergestellt, dann stellte man auch das ein. Am Preis hat das nicht viel geändert: Ein Band der anderen Bibliothek, der heute handwerklich weit unter dem Standard der Anfangsjahre liegt, kostet inzwischen mehr als das Doppelte des Preises im ersten Jahr.

Hans Magnus Enzensberger wandte sich wieder eigenen Büchern zu und überließ Eichborn seinen Namen für die Reihe, in der dann immer noch hier und da ein Band erschien, der offenbar seine Handschrift trug – die Montaigne-Übersetzung Hans Stiletts etwa oder der monumentale Humboldtsche »Kosmos«, recht besehen übrigens nichts als eine obsolete Wortwüste –, aber insgesamt verlor die »Andere Bibliothek« innerhalb kurzer Zeit weitgehend ihr Profil.

Im Jahr 2004 sah Enzensberger dann die Chance für einen Neuanfang, als die F.A.Z. anfragte, ob er nicht Herausgeber einer »F.A.Z. Bücherei« werden wolle. Enzensberger kündigte daraufhin einseitig und vertragswidrig die Herausgeberschaft bei Eichborn auf – was die »Andere Bibliothek« nicht daran hindert, auch weiterhin monatlich treulich zu erscheinen –, wurde aber von seinem alten Verlag gerichtlich daran gehindert, zusammen mit der F.A.Z. ein Konkurrenzprojekt zu starten. Der Vertrag, der Enzensberger bindet, läuft nun 2007 aus, die beiden Nachfolger sind designiert, die »Andere Bibliothek« wird auch davon gänzlich unbeeindruckt weiterhin erscheinen. Und wenn sich ihr Ruf eines Tages soweit abgeschliffen haben wird, dass es auch Eichborn einsieht, wird sie sang- und klanglos verschwinden, und dann wird vielleicht einer seine Zeitung aufschlagen, eine entsprechende Kurznotiz lesen und ein wenig überrascht sagen: »Was, die gab es noch?«