Das Unheil, das in den Kulissen wartet

everymanSpätestens seit dem Erfolg von »Der menschliche Makel« sind Neuveröffentlichungen von Philip Roth auch in Deutschland ein Ereignis. In den USA ist Roth inzwischen fraglos ein Klassiker geworden: Die »Library of America« hat mit einer Roth-Werkausgabe begonnen. Und es gibt weltweit eine wachsende Schar von Roth-Lesern, die jedes Jahr darauf warten, dass das Nobelpreis-Komitee endlich ein Einsehen hat und Roth ehrt, solange es noch möglich ist. Nun hat der große alte Mann der amerikanischen Literatur ein Buch über den Tod geschrieben, seine Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen.

Das Buch beginnt mit der Beerdigung des namenlosen Protagonisten, um auch nicht einen Moment lang einen Zweifel daran zu lassen, wie die Geschichte ausgehen wird. Am Grab von Roth’ Jedermann versammelt sich eine kleine Schar Verwandter und Bekannter: Seine Tochter Nancy – die einzige Personen, zu der er zuletzt noch eine engere Beziehung gehabt hatte –, die mittlere seiner drei Ex-Frauen, sein Bruder, die beiden Söhne aus erster Ehe, die ihn gehasst haben, ein paar ehemalige Kollegen und einige Mitbewohner des Seniorendorfs, in dem er zuletzt gelebt hatte. Der Friedhof ist trist und heruntergekommen, aber ›Jedermanns‹ Eltern liegen dort begraben und seine Tochter hatte sich gedacht, er würde vielleicht gern dort liegen, wo er nicht so gänzlich alleine sei.

Nachdem die Trauergemeinde auseinander gegangen ist, setzt die Erzählung vom lebenslangen Sterben des Toten ein: von seiner ersten Operation eines Leistenbruchs in seinen Kinderjahren über einen Blinddarm-Durchbruch, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte über eine schwere Herz-Operation, in der im fünf Bypässe gelegt werden bis hin zur Verstopfung einer Nierenarterie, mit der im eigentlichen Sinne das Alter des Protagonisten beginnt.

Roth erzählt in kurzen Abschnitten, und beinahe alles, was er erzählt, handelt von Verlust, Scheitern und Tod im Leben seines Helden. Selbst dort, wo für einige Zeit etwas zu gelingen scheint, ist es nur Vorspiel für eine weiteren Niederlage, den nächsten Schritt zum Untergang hin. Roth’ Protagonist nimmt nicht leicht Abschied, er blickt mit Trauer und Reue auf sein Leben zurück; nur seine Tochter Nancy scheint ohne Abstriche auf der Haben-Seite seiner Lebensbilanz zu stehen, alles andere erscheint gemischt aus Lust und Leid: Seine drei Ehen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, seine Leidenschaft für die Malerei, die sich nicht als die späte Erfüllung seines Lebens erwiesen hat, auf die er gehofft hatte, seine innige Beziehung zu seinem Bruder, die er aus Neid und Eifersucht auf dessen anscheinend unerschütterliche Gesundheit langsam in die Brüche gehen lässt.

Roth erspart seinem Helden nicht die Einsamkeit des Sterbens und die Härten des Abschieds: Kurz nachdem sein Jedermann noch einmal aus einer Laune heraus vergeblich versucht, ein sexuelles Abenteuer mit einer jungen Frau zu initiieren, bekommt er die Nachricht, dass seine zweite Frau Phoebe – Nancys Mutter – eine Schlaganfall erlitten hat und dass von drei Kollegen, mit denen er eng und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, einer verstorben ist und zwei ernsthaft erkrankt sind. Zu all dem kommt hinzu, dass er sich selbst einmal mehr einer Operation unterziehen muss, eigentlich ein leichter Eingriff, der ihn aber nichtsdestotrotz in Todesangst versetzt.

Das Buch findet seinen grandiosen Abschluss in einem Friedhofsbesuch: Auf dem Friedhof, mit dem das Buch beginnt, unterhält sich Roth’ Jedermann bei einem Besuch am Grab seiner Eltern mit dem lokalen Totengräber, selbst schon ein alter Mann, der das Gewerbe zusammen mit seinem Sohn betreibt. In diesem sachlichen Gespräch über das Handwerk des Totengräbers erlangt der Namenlose plötzlich Ruhe. Er trifft einen Menschen, für den der Umgang mit dem Tod alltäglich ist, der die Toten seines Friedhofs und ihre Geschichten kennt. Diese Alltäglichkeit des Todes und die Sorgfalt, mit der der Totengräber seine Arbeit verrichtet, versöhnen den Protagonisten mit einem Mal – nur wenige Seiten später ist er tot.

Roth’ »Jedermann« schließt sich nur sehr locker an die Tradition des Jedermann-Stoffs an. Der auffälligste Unterschied dürfte sein, dass Roth Gott explizit aus seinem Buch ausschließt: Sein Jedermann wird nicht von einem Gott vor Gericht zitiert, sein Held ist sicher, dass der Tod bloß der Tod ist »– sonst nichts.« Dieser »Jedermann« ist eine sehr säkularisierte Fassung des alten »Spiels vom Sterben des reichen Mannes«. Einzig bei der abschließenden Begegnung mit dem Totengräber meint man einen Hauch von Mysterium zu spüren, als unterhalte sich Jedermann hier auf einmal mit dem Tod selbst, als räsoniere Hamlet noch einmal mit dem alten Totengräber über Yoricks Schädel. Aber vielleicht gilt auch hierfür das Wort Horatios: »Die Dinge so betrachten, hieße sie allzugenau betrachten.«

Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser, 2006. 172 Seiten. 17,90 €.

Vladimir Nabokov: Lolita

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Als Vladimir Nabokov im Sommer 1953 begann, seinen Roman »Lolita« zu schreiben, war er ein unbekannter russischer Emigrant, der an der Cornell University in New York Literatur unterrichtete und Romane in englischer Sprache schrieb, die zwar Kollegen und Kritiker schätzten, die aber sonst kaum gelesen wurden. Als im November 1959 der englische Generalstaatsanwalt bekannt gab, dass er gegen die Publikation und den Vertrieb des Romans »Lolita« in England nicht vorgehen würde, war der Weltruhm Nabokovs endgültig gesichert: Es war von staatlicher Seite anerkannt worden, dass es sich bei »Lolita« um Kunst, nicht um Pornographie handelt.

Vladimir Nabokov ist in den Augen einer breiten Öffentlichkeit der Autor eines einzigen Buches: »Lolita«. Mit dem Skandal um dieses Werk ist Nabokov in die Weltliteratur eingegangen, und das, obwohl es sich für die meisten bei »Lolita« wohl eher um ein Gerücht als um ein Buch handeln dürfte. Viele haben sicherlich inzwischen eine der beiden Verfilmungen gesehen: Die frühe von 1962, die den Regisseur Stanley Kubrick zu einer Marke machte, und die spätere von 1997, die – wenn auch nur unwesentlich freizügiger als die 35 Jahre ältere – auch heute noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern keine Jugendfreigabe besitzt.

Lolita erzählt die Geschichte einer Obsession. Erzählt wird sie vom Protagonisten des Romans – einem Professor für romanische Literatur – aus der Ich-Perspektive als Erinnerung und Rechtfertigung für die Tat, wegen der er im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozess wartet: Er hat einen Mann erschossen und versucht nun sich selbst, der Jury und der Welt begreiflich zu machen, was zu diesem Mord geführt hat. Als das Buch erscheint, ist sein Held bereits tot: Gestorben in der Untersuchungshaft an einem gebrochenen Herzen – »Koronarthrombose« nennt es der Totenschein –, nur einen guten Monat bevor das Objekt seiner Begierden und Sehnsüchte, seine geliebte Lolita stirbt.

Humbert Humberts – so der obskure Name des Erzählers, der aber nur ein Pseudonym sein soll – Geschichte beginnt aber nicht damit, dass er Lolita kennenlernt, sondern mit der Erzählung von einer Jugendliebe: Als er 13 Jahre alt ist verliebt er sich im Hotel seines Vaters an der Riviera in die Tochter eines Gastes, eine kurze, leidenschaftliche Sommerliebe zweier Kinder, die damit endet, dass Annabel vier Monate später auf Korfu an Typhus stirbt. Humbert hat diesen Verlust nie verwunden.

Und so ist er sich selbst weitgehend wehrlos ausgeliefert, als er sich viele Jahre später – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – für den Sommer in das kleine Städtchen Ramsdale begibt, um dort an einem Buch zu arbeiten, und dabei auf Lolita, die Tochter seiner alleinstehenden Wirtin trifft.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Humbert verliebt sich rettungslos in das kokette Mädchen, dem es Spaß macht, mit dem etwas weltfremden Kauz zu flirten und ihre Macht über ihn auszuspielen. Humbert geht soweit, ihre Mutter zu heiraten, bloß um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Als ein »glücklicher Zufall« zum Tod der Mutter führt, beginnt Humbert eine ziellose Fahrt mit Lolita durch Amerika, von Motel zu Motel, immer in der Furcht entdeckt, verfolgt, verhaftet zu werden.

Die Geschichte endet wie sie enden muss: Humberts Eifersucht – die nicht unbegründet ist, wie sich herausstellt – führt zu Streit und Entzweiung, und schließlich verschwindet Lolita eines Tages mit dem Mann, den Humbert Jahre später erschießen wird, weil er ihm Lolita geraubt hat.

»Lolita« ist wesentlich ein trauriges Buch, das Buch eines Sentimentalen, der auf sein gescheitertes Leben zurück- und einem Todesurteil entgegenblickt. »Lolita« ist alles andere als ein erotisches Buch – auch wenn sein Thema die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einem minderjährigen Mädchen ist – und nichts in dem Buch rechtfertigt auch nur den den Verdacht, es können sich um ein pornographisches Werk handeln. »Lolita« ist allerdings ein herausragendes Buch, geschrieben von einem der lesenswerten Autoren des 20. Jahrhunderts, der ohne den Skandal um das Buch sicherlich auch weiterhin eine Randexistenz im Literaturbetrieb seiner Zeit hätte führen müssen.

Ich rate all denen, die das Buch noch nicht kennen, »Lolita« auf die Leseliste zu setzen und dadurch vielleicht einen Autor kennen zu lernen, der über dieses eine Buch hinaus ein Gesamtwerk geschaffen hat, das zu den intelligentesten und literarischsten des 20. Jahrhunderts gehört!

Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich M. Ledig-Rowohlt und Gregor Rezzori bearb. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. 8,90 €.

»Nachtwachen« von Bonaventura

nachtwachen

Im Jahr 1804 erscheint unter dem Titel »Nachtwachen« ein kleines Büchlein, das kaum die Bezeichnung Roman verdient, und dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Es hat bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gedauert, bis man den Autor des Bändchens endlich identifiziert hatte: Ernst August Friedrich Klingemann, ein Theaterintendant und Bühnenautor, dessen sonstige Werke heute beinahe vollständig vergessen sind, hatte mit den »Nachtwachen« sein Meisterstück geliefert.

Erzählt werden die 16 Nachtwachen des Büchleins vom Nachtwächter Kreuzgang, einem Außenseiter, den die bürgerliche Gesellschaft für ebenso verrückt hält wie er sie. Seinen Namen hat er von dem Ort erhalten, an dem er als Waise gefunden worden ist. Bereits durch seine Herkunft von der guten Gesellschaft isoliert, lebt er nun sein Leben im Dunkel der Nacht und läßt die schlafenden Bürger wissen, was die Stunde geschlagen hat. Von den Spießbürgern seiner Stadt wird er wohl als ein Verrückter angesehen, dem man aus Mitleid und weil er sonst zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen war, den Posten des Nachtwächters überlassen hat. So verschläft er denn den Großteil des Tages, und man hat braucht sich mit ihm nicht weiter herumzuärgern.

Die Geschichten, Gedanken, Betrachtungen, mit denen Kreuzgang seine Nächte füllt, sind weder kontinuierlich noch konsequent. Vieles bleibt abgerissen und hingeworfen, Fragment im Fragment eines Fragments. Als Nachtwächter schaut er von draußen in die erleuchteten Fenster hinein, sieht Ausrisse vom Leben und Sterben seiner Mitbürger, geht in Blitz und Donner durch die Nacht, spaziert über Friedhöfe und durch dunkle Kirchen, spricht mit Gott, dem Teufel und sich selbst. Und bei diesen Selbstgesprächen kommen viele und vieles nicht gut weg:

Sagt mir, mit was für einer Mine wollt ihr bei unserm Herrgott erscheinen, ihr meine Brüder, Fürsten, Zinswucherer, Krieger, Mörder, Kapitalisten, Diebe, Staatsbeamten, Juristen, Theologen, Philosophen, Narren und welches Amtes und Gewerbes ihr sein mögt; denn es darf heute keiner in dieser allgemeinen Nationalversammlung ausbleiben, ob ich gleich merke, daß mehrere von euch sich gern auf die Beine machen möchten um Reisaus zu nehmen.

Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien! – Ihr Gelehrten, was hat eure Gelehrsamkeit anders bezwekt als eine Zersezung und Verflüchtigung des menschlichen Geistes um zulezt mit Muße und einfältiger Wichtigkeit an das übriggebliebene caput mortuum euch zu halten. – Ihr Theologen, die ihr so gern zur göttlichen Hofhaltung gezählt werden möchtet, und indem ihr mit dem Allerhöchsten liebäugelt und fuchsschwänzt, hier unten eine leidliche Mördergrube veranstaltet und die Menschen statt sie zu vereinigen in Sekten auseinander schleudert und den schönen allgemeinen Brüder- und Familienstand als boshafte Hausfreunde auf immer zerrissen habt. – Ihr Juristen, ihr Halbmenschen, die ihr eigentlich mit den Theologen nur eine Person ausmachen solltet, statt dessen euch aber in einer verwünschten Stunde von ihnen trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Geister. Ach nur auf dem Rabensteine reicht ihr Brüderseelen vor dem armen Sünder auf dem Gerichtsstuhle euch nur noch die Hände und der geistliche und weltliche Henker erscheinen würdig neben einander! –

Was soll ich gar von euch sagen, ihr Staatsmänner, die ihr das Menschengeschlecht auf mechanische Prinzipien reduzirtet. Könnt ihr mit euern Maximen vor einer himmlischen Revision bestehen, und wie wollt ihr, da wir jezt in einen Geisterstaat überzugehen im Begriffe sind, jene ausgeplünderten Menschengestalten placiren, von denen ihr gleichsam nur den abgestreiften Balg, indem ihr den Geist in ihnen ertödtetet, zu benuzen wußtet. – O, und was drängt sich mir nicht noch alles auf über die einzeln stehenden Riesen, die Fürsten und Herrscher, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben. –

Die »Nachwachen« sind ein dunkles und wildes Buch, dessen abgerissene und befremdliche Gedanken auch heute noch den einen und anderen Blick auf die Nachtseite des Menschen in seiner bürgerlichen Verfassung erlauben. Es ist eines der seltenen Bücher, die in einer Epoche ganz für sich stehen und denen es deshalb gelingt, weit über ihre Zeit hinaus zu wirken.

Nachtwachen von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch. Mit einem Nachwort v. Peter Küppers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Pappband, Fadenheftung, 223 Seiten. 22,90 €.

Bernhard Schlink: Die Heimkehr

Schlink_HeimkehrBernhard Schlink war mit »Der Vorleser« das kleine Wunder eines Weltbestsellers gelungen. Nachdem er 2001 seine Trilogie um den Detektiv Gerhard Selb abgeschlossen hatte, legt er nun seinen neuen Roman vor: »Die Heimkehr« ist ein vielschichtiger und komplexer Roman über die Suche eines Sohns nach seinem Vater.

Erzählt wird das Buch vom Ich-Erzähler Peter Debauer, der zu Anfang von seinen glücklichen und harmonischen Ferientagen bei seinen Großeltern väterlicherseits erzählt. Sein Vater, so glaubt Peter Debauer, ist im Zweiten Weltkrieg noch vor der Geburt seines Sohnes gestorben. Peter Debauer lebt mit seiner Mutter in Deutschland und besucht in den Sommerferien stets seine Großeltern in der Schweiz. Weil seine Großeltern für einen Verlag arbeiten, bekommt Peter mehr zufällig Druckfahnen eines Romans an die Hand, der von der Flucht einer Gruppe von deutschen Soldaten von Sibirien nach Deutschland erzählt. Der Roman fasziniert ihn, aber die Fahnen, deren Rückseiten Peter als Schmierpapier benutzt, enthalten schon nicht mehr das Ende des Romans. Viele Jahre nach der ersten Lektüre dieses Romans macht sich Peter Debauer auf die Suche nach dem Autor und gerät dabei zugleich immer mehr auch in eine Suche nach seinem Vater hinein, der in Wahrheit eine ganz andere Geschichte hat, als Peter sie von seiner Mutter erzählt bekommen hat. Ich will nicht zuviel von den zahlreichen Verwicklungen und Überraschungen der Romans verraten.

Das Buch ist in dem schon aus seinen früheren Texten bekannten ruhigen und gelassenen Stil Schlinks verfasst. Schriftstellerische Aufgeregtheit ist Schlink wesentlich fremd. Seine Geschichte ist auch diesmal sorgfältig durchkonstruiert und literarisch reichhaltig unterfüttert. Mir persönlich hilft zwar dem Protagonisten ein wenig zu oft ein glücklicher Zufall auf den richtigen Weg, aber so etwas ist oft nur eine Frage des Geschmacks und mag andere Leser gar nicht weiter stören.

Allerdings erschöpft sich das Buch nicht im Erzählen der durchaus verwickelten Handlung, sondern auf einer zweiten Ebene verhandelt Schlink einmal mehr seine Lieblingsthemen: Die Nachwirkungen und die Nachgeschichte des Nationalsozialismus und die Frage nach der Gerechtigkeit. Dabei geht es besonders zum Ende des vierten und im fünften Teil durchaus anspruchsvoll zur Sache, wobei allerdings gefragt werden kann, ob es nicht mehr beim Anspruch bleibt als dass es zur Erfüllung dieses Anspruchs kommt. Da spielt zum Beispiel die Philosophie des Dekonstruktivismus eine nicht unbedeutende Rolle. Nun ist dem Autor durchaus klar, dass ein Großteil seiner potentiellen Leser mit dem Wort wenig werden anfangen können und will ihnen deshalb ein wenig Hilfestellung leisten:

Dekonstruktivismus bedeutet Ablösung des Texts von dem, was der Autor mit ihm gemeint hat, und Auflösung in das, was der Leser aus ihm macht; er geht sogar weiter und kennt keine Wirklichkeit, sondern nur die Texte, die wir über sie schreiben und lesen.

Das ist nicht falsch, aber es besagt so zusammenhanglos, wie es auch im Buch stehen bleibt, wenig und ist am Ende nur eine philosophische Klippschuldefinition. Dabei ist – wie gesagt – das Thema Dekonstruktivismus nicht nur eine intellektuelle Verzierung des Romans, sondern gehört zum gedanklichen Kernbestand dessen, worum es Peter Debauer und seinem Autor geht: Um die Frage nämlich, ob und in welcher Form das Böse, das im Nationalsozialismus in fürchterlichster Form in Erscheinung tritt, heute noch immer wirksam ist und in einem »modernen intellektuellen Faschismus« fortsetzt wird. Und ob und wie sich die Generation der Söhne von den Theorien der Väter absetzen kann, ohne dass es ihnen gelingt, die Kernfrage nach dem Verhältnis von Gut und Böse auch nur annähernd zu beantworten.

Gerade in seinem denkerischen Kern bleibt das Buch halbherzig: Auf der einen Seite will es ein ernstes und anspruchsvolles Thema transportieren, auf der anderen Seite traut es sich nicht, seinen Lesern den dazu notwendigen Aufwand an gedanklicher Differenzierung und Theorie tatsächlich zuzumuten. Es will sein Thema einerseits nicht auf Kosten der Wahrhaftigkeit popularisieren, andererseits die Romanhandlung nicht durch langatmige theoretische Exkurse überfrachten. Und so fürchte ich, dass am Ende viele Leser Schlinks unbefriedigt bleiben: Diejenigen, denen diese Ebene letztlich unzugänglich bleibt, stehen ein wenig ratlos vor den letzten 110 Seiten, und diejenigen, die an der Auseinandersetzung teilnehmen könnten und wollten, sind enttäuscht, weil das Buch nirgends wirklich ein Niveau erreicht, auf dem es über intellektuelle Banalitäten hinausgelangen würde. Und so ist das Buch – je nach Perspektive – entweder 150 Seiten zu lang oder 700 Seiten zu kurz geraten.

Bernhard Schlink: Die Heimkehr. Diogenes Verlag, 2006. Leinen; 375 Seiten. 19,90 €.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren

toibinNoch ein Henry-James-Roman, der ebenso wie David Lodges »Autor, Autor« aus dem Jahr 2004 stammt. Der Originaltitel lautet schlicht »The Master«, aber das Marketing beim Hanser Verlag fand offenbar die Joyce-Anspielung schick.

Das Buch setzt später ein als das von Lodge: Jedes der elf Kapitel ist mit einer Monatsangabe überschrieben und das erste Kapitel beginnt im Januar 1895 mit der desaströsen Premiere von James’ Theaterstück »Guy Domville«, und es folgen dann drei weitere Kapitel bevor das Buch das einigermaßen kontinuierliche Erzählen aufgibt und sich in Sprüngen bis zum Oktober 1899 bewegt; allerdings umfasst das letzte Kapitel auch noch den Übergang in das Jahr 1900.

Insgesamt ist Tóibíns Buch bei weitem nicht so konzentriert wie das von Lodge. Tóibín unternimmt lange Rückblenden, die zum Teil weitere Rück- oder Vorblenden enthalten, so dass man am Anfang manch eines Abschnitts nicht ganz sicher sein kann, wo in der Chronologie man sich gerade befindet. Man vermisst einen roten Faden, der das Buch strukturieren würde; im Grunde laufen alle Erzählstränge recht unverbindlich nebeneinander her und James muss für die Assoziationsbrücken des Autors Tóibín geradestehen.

Da geht denn dann auch einiges schief: So erfährt der Leser auf S. 235 zum ersten Mal etwas über Constance Fenimore Woolson, die Henry James bis zu ihrem Freitod in Venedig im Januar 1894 sehr nahe gestanden hatte. Dementsprechend heißt es dann zwei Seiten später:

Ihr Tod war für Henry, ebenso wie der seiner Schwester Alice, ein ständiger täglicher Begleiter.

Wenn das so war, dürfte die Frage berechtigt sein, warum der Leser davon erst nach über 230 Seiten Kenntnis erlangt, nachdem er bereits dreieinhalb Jahre im Leben des Henry James hinter sich gebracht hat. Solche Beliebigkeiten in der Darstellung finden sich recht häufig.

Im Gegensatz zu Lodge, der das Thema eher dezent anspricht, betont Tóibín die vermutliche Homosexualität Henry James’ stark und setzt sich deshalb auch intensiv mit den Prozessen um Oscar Wilde auseinander, denen James aufgrund der ihm zugeschriebenen habituellen Invertiertheit fasziniert folgen muss.

Recht gelungen ist die Darstellung des älteren Bruders William James und seiner Familie im letzten Kapitel des Buches, aber alles in allem wäre wahrscheinlich anzuraten, die Lektürezeit besser auf das Buch von Lodge oder die Biographie von Leon Edel zu verwenden.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 2005. Pappband; 427 Seiten. 24,90 €.

Ralf Schmerberg: Poem

Schmerberg_PoemSchon etwas älter, aber erst heute bei mir angekommen: »Poem«, ein anderthalbstündiger Episodenfilm von Ralf Schmerberg. Das »Making of« begeht gleich zu Anfang die Dummheit zu behaupten, es handele sich um »eine filmische Interpretation deutscher Gedichte verschiedener Poeten«, was der Film – wahrscheinlich zu seinem Glück – nicht ist. Es handelt sich im Gegenteil zum Großteil um eine Bebilderung von 19 Gedichten, die miteinander nicht viel mehr zu tun haben, als dass sie in diesem Film vorkommen. Dazu spielt in den meisten Fällen eine mehr oder minder passende Musik. Bei Schillers »Ode an die Freude« hat man auf Schillers Text verzichtet und dafür den Schlusschor aus Beethovens Neunter Symphonie eingesetzt.

Insgesamt ist kein geschlossenes Konzept des Filmes zu erkennen. Alles funktioniert nach dem Prinzip des Einfalls: Man suche zwei Handvoll Gedichte zusammen, die einem gefallen, und gehe dann nach der Methode »da könnte man doch dies und das machen« vor. Wichtig sind einige exotische Schauplätze, damit das Team in der Welt herumfahren kann, ein bißchen Musik dazu und denn passt des scho’!

brandauer.jpgDass dabei trotzdem einige gelungene Stücke herausgekommen sind, mag überraschen: Mascha Kalékos »Sozusagen grundlos vergnügt« wird im Berliner Hebbel-Theater in einer kleinen Bühneninszenierung umgesetzt und von einer grandiosen Meret Becker vorgeführt. Oder David Bennett, der mit gezogenen Schwert und in glänzender Rüstung im Morgengrauen die Leipziger Straße in Berlin entlanggeht und dabei ohne einen einzigen Schnitt, in einem Zug sozusagen, Georg Trakls »Das Morgenlied« ausschöpft. Auch die Inszenierung des Gesichts Klaus Maria Brandauers als Flächen von Licht und Schatten, während er Heinrich Heines »Der Schiffsbrüchige« spricht, überzeugt, eben weil sie auf jede Ablenkung verzichtet.

Dagegen wird Ernst Jandls »glauben und gestehen« so durch Pausen zerlegt, dass keinerlei Sinn zwischen den Wörtern übrigbleibt, und Johann Wolfgang von Goethes »Gesang der Geister über den Wassern« wird von einer stimmlich und textlich vollständig überforderten Luise Rainer so rücksichtslos gegen einen isländischen Wasserfall anrezitiert, dass nicht viel mehr als eine Karikatur der Inszenierungsidee entsteht.

Die zweite DVD mit dem »Making of« bringt einige zusätzliche Informationen, die das Gesamtprojekt verständlicher machen. Man wird dadurch etwas versöhnlicher gestimmt.

»Poem« hat eine eigene Webseite. Zu beziehen ist der Film über Lingua-Video.com.

David Lodge: Autor, Autor

188967399_14e15afd94David Lodge, englischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, hat sein neues Buch einem Klassiker der englischsprachigen Literatur gewidmet: Es erzählt die Lebensgeschichte des amerikanischen Autors Henry James (1843–1916). Doch »Autor, Autor« ist keine Biografie, sondern ein Roman, der sich aber in nahezu allen Details an die Tatsachen hält.

Henry James hat heute in der englischsprachigen Welt in etwa den Status, den Theodor Fontane in der deutschsprachigen Literatur einnimmt: eine der wichtigen Stationen auf dem Weg zum modernen Roman. Das war aber nicht immer so. David Lodge konzentriert sich im Hauptteil seines Buches auf eine Zeit der Krise im Leben von Henry James, der seit Ende 1876 hauptsächlich in London lebte. Ende der 1880er Jahre ist sein Ruhm als Autor im Schwinden begriffen, der Absatz seiner Bücher geht von Jahr zu Jahr zurück und James sieht sich auf lange Sicht einer ernsthaften finanziellen Notlage gegenüber.

Da kommt es ihm gerade recht, dass er Ende 1888 die Anfrage einer englischen Theatertruppe bekommt, die ihn bittet, seinen Roman »Der Amerikaner« zu einem Theaterstück umzuarbeiten. Nach anfänglichem Zögern begreift James dieses Angebot als Chance, seine finanzielle Lage dauerhaft abzusichern. Er geht nicht nur auf das Angebot ein, sondern entwirft zugleich den Plan, eine Karriere als Bühnenautor zu beginnen. Erst nach mehr als fünf Jahren wird James die Fruchtlosigkeit seiner Versuche endgültig einsehen. Lodge beschreibt die Hoffnungen, Anstrengungen, Erfolge und Niederlagen, die James in diesen Jahren durchlebt, mit großer Sensibilität und Empathie.

Begleitet wird die Erzählung dieser Lebensphase von der Darstellung zweier wichtiger Freundschaften mit anderen Autoren: George du Maurier (dem Großvater von Daphne du Maurier), eigentlich Zeichner, der 1894 mit seinem Roman »Trilby« einen Megaseller schreibt, und Constance Fenimore Woolson, der Frau, die dem lebenslang keuschen Henry James wohl am nächsten stand; auch sie war als Autorin kommerziell wesentlich erfolgreicher als James.

Dieser Hauptteil wird durch die Erzählung der letzten Wochen gerahmt, die Henry James durchlebt: Seinem langsamen geistigen Verfall nach einem Schlaganfall, der Ehrung durch das englische Königshaus mit dem Order of Merit, seinem Tod und schließlich einem Ausblick auf seinen Nachruhm, der in der englischsprachigen Welt bis heute anhält.

Lodges »Autor, Autor« ist ein ruhig und sorgfältig erzählter Roman, was seinem Inhalt auch ganz angemessen ist. An einer Stelle macht sich Lodge beinahe ein wenig lustig über Henry James und zugleich über sich selbst:

Das Thema […] war reizvoll, aber er gab bereitwillig zu, daß der Roman mit zu vielen Kommentaren behaftet und im Tempo zu gemächlich war. [S. 137]

Doch wer ein wenig Geduld für das Buch aufbringt und sich für Schriftsteller und das späte 19. Jahrhundert interessiert, sollte »Autor, Autor« auf jeden Fall lesen.

David Lodge: Autor, Autor. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2006. Fadenheftung; 544 Seiten. 17,90 €.

Schon wieder »Lichtjahre« entfernt?

Lichtjahre Im April ist mit einigem Getöse und einem kleinen Literaturskandal Volker Weidermanns »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute« erschienen. Nachdem Elke Heidenreich sich des Buchs angenommen hatte, stand es für fünf Wochen auf der Sachbücher-Bestsellerliste des SPIEGEL. Seitdem hört man nicht mehr viel von ihm. Also eine gute Gelegenheit, es endlich einmal zu lesen.

Die wichtigste und erste Frage, wenn man einem solchen Buch gerecht werden will, ist, für wen es denn eigentlich geschrieben sei: Es kommt dafür wohl nur der im Irr-Garten der Literatur herumtaumelnden Bücherfreund in Frage.

Und der mag auch tatsächlich angetan sein von der Sache: Weidermanns Stil ist flott und lebt von Hauptsätzen. Sein Urteil ist beinahe immer deutlich und pointiert – „meinungsstark“ nennt das ein guter Freund von mir. Es fallen viele, viele Namen, bekannte und auch nicht so bekannte. Und wenn man durch ist, kann man glauben, nun finde man sich ein bisschen besser zurecht, habe ein wenig mehr Durchblick, vielleicht sogar hier und dort Übersicht gewonnen, und läge mit dieser Einschätzung vielleicht nicht einmal so falsch. Also: Ein gutes Buch!

Ein gutes Buch? Ich bin mir nicht sicher. Ich liste einfach mal auf, was mir so aufgefallen ist:

Arno Schmidt – da kenne ich mich aus: Keines der Lebensdetails stimmt; weder hat Schmidt in englischer Kriegsgefangenschaft über Feen und Elementargeister geschrieben, noch hat seine Frau in Bargfeld in den ersten Jahren unter dem Dach gewohnt. Erst als Schmidt wegen seines Herzens die Treppe nicht mehr steigen sollte, ist sie nach oben, er nach unten gezogen. Kleinlich? Na gut!

Heimito von Doderer – wir erfahren ein paar Titel, einige Inhaltsangaben, die nicht unbedingt von einer eigenständigen Lektüre zeugen, und dann den einen weltberühmten, ganz arg lustigen und furchtbar dummen Ausspruch Hans Weigels über Doderer. Zum Ausgleich schreibt Weidermann 4½ Seiten über Max Frisch, der nun wirklich beinahe jedem Leser ganz früh in die Finger fällt, und beinahe 5 über Friedrich Dürrenmatt; aber dabei sehr treffsicher im Urteil.

Schauen wir mal weiter: Robert Walser ist drin und wird sehr gelobt – das ist gut! Dafür fehlen Paul Wühr und Peter Bichsel gänzlich – das ist schlecht! Über Thomas Bernhard gibt es mehr als 10 Seiten – das ist sehr gut! Über Peter Handke beinahe 8 – das ist schlecht! Jens, Kunze und Kunert fehlen – das ist gut! Aber auch Libuše Moníková, Raoul Schrott und Marcus Braun fehlen – das ist ganz schlecht! Dafür ist der Schulbuch-Autor Plenzdorf drin – na ja, muss wohl, ist aber trotzdem schlecht!

So könnte ich noch seitenlang weitermachen! Sicherlich ist das subjektiv, aber Weidermann läuft mir zu selten ein Risiko, bleibt zu oft auf den Hauptwegen der Literatur hängen, nimmt zu selten die Seitenwege und Sackgassen mit, die oft viel spannender, intimer und schöner sind. Guten Gewissens mag ich diesen Wegweiser durch den Irr-Garten der Literatur daher am Ende doch nicht empfehlen.

Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Kiepenheuer & Witsch, 2006. 19,90 €.

Den großen Wal auf die Ohren!

Herman Melvilles großer Roman »Moby-Dick« (nur echt mit dem Bindestrich!) ist ein ungeheuerliches Buch – aber darüber mehr bei anderer Gelegenheit. Der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen hat die Mühe auf sich genommen, diesen Roman kongenial ins Deutsche zu übertragen. Nun erscheint die komplette Übersetzung auch als mp3-Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

»Moby-Dick« ist ein dickes und oft überwältigendes Werk. Viele Leser werden es bloß aus einer der zahlreichen »Bearbeitungen für die heranwachsende Jugend« kennen, die versuchen, das Buch zu zähmen und auf die Abenteuer-Handlung zu reduzieren. Wenn man sich aber die Mühe macht, einmal nachzusehen, was Melville tatsächlich geschrieben hat, so entdeckt man einen wilden, zerklüfteten Text mit einer rauhen Sprache, die wechselhaft ist wie die See, von der er so viel erzählt.

Den Deutschen ist dieses Buch in seiner ganzen Fülle lange Zeit vorenthalten worden, weil alle älteren Übersetzungen versucht haben, den Text zu glätten und damit leichter lesbar zu machen. Nun sind aber in jüngster Zeit gleich zwei neue Übersetzungen erschienen – wobei das Kuriose darin besteht, dass eine der beiden Übersetzungen sogar die andere zugrunde legt – die beide von sich selbst behaupten, das Buch getreu ins Deutsch zu übertragen. Die grundlegende Übersetzung stammt von Friedhelm Rathjen und ist im Jahr 2004 bei 2001 erschienen. Diese Übersetzung ist der bislang kompromissloseste Versuch, aus Moby Dick einen deutschen Wal zu machen und wird für lange Zeit die deutsche Übersetzung bleiben.

Wem die Lektüre eines Romans von über 800 Seiten zu anstrengend ist oder wer einfach lieber hört als liest, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieses Stück Weltliteratur in einer hervorragenden Einspielung anzuhören: Christian Brückner hat die komplette Rathjensche Übersetzung vorgelesen und 2001 bietet diese Lesung als mp3-Hörbuch auf zwei CDs für 39,90 € an. Umgerechnet auf die ca. 30 Stunden Hörgenuss sind das nur etwas mehr als 2 Cent pro Minute. Das kann sich doch hören lassen, oder?

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant

Michael Maars Fund einer möglichen literarischen Vorlage für Vladimir Nabokovs »Lolita« hatte im März 2004 einige Aufregung in den Feuilletons verursacht, darunter auch zahlreiche Widersprüche, oft nach dem Muster, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die in Frage stehende Erzählung von Heinz von Lichberg war nur antiquarisch zu erwerben und die Zitate von Maar waren zu dünn, um die These wirklich beurteilen zu können. Maar hat im Jahr darauf ein kleines Büchlein daraus gemacht, in dem er nun nicht nur in Ruhe und mit einiger Gründlichkeit die Argumente anführt, sondern das auch Lichbergs Erzählung »Lolita« und eine weitere mit dem Titel »Atomit« bringt, für die Maar einen noch deutlicheren Vorlagencharakter für Nabokovs »Walzers Erfindung« anführen kann.

Unbefangen betrachtet, ist die Aufregung, die Maars Fund im März 2004 ausgelöst hat, weitgehend unverständlich. Weder wirft Maar Nabokov ein Plagiat vor, noch hält Maar die Lichbergsche Vorlage für literarisch gleichrangig mit Nabokovs Roman, noch behauptet er, erwiesen zu haben, dass es sich bei Lichbergs Erzählung um eine notwendige Vorstufe zu Nabokovs Werk handelt. Alles, worauf er aufmerksam macht, sind auffällige und bemerkenswerte Indizien, die, je mehr sie sich finden lassen, es immer unwahrscheinlicher machen, dass Nabokov die Vorläufer-Erzählung nicht gekannt habe, ja die am Ende sogar nahelegen, Nabokov habe die Erzählung bewusst verarbeitet.

Maar selbst hält die Konsequenzen seiner Entdeckung nicht für besonders bedeutsam:

Wenn sich die erste, textgenetische [Frage] abhaken ließe, wäre genügend Raum für die zweiten und dritten, sublimeren Fragen: Was die Ur-Lolita für den Status des Romans bedeutet (nicht viel), ob sie den Rang Nabokovs schmälert (nicht im geringsten), ob wir unser Bild von ihm korrigieren müssen (minimal), ob wir aus den zwei Lolitas etwas über das Zusammenspiel von Hoch- und Trivialliteratur erfahren (durchaus), etwas über Nabokovs Verhältnis zu den Deutschen (auch das) und etwas über seine Kunst, die Deuter zu lenken (allerdings).

Die angehängten Erzählung »Lolita« von Lichberg ist – alles in allem – ziemlich schrecklich. Die Sprache ist hölzern und besonders die eigentliche Liebesgeschichte von einer seltenen literarischen Blödheit. »Atomit« ist ein zu langer, zu schlecht erzählter Witz, dessen Pointe trotz der Länge der Erzählung nicht recht vorbereitet ist. Uns Nachgeborenen mag ein Schauer über den Rücken laufen, aber wirklich besser macht das den Text auch nicht. Hiernach zu urteilen, hat man den Autor Heinz von Lichberg gänzlich zu Recht vergessen.

Ein Büchlein für Nabokov-Spezialisten und Leser, die Spaß an literarischen Detektiv-Spielchen haben. Die anderen mögen ihre Zeit Wichtigerem widmen.

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant. Suhrkamp, 2005. Pappband; 100 Seiten. 14,80 €.