Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren

toibinNoch ein Henry-James-Roman, der ebenso wie David Lodges »Autor, Autor« aus dem Jahr 2004 stammt. Der Originaltitel lautet schlicht »The Master«, aber das Marketing beim Hanser Verlag fand offenbar die Joyce-Anspielung schick.

Das Buch setzt später ein als das von Lodge: Jedes der elf Kapitel ist mit einer Monatsangabe überschrieben und das erste Kapitel beginnt im Januar 1895 mit der desaströsen Premiere von James’ Theaterstück »Guy Domville«, und es folgen dann drei weitere Kapitel bevor das Buch das einigermaßen kontinuierliche Erzählen aufgibt und sich in Sprüngen bis zum Oktober 1899 bewegt; allerdings umfasst das letzte Kapitel auch noch den Übergang in das Jahr 1900.

Insgesamt ist Tóibíns Buch bei weitem nicht so konzentriert wie das von Lodge. Tóibín unternimmt lange Rückblenden, die zum Teil weitere Rück- oder Vorblenden enthalten, so dass man am Anfang manch eines Abschnitts nicht ganz sicher sein kann, wo in der Chronologie man sich gerade befindet. Man vermisst einen roten Faden, der das Buch strukturieren würde; im Grunde laufen alle Erzählstränge recht unverbindlich nebeneinander her und James muss für die Assoziationsbrücken des Autors Tóibín geradestehen.

Da geht denn dann auch einiges schief: So erfährt der Leser auf S. 235 zum ersten Mal etwas über Constance Fenimore Woolson, die Henry James bis zu ihrem Freitod in Venedig im Januar 1894 sehr nahe gestanden hatte. Dementsprechend heißt es dann zwei Seiten später:

Ihr Tod war für Henry, ebenso wie der seiner Schwester Alice, ein ständiger täglicher Begleiter.

Wenn das so war, dürfte die Frage berechtigt sein, warum der Leser davon erst nach über 230 Seiten Kenntnis erlangt, nachdem er bereits dreieinhalb Jahre im Leben des Henry James hinter sich gebracht hat. Solche Beliebigkeiten in der Darstellung finden sich recht häufig.

Im Gegensatz zu Lodge, der das Thema eher dezent anspricht, betont Tóibín die vermutliche Homosexualität Henry James’ stark und setzt sich deshalb auch intensiv mit den Prozessen um Oscar Wilde auseinander, denen James aufgrund der ihm zugeschriebenen habituellen Invertiertheit fasziniert folgen muss.

Recht gelungen ist die Darstellung des älteren Bruders William James und seiner Familie im letzten Kapitel des Buches, aber alles in allem wäre wahrscheinlich anzuraten, die Lektürezeit besser auf das Buch von Lodge oder die Biographie von Leon Edel zu verwenden.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 2005. Pappband; 427 Seiten. 24,90 €.

Ralf Schmerberg: Poem

Schmerberg_PoemSchon etwas älter, aber erst heute bei mir angekommen: »Poem«, ein anderthalbstündiger Episodenfilm von Ralf Schmerberg. Das »Making of« begeht gleich zu Anfang die Dummheit zu behaupten, es handele sich um »eine filmische Interpretation deutscher Gedichte verschiedener Poeten«, was der Film – wahrscheinlich zu seinem Glück – nicht ist. Es handelt sich im Gegenteil zum Großteil um eine Bebilderung von 19 Gedichten, die miteinander nicht viel mehr zu tun haben, als dass sie in diesem Film vorkommen. Dazu spielt in den meisten Fällen eine mehr oder minder passende Musik. Bei Schillers »Ode an die Freude« hat man auf Schillers Text verzichtet und dafür den Schlusschor aus Beethovens Neunter Symphonie eingesetzt.

Insgesamt ist kein geschlossenes Konzept des Filmes zu erkennen. Alles funktioniert nach dem Prinzip des Einfalls: Man suche zwei Handvoll Gedichte zusammen, die einem gefallen, und gehe dann nach der Methode »da könnte man doch dies und das machen« vor. Wichtig sind einige exotische Schauplätze, damit das Team in der Welt herumfahren kann, ein bißchen Musik dazu und denn passt des scho’!

brandauer.jpgDass dabei trotzdem einige gelungene Stücke herausgekommen sind, mag überraschen: Mascha Kalékos »Sozusagen grundlos vergnügt« wird im Berliner Hebbel-Theater in einer kleinen Bühneninszenierung umgesetzt und von einer grandiosen Meret Becker vorgeführt. Oder David Bennett, der mit gezogenen Schwert und in glänzender Rüstung im Morgengrauen die Leipziger Straße in Berlin entlanggeht und dabei ohne einen einzigen Schnitt, in einem Zug sozusagen, Georg Trakls »Das Morgenlied« ausschöpft. Auch die Inszenierung des Gesichts Klaus Maria Brandauers als Flächen von Licht und Schatten, während er Heinrich Heines »Der Schiffsbrüchige« spricht, überzeugt, eben weil sie auf jede Ablenkung verzichtet.

Dagegen wird Ernst Jandls »glauben und gestehen« so durch Pausen zerlegt, dass keinerlei Sinn zwischen den Wörtern übrigbleibt, und Johann Wolfgang von Goethes »Gesang der Geister über den Wassern« wird von einer stimmlich und textlich vollständig überforderten Luise Rainer so rücksichtslos gegen einen isländischen Wasserfall anrezitiert, dass nicht viel mehr als eine Karikatur der Inszenierungsidee entsteht.

Die zweite DVD mit dem »Making of« bringt einige zusätzliche Informationen, die das Gesamtprojekt verständlicher machen. Man wird dadurch etwas versöhnlicher gestimmt.

»Poem« hat eine eigene Webseite. Zu beziehen ist der Film über Lingua-Video.com.

David Lodge: Autor, Autor

188967399_14e15afd94David Lodge, englischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, hat sein neues Buch einem Klassiker der englischsprachigen Literatur gewidmet: Es erzählt die Lebensgeschichte des amerikanischen Autors Henry James (1843–1916). Doch »Autor, Autor« ist keine Biografie, sondern ein Roman, der sich aber in nahezu allen Details an die Tatsachen hält.

Henry James hat heute in der englischsprachigen Welt in etwa den Status, den Theodor Fontane in der deutschsprachigen Literatur einnimmt: eine der wichtigen Stationen auf dem Weg zum modernen Roman. Das war aber nicht immer so. David Lodge konzentriert sich im Hauptteil seines Buches auf eine Zeit der Krise im Leben von Henry James, der seit Ende 1876 hauptsächlich in London lebte. Ende der 1880er Jahre ist sein Ruhm als Autor im Schwinden begriffen, der Absatz seiner Bücher geht von Jahr zu Jahr zurück und James sieht sich auf lange Sicht einer ernsthaften finanziellen Notlage gegenüber.

Da kommt es ihm gerade recht, dass er Ende 1888 die Anfrage einer englischen Theatertruppe bekommt, die ihn bittet, seinen Roman »Der Amerikaner« zu einem Theaterstück umzuarbeiten. Nach anfänglichem Zögern begreift James dieses Angebot als Chance, seine finanzielle Lage dauerhaft abzusichern. Er geht nicht nur auf das Angebot ein, sondern entwirft zugleich den Plan, eine Karriere als Bühnenautor zu beginnen. Erst nach mehr als fünf Jahren wird James die Fruchtlosigkeit seiner Versuche endgültig einsehen. Lodge beschreibt die Hoffnungen, Anstrengungen, Erfolge und Niederlagen, die James in diesen Jahren durchlebt, mit großer Sensibilität und Empathie.

Begleitet wird die Erzählung dieser Lebensphase von der Darstellung zweier wichtiger Freundschaften mit anderen Autoren: George du Maurier (dem Großvater von Daphne du Maurier), eigentlich Zeichner, der 1894 mit seinem Roman »Trilby« einen Megaseller schreibt, und Constance Fenimore Woolson, der Frau, die dem lebenslang keuschen Henry James wohl am nächsten stand; auch sie war als Autorin kommerziell wesentlich erfolgreicher als James.

Dieser Hauptteil wird durch die Erzählung der letzten Wochen gerahmt, die Henry James durchlebt: Seinem langsamen geistigen Verfall nach einem Schlaganfall, der Ehrung durch das englische Königshaus mit dem Order of Merit, seinem Tod und schließlich einem Ausblick auf seinen Nachruhm, der in der englischsprachigen Welt bis heute anhält.

Lodges »Autor, Autor« ist ein ruhig und sorgfältig erzählter Roman, was seinem Inhalt auch ganz angemessen ist. An einer Stelle macht sich Lodge beinahe ein wenig lustig über Henry James und zugleich über sich selbst:

Das Thema […] war reizvoll, aber er gab bereitwillig zu, daß der Roman mit zu vielen Kommentaren behaftet und im Tempo zu gemächlich war. [S. 137]

Doch wer ein wenig Geduld für das Buch aufbringt und sich für Schriftsteller und das späte 19. Jahrhundert interessiert, sollte »Autor, Autor« auf jeden Fall lesen.

David Lodge: Autor, Autor. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, 2006. Fadenheftung; 544 Seiten. 17,90 €.

Schon wieder »Lichtjahre« entfernt?

Lichtjahre Im April ist mit einigem Getöse und einem kleinen Literaturskandal Volker Weidermanns »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute« erschienen. Nachdem Elke Heidenreich sich des Buchs angenommen hatte, stand es für fünf Wochen auf der Sachbücher-Bestsellerliste des SPIEGEL. Seitdem hört man nicht mehr viel von ihm. Also eine gute Gelegenheit, es endlich einmal zu lesen.

Die wichtigste und erste Frage, wenn man einem solchen Buch gerecht werden will, ist, für wen es denn eigentlich geschrieben sei: Es kommt dafür wohl nur der im Irr-Garten der Literatur herumtaumelnden Bücherfreund in Frage.

Und der mag auch tatsächlich angetan sein von der Sache: Weidermanns Stil ist flott und lebt von Hauptsätzen. Sein Urteil ist beinahe immer deutlich und pointiert – „meinungsstark“ nennt das ein guter Freund von mir. Es fallen viele, viele Namen, bekannte und auch nicht so bekannte. Und wenn man durch ist, kann man glauben, nun finde man sich ein bisschen besser zurecht, habe ein wenig mehr Durchblick, vielleicht sogar hier und dort Übersicht gewonnen, und läge mit dieser Einschätzung vielleicht nicht einmal so falsch. Also: Ein gutes Buch!

Ein gutes Buch? Ich bin mir nicht sicher. Ich liste einfach mal auf, was mir so aufgefallen ist:

Arno Schmidt – da kenne ich mich aus: Keines der Lebensdetails stimmt; weder hat Schmidt in englischer Kriegsgefangenschaft über Feen und Elementargeister geschrieben, noch hat seine Frau in Bargfeld in den ersten Jahren unter dem Dach gewohnt. Erst als Schmidt wegen seines Herzens die Treppe nicht mehr steigen sollte, ist sie nach oben, er nach unten gezogen. Kleinlich? Na gut!

Heimito von Doderer – wir erfahren ein paar Titel, einige Inhaltsangaben, die nicht unbedingt von einer eigenständigen Lektüre zeugen, und dann den einen weltberühmten, ganz arg lustigen und furchtbar dummen Ausspruch Hans Weigels über Doderer. Zum Ausgleich schreibt Weidermann 4½ Seiten über Max Frisch, der nun wirklich beinahe jedem Leser ganz früh in die Finger fällt, und beinahe 5 über Friedrich Dürrenmatt; aber dabei sehr treffsicher im Urteil.

Schauen wir mal weiter: Robert Walser ist drin und wird sehr gelobt – das ist gut! Dafür fehlen Paul Wühr und Peter Bichsel gänzlich – das ist schlecht! Über Thomas Bernhard gibt es mehr als 10 Seiten – das ist sehr gut! Über Peter Handke beinahe 8 – das ist schlecht! Jens, Kunze und Kunert fehlen – das ist gut! Aber auch Libuše Moníková, Raoul Schrott und Marcus Braun fehlen – das ist ganz schlecht! Dafür ist der Schulbuch-Autor Plenzdorf drin – na ja, muss wohl, ist aber trotzdem schlecht!

So könnte ich noch seitenlang weitermachen! Sicherlich ist das subjektiv, aber Weidermann läuft mir zu selten ein Risiko, bleibt zu oft auf den Hauptwegen der Literatur hängen, nimmt zu selten die Seitenwege und Sackgassen mit, die oft viel spannender, intimer und schöner sind. Guten Gewissens mag ich diesen Wegweiser durch den Irr-Garten der Literatur daher am Ende doch nicht empfehlen.

Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Kiepenheuer & Witsch, 2006. 19,90 €.

Den großen Wal auf die Ohren!

Herman Melvilles großer Roman »Moby-Dick« (nur echt mit dem Bindestrich!) ist ein ungeheuerliches Buch – aber darüber mehr bei anderer Gelegenheit. Der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen hat die Mühe auf sich genommen, diesen Roman kongenial ins Deutsche zu übertragen. Nun erscheint die komplette Übersetzung auch als mp3-Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

»Moby-Dick« ist ein dickes und oft überwältigendes Werk. Viele Leser werden es bloß aus einer der zahlreichen »Bearbeitungen für die heranwachsende Jugend« kennen, die versuchen, das Buch zu zähmen und auf die Abenteuer-Handlung zu reduzieren. Wenn man sich aber die Mühe macht, einmal nachzusehen, was Melville tatsächlich geschrieben hat, so entdeckt man einen wilden, zerklüfteten Text mit einer rauhen Sprache, die wechselhaft ist wie die See, von der er so viel erzählt.

Den Deutschen ist dieses Buch in seiner ganzen Fülle lange Zeit vorenthalten worden, weil alle älteren Übersetzungen versucht haben, den Text zu glätten und damit leichter lesbar zu machen. Nun sind aber in jüngster Zeit gleich zwei neue Übersetzungen erschienen – wobei das Kuriose darin besteht, dass eine der beiden Übersetzungen sogar die andere zugrunde legt – die beide von sich selbst behaupten, das Buch getreu ins Deutsch zu übertragen. Die grundlegende Übersetzung stammt von Friedhelm Rathjen und ist im Jahr 2004 bei 2001 erschienen. Diese Übersetzung ist der bislang kompromissloseste Versuch, aus Moby Dick einen deutschen Wal zu machen und wird für lange Zeit die deutsche Übersetzung bleiben.

Wem die Lektüre eines Romans von über 800 Seiten zu anstrengend ist oder wer einfach lieber hört als liest, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieses Stück Weltliteratur in einer hervorragenden Einspielung anzuhören: Christian Brückner hat die komplette Rathjensche Übersetzung vorgelesen und 2001 bietet diese Lesung als mp3-Hörbuch auf zwei CDs für 39,90 € an. Umgerechnet auf die ca. 30 Stunden Hörgenuss sind das nur etwas mehr als 2 Cent pro Minute. Das kann sich doch hören lassen, oder?

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant

Michael Maars Fund einer möglichen literarischen Vorlage für Vladimir Nabokovs »Lolita« hatte im März 2004 einige Aufregung in den Feuilletons verursacht, darunter auch zahlreiche Widersprüche, oft nach dem Muster, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Die in Frage stehende Erzählung von Heinz von Lichberg war nur antiquarisch zu erwerben und die Zitate von Maar waren zu dünn, um die These wirklich beurteilen zu können. Maar hat im Jahr darauf ein kleines Büchlein daraus gemacht, in dem er nun nicht nur in Ruhe und mit einiger Gründlichkeit die Argumente anführt, sondern das auch Lichbergs Erzählung »Lolita« und eine weitere mit dem Titel »Atomit« bringt, für die Maar einen noch deutlicheren Vorlagencharakter für Nabokovs »Walzers Erfindung« anführen kann.

Unbefangen betrachtet, ist die Aufregung, die Maars Fund im März 2004 ausgelöst hat, weitgehend unverständlich. Weder wirft Maar Nabokov ein Plagiat vor, noch hält Maar die Lichbergsche Vorlage für literarisch gleichrangig mit Nabokovs Roman, noch behauptet er, erwiesen zu haben, dass es sich bei Lichbergs Erzählung um eine notwendige Vorstufe zu Nabokovs Werk handelt. Alles, worauf er aufmerksam macht, sind auffällige und bemerkenswerte Indizien, die, je mehr sie sich finden lassen, es immer unwahrscheinlicher machen, dass Nabokov die Vorläufer-Erzählung nicht gekannt habe, ja die am Ende sogar nahelegen, Nabokov habe die Erzählung bewusst verarbeitet.

Maar selbst hält die Konsequenzen seiner Entdeckung nicht für besonders bedeutsam:

Wenn sich die erste, textgenetische [Frage] abhaken ließe, wäre genügend Raum für die zweiten und dritten, sublimeren Fragen: Was die Ur-Lolita für den Status des Romans bedeutet (nicht viel), ob sie den Rang Nabokovs schmälert (nicht im geringsten), ob wir unser Bild von ihm korrigieren müssen (minimal), ob wir aus den zwei Lolitas etwas über das Zusammenspiel von Hoch- und Trivialliteratur erfahren (durchaus), etwas über Nabokovs Verhältnis zu den Deutschen (auch das) und etwas über seine Kunst, die Deuter zu lenken (allerdings).

Die angehängten Erzählung »Lolita« von Lichberg ist – alles in allem – ziemlich schrecklich. Die Sprache ist hölzern und besonders die eigentliche Liebesgeschichte von einer seltenen literarischen Blödheit. »Atomit« ist ein zu langer, zu schlecht erzählter Witz, dessen Pointe trotz der Länge der Erzählung nicht recht vorbereitet ist. Uns Nachgeborenen mag ein Schauer über den Rücken laufen, aber wirklich besser macht das den Text auch nicht. Hiernach zu urteilen, hat man den Autor Heinz von Lichberg gänzlich zu Recht vergessen.

Ein Büchlein für Nabokov-Spezialisten und Leser, die Spaß an literarischen Detektiv-Spielchen haben. Die anderen mögen ihre Zeit Wichtigerem widmen.

Michael Maar: Lolita und der deutsche Leutnant. Suhrkamp, 2005. Pappband; 100 Seiten. 14,80 €.

Bertina Henrichs: Die Schachspielerin

Henrichs_SchachspielerinManchmal wundere ich mich doch, was es so alles auf die Bestsellerlisten schafft. Normalerweise bleibt mir das erspart, weil ich nur ganz selten Bücher von den Bestsellerlisten lese und das auch nur, wenn sich starke Gründe einfinden, die sich gegen die aus dem Bestseller-Status resultierenden Vorurteile durchsetzen. Aber diesmal hat mich der Titel verführt; ich hätte widerstehen sollen.

Der deutsche Text entspringt aus einer merkwürdigen Konstellation: Die Autorin ist Deutsche, lebt aber seit 18 Jahren in Frankreich und hat »ihren ersten Roman« – wie der Waschzettel das Büchlein ironisch nennt – auf Französisch geschrieben, »damit ihre Familie in Paris ihn ohne Übersetzung lesen kann.« Soweit, so gehöft. Nun würde ich erwarten, dass einer Autorin ihr Text so wichtig ist, dass sie ihn selbst in ihre Muttersprache übersetzt, um ihn so original zu erhalten, wie es nur möglich ist. Der Text ist aber von Claudia Steinitz in ein hölzernes Etwas übertragen worden, das sie wahrscheinlich für Deutsch hält. Gleich auf der ersten Seite steht die preiswürdige Stilblüte: »Eleni hatte keinen Blick für das Schauspiel hinter ihrem Rücken.« Es ist weder die einzige noch die schlimmste.

Die Fabel des Buches fällt unter das Bennsche Diktum, das Gegenteil von Kunst sei nicht Natur, sondern gut gemeint. Erzählt wird über ein griechisches Zimmermädchen auf Naxos in den besten Jahren, das seinem Ehemann zum Geburtstag in einer romantischen Anwandlung einen Schachcomputer schenkt. Da der sich nicht für das Ding interessiert, beginnt sie in einer schlaflosen Nacht, sich selbst mittels der Gebrauchsanweisung das Spiel beizubringen. Da sie bald merkt, dass sie allein nicht recht vorwärts kommt, wendet sie sich um Hilfe an ihren alten Lehrer, der – wie der Zufall so spielt – in seinen jungen Jahren ein passabler Spieler gewesen sein muss.

Bertina Henrichs füllt nun einige Seiten mit angelesenen Schachtermini – dass sie nichts von der Sache selbst versteht, zeigt sich spätestens dann, als sie ihre Heldin an einer Stelle mit Weiß einen beschleunigten Drachen spielen lässt – und kommt dann zur Krise des Buches: Eleni verrät ihrer besten Freundin, dass sie nun Schach spielt und wird – verständlicher Weise – zum Gespött der Menschen auf Naxos. Warum es alle diese Menschen so fürchterlich finden, dass Eleni Schach spielt, weiß die Autorin auch nicht so genau. Sie vermutet wahrscheinlich, andere Menschen müssten ähnliche Vorurteile dem Spiel gegenüber hegen wie sie selbst: Wer »stundenlang über den nächsten Zug nachdenkt«, muss einer Art asozialen Wahns verfallen sein.

Aus der Krise gibt es nur einen Ausweg: Eleni muss an einem Turnier in Athen teilnehmen. Warum das ein Ausweg aus der Krise ist, anstatt sie zu verschärfen, weiß die Autorin genausowenig, aber wir haben inzwischen auch nichts mehr erwartet. Während Eleni in Athen Schach spielt, stirbt ihr alter Lehrer an einer verschleppten Lungenerkrankung. Eleni verliert in der dritten Runde des Turniers (offenbar also ein K.O.-Turnier, das, um den Witz abzurunden, an nur vier Brettern gespielt wird), gerade rechtzeitig, um von der Nachricht vom Tod ihres Lehrers nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Sorgenvoll, aber innerlich gestärkt und seltsam verwandelt kehrt sie auf ihre Insel zurück, nicht erwartend, dass ihr Ehemann voller Stolz ihrer Rückkehr entgegenschläft.

Eine Empfehlung an alle Schachspieler: Lassen Sie die Finger davon! Ich sage nur noch eines: Im ganzen Buch kommt nicht eine einzige Schachuhr vor! Weder bei der Vorbereitung auf das Turnier noch bei dem großen Turnier selbst scheint Eleni Bekanntschaft mit den Nöten der Zeitkontrolle gemacht zu haben.

Wer allerdings eine schmalzige, in weiten Teilen einfallslos und klischeehaft erzählte Geschichte in schlechtem Deutsch lesen will, sollte dieses herzerwärmende Buch nicht an sich vorübergehen lassen!

Bertina Henrichs: Die Schachspielerin. Hoffmann und Campe, 2006. Pappband; 143 Seiten. 15,95 €.

Werner Fuld: Wilhelm Raabe

188967397_ca190bd9b7Wilhelm Raabe kann man heute zu den beinahe vergessenen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts zählen. Zwar existiert noch eine umfassende Werkausgabe – die »Braunschweiger Ausgabe« –, und es sind noch erstaunlich zahlreiche Titel in Reclams Universal-Bibliothek lieferbar, aber einen Klassiker-Status hat Raabe nie wirklich erlangt. Vielleser schwärmen einander dann und wann von einem Titel aus dem Spätwerk vor – der »Stopfkuchen« und »Die Akten des Vogelsangs« nehmen hier eine hervorragende Stellung ein –, aber dennoch bleibt Raabe eine Randfigur. Dabei hat Thomas Mann noch viel von ihm gelernt – ohne die »Akten« wäre der »Doktor Faustus« wahrscheinlich ein ganz anderes Buch geworden – und Kurt Tucholsky soll die 18-bändige Raabe-Ausgabe bei Hermann Klemm in seinem Marschgepäck mit in den Großen Krieg geschleppt haben, der damals noch nicht Erster Weltkrieg hieß. Aber auch das scheint nicht wirklich geholfen zu haben.

Die Biographie von Werner Fuld steht, soweit ich sehe, allein auf weiter Flur. Sie ist jetzt 13 Jahre alt, und es scheint nicht so, als würde sie in Kürze Konkurrenz bekommen. Fuld Lebensbeschreibung ist sorgfältig und basiert auf einer gründlichen Quellenarbeit. Was die Faktenlage und die grundsätzliche Darstellung von Leben und Werk angeht, scheint sie mir tadellos zu sein. Der strenggläubige Germanist könnte kritisieren, dass Fuld etwas zu oft dazu neigt, Figurenäußerungen aus Büchern Raabes als Selbstaussagen des Autors zu lesen, da sich aber alles in allem ein geschlossenes Gesamtbild ergibt, könnte diese Kritik auch schlicht ins Leere laufen. Bei all dem muss ich allerdings betonen, dass ich selbst alles andere als ein Raabe-Kenner bin.

Spannend ist Fulds These, der junge Raabe habe unter einer latenten Schizophrenie gelitten, die er mit Hilfe seines Schreibens therapiert habe. Fulds Belege dafür sind dünn, und wenn er in der weiteren Lebensbeschreibung immer wieder den inneren Zwiespalt Raabes zwischen seiner bürgerlichen Existenz und seinen künstlerischen Ansprüchen mit der These von der Raabeschen Schizophrenie in Zusammenhang bringt, handelt es sich dabei wohl um eine ein wenig leichtfertige Vermischung von sozialen und pathologischen Kategorien. Aber diese These steht keineswegs im Zentrum von Fulds Raabe-Biographie und kann vom Leser getrost ruhen gelassen werden.

Ein lesenswertes Buch und eine solide Einführung in das schriftstellerische Werk Wilhelm Raabes.

Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Hanser Verlag, 1993. Leinen, fadengeheftet; 383 Seiten.

Lieferbare Ausgabe: dtv, 2006. ISBN: 3-423-34324-9. 15,00 €.

Im Führerbunker brennt noch Licht!

Moers_BonkerOffenbar angeregt durch den Kinofilm »Der Untergang« hat Walter Moers seine eigene Version der letzten Tage Adolf Hitlers entworfen: »Der Bonker« erzählt natürlich nicht, wie es wirklich war, sondern in guter alter Moers-Tradition, wie es nicht hat sein können.

Während die beiden Vorläufer – »Adolf« (1998) und »Adolf. Teil 2« (1999) – ziemlich durchgeknallte Abenteuer des aus der Kanalisation zurückkehrenden ›Ex-Föhrers‹ erzählten, liefert »Der Bonker« nach einem kurzen Vorspiel ein Drama in drei Akten, dessen Handlung in der Hauptsache darin besteht, dass sich am Abend des 30. April 1945 zahlreiche ›Besocher im Föhrer-Bonker‹ einfinden, um Adolf zur Kapitulation zu überreden. Beinahe alle kommen inkognito: Gandhi kommt als Michael Jackson, Hermann Göring als Eva Braun, der Tenno als Tod und zu guter Letzt auch noch Mussolini als Gott verkleidet. Zwischendurch wird Adolf mehrfach von Churchill am Handy gefoppt, der zum Schluss auch noch eine ganz besondere Rolle spielen wird. Aber ich will nicht zuviel verraten.

Highlight des ›Boches‹ ist sicherlich die beigelegte DVD, auf der sich ein Musikclip befindet, in dem der ›Föhrer‹ im ›Bonker‹ ein letztes Lied anstimmt. Allein deswegen lohnt sich schon die Anschaffung. »Der Bonker« ist zurückhaltender als die beiden älteren Bände; der eine oder andere Fan mag enttäuscht sein, dass der Ton der satten Geschmacklosigkeit doch etwas abgemildert wurde. Aber auch so stellt Walter Moers einmal mehr seine Ausnahmestellung unter den deutschsprachigen Autoren unter Beweis: Mir wenigstens will kein anderer lebender deutscher Autor einfallen, der über eine derartige Bandbreite verfügt, wie sie sich zwischen der »Wilden Reise durch die Nacht« und den Zamonien-Romanen einerseits und dem »Kleinen Arschloch« und der »Adolf«-Serie andererseits aufspannt. Für Moers-Fans ein Muss, für Menschen mit einem breit angelegten Humor auf jeden Fall eine Empfehlung.

Walter Moers: Der Bonker. Piper Verlag, 2006. Fadengeheftet; 80 Seiten (unpag.) u. 1 DVD. 14,90 €.

Aber wehe, wenn er losgelassen!

Im September 1905 veröffentlichten die »Annalen der Physik« einen Aufsatz Albert Einsteins, in dem der Zusammenhang zwischen Materie und Energie auf die handliche Formel E = mc² gebracht wird. Damit war die Idee geboren, dass Materie in irgendeiner Weise vollständig in Energie umgewandelt werden könnte und dass dabei gewaltige Mengen von Energie freigesetzt würden.

Noch bevor eine technische Anwendung dieser Idee auch nur absehbar war, erschien 1922 in der Tschechoslowakei ein utopischer Roman von Karel Čapek: »Továrna na absolutno«, auf deutsch »Das Absolutum oder die Gottesfabrik«. Čapek lässt im Jahr 1943 einen Ingenieur das Problem der Materieumwandlung lösen: Er baut eine Maschine, den Karburator, der in einem geregelten Prozess Materie vollständig in Energie überführt. Leider hat dieser Prozess einen unangenehmen und nicht vorhergesehen Nebeneffekt.

Es stellt sich nämlich heraus, dass die Pantheisten mit ihrer Theorie richtig lagen: Die Materie ist aufs Engste mit dem Göttlichem, dem Absoluten verbunden, und der Karburator, der die Materie vollständig verschwinden läßt, setzt das in ihr gebundene Absolutum frei. Freies Absolutum hat nun in der Hauptsache zwei Effekte: Es verwandelt Menschen, die ihm ausgesetzt sind, in religiöse Eiferer, und es setzt den göttlichen Drang zum Erschaffen in eine ungebremste Tätigkeit um. Das Absolutum übernimmt die Maschinen der Fabriken, in denen ein Karburator eingesetzt ist, und produziert ungebremst und in höchster Geschwindigkeit riesige Mengen aller möglichen Güter. Es lässt sich leicht denken, dass dies binnen kurzem zum Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystem führt. Parallel dazu verschenken die vom Absolutum durchtränkten Bankangestellten alles verfügbare Geld an Arme und Bedürftige – in nur wenigen Monaten ist das Chaos perfekt.

Binnen Jahresfrist bricht ein Weltkrieg aus, der bis in den Herbst 1953 andauert und 198 Millionen Todesopfer kostet.

Sehen Sie, das ist Geschichte. Ein jeder von diesen hundert Millionen kämpfender Menschlein hatte vorher seine Kindheit, seine Lieben, seine Pläne; er hatte manchmal Angst, wurde manchmal zum Helden, war aber gewöhnlich zu Tode ermattet und hätte sich gern friedlich auf dem Bette ausgestreckt; und wenn er starb, so tat er’s gewiß nicht gern. Und aus dem allen kann man nur eine Handvoll trockener Begebenheiten herausnehmen: hier und dort eine Schlacht, soundso viel Verletzte, dieses oder jenes Resultat. Und zu alldem hat dieses Resultat gar keine Entscheidung gebracht.

Zum Glück ist es das vornehmste Ziel aller kriegsführenden Parteien, feindliche Karburatoren zu zerstören. Erst als annähernd alle Karburatoren vernichtet sind, erschöpft sich der Krieg. Am Ende treffen sich die letzten 13 Krieger unter einer Birke und beschließen spontan, es nun gut sein zu lassen und heim zu gehen. Mit der Zerstörung des wahrscheinlich letzten kleinen Karburators schließt der Roman.

Das Buch könnte nach der Dürrenmattschen Regel geschrieben sein, jedes Stück habe zu zeigen, was wahrscheinlich geschieht, wenn etwas Unwahrscheinliches geschieht, und müsse dabei die schlimmstmögliche Wendung nehmen. Die Satire Čapeks hat keinen exakten Fokus, sondern spielt auf verschiedenen Ebenen den ebenso einfachen, wie weitreichenden Einfall durch, was geschähe, wenn Gott tatsächlich auf Erden wandeln würde. Dass die moderne Welt und der Mensch schlechthin dabei nicht besonders gut abschneiden, versteht sich beinahe von selbst. Keine besonders überraschende Erkenntnis, aber ein beinah prophetischer kleiner Roman.

Karel Čapek: Das Absolutum oder die Gottesfabrik. Aus d. Tschech. von Anna Auredničková. Berlin: Das Neue Berlin, 1976. 256 Seiten.

Das Buch ist derzeit nicht lieferbar.