Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha

Da er sich an die engen Grenzen des Berichtes halte und auf sie beschränke, wo er doch Geschick, Begabung und Verstand genug besitze, um über das gesamte Weltall zu schreiben, soll man, wie er bittet, seine Mühe nicht verachten, sondern ihn loben nicht für das, was er schreibe, sondern für das, was er nicht geschrieben habe.

Die dritte Übersetzung dieses Weltklassikers, die ich nun gelesen habe. Meine erste Lektüre des Buches liegt in der späten Schulzeit und wurde wahllos mit der Übersetzung von Ludwig Braunfels erledigt, die heute noch unter die meistgedruckten deutschen Texte des Romans gehört. Dann geriet ich stark unter den literarischen Geschmack Arno Schmidts und fühlte mich daher genötigt, das Buch noch einmal aus der Feder Ludwig Tiecks zu lesen. Und nun endlich die erste Übersetzung des 21. Jahrhunderts von Susanne Lange, die wohl dem heutigen Leser den besten Eindruck davon vermittelt, wie das Buch im Spanischen auf den Leser wirkt.

Die Geschichte der Übersetzungen des Don Quijote ins Deutsche beginnt erstaunlicher Weise bereits Mitte des 17. Jahrhunderts: Joachim Caesar übersetzt 1648 die ersten 23 Kapitel des ersten Bandes – grob geschätzt ein Fünftel des gesamten Romans –, worin die Entstehung des Wahns Don Quijotes erzählt wird und einige der berühmtesten Abenteuer, darunter der Kampf mit der Wind­müh­le, seine Erlebnisse in einer Schenke, die er für eine Burg hält, die Sichtung und Verbrennung der Bibliothek Don Quijotes, aber auch eine der ersten romantischen Nebenhandlungen, eine der zahl­rei­chen Liebesgeschichten, mit denen besonders der erste Teil des Buches aufgefüllt wird.

Deutlich umfangreicher gerät dann die Übersetzung durch Friedrich Justin Bertuch (1775–1778), die sich als vollständige Übersetzung ausgibt, aber immer noch einige der eingeschobenen Novellen fortlässt, um das Ausschweifende des Romans einzudämmen. Erst die Übersetzung Ludwig Tiecks (1799/1801) liefert tatsächlich den vollständigen Text im Deutschen und ist allein deswegen bis heute im Druck und auch elektronisch verfügbar. Tiecks Text wird zur Grundlage der romantischen Verehrung des Buches, das, neben dem Tristram Shandy, zum Muster für zahlreiche der anek­do­ti­schen und von Nebenhandlungen regierten Erzählungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird. Der Roman wird so auch in Deutschland zum Klassiker, so dass im 19. Jahrhundert gleich fünf weitere Übersetzungen gedruckt werden (Förster und Müller, 1825; Anonym, 1837; Adalbert von Keller, 1839; Edmund Zoller, 1867; Ludwig Braunfels, 1883). Besonders die von Braunfels bläht den Text des Originals unnötig auf, indem er nicht nur in ein möglichst umständliches Deutsch übertragen wird, sondern auch eine unendliche Zahl von kleinsten Einschüben aufweist, was beides Braunfels wohl für eine Verstärkung des beabsichtigten humoristischen Effekts hält. Für das 20. Jahrhundert sind nur zwei Übersetzungen zu verzeichnen: Die von Konrad Thorer (Insel, 1908), die ausdrücklich eine Bearbeitung der anonymen Übersetzung von 1837 ist, und die von Anton M. Rothbauer (Goverts, 1964; zuletzt noch einmal bei Zweitausendeins um die Jahrhundertwende gedruckt), die zwar behauptet, eine eigenständige Leistung zu sein, der man aber das Skelett der Braunfelsschen Übersetzung in jedem Satz anmerkt. Man darf aber nicht zu streng mit Rothbauer ins Gericht gehen, der immerhin die Mühe auf sich genommen hat, eine deutsche Cervantes-Gesamtausgabe mit über 4.700 Seiten in vier Bänden zu erstellen.

Erst im Jahr 2008 legt Hanser mit der Übersetzung von Susanne Lange einen neuen, modernen und entschlackten Text des Don Quijote auf Deutsch vor. Langes Übersetzung ist – soweit ich das erkennen kann – stilistisch unbeeinflusst von den Vorgängern, bewegt sich nah am Original und versucht nicht, den Roman noch lustiger zu machen, als er es ohnehin schon nicht ist. Auch unterlässt sie jeglichen Versuch, die Reichhaltigkeit des Originals auf irgendeinen vermeintlichen Hauptzug zu konzentrieren. Sicherlich ist es so, dass der Don Quijote eine Parodie auf die grassierenden Ritterromane seiner Zeit darstellt, er ist aber auch zugleich – und damit sich selbst ins Wort fallend – ein Kommentar auf die soziale Wandlung der Welt und besonders Spaniens seit dem Abschluss der Reconquista Anfang 1492: Die meisten Ritterorden sind zusammengebrochen, der Ritterstand selbst spielt keine bedeutende Rolle mehr; in Südamerika hausen Glücksritter und Räuberhauptleute und betreiben das Geschäft der Ausbeutung dieses Kontinents; die Seefahrer sind endgültig zu den Helden der neuen Zeit aufgestiegen, und der umherziehende Ritter eines imaginierten Mittelalters taugt nur noch als Verrückter und Witzfigur in einer Welt, in der es in der Hauptsache um Geld geht, nicht um Ehre, Gerechtigkeit, Schönheit oder Liebe. Zugleich bedient Cervantes seine Leser mit verwickelten Liebes- und Fluchtgeschichten, thematisiert den fortdauernden Krieg gegen die Muslime, an dem er selbst teilgenommen und dem er eine Hand geopfert hat, den Konflikt der Religionen, den die Reconquista hinterlassen hat, und die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten und persönlichen Schicksale. Don Quijote ist eben nicht nur ein Abgesang auf die heile Welt der Romane (und damit zugleich auf das Erzählen trivialer Phantasien), sondern es ist zugleich eine ganz konkrete und durchaus kritische Bestandsaufnahme der neuzeitlichen Welt.

Hinzukommt, besonders im zweiten Teil, die Frage, inwieweit eine objektive Wahrnehmung dieser Welt überhaupt möglich ist. Don Quijote ist nicht nur ein Verrückter, sondern er stellt durch seine Grundannahme, dass alles, was ihm begegnet, von ihm feindlich gesinnten Zauberern in seiner Erscheinung verändert wurde, und man die Welt nur richtig deutet, wenn man diese Verzauberung durchschaut und rückgängig macht, das Muster des forschenden und erkennenden Menschen der Neuzeit schlechthin dar. Wer den tiefsitzenden Ursprung des Zorns im Streit zwischen Na­tur­wis­sen­schaft­lern und Gläubigen, Empirikern und Metaphysikern, Skeptikern und Verschwörungsanhängern begreifen will, lese dieses Buch. Denn es ist durchaus nicht damit getan, Sancho Panza als realistisches Korrektiv des verrückten Don Quijotes zu lesen, sondern es gilt zu begreifen, dass Panza auch den Verrat der Realisten am Ideal einer gerechten und edlen Welt darstellt. Es ist nämlich alles andere als ein Zufall, dass das Schlitzohr Panza in einer langen Passage des Romans als Richter über ein von ihm eingebildetes Inselreich fungiert und dort als weiser Mann durchgeht, weil er gewitzter ist als die gewitzten Betrüger, über die er zu urteilen hat.

Wer diesen Weltroman der Neuzeit lesen will, greife unbedingt zu dieser schlanken und eingängigen Übersetzung; und man sollte Geduld haben und den Roman nicht deshalb unterschätzen, weil er als humorige Schnurre daherkommt; dafür allein ist er erheblich zu lang geraten. Aber besonders der zweite Teil des Buches hat es in sich, denn wir sind noch lange nicht hinweg über das, was dort erzählt wird.

Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Zwei Bände. München: Hanser, 2008. Leinen Fadenheftung, Lesebändchen, 696 + 791 Seiten. 68,– €. Auch als dtv-Taschenbuch 14469.

Lisa Halliday: Asymmetrie

Sei vorsichtig, hatte mich Alastair am Abend zuvor gewarnt, […] noch mehr als dein Bruder ist jemand wie du für diese Leute ein Hauptgewinn. Ein Schiit aus einer politischen Familie, die zwei der politischen Parteien angehört, die sie hassen, und mit Verbindungen in die grüne Zone und noch dazu amerikanischer Staatsbürger mit Familie in den USA und Ersparnissen in Dollar? Kannst du dir das vorstellen? »So viele Fliegen! Eine Klappe!«

Als dieses Buch 2018 erschien und wenig später auch auf Deutsch vorlag, wurde es in der Hauptsache damit beworben, dass es eine der letzten Affären von Philip Roth beschreibe. Da ich gegen solch voyeuristische Projekte eine gesunde Abneigung hege und die ersten Seiten mein Vorurteil noch bestärkten, habe ich es an mir vorübergehen lassen. Nun sind zwei Biographien über Roth erschienen, weshalb ich mich wieder an Hallidays Buch erinnert habe.

Das Text besteht aus drei Teilen: Die ersten beiden liefern jeweils ungefähr das, was heutzutage von der holzverarbeitenden Industrie als Roman ausgeschrieen wird, wobei diese beiden Teile motivisch sorgsam miteinander verknüpft sind; der dritte Teil enthält ein kurzes fiktives Radio-Interview mit dem männlichen Protagonisten des ersten Teils, Ezra Blazer. Er dient in der Hauptsache dazu, Blazer eine Biographie zu verpassen, die deutlich von der Roth’ abweicht, und außerdem vorzuführen, dass er auch mit 78 Jahren immer noch versucht, alles ins Bett zu kriegen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Der erste Teil – gut 130 Seiten – beschreibt etwa drei Jahre Beziehung zwischen der 27-jährigen Alice Dodge, Lektorin in einem New Yorker Verlag, und dem weltberühmten, 70-jährigen Autor Ezra Blazer. Nachdem Blazer Alice im Central Park angesprochen hat, kommt es sehr rasch und ohne besondere Präliminarien zu einer Affäre zwischen beiden, die über die beschriebene Zeit immer enger und partnerschaftlicher wird. Alice nimmt von Anfang an Geschenke von Ezra entgegen, auch Geld für Kleidung oder eine Klimaanlage für ihr Apartment. Am Ende verbringt sie auch längere Zeit mit Ezra in dessen Insel-Refugium, in das er sich immer wieder zum Schreiben zurückzieht, lernt schließlich auch seine Familie kennen etc. pp. Die anfangs von beiden Seiten mit bewusster Distanz geführte Beziehung wird deutlich emotionaler, bis zum Schluss des ersten teils Alice einen emotionalen Zusammenbruch hat, als sie sich mit der Sterblichkeit Ezras, die durchgehend Thema des Textes ist, ganz unmittelbar konfrontiert sieht.

Der zweite Teil ist etwa gleich lang wie der erste und präsentiert offensichtlich einen Text, den die Schriftstellerin Alice Dodge verfasst hat. In seinem Mittelpunkt steht ein junger irakisch-amerikanischer Mann, der im Jahr 2009 von Los Angeles aus zu seinem Bruder in den Irak reisen will und beim Umsteigen in London am Flughafen von der Zollbehörde festgehalten wird. Amar Ala Jaafari hat sowohl die us-amerikanische als auch die irakische Staatsangehörigkeit; er hat in den USA gerade seine Dissertation als Wirtschaftswissenschaftler abgeschlossen und sehnt sich danach, endlich wieder seinen Bruder und dessen Familie zu besuchen. Er hatte geplant, in London zwei Tage mit einem befreundeten Journalisten verbringen, doch wird er bei der Ankunft festgehalten und ausführlich befragt; nach einiger Wartezeit wird ihm die Einreise nach Großbritannien ohne eine genaue Begründung verweigert. Immerhin darf er die Nacht im Flughafen verbringen, um am nächsten Tag Richtung Irak weiterreisen zu können. Diese Episode dient als Rahmen für eine Erzählung des Lebens Amars und seiner Familie. Sein älterer Bruder, der in den USA nie heimisch geworden ist, lebt inzwischen als Arzt im Nord-Irak; der Großteil der Familie lebt aber noch immer in Bagdad, und ihr Leben während und nach der amerikanischen Eroberung des Iraks durch die US-Amerikaner ist eines der bedeutenden Themen dieses zweiten Teils.

Abgeschlossen wird der Roman, wie schon gesagt, durch ein kurzes Interview der BBC mit Ezra, dessen Funktion oben schon kurz beschrieben wurde. Der gesamte Roman ist motivisch gut gearbeitet, er ist thematisch reich und mit bedeutender Souveränität konstruiert. Für einen Erstling ein erstaunlich objektives Buch, das sehr bewusst mit Distanz zu seinen Themen und den Distanzen zwischen seinen Figuren arbeitet. Es ist auch vollständig ohne den mitgelieferten voyeuristischen Schlüssel zu lesen und zu goutieren und durchweg auf der Höhe des von ihm verarbeiteten Stoffs. An den wenigen Stellen, die ich geprüft habe (ausschließlich im ersten Teil, die als Leseprobe greifbar ist), hat sich die Übersetzung bewährt.

Lisa Halliday: Asymmetrie. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. btb 71958. München: btb, 2020. Broschur, 316 Seiten. 11,99 €.

Heinrich Seidel: Phantasiestücke

Nun aber wußte der Teufel nichts mehr …

Noch einmal Heinrich Seidel, diesmal zum Abgewöhnen. Es handelt sich um eine eher uneinheitliche Sammlung mit Erzählungen und Märchen im Volkston, Nachahmungen von Hoffmann, Hauff, Eichendorff, Fritz Reuter und Jean Paul, alle im ironischen Ton mehr oder weniger gelungen, dafür inhaltlich ganz flach und uninspiriert erfunden. Mit dem Titel legt sich Seidel dabei selbst eine Latte auf, die er dann mühelos zu unterspringen versteht.

Das Märchen Das Zauberklavier geht zum Beispiel so: In einem weit entlegenen Königreiche leben hauptsächlich Büchermenschen und Gelehrte. Dann zieht jemand zu, der ein Klavier mitbringt. Das Klavierspielen wird rasch Mode; alle machen Musik, keiner will mehr Gedichte lesen. Die Denker werden beim Denken gestört. Der König verbietet das Klavierspielen. Eine Prinzessin wird geboren. Als sie achtzehn Jahre alt ist, findet sie im Wald ein Klavier. Weil sie nie etwas von Klavieren gehört hat, beginnt sie zu spielen. Alle sind entzückt. Der König erlaubt das Klavierspiel wieder.

Seine Faust-Variation aber geht so: Die Wirtin von Bornau will die beste Köchin und Tänzerin in der Gegend sein. (Was sollte ein weiblicher Faust auch sonst für Ambitionen haben?) Aber da gibt es eine andere, die beides besser kann. Also erscheint ihr der Teufel. Sie schließt einen Pakt und wird die beste Köchin und Tänzerin der Gegend. Als der Teufel kommt, um ihre Seele zu holen, wird er von einem frommen Pfarrer um seinen Preis gebracht. Er fährt vor Wut durch die Wand. Das Loch kann man heute noch sehen.

Und so strampelt Seidel sich ab am Melusinen-Motiv, an Gespenster-Geschichten, einer Allegorie der Monate, ja, es findet sich sogar eine üble Polemik gegen die USA und ihre Bewohner. Das soll wohl alles lustig sein, ist aber immer wieder nur ungeschickt und grob gearbeitet. Hier begreift man, warum Seidel inzwischen fast vollständig vergessen ist.

Leider auch in geringer Dosierung nicht mehr zu empfehlen.

Heinrich Seidel: Phantasiestücke. In: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe in 5 Bänden. Band V. Stuttgart: Cotta u. Berlin: Klemm, o. J. (ca. 1925). Bedruckter Leinenband, Fadenheftung. 267 (von 446) Seiten.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen

Als mein Freund Bornemann einmal gefragt wurde, welcher Vogel den größten poetischen Reiz auf ihn ausübe, antwortete er ohne Zögern: „Die Bratgans.“

Heinrich Seidel (1842–1906) ist ein beinahe ganz vergessener, erfolgreicher Un­ter­hal­tungs­schrift­stel­ler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Leberecht Hühnchen hat es – zumindest in meiner Familie, aber ich glaube wohl auch darüber hinaus – zur Sprich­wört­lich­keit gebracht für das kleinbürgerlich-idyllische Glück im kleinen Winkel. Nun steht eine kleine Seidel-Auswahl („Gesammelte Werke“ in fünf Bänden; es werden ungefähr 2500 Seiten sein) seit vielen Jahren ungelesen in meinem Bücherschrank, und als neulich ein Getwitter auf den Hans Dampf in allen Gassen von Zschokke kam, fiel mir auch gleich mein ungelesenes Hühnchen wieder ein.

Seidel war von Haus aus Ingenieur – er ist der Vater des vielzitierten „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“ – und gehörte auch, neben dem später viel berühmteren Theodor Fontane, zu den Mitgliedern des Tunnels über der Spree. Neben der Dichterei, die er durchaus mit finanziellem Erfolg betrieb, war er ein Vereinsmensch und Hobbygärtner mit Hang zu exotischen Blumen. Stilistisch steht er ganz anspruchslos in den Traditionslinien Jean Pauls, Hoffmanns, Fritz Reuters und wohl auch in denen Kellers und Storms, ohne deren Ernst und Hintergründigkeit je erreichen zu wollen. Er selbst wird sich wohl als Realist begriffen haben, doch steht er eher einer seichten Pseudo-Romantik nahe, die viele Romantiker wahrscheinlich mit einiger Verachtung betrachtet hätten.

Sein Leberecht Hühnchen ist von Beginn an Held einer lockeren Reihe anekdotischer Erzählungen, in denen es immer um Lebensfreude, Menschlichkeit und das Glück der kleinen Existenz geht. Das alles geht ganz leicht von der Hand und ist – bei aller gewollten Naivität; der Name Leberecht ist natürlich alles andere als ein Zufall – niemals in Gefahr, ins Kitschige abzurutschen. Der Ich-Erzähler ist ein Studienfreund Hühnchens, der diesen nach einigen Jahren zufällig in Berlin wiedertrifft. Hühnchen hat inzwischen eine kleine Familie mit seiner leicht behinderten, aber herzensguten Ehefrau, zwei immer entzückende Kinder und den rechten Lebenssinn: sich stets gutgelaunt nie vom Geschick einschüchtern zu lassen. Die Figur war sofort beliebt, und Seidel hat der ersten Erzählung noch zahlreiche, ganz ähnlich gestrickte nachfolgen lassen.

Wie schon gesagt: Das ganze ist die Art von Unterhaltungsliteratur, wie sie zu dieser Zeit die Familienblätter füllte, aber sie ist gut geschrieben und auch heute noch vergnüglich zu lesen, wenn man Maß hält und nicht zu viel auf einmal zu sich nimmt. Das eine oder andere gibt es auch aktuell noch im Druck; eine üppige Auswahl aber findet sich für kleines Geld in An­ti­qua­ria­ten oder eBooks.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen. In: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe in 5 Bänden. Band I. Stuttgart: Cotta u. Berlin: Klemm, o. J. (ca. 1925). Bedruckter Leinenband, Fadenheftung. 266 (von 524) Seiten.

»Katzen kann man alles sagen«

Zum Fressen geboren,
zum Kraulen bestellt
in Schlummer verloren
gefällt mir die Welt.

Goethe zugeschrieben

Auch in der grauen Vorzeit, also bevor es das Zwischennetz gab, gab es schon Katzen-Content. Er musste damals mühsam durch den Druck verbreitet werden; von Zeit zu Zeit passiert das auch heute noch, obwohl es natürlich rettungslos altmodisch ist. Glücklicherweise sind die Katzen in dieser Sache von ihrer gewöhnlichen des­in­ter­es­sier­ten Toleranz: Sie setzen sich sowohl auf das Buch, das man gerade lesen möchte, als auch auf die Tastatur des Laptops, mit dem man gerade arbeitet.

Die vor Kurzem in der Insel-Bücherei erschienene Anthologie mit Katzengedichten und -geschichten fasst einige sehr nette, oft eher unbekannte Texte des 19. und 20. Jahrhunderts über literarische und unliterarische Katzen zusammen. (Das falsche Goethe-Gedicht lassen wir mal durchgehen, weil es ganz nett geraten ist.) Sie hat außerdem den unschlagbaren Vorteil, zahlreiche der subversiv-anarchischen Blätter von BECK zu enthalten, in denen immer Katzen im Fokus stehen. Es handelt sich nicht um Illustrationen zu den Texten, sondern um ein gänzlich eigenständiges Kapitel des Büchleins, vielleicht sogar um das beste.

Zum Ver- und sich selbst schenken für alle Katzenfreunde mit Humor.

»Katzen kann man alles sagen«. Geschichten und Gedichte. Hg. v. Matthias Reiner. Mit 22 Bildern von Beck. Insel-Bücherei Bd. 1494. Berlin: Insel, 2021. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 101 Seiten. 14,– €.

Gustave Flaubert: Bibliomanie

Die Bände der Insel-Bücherei sind einerseits beliebte Geschenk-Bücher, andererseits gesuchte und teils sehr rare Sammlerstücke. Viele Titel erinnern noch an die Zeit, als der Insel-Verlag in der Hauptsache als Verlag für Klassiker geglänzt hat; immer sind die Bände für ein kleines, aber besonderes Lesevergnügen gut. So auch diese Neuausgabe der allersten Veröffentlichung Gustave Flauberts. Die düstere, romantische Schauer- und Mordgeschichte um die Bücherleidenschaft eines ehemaligen Mönchs ist sehr üppig mit atmosphärisch passenden Bildern von Burkhard Neie ausgestattet.

Zum Inhalt der Erzählung habe ich bei der Neu-Übersetzung durch Elisabeth Edl schon das Wichtigste gesagt; es muss hier nicht wiederholt werden. Bei der Übersetzung hat man bei Insel leider ein wenig gespart und die schon recht betagte Na-ja-so-ungefähr-Übersetzung von Erwin Rieger gewählt. Aber dennoch ist der Band ein hübsches Präsent für jeden Buchliebhaber. Ostern steht vor der Tür, und Lesern sind die achteckigen Eier oft die liebsten.

Gustave Flaubert: Bibliomanie. Aus dem Französischen von Erwin Rieger. Illustriert von Burkhard Neie. Berlin: Insel, 2021. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 68 Seiten. 8,– €.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway

Und Richard und Elizabeth waren ziemlich froh, dass es vorbei war …

Ein kleiner Roman, 1925 erschienen, der offensichtlich eine der frühen Reaktionen auf den Ulysses von James Joyce (1922) darstellt. Woolf experimentiert mit fließenden Über­gän­gen zwischen personalem Erzählen mit wech­seln­dem Fokus, erlebter Rede und stream of conciousness. Nachgebildet werden darüber hinaus hauptsächlich Er­zähl­tech­ni­ken aus dem Irrfelsen-Kapitel. Erzählt werden ungefähr 12 Stunden eines Tages im Sommer 1923, an dessen Abend Clarissa Dalloway einen Empfang in ihrem Haus gibt, der den Gipfel und zugleich das Ende des Romans bildet. Dabei ist Mrs. Dalloway kaum mit der Vorbereitung des Empfangs beschäftigt – das einzige, was als Vorbereitung zählen kann, ist, dass sie ihr Kleid, an dem eine Kleinigkeit genäht werden muss, für den Abend herrichtet –, auch wenn ein bedeutender Teil ihres Denkens um die Bedeutung und den Erfolg des Abends kreist.

Unterbrochen werden diese Gedanken durch den Besuch ihrer Jugendliebe Peter Walsh, der gerade aus Indien zurückgekehrt ist, um in London die Scheidung seiner unglücklichen Ehe zu betreiben. Walsh hat sich auf seine alten Tage (er ist 52 Jahre alt) in eine junge, verheiratete Frau verliebt; ob dies mehr als eine Phantasie ist, lässt sich aus dem Text heraus kaum beurteilen. Außerdem verfolgt der Text für eine Weile den Tag von Richard Dalloway, der nach einer etwas merkwürdigen Einladung bei einer Lady Bruton in einem plötzlichen emotionalen Überschwang seiner Frau einen großen Strauß Rosen vorbeibringt, sich aber nicht dazu überreden kann, ihr zu sagen, dass er sie liebe. Auch von der gemeinsamen Tochter Elizabeth erfahren wir das eine oder andere, ebenso wie von einigen anderen Freunden und Bekannten der Dalloways.

Als soziales Gegengewicht zu dem ansonsten durchweg der Oberschicht angehörenden Personal fungiert das Ehepaar Septimus und Lucrezia Warren Smith. Septimus ist mit einem unerkannten psychischen Trauma aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Aus Italien, wohin es ihn im Krieg verschlagen hatte, hat er seine Ehefrau nach London mitgebracht. Er hat seine alte Stellung in einem Büro wieder angetreten, ist aber mit den Jahren mehr und mehr in eine Psychose abgerutscht, die sich nun in Visionen seines im Krieg gefallenen Vorgesetzten manifestiert. Seine Frau, die angesichts seines immer merkwürdiger werdenden Verhaltens langsam verzweifelt, bringt ihn an diesem Tag erstmals zu einem berühmten Nervenarzt, der wenigstens den Zusammenhang mit dem Kriegserleben erkennt und ihn für mindestes sechs Monate in einem Sanatorium unterbringen will. Man muss feststellen, dass diese Nebenhandlung wohl die aussagekräftigste und interessanteste im ganzen Buch ist.

Bei aller Anerkennung der artistischen Anstrengung bleibt leider festzustellen, dass das Buch an seinem weitgehend unerheblichen Personal scheitert. Es mag sein, dass es sich dabei um eine milde Satire auf die englische Oberschicht handeln soll – besonders die Schilderung des sozialen und intellektuellen Leerlaufs beim abendlichen Empfang im Hause Dalloway nährt diesen Verdacht –, doch ist das Objekt dieser Satire inzwischen so weit von uns entfernt, dass wir ihren Biss kaum mehr empfinden, sondern uns konstruieren müssten. Doch dafür ist der Text eindeutig zu lang geraten. Am Ende geht es uns so, wie Richard und Elizabeth: Wir sind ziemlich froh, dass es vorüber ist.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. RUB 18886. Stuttgart: Reclam, 2012. Broschur, 231 Seiten. 6,80 €.

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut

Letztlich ist alles möglich. Vor allem hier bei Ihnen in Russland.

Es ist ja seit einiger Zeit Mode, Neu­über­set­zun­gen dadurch zu markieren, dass man Ihnen einen neuen Titel mitgibt; so auch hier: Aus dem Adelsnest (Dworjanskoje gnesdo) wird das semantisch sicherlich ebenso korrekte Adelsgut, was ein wenig verwundern darf, denn nicht nur nimmt es dem Titel das Heimische zusammen mit dem Provinziellen, es spielt im ganzen Roman ein Adelsgut auch keine bedeutende Rolle. Aber erfahrene Leser wissen, dass über die Titel der Bücher nicht immer die Übersetzerin entscheidet, auch wenn sie die Entscheidung nachträglich zu rechtfertigen hat. Lassen wir es auf sich beruhen.

Das Adelsgut (erschienen 1859) ist Turgenews zweiter Roman und sicherlich derjenige, der ihn in Russland als Romanautor fest etabliert hat. Erzählt werden eine Ehe- und eine Liebesgeschichte, beide unglücklich, die der etwas träge Fjodor Iwanytsch Lawrezki durchlebt. Lawrezki entstammt einer Mesalliance zwischen seinem adeligen Vater und einer Bedienten, die jener geschwängert und dann nur geheiratet hatte, um damit wiederum seinem Vater einen Tort anzutun. Lawrezki wächst unter der rationalistischen Fuchtel seines Vaters auf, versucht nach dessen Tod in Moskau zu studieren, verkuckt sich in Warwara Pawlowna, die lebenslustige Tochter eines Generals a.D., die ihn nicht nur heiratet, sondern von seinem Geld auch ein großes Haus in Paris führt, ihn in seinen Studien einschläfert und nebenbei nach Strich und Faden betrügt. Als Lawrezki entdeckt, dass er betrogen wird, läuft er einfach davon, zuerst nach Italien und dann zurück nach Russland, wo er sich der Bewirtschaftung seines Gutes widmen will. Unterwegs macht er Station bei entfernten Verwandten im Städtchen O., in dessen Nähe er über ein kleines Gut verfügt.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Lawrezki, inzwischen 35 Jahre alt, verliebt sich in die 19jährige Tochter des Hauses, Lisaweta Michailowna. Es fällt ihm nicht schwer, die Gegenliebe der jungen Frau zu gewinnen, und als er aus einer Zeitungsmeldung vom vorgeblichen Tod seiner Gattin erfährt, ist die offene Liebeserklärung gleich gemacht. Aber natürlich kommt es, wie es kommen muss: Als die beiden Liebenden reif sind, einander in die Arme und andere Körperteile zu fallen, taucht unvermittelt die tot geglaubte Warwara mit dem gemeinsamen Töchterchen wieder auf. Herzzerreißend verzichten die Liebenden auf einander, zähneknirschend vergibt Lawrezki seiner Frau und stimmt zu, für eine Weile mit ihr unter einem Dach zu leben, um seiner Tochter nicht den Weg in die gute Gesellschaft zu verbauen. Auf jegliches weltliche Glück verzichtend geht die fromme und weltfremde Lisa ins Kloster, während sich Warwara so gut wie bisher zu amüsieren versteht. Am Ende ist sie die Einzige, die aus dem allgemeinen Elend glücklich hervorgeht und bekommt, was sie will.

An diese insgesamt etwas seichte und flache Geschichte, der auch nicht durch die in ihr spielenden Charaktere aufgeholfen wird– nur die Figur Warwaras sticht mit ihrem amoralischen Erfolg etwas aus der literarischen Einheitsware heraus –, klebt Turgenew einen unerträglich Epilog, der acht Jahre nach der Haupthandlung den Gutsbesitzer Lawrezki an den Ort seines Unglücks zurückkehren lässt. Dort lebt nun eine neue Generation, fröhlich umeinanderspringend wie junge Hunde, deren Hauptbeschäftigung im Lachen und Hopsen besteht und die daher die positive Zukunft darstellt. Man sollte sich die Lektüre dieser abschließenden Dummheit ersparen!

Dass dieser Roman inhaltlich schwächelt bzw. deutlich dem damaligen populären Literaturgeschmack huldigt, bemerkte schon die zeit­­g­enös­sische Kritik (auch Turgenew selbst macht sich an einer Stelle ein wenig darüber lustig). Hoch gelobt wurde er aber wegen seiner sprachlichen Aus­ge­stal­tung, die man nun leider in einer anderen Sprache immer nur bedingt wiedergeben kann. Die Neuübersetzung von Christiane Pöhlmann ist angenehm zu lesen und so beweglich, dass sie in jeder Szene auf der Höhe des Erzählten ist. Auch mildert sie im Epilog das Pathos des Erzählers nicht ab, um einer heutigen Lesererwartung entgegenzukommen. Alles in allem hinterlässt der deutsche Text einen sehr runden Eindruck. Wenn nur der Inhalt etwas weniger klischeehaft wäre …

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut. Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 382 Seiten. 25,– €.

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers

Und wir gingen auf die Jagd.

Das russische Subgenre der Aufzeichnungen umfasst eine erhebliche Breite erzählerischer Formen, die im Wesentlichen nur dadurch miteinander verbunden sind, dass es sich um autobiographische oder wenigstens pseudo-autobiographische Texte handelt. Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers umfassen 25 Erzählungen, die nahezu alle zuvor in Zeitschriften abgedruckt wurden und nur sehr locker über eine gemeinsame Erzählerfigur miteinander verbunden sind. Die Sammlung erschien erstmals 1852, wobei sie nur knapp der Zensur entging – Turgenew spekulierte zu Recht darauf, dass der damalige Moskauer Zensor seine Arbeit eher schlampig erledigte –, allerdings politisch so wirksam war, dass man Turgenew bei nächster publizistischer Gelegenheit in Haft nahm und später auf sein Gut in der Provinz verbannte. Die Aufzeichnungen machten ihren Autor jedenfalls auf einen Schlag berühmt.

Die nur nebenbei mitgeteilte Rahmenhandlung der Aufzeichnungen ist die eines Adeligen, der in der engeren und weiteren Umgebung seines Gutes auf die Vogeljagd geht. Zahlreiche Erzählungen liefern dabei Portraits wunderlicher Personen aus den unterschiedlichsten Schichten der russischen Gesellschaft: Ein verrückter Adeliger kommt ebenso vor wie ein moralischer Förster, eine jahrelang von einer Krankheit ans Bett gefesselte Bediente, arme Leibeigene ebenso wie wohlhabende, handfeste Bauern, ein korrupter und menschenschindender Verwalter ebenso wie sein eitler, selbstgefälliger Gutsherr. Allein die Fülle an vorgeführten Figuren ist erstaunlich; hinzu kommen abenteuerliche Anekdoten, romantische Naturschilderungen, ein Räsonnement über den Stoizismus der Russen angesichts des Todes, unglückliche Lie­bes­ge­schich­ten, die Schilderung bäuerlichen Elends – immer mit exakt so viel Distanz gezeichnet, dass sich die Kritik des Erzählers nur zeigt, aber nirgends ausdrücklich ausgesprochen wird – und was der Dinge mehr sind. All das kommt gänzlich frisch und originell daher und ist doch für den, der die europäische Erzähl-Tradition kennt, von einer beeindruckenden literarischen Breite und Tiefe. Formal findet sich alles, was gut und wichtig ist: Neben den schon genannten Figuren-Portraits und den im­pres­sio­nis­ti­schen Naturschilderungen findet man Satire, die moralische Novelle, echte Jagd-Anekdoten, eine Sammlung von Geistergeschichten, Parodien (so etwa auf die romantischen Meistersinger), reine Erinnerungsprosa und Stücke von echtem gesellschaftskritischem Pathos. Die Sammlung zeigt Turgenew als vollständig ausgebildeten, souveränen Erzähler, der nicht nur aufgrund seiner politischen Position, sondern auch wegen seiner literarischen Qualität seinen plötzlichen Ruhm voll und ganz verdient.

Es überrascht daher nicht, dass die Aufzeichnungen eines Jägers das am häufigsten übersetzte Buch Turgenews ist. Vera Bischitzky zählt in ihrem Nachwort allein zwölf Vorläufer-Übersetzungen, von denen mir immerhin drei vorliegen. Die von Hermann Wotte (Berlin u. Weimar: Aufbau, 1968) ist deutlich gealtert und besteht den Vergleich mit den beiden neuesten Übersetzungen von Peter Urban (Zürich: Manesse, 2004) und Vera Bischitzky (München: Hanser, 2018) nicht gut. Urban und Bischitzky stehen in lebendiger Konkurrenz und haben wohl beide ihre Verdienste.

Urban und Bischitzky lassen zahlreiche russische Wörter, für die sie keine ausreichend genaue Entsprechung im Deutschen zu finden meinen, transkribiert in der Ursprache stehen: Beide übersetzen zum Beispiel den Titel und die Anrede „Barin“ nicht mit Gutsherr oder Gnädiger Herr. Urban geht dabei deutlich weiter als Bischitzky: Den „Burmistr“ des Originals (offensichtlich ein korrumpierter deutscher Bürgermeister) lässt Urban stehen, wo ihn Bischitzky durch den Dorfschulzen ersetzt. Für Bischitzkys Himbeerquell bleibt bei Urban der russische Eigenname „Malinovaja voda“ erhalten. Zudem wählt Urban bei Eigennamen eine Transkription, die stärker der wissenschaftlichen angenähert ist als die eher traditionellen deutschen Lesegewohnheiten entgegenkommende Bischitzkys.

Was den Erzähltext insgesamt angeht, so finden beide originelle und überzeugende Lösungen:

Der dünne obere Rand des ausgestreckten Wölkchens glitzert von kleinen Schlangen; ihr Glanz gleicht dem Glanz von geschmiedetem Silber.

Urban, S. 138.

Der obere, zarte Saum der in Schlangenlinien gewundenen Wolke funkelt; ihr Glanz erinnert an gehämmertes Silber.

Bischitzky, S. 127

Er lebte im Sommer in einem Flechtkäfig, hinter dem Hühnerstall, im Winter im Vorraum der Badestube; bei strengem Frost übernachtete er auf dem Heuboden. Man war an seinen Anblick gewöhnt, gab ihm manchmal auch einen Fußtritt, aber niemand sprach mit ihm, und er selbst schien von Geburt an nie den Mund aufgemacht zu haben.

Urban, S. 50.

Den Sommer über hauste er in einem Verschlag hinter dem Hühnerstall und im Winter im Vorraum des Badehauses; war strenger Frost, übernachtete er auf dem Heuboden. Man hatte sich an seinen Anblick gewöhnt, manchmal bekam er einen Fußtritt, doch nie sprach jemand mit ihm, und auch er selbst hatte wohl noch nie im Leben den Mund aufgetan.

Bischitzky, S. 47.

Da sich der Erzähler im weiteren Verlauf mit der hier charakterisierten Figur lebhaft unterhält, ist in diesem Fall Urbans Formulierung wohl vorzuziehen.

Oft wählt Urban den kürzeren, lakonischeren, herberen Ausdruck, was im Gegenzug den Naturbeschreibungen bei Bischitzky durchaus zugutekommt. Allein auf der Basis der deutschen Texte kann kaum einer der beiden Übersetzungen der Vorzug eingeräumt werden; und einen Blick ins Original zu werfen, verhindert meine mangelnde Sprachkenntnis.

In welcher Übersetzung auch immer: Turgenews Erstling ist allemal eine Entdeckung oder Wiederentdeckung wert. Wer nur einmal hineinschauen möchte, um sich ein Bild zu machen, dem rate ich zur Lektüre von Bežin lug / Die Beshin-Wiese, einer impressionistisch beginnenden, leichthin Dante anspielenden Naturerzählung, die dann in eine Sammlung volkstümlicher Geistererzählungen übergeht, und dem schon erwähnten Der Burmistr / Der Dorfschulze, der aufzeigt, wie weit Turgenew in seiner Sozialkritik gerade noch gehen konnte, bzw. wo er bereits zu weit gegangen war.

Ivan Turgenew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Peter Urban. Zürich: Manesse, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 24,90 €.

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2018. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten. 38,– €.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen

Aber wozu die vielen Worte?

Giovanni Boccaccio ist durch ein Jugendwerk, das Decamerone, berühmt geworden. Das Buch hat ihm den Weg in das Umfeld Petrarcas eröffnet, den er später nicht müde wurde, seinen Lehrer zu nennen. Er ist dann von der Volkssprache zum Lateinischen übergegangen und hat an­ge­fan­gen, gelehrte Bücher zu verfassen, so eine heute nur wenig bekannte, umfangreiche Genealogie der heidnischen Götter und eben auch eine Anthologie kurzer Bio­gra­phien berühmter Frauen ‒ De mulieribus claris ‒, die gerade bei C. H. Beck in kleiner Auswahl neu übersetzt in der Reihe textura wieder erschienen ist.

Das Büchlein enthält 31 der ursprünglich 106 Kurzportraits, bei denen Boc­cac­cio der Antike ein absolutes Übergewicht einräumt: 100 seiner Texte behandeln Frauengestalten der Antike, wobei er mit der biblischen Ur­mut­ter Eva beginnt, um auch im Weiteren keine Unterschiede zwischen my­tho­lo­gi­schen und historischen Figuren zu machen. Die vom Übersetzer getroffene Auswahl ist amüsant und unterhaltsam und hat gerade die richtige Länge, um den Leser nicht zu strapazieren. Die Übersetzung kommt dem modernen Leser entgegen, ohne dabei die Herkunft des Originals aus dem Lateinischen gänzlich zu verleugnen.

Eine moderne Lektüre dieses spätmittelalterlichen Textes ist nicht ohne Reiz, denn so sehr sich Boccaccio auch bemüht, die berühmten Frauen nicht nur „als Frauen“ zu rühmen, so sehr ist es am Ende immer wieder ihre Tu­gend­haf­tig­keit, auf der ihre Berühmtheit gründet. Dort, wo sich andere Qua­li­tä­ten beim besten Willen nicht verleugnen lassen, setzt sich sein Weltbild letztlich doch durch:

Ich würde meinen, dass die Natur bisweilen Fehler begeht, wenn sie Seelen mit menschlichen Körpern verbindet: wenn sie beispielweise eine Seele in eine weibliche Brust gießt, die sie für eine männliche vor­ge­se­hen hatte. Da jedoch Gott selbst der Schöpfer solcher Menschen ist, wäre es verwerflich zu glauben, er sei bei seiner Schöpfung kurz eingenickt.

Ganz niedlich wird es dort, wo er sich gezwungen sieht, die rezente Königin von Neapel, Johanna von Anjou, als Schlussstück aufzunehmen, und an ihr unter anderem dies zu loben findet:

In den von ihr beherrschten Gebieten sorgte sie dafür, dass nicht nur Arme, sondern auch Reiche Tag und Nacht sicher und furchtlos ihrer Wege gehen können.

Wem es gelingt, dass sogar die Reichen vor Räubern sicher sind, muss über wahre Herrscherinnenqualität verfügen!

Mit ein wenig Ironie gelesen, eine überraschend frische und vergnügliche Lektüre.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen. Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Martin Hallmannsecker. München: C. H. Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 159 Seiten. 18,‒ €.