Anthony Powell: A Question of Upbringing / Eine Frage der Erziehung

Human relationships flourish and decay, quickly and silently, so that those concerned scarcely know how brittle, or how inflexible, the ties that bind them have become.

Ein etwas ziellos und anekdotisch erzählter Roman, der den Auftakt eines Zyklus von 12 Romanen bildet, die mit zusammen etwa 3.000 Seiten zwischen 1951 und 1975 erschienen sind. Powell ist in Groß­bri­tan­nien ein bekannter Autor mit einer bedeutenden Leserschaft, konnte sich aber bislang in Deutschland nur als Geheimtipp durchsetzen. Der Zyklus mit dem Gesamttitel A Dance to the Music of Time ist in­zwi­schen aber komplett übersetzt und bis auf den letzten Band inzwischen auch im Taschenbuch erschienen.

Die Handlung beginnt im Jahr 1921, als der Ich-Erzähler Nicolas Jenkins das letzte Jahr seiner Schullaufbahn hinter sich bringt. Erzählt wird von einem kleinen Freundeskreises von Schülern, der sich im Laufe der Zeit langsam auflöst. Stringham und Templer sind etwas älter als der Erzähler und bilden zusammen mit ihm eine eingeschworene Gemeinschaft. Während Templer die Schule früher verlässt, um in der Finanzwelt Londons eine Stelle anzutreten, treffen sich Stringham und Jenkins nach einer Zwischenzeit, in der Stringham seinen Vater in Kenia besucht und Jenkins in einer französischen Pension seine Sprachkenntnisse verbessert, auf der Universität wieder. Aber auch Stringham verschwindet bald aus dem Blick des Erzählers, als er eine Stelle als Privatsekretär eines Industriellen antritt.

Die Erzählung konzentriert sich wesentlich auf einen kleinen Kreis von Figuren und ihre Beziehungen untereinander: Neben Stringham und Templer ist es der Mitschüler Widmerpool, der hier nur als Nebenfigur auftritt, aber offensichtlich auf eine größere Rolle im Zyklus angelegt ist, ein Onkel von Jenkins – der einzige Verwandte des Erzählers, der einigermaßen prominent vorkommt–, daneben ein Universitätsdozent, die Familien Templers und Stringhams, ein Geschäftsfreund der Templers und noch einige andere, bei denen man nicht absehen kann, welche Rolle sie im weiteren spielen werden. Ansonsten ist der Roman merkwürdig weltarm: Weder bekommt man einen wirklichen Eindruck von den Örtlichkeiten, noch spielen im Schul- oder Universitätsleben irgendwelche akademischen Inhalte eine Rolle. Dass Jenkins etwa Geschichte studiert, erfahren wir nur beiläufig in einem Nebensatz, und es hat auch keinerlei Bedeutung für den Roman.

Ich habe das Buch alternierend im Original und der Übersetzung gelesen. Die deutsche Fassung tut sich etwas schwer mit dem lakonischen und ironischen Ton des Originals, der einem deutschen Leser wahrscheinlich auch etwas blasiert erscheint, doch muss man dem Übersetzer zustimmen, dass es schwierig ist, das im Deutschen adäquat nachzubilden. Wer kann, sollte also zum Original greifen. Einige wenige Passagen sind explizit humoristisch angelegt, aber im Großen und Ganzen lebt der Roman von der staunenden, ein wenig naiven Verwunderung des Erzählers, die die ironische Distanz zum Erzählten herstellt.

Wird fortgesetzt …

Anthony Powell: A Question of Upbringing. In: A Dance to the Music of Time. Vol. 1: Spring. London: Arrow Books, 1997. Kindle eBook, 736 Seiten. 7,66 €.

Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. dtv 14594. München: dtv, 22018. Klappenbroschur, 258 Seiten. 10,90 €.

Marguerite Duras: Der Liebhaber

Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür.

Als Duras Un barrage contre le Pacifique schrieb, war sie 35 Jahre alt; Der Liebhaber entsteht 35 Jahre später. Diese Erzählung überschreibt teilweise den Text des früheren Romans, setzt andererseits seine Kenntnis voraus, um die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Familie der Erzählerin vollständig verstehen zu können. Auch im Alter von 70 Jahren beschäftigt sich die Autorin noch mit den Jahren ihrer Pubertät, ihrer ersten Erfahrung der Sexualität, den Jahren, als sie ihrer zerrütteten Familie – der psychisch labilen Mutter und dem drogen- und spielsüchtigen Bruder – noch ausgeliefert war. Sie erinnert sich zurück an den frühen Tod ihres geliebten anderen Bruders, an ihre Trennung von dieser Familie, die natürlich nie eine endgültige sein konnte.

Der unglückliche Liebhaber Herr Jo aus Un barrage … wird hier zu einem chinesischen Liebhaber, der die Erzählerin auf ihrem Weg ins Internat bei einer Querung des Mekong auf einer Fähre anspricht. Er kennt ihre Mutter, die eine Schule in der Provinz leitet, und lädt die 15½-Jährige in seinen Wagen ein, um sie nach Saigon zum Internat zu bringen. Die Erzählerin lässt sich im Folgenden ohne jeglichen Widerstand auf eine sexuelle Affäre mit dem Chinesen ein. Beide führen sie anderthalb Jahre mit großer Leidenschaft fort, bis die Erzählerin nach Frankreich geschickt wird, um dort das Abitur zu machen.

Neben diesem zentralen Motiv schildert der Text eine neue Fassung der Familiengeschichte, diesmal mit beiden Brüdern der Autorin, mit einer Mutter, die als Lehrerin etabliert ist, die sich für ihre Tochter einsetzt und deren Freizügigkeit gegen die Institution des Internats verteidigt, wenn sie auch die Beziehung ihrer Tochter zum dem älteren und noch dazu von ihr rassistisch verachteten Mann nicht billigt.

Es kann nicht verwundern, dass sich der Stil der Autorin nach 35 Jahren deutlich verändert hat. Die Unmittelbarkeit der früheren Erzählung wurde abgelöst von einer reflektierten, von zahlreichen Erinnerungen aus verschiedenen Zeit ihres Lebens überschriebenen Erzählweise, die es am Ende aber auch nicht vermeidet, die autobiographische Erinnerung erneut literarisch zu überschreiben.

Eine für ihre Länge (der Text dürfte wohl knapp 100 normale Buchseiten füllen, wird aber vom Verlag in Großdruck-Manier auf das Doppelte aufgeblasen) erstaunlich inhaltsreiche und komplexe Erzählung, die die lebenslange Obsession der Autorin mit den Erfahrungen und Traumata ihrer Pubertätsjahre dokumentiert. Allerdings ist auch hiermit nicht ihr letztes Wort in dieser Sache gesprochen: Unter dem Eindruck der Verfilmung ihrer Erzählung überschreibt sie auch diesen Text sieben Jahre später unter dem Titel Der Liebhaber aus Nordchina. Ich werde auch diese Fassung bei Gelegenheit hier besprechen.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. st 1629. Berlin: Suhrkamp, 212018. Broschur, 194 Seiten. 8,– €.

Marguerite Duras: Heiße Küste

Seit dem Einsturz der Dämme und seit sie Joseph nicht mehr schlug, schlug die Mutter Suzanne viel öfter als vorher. »Wenn sie niemand mehr hat, dem sie Prügel austeilen kann«, sagte Joseph, »wird sie sich selbst in die Fresse hauen.«

Ich muss gestehen, dass ich erst durch eine ARTE-Dokumentation auf Marguerite Duras gestoßen wurde. Sicherlich war sie mir dem Namen nach bekannt, aber ich hatte kaum eine Vorstellung von ihrer Literatur. Wahr­schein­lich hat auch der deutsche Titel ihres be­rühm­tes­ten Werks, das im Original Un barrage contre le Pacifique (Ein Damm gegen den Pazifik) heißt, dazu beigetragen, der mit Heiße Küste denkbar nichtssagend daherkommt. Erst die Do­ku­men­ta­tion machte mir die Bedeutung dieses Bu­ches in der Diskussion des Kolonialismus in Frankreich deutlich. Duras, so darf man wohl sagen, war allein dafür verantwortlich, dass sich ein bedeutender Teil der französischen Be­völ­ke­rung im Jahr 1950 erstmals kritisch mit den Zuständen in den Kolonien, insbesondere in Französisch-Indochina auseinandergesetzt hat.

Duras wurde 1914 in der Nähe von Saigon geboren; ihr Roman spielt wohl Anfang der 30er-Jahre an der Pazifikküste Kambodschas. Im Zentrum steht eine Familie, die aus einer namenlosen Mutter, dem 20-jährigen Sohn Joseph und der 17-jährigen Tochter Suzanne besteht. Die Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und als junge Lehrerin zusammen mit ihrem Mann in die Kolonie ausgewandert. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihre Familie mit Klavierspielen und -unterricht über Wasser gehalten; sie war sogar in der Lage, soviel zu sparen, dass sie eine Konzession auf eine Farm erwerben konnte, auf der die Familie nun lebt. Leider erweist sich der Großteil des erworbenen Landes als unbebaubar, da es jährlich vom Pazifik überflutet wird. Nachdem sich die Mutter vergeblich beim zuständigen Katasteramt beschwert hat, organisiert sie zusammen mit einheimischen Bauern den Bau eines Dammes gegen den Pazifik, der aber schon im ersten Jahr unterspült wird und zusammenbricht. Seitdem lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen auf der mit Hypotheken belasteten Farm. Die Hoffnung darauf, noch einmal einen kräftigeren Damm errichten und damit doch noch über die überwältigende Natur siegen zu können, ist es, was die offenbar herzkranke Mutter am Leben hält.

Den eigentlichen Erzählanlass bildet eine in diese Verhältnisse einschneidende Änderung: Beim Besuch im nächsten Dorf fällt Suzanne dem Sohn eines reichen Kaufmanns und Kautschuk-Farmers aus dem Norden des Landes auf, dessen Ziel es über die nächsten 100 Seiten ist, mit Suzanne zu schlafen, was nicht nur durch Suzannes Gleichgültigkeit ihm gegenüber verhindert wird, sondern auch durch die Mutter, die ihre Tochter mit diesem Herrn Jo zu verheiraten und damit ihre Familie aus der Krise zu retten gedenkt. Herr Jo ist sich aber darüber im Klaren, dass sein Vater einer Hochzeit mit Suzanne niemals zustimmen würde, doch kann er sich von seiner Begierde nach dem Mädchen nicht losmachen und ist am Ende so von seiner Leidenschaft regiert, dass er Suzanne einen Diamantring seiner Mutter schenkt, der – wenigstens seiner Aussage nach – 20.000 Francs wert sein soll. Kurz nachdem sie diesen Ring geschenkt bekommen hat, teilt Suzanne Herrn Jo denkbar trocken mit, dass seine Besuche nicht weiter erwünscht seien.

Der Anfang des zweiten Teils des Romans spielt in der nächstgelegenen Provinzstadt – vielleicht Kampot –, wo die Mutter versucht, den Ring für den ihr genannten Preis zu verkaufen. Der Diamant weist allerdings einen Einschluss auf, so dass die Händler nur etwa die Hälfte des Preises zu zahlen bereit sind. Für die Mutter aber liegt in den 20.000 Franc die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Damm-Projektes, so dass sie zu keinem niedrigeren Preis verkaufen will. Während sie von Händler zu Händler läuft, beginnt Joseph eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, während Suzanne durch die Oberstadt streift und das Kino besucht. Am Ende gelingt es Joseph nicht nur, den Ring zum Wunschpreis an seine Geliebte zu verkaufen, er findet ihn zu seiner eigenen Überraschung auch in seiner Jackentasche wieder, als er mit Mutter und Schwester zur Farm zurückkehrt. Die Mutter hat das gerade erworbene Geld zur Tilgung eines Teils ihrer Schulden zur Bank getragen, muss dort aber feststellen, dass ein Großteil des Geldes von den aufgelaufenen Zinsen aufgefressen wird und sie von der Bank keinerlei neuerlichen Kredit erwarten darf. Mit der Rückkehr zur Farm beginnt der letzte und destruktivste Teil des Buches; aber das soll jede und jeder selbst lesen.

Das Buch ist tief getränkt von den persönlichen Erfahrungen der Autorin, erschöpft sich aber durchaus nicht in dieser autobiographischen Ebene. Im Gegenteil erweist sich das Projekt der Mutter als zentrale Allegorie des Textes, sie selbst als die eigentlich bestimmenden Figur, wenn auch nahezu gleichgewichtig die Coming-of-age-Geschichte Suzannes erzählt wird. Selbst an den Stellen, an denen die Fiktion nicht wirklich trägt – so etwa wenn Joseph Suzanne von seiner Affäre erzählt – ist der Stoff des Romans immer überzeugend und ursprünglich. Er lebt nicht nur von den zerrütteten Verhältnissen der Familie, sondern auch von der Schilderung der gesellschaftlichen Strukturen der Kolonie sowie der Armut und des Elends der einheimischen Bevölkerung. Ein in hohem Grad authentisches und zugleich literarisches Buch, wie man es nur selten findet.

Marguerite Duras: Heiße Küste. Aus dem Französischen von Georg Goyert. st 1581. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 62009. Broschur, 281 Seiten. 4,95 €.

William Goldman: The Princess Bride / Die Brautprinzessin

“Hello,” he said. “My name is Inigo Montoya. You killed my father. Prepare to die.”

Es war die gekürzte Fassung von Zettel’s Traum die mich wieder an dieses nette Buch von William Goldman hat denken lassen. Goldman war einer der gefeierten Drehbuch-Autoren Hollywoods – Butch Cassidy and the Sundance Kid, The Stepford Wives, Marathon Man, All the Presidents Men und und und –, aber auch ein erfolgreicher Romanautor, wobei The Princess Bride erst so richtig Erfolg hatte, nachdem es 1987 verfilmt worden war (14 Jahre nach seiner Veröffentlichung; wobei auch der Film seine Anlaufschwierigkeiten hatte und erst im Video-Verkauf zu dem Klassiker wurde, der er heute – zumindest in den USA – ist). Wer allerdings nur den Film kennt, dem entgeht wenigstens eine wichtige Pointe des Buchs.

Das Buch enthält im Kern eine in einem tief ironischen Grundton verfasste Geschichte von „wahrer Liebe und edlen Abenteuern“, wie der Untertitel sagt, verfasst von dem fiktiven florinesischen Autor S. Morgenstern. Goldman zieht alle Register des Genres von märchenhafter Liebe zwischen der schönsten Frau der Welt, Buttercup, der Tochter einfacher Bauern und dem heldenhaftesten Stallburschen Westley, der sogar den eignen Tod überwindet, um seine Liebe den Klauen des bösen Prinzen Humperdinck zu entreißen. Goldman selbst tritt nur als Herausgeber und Bearbeiter dieses Textes auf, den er selbst, obwohl er sein Initiationserlebnis in Sachen Literatur war, nie gelesen hat. Sein Vater hatte ihm das Buch vorgelesen als Goldman als Kind krank ans Bett gefesselt war und damit überhaupt erst seine Liebe zur Literatur geweckt. Nun feiert Goldmans Sohn Jason seinen zehnten Geburtstag und soll The Princess Bride unbedingt als Geschenk erhalten. Da sich Goldman aber gerade an der Westküste der USA aufhält, kostet es ihn einige Mühe, ein antiquarisches Exemplar des Buches aufzutreiben und rechtzeitig nach Hause liefern zu lassen. Als er einige Tage später heimkehrt, muss er leider feststellen, dass Jason bereits am zweiten Kapitel des geliebten Buches gescheitert ist.

Daraufhin nimmt Goldman das Buch zum ersten Mal selbst in die Hand und stellt fest, dass es ganz und gar nicht seiner Erinnerung entspricht. Zwar ist der Abenteuerroman, den ihm sein Vater vorgelesen hat, durchaus Teil des Textes, doch ist er überlagert vom einem satirischen Roman, der sich kritisch mit Gegenwart und Vergangenheit Florins auseinandersetzt; Goldmans Vater hatte diese Stellen – immerhin etwa 70 % des Originals – beim Vorlesen einfach weggelassen. Aus dieser Einsicht heraus entsteht nun der Gedanke, den Roman auf die “good parts” (die im Deutschen zu den „spannenden Teilen“ werden) zu­sam­men­zu­strei­chen; die unspannenden Teile werden durch resümierende Texte Goldmans eingeholt.

Die deutsche Übersetzung durch Wolfgang Krege ist gut gelungen – wenn mir persönlich Kreges Deutsch auch oft zu lax ist – und trifft den Humor und den Geist des Buches. Sie ist inzwischen sogar ergänzt worden, nachdem Goldman zum 25. Jahrestag des Buches eine erweiterte Ausgabe herausgebracht hat, die zum einen eine zusätzlich Einführung enthält (die in der Hauptsache anekdotisch die lange Entwicklung bis zur Verfilmung nacherzählt) und ein weiteres Kapitel aus Morgensterns angeblicher Fortsetzung des Romans Buttercup’s Baby. Da der Roman ursprünglich ein offenes Ende hatte, reagierte Goldman hier sicherlich auf zahlreiche Proteste seiner Leser darüber, dass er das Buch mit einem Cliffhanger habe enden lassen. Das zusätzliche Kapitel führt das alte offene Ende mit einer ganzen Reihe aussichtsloser Situationen weiter, womit sich der Autor natürlich nur über den potenziell end- und formlosen Charakter des Genres lustig macht.

Alles in allem ein unterhaltsamer, intelligenter und witziger Roman, der sich selbst nicht ernst nimmt und den man gut an einem verregneten Wochenende konsumieren kann. Es ist nicht unbedingt nötig, die erweiterte Fassung zu lesen; auch die ältere deutsche Übersetzung tut es ganz gut. Von einer zweiten Lektüre würde ich jetzt aber abraten: Dafür ist das Buch dann doch nicht gut genug.

The Princess Bride. S. Morgenstern’s Classic Tale of True Love and High Adventure. The “Good Parts” Version abridged by William Goldman. 25th Anniversary Edition. London / New Delhi / New York / Sydney: Bloomsbury, 1998. Kindle-Edition, 2013. 400 Seiten. 5,13 €.

Die Brautprinzessin. S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der „spannenden Teile“. Gekürzt und bearbeitet von William Goldman. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Krege. Stuttgart: Cotta, 1977. Lizenzausgabe: Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 1995. Pappband, 324 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Die Übersetzung der erweiterten Ausgabe ist als Taschenbuch lieferbar.

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch

Vor 50 Jahren erschien eines der erstaunlichsten Bücher, die die Welt je gesehen hat: Zettel’s Traum von Arno Schmidt. Das Buch war mit 1335 DIN A3 großen Seiten nicht nur ungewöhnlich umfangreich, sondern der Text war auch nicht gesetzt worden; stattdessen bekam der Leser eine Reproduktion des Typoskripts des Autors inklusive Streichungen und handschriftlichen Korrekturen. Blätterte man in das Buch hinein, machten die meisten Seiten einen recht unordentlichen Eindruck: Der Text sprang von einem Rand der Seite zu anderen, um ihn herum fanden sich zusätzliche kleine Textblöcke, die sich mal besser mal schlechter auf den breiten Haupttext beziehen ließen; hier und da waren offenbar Bildchen gezeichnet oder auch eingeklebt worden. Die erste Textseite war für die allermeisten Leser schlicht unverständlich; danach wurde es zwar ein wenig besser, aber immer wieder wurde der Text von gänzlich unverständlichen Passagen unterbrochen oder von Szenen, die so phantastisch waren, dass sie in einem schroffen Gegensatz zu den realistischeren Teilen des Buches standen.

Trotz alle dem war das Buch am Tag seines Erscheinens mit allen seinen 2000 Exemplaren (alle nummeriert und vom Autor signiert) beim Verlag verkauft und innerhalb von zwei Monaten im Buchhandel vergriffen. Bei einem Preis von 295,– Deutschen Mark – so hieß das Geld damals –, einem unerhörten Betrag für einen Roman – dürfte es nur hier und da tatsächlich für den Zweck der Lektüre gekauft worden sein, sondern viel öfter als Spekulationsobjekt oder als Kuriosum, das man sonntags seinen Gästen zum gemeinsamen Kopfschütteln vorführen konnte. Das Buch war bei seinem Erscheinen ein Gerücht; es ist es bis heute geblieben.

Doch inzwischen hat sich die Lage wenigstens äußerlich geändert. Die Arno Schmidt Stiftung hat die Mammut-Aufgabe bewältigt, das unförmige Typoskript in ein gesetztes Buch zu verwandeln, was ihm ein wenig von seinem Schrecken nimmt. Und nun ist man noch einen Schritt weitergegangen und hat ein Lesebuch zu Zettel’s Traum herausgebracht, das beinahe wie ein normales Buch daherkommt, wenigstens wie ein normales Buch von Arno Schmidt, die ja auch vor Zettel’s Traum schon eine Sache für sich waren. Das Ziel, so Herausgeber Bernd Rauschenbach, sei es „– natürlich – Leser [zu] werben“. Es solle der Grad der Unlesbarkeit des Buches reduziert werden, in dem man die eher traditionellen, erzählenden Teile aus dem Buch extrahiert und – vermittelt durch Zwischentexte von Susanne Fischer – zu einer fortlaufenden Handlung zusammenstellt. Rauschenbach bezieht sich in seinem Vorwort als Vorbild auf Anthony Burgess’ A Shorter Finnegans Wake, das mit einem ähnlichen Ziel die 628 Seiten von Joyces Roman auf zugänglichere 278 Seiten reduziert hatte. Schauen wir, was das Lesebuch aus Zettel’s Traum macht:

Es sind für die Bargfelder Ausgabe und das Lesebuch jeweils die erste Seitenzahl und die Anzahl der Seiten für jedes der acht Bücher von Zettel’s Traum angegeben sowie das prozentuale Verhältnis zwischen der Anzahl der Seiten in beiden Büchern. Es kommt hinzu, dass die Seiten aus Zettel’s Traum ungleich mehr Text enthalten als die des Lesebuchs.

Im i. Buch der acht Bücher von Zettel’s Traum ist noch gut die Hälfte des Textes erhalten geblieben, was daran liegt, dass Schmidt hier die Exposition seines Textes liefern muss und sich die später dann massiv in den Vordergrund schiebenden eher essayistischen Teile noch in Grenzen halten. Im Gegensatz dazu sind aus den umfangreichen letzten drei Büchern nur noch weniger als 10 % ins Lesebuch übernommen worden; alles in allem präsentiert das Lesebuch nur 13 % des Textes von Zettel’s Traum. Vielleicht fragt sich dann doch die eine oder der andere, was denn in den restlichen 87 % des Textes stehen mag und warum man sie weggelassen hat.

Und genau in diesen 87 % findet sich das eigentliche Problem von Zettel’s Traum.

Von den drei langweiligsten Werken der deutschen Literatur ist „Zettels Traum“ unleugbar eines (die anderen sind ja Klopstocks „Messias“ und „Das Glasperlenspiel“ von Hesse); dies mag festgehalten werden, auch wenn ‚Langweiligkeit‘ weit vom Status einer philologischen Kategorie entfernt bleibt. Jene Langeweile, die vielleicht jede Großleistung verbreitet – ein sich Stunden um Stunden hinziehender Marathonlauf etwa –, geht auch von Schmidts kaum zu bewältigendem Opus aus, und die Vermutung, irgendwann einmal könnte irgendwer eine Kurzfassung des Romans zusammenstreichen – à la „Das Schönste aus Zettels Traum“ […] – ist gewiß nicht abenteuerlich.

Das hat Michael Schneider im Juli 1982 im Bargelder Boten prophezeit, dem Zentralorgan der Schmidt-Forschung, und er hat auch gleich den Grund dafür genannt: Zettel’s Traum ist ein ungeheurer langes und ungeheuerlich langweiliges Buch. Jeder, der William Goldmans Die Brautprinzessin kennt, mag unwillkürlich an den den hübschen Untertitel dieses Buches denken: „S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der ‚spannenden Teile‘“. Doch davon soll ein anderes Mal erzählt werden.

Auch Dieter E. Zimmer hatte früh Bedenken:

»Groß« ist das Buch auf jeden Fall. Es könnte schon sein, daß in Zettel’s Traum das literarische Meisterwerk des Jahrhunderts steckt; es könnte sein, daß es sich um eine Art Streichholzeiffelturm in Originalgröße handelt, von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt. Vielleicht ist es auch beides.

Wenn wir ehrlich sind, sind wir über diese Einschätzung bislang nicht wesentlich hinausgekommen. Schließen wir das Bashing mit einem Zitat des Autors selbst ab:

Es ist ein schreckliches Buch. Aber ich mußte es schreiben. Und ein solches Buch mußte einmal geschrieben werden.

Mag sein, das Lesebuch ist tatsächlich eine sich annähernde Teil-Lösung für das Problem Zettel’s Traum: Es liefert einen lesbaren, witzigen und durchaus gelungenen späten Roman Arno Schmidts. Aber es ist zugleich auch ein großer Schritt hin zu dem Eingeständnis, dass Zettel’s Traum ein missglücktes Buch ist, eines, in dem der nun gehobene Roman untergegangen ist, der nur unter Opferung alles übrigen gerettet werden kann. Ich wenigstens mag niemandem, der sich nicht vorgenommen hat, Arno Schmidt ganz und gar kennen zu wollen, wie man einen Autor überhaupt nur kennen kann, raten, seine Zeit mit der Lektüre von Zettel’s Traum zu verschwenden. Es ist schlimm genug, dass der Autor es getan hat.

Zum Lesebuch aber kann ich getrost allen raten, die sich an Zettel’s Traum nicht heranwagen und doch noch einmal einen Roman Arno Schmidts entdecken möchten. An der einen oder anderen Stelle wird man immer noch einfädeln, aber diese Stellen gibt es in allen Büchern Schmidts. Da sollte man es machen wie immer: Einfach weiterlesen!

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Mit Texten von Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2020. Klappenbroschur, Fadenheftung, 254 Seiten. 25,– €.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten / Theaterroman

»Ich bin neu«, schrie ich, »ich bin neu! Ich bin unvermeidlich, ich bin angekommen!«

Die Aufzeichnungen eines Toten, die auch unter dem Titel Theaterroman veröffentlicht wurden, sind Bulgakows letzter, unvollendet gebliebener Roman, der in den Jahren 1929 begonnen und 1936/1937 überarbeitet wurde. Bücher, die das Wort Aufzeichnung im Titel tragen, haben in Russland eine lange Tradition der au­to­bio­gra­phi­schen oder wenigstens nah an wirklichen Ereignissen geführten Erzählung. Bulgakow spielt ganz bewusst mit dieser Einordnung, wenn er dem Roman das Vorwort eines fiktiven Herausgebers voranstellt, das nicht nur vom Freitod des Ich-Erzählers Sergej Leontjewitsch Maksudow berichtet, sondern auch betont, dass dessen Darstellung des Theaters in diesen Aufzeichnung vollkommen unrealistisch sei.

Der Roman ist offensichtlich eine satirisch über­spitz­te Verarbeitung von Bulgakows eigenen Erfahrungen als Theaterautor. Der Ich-Erzähler, der seinen Lebensunterhalt als Redakteur einer Dampf­schiff­fahrts-­Zeit­schrift verdient hat, schreibt aus einem plötzlichen Impuls heraus einen Roman, den er dann vergeblich einem Verleger anzubieten sucht. Er kommt durch seine Suche auch in Kontakt mit anderen Moskauer Schriftstellern, die seinen Roman zwar unterschiedlich bewerten, sich aber darüber einig sind, dass er von der Zensur niemals zum Druck zugelassen werden wird. Eines Tages aber wird Maksudow von einem me­phi­sto­phe­lisch erscheinenden Mann aufgesucht, der ihm anbietet, das erste Drittel des Romans in einer Zeitschrift drucken zu lassen. Entgegen aller Wahr­schein­lich­keit kommt es zu dieser Publikation, die wiederum dazu führt, dass Maksudow von einem Regisseur des „Unabhängigen Theaters“ angeschrieben wird, der den Roman als Theaterstück inszenieren will.

Dies alles ist nur das Vorspiel zur eigentlichen Handlung, die in ihrem ersten Teil die Erstellung des Stückes und zugleich dessen Gang durch die diversen Institutionen des Theaters schildert. Der erste Teil endet damit, dass Maksudow als Theaterautor komplett gescheitert zu sein scheint: Sein naives Verhalten gegenüber einem der beiden Direktoren des Theaters, seine Unkenntnis der Machtverhältnisse im Establishment der Schauspieler und seine voreilige Unterschrift unter einen Vertrag mit dem Theater führen dazu, dass sein Stück weder am Unabhängigen Theater noch sonst irgendwo in Moskau gespielt werden soll.

Der zweite Teil des Romans, von dem leider nur ein und ein halbes Kapitel existieren, beginnt mit der wundersamen Nachricht, dass es einem der Regisseure des Theaters trotz allem gelungen ist, dass Stück wieder auf den Spielplan setzen zu lassen. Es beginnt nun eine Farce von Proben unter dem Direktor, der zuvor das Stück verhindert hatte. Leider bricht der Text mitten in der absurden Zuspitzung dieser methodischen Proben ab, die zwar der Theatertheorie des Direktors entsprechen, mit dem Stück aber nur am Rande etwas zu tun haben.

Der Roman nimmt nach einem etwas verhaltenen Anfang deutlich Fahrt auf und kann – auch in seiner fragmentarischen Form – als eine große Satire nicht nur auf den sowjetischen, sondern auf den Theaterbetrieb schlechthin gelesen werden. Ich bin durch den Hinweis Boris Strugatzkis auf ihn gestoßen, der ihn, neben Der Meister und Margarita, als wichtiges Vorbild für Das lahme Schicksal nennt. Es ist nun wirklich an der Zeit, mehr von Bulgakow zu lesen.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten. Theaterroman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. München: Luchterhand, 2005. Kindle eBook. 193 Seiten (Buchausgabe). 8,99 €.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze

Weihnachten? O! Das wird den schlechtesten Aufsatz geben; denn über etwas so Süßes kann man nur schlecht schreiben.

Anlässlich des Erscheinens dieses kleinen Büchleins möchte ich auf die Berner Ausgabe der Werke Robert Walsers hinweisen, die – in weitgehender Stille – vor zwei Jahren mit zwei Briefbänden und einem zugehörigen Kommentarband begonnen wurde und inzwischen bei acht, zumeist schmalen Bändchen angekommen ist. Insgesamt soll sie einmal 31 Bände umfassen; einen vollständigen Editionsplan habe ich allerdings nicht finden können. Heuer sind zwei Bände dazugekommen, darunter eben auch eine Neuausgabe der ersten Buchs von Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze (Insel, 1904). Der dünne Band ist für alle, die Robert Walser kennenlernen wollen, ein nahezu idealer Einstieg.

Walser hat mit dem Verlag lange um sein erstes Buch ringen müssen, bis Insel sich dazu entschließen konnte, diesem sehr eigenwilligen Autor eine Chance zu geben. (Der Verlag sollte mit seiner Skepsis vorerst recht behalten: Das Buch verkaufte sich miserabel.) Die titelgebenden Aufsätze sind vorgebliche Schulaufsätze – Walser hatte in seiner Schulzeit tatsächlich einen Mitschüler mit dem Namen Fritz Kocher –, gehalten in einer naiven, jungenhaften Weltsicht und einem manieristischen Stil, der wohl zu Recht Abiturientenprosa genannt werden darf. Themen sind die für die Schulzeit vieler Generationen üblichen: Der Mensch, Der Herbst, Die Schule, Der Beruf, Meine Stadt und was dergleichen mehr ist. Überall findet sich Walsers luzides Spiel mit der Rolle des schreibenden Schülers, der die Dinge aus seiner mangelnden Lebenserfahrung heraus notwendig falsch und doch immer ein wenig richtiger sieht, als es der Lehrer Leser erwartet. Es wundert daher nicht, dass der Lehrer offenbar gleich den ersten Aufsatz mit der Anmerkung „Stil erbärmlich“ versehen hat.

Es ist ein stilles, leicht melancholisches und zugleich sehr witziges Buch, das Walser hier geschrieben hat, und es weist schon auf seine späteren, stilistisch schlichten und zugleich schillernden Meisterwerke voraus. Noch einmal: Wer neugierig auf Walser ist, findet hier eine gute Gelegenheit. Zudem bekommt man noch die Illustrationen der Erstausgabe von Roberts Bruder Karl, ein kluges Nachwort und Erläuterungen mitgeliefert. Und wer daran Spaß gefunden hat, kann in derselben Ausgabe auch gleich noch Der Gehülfe lesen.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze. Berner Ausgabe. Werke Band 4. Hg. von Dominik Müller und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp, 2020. Broschur, 180 Seiten. 22,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 6

Man sollte nicht so viel Aufhebens von solchem – entschuldigen Sie das Wort – Unfug machen, an den ohnehin niemand ernsthaft glaubt.

Der letzte Band der umfangreichen Werkauswahl der Brüder Strugatzki enthält drei Romane und ein Drehbuch, die alle dem Bereich der Phantastik näherstehen als dem der Science Fiction, wenn auch diese Trennung nicht nur im Allgemeinen, sondern besonders auch im Fall der Strugatzkis immer ein wenig künstlich bleibt. Ich habe schon früher auf den offensichtlichen Einfluss hingewiesen, den Bulgakows Der Meister und Margarita auf die Texte der Strugatzkis gehabt hat, doch existiert spätestens seit der Romantik natürlich eine ganze Tradition der russischen Phantastik, aus der die Brüder für ihre Romane geschöpft haben.

  • Der Montag fängt am Samstag an (1965) ist zugleich ein humoristischer und phantastischer Roman sowie eine lockere Parodie auf den Wissenschaftsglauben und -betrieb in der Sowjetunion der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Erzählt werden drei Episoden aus dem Leben Alexander Iwanowitsch Priwalows, der auf einer Reise zufällig in ein Dorf gerät, in dem das staatliche wissenschaftliche Forschungsinstitut für Hexerei und Zauberkünste (FIFHUZ, im Original NITschaWO, also soviel wie „es ist nichts; es hat nichts zu bedeuten“) betrieben wird. Priwalow ist Programmierer und im Institut wird dringend jemand gesucht, der den Computer Altan zu bedienen und programmieren weiß. Die Forscher im Institut sind bewährte Zauberer, die zum Teil bereits seit Jahrhunderten praktizieren, aber immer noch auf der Suche nach den Lösungen der letzten Rätsel ihrer Kunst sind. Priwalow fügt sich in diese Gemeinschaft von Individualisten gut ein, lernt selbst ein wenig zu zaubern und ist aufgrund seiner technischen Kenntnisse ein gesuchter und beliebter Kollege am Institut. Die drei Episoden enthalten seine Ankunft im Dorf, bei der ihm peu à peu klar wird, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht, seinen ersten Einsatz als Nachtwächter des Instituts in einer Silvesternacht und zuletzt ein exemplarisches Beispiel für die Lösung eines übernatürlichen Problems, bei dem ein phoenixhafter Papagei im Zentrum steht. Der Humor des Textes entstammt nicht nur dem traditionellen Durcheinander, das Zauberer und ihre Magie in der normalen Welt erzeugen, sondern auch aus dem Gegensatz zwischen dem Chaos der Magie einerseits und den Grundsätzen der Logik der naturwissenschaftlichen Forschung und den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Verwaltung andererseits. Das alles ergibt einen sehr netten und lesenswerten Roman in der besten Tradition der europäischen Phantastik.
  • Das Märchen von der Troika (1967) ist oberflächlich gesehen die Fortsetzung von Der Montag fängt am Samstag an, doch erschöpfen sich die Ähnlichkeiten in demselben Erzähler, dem Handlungsort und einigen Figurennamen. Auch Boris Strugatzki stellt im Nachwort des Bandes fest, dass die Troika eine reine Satire sei und sich von daher von dem spielerischen, romantischen Montag deutlich unterscheide. Diesmal macht sich der Erzähler Priwalow mit einem Kollegen in das angebliche 76. Stockwerk des FIFHUZ (s. o.) auf, auch wenn von diesen Stockwerken zuvor nirgends die Rede war. Dort befindet sich die Siedlung Tmuskorpion, die von einer Troika von Beamten verwaltet wird, die eine komplett absurde Bürokratie installiert haben. Die Troika und auch ihr sogenannter wissenschaftlicher Berater sind schlicht nicht in der Lage, die ihr vorgelegten Probleme auch nur zu verstehen. Sie haben einen eigenen Jargon entwickelt, mit dem sie über alles und nichts reden können, ohne dabei durch irgendwelche Tatsache behindert zu werden. Nach der Vorführung mehrerer Fälle, die alle mustergültig misshandelt werden, und kurz bevor auch Priwalow der Herrschaft der Troika verfällt, tauchen „von unten“ als Dei ex machina die Zauberer auf, die dem ganzen Spuk ein Ende setzen.
    Es ist kaum verwunderlich, dass die Strugatzkis hierfür in der Sowjetunion keinen Verleger finden konnten. Eine Beinahe-Veröffentlichung einer gekürzten und abgeschwächten Version in der Zeitschrift Angara führte nicht nur zum Einstampfen der entsprechenden Hefte, sondern auch zu ernsthaften Konsequenzen für den Chefredakteur. Neben dieser Angara-Fassung, die auch in dem hier besprochenen Band enthalten ist, existiert auch noch die ursprüngliche, umfangreichere, komplexer angelegte sogenannte Smena-Fassung, die erst nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte.
  • Fünf Löffel Elixier (1985) ist der Entwurf zu einem Filmdrehbuch, nach dem 1990 ein Film produziert wurde. Sein Stoff ist eine Auskopplung und Bearbeitung aus dem nachfolgenden Roman Das lahme Schicksal: Der Schriftsteller Felix Sorokin gerät durch einen Zufall an eine Gruppe Unsterblicher, die gemeinsam das Geheimnis hüten, dass in einer Grotte am Rande der Stadt ein Elixier von der Decke tropft, fünf Löffel in drei Jahren, die fünf Personen ausreichend gegen Alter und Verfall schützen. Zuerst versucht die Gruppe, Sorokin umzubringen, doch als das misslingt, suchen ihn die Herrschaften nächtlich auf, um zu verhandeln, wer der nunmehr sechs Geheimnisträger sterben muss. Das Ganze ist etwas unharmonisch geraten: Während der erste Teil eine anekdotische Folge wunderlicher Abenteuer ist, wird der zweite von einem langen Gesprächsmarathon gebildet, der immer wieder um dasselbe Thema kreist. Auch das Ende ist wenig überzeugend, da den Autoren offenbar nichts Richtiges eingefallen ist, um ihre Figuren aus der Sackgasse, in die sie sie manövriert haben, wieder herauszuholen.
  • Das lahme Schicksal (1986) ist der direkteste Versuch der Brüder Strugatzki einen Roman in der Tradition Bulgakows zu schreiben. Wie in Der Meister und Margarita werden auch hier zwei Geschichten in alternierenden Kapiteln parallel erzählt: Zum einen der alltägliche Kampf des Schriftstellers Felix Sorokin im winterlichen Moskau der 80er Jahre, zum anderen ein offenbar von Sorokin verfasster phantastischer Roman, in dem der Schriftsteller Viktor Banew in einem offenbar fiktiven, nicht kommunistischen Russland den Beginn des Untergangs der menschlichen Kultur miterlebt. Während die Handlung um Sorokin bewusst unscheinbar gestaltet ist, jedoch im Hintergrund zahlreiche phantastische Elemente aufweist und auch eine kritische Darstellung des Literaturbetriebs in der Sowjetunion liefert, ist die Geschichte Banews als Dystopie mit einer rätselhaften Handlung und diversen schillernden Figuren angelegt. Nicht zuletzt gibt es eine Menge von Motiven, die die beiden Ebenen miteinander verzahnen. Es ist nicht verwunderlich, dass der Roman, wie Boris Strugatzki im kommentierenden Nachwort betont, in den 80er Jahren von den Brüdern „für die Schublade“ geschrieben worden sei. Es handelt sich zweifellos um das erzählerische Prunkstück dieses letzten Bandes der Werkauswahl.

Technisch ist das eBook, das ich gelesen habe, allerdings extrem schlecht produziert: Nicht nur finden sich auf vielen Seiten Leerzeichen mitten in einzelnen Wörtern, was den Lesefluss extrem stört, sondern es sind auch die erläuternden Anmerkungen des Anhangs im Haupttext nicht verlinkt oder auch nur markiert, so dass der Leser vollständig ahnungslos bleibt, welche Stellen kommentiert wurde. Solch ärgerliche Stümperei darf bei einem kommerziellen eBook nicht vorkommen.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 6. Aus dem Russischen von Helga Gutsche (Fünf Löffel Elixier) und zusammen jeweils mit Peter Klassen (Der Montag fängt am Samstag an), David Drevs (Das Märchen von der Troika) und Erika Pietraß (Das lahme Schicksal); Erik Simon (Anhang). München: Heyne, Kindle-Edition, 2014. 1040 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Aravind Adiga: Amnestie

Dhanajaya Rajaratnam, genannt Danny, ist ein Tamile, der ohne Aufenthaltsgenehmigung in Sydney lebt. Er stammt aus Sri Lanka, war auch schon einmal in Dubai beschäftigt und ist als Student nach Australien gekommen. Das College, an dem er studieren sollte, erwies sich aber als eine schlecht getarnte Schleuser-Organisation, die sich an den Studiengebühren der Ausländer bereichert und ihnen im Gegenzug nur fragwürdige Diplome anbieten konnte. Danny hat dieses Studium bald aufgegeben und sich als Putzmann selbstständig gemacht. Er lebt nun seit vier Jahren in Australien, und die meiste Zeit gelingt es ihm, in aller Öffentlichkeit unsichtbar zu bleiben. Doch an dem Tag, von dem Amnestie erzählt, läuft Danny beinahe in eine Morduntersuchung hinein. Eine der Bewohnerinnen im Haus gegenüber dem, in dem er die Wohnung eines Anwaltes putzt, ist ermordet worden. Danny ahnt nicht nur sofort, dass er die Ermordete kennt, er hat auch einen starken Verdacht, wer der Mörder sein könnte.

Das Mordopfer Radha und ihr mutmaßlicher Mörder Prakash waren ein Liebespaar, zusammengehalten durch die gemeinsame Spielsucht und überhaupt ihre Sehnsucht, sich selbst zu spüren. Danny putzte bei Rahda, die versprach sich für ihn einzusetzen und ihm eine Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung oder wenigstens einen Straferlass zu verschaffen. Danny wurde zum regelmäßigen Begleiter bei den Ausflügen des Paares in Kneipen und Spielhallen. Und Danny erfährt auch, dass der Mord an einer Stelle geschehen ist, die das Paar schon des Öfteren aufgesucht hatte. Danny begeht nun den Fehler – und das ist die einzige wirkliche Crux der Fabel – diesen mutmaßlichen Mörder anzurufen, der sofort ahnt, dass Danny ihn verdächtigt. Von diesem Moment an liefern sich beide eine Art von Katz-und-Maus-Spiel, dessen Verlauf und Ausgang hier nicht verraten werden müssen.

Parallel zu diesem einen Tag wird uns nicht nur die Geschichte Dannys in den vier Jahren in Australien erzählt, sondern wenigstens in Teilen seine übrige Lebensgeschichte seit seiner Kindheit in Batticaloa in Sri Lanka. Danny ist ein überdurchschnittlich intelligenter, sogar gebildeter junger Mann, der in Europa wahrscheinlich eine gute akademische Ausbildung bekommen und eine erfolgreiche Karriere angestrebt hätte. Doch in Sydney ist er nur Opfer all jener, die seine Furcht vor Internierung und Deportation ausnutzen.

Der Roman braucht eine Weile, um das richtige Tempo zu finden. Lange Zeit kann man den Verdacht hegen, das alles sei zwar präzise recherchiert, aber kaum originell und unterscheide sich nicht wesentlich von etlichen Dokumentationen, die es inzwischen zu sogenannten Illegalen in der westlichen Welt gibt. Erst die Zuspitzung des psychologischen Duells zwischen Danny und Prakash hilft der etwas zu berechenbaren politischen Ebene des Romans auf.

Alles in allem ein passables Buch zwischen politischer Botschaft und Psycho-Krimi, aber man sollte keinen zweiten Weißen Tiger erwarten.

Aravind Adiga: Amnestie. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. München: Beck, 2020. Pappband, 286 Seiten. 24,– €.

Petron: Satyrica

Petrons Episodenroman, wahrscheinlich aus Neronischer Zeit (zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts), ist leider nur fragmentarisch überliefert. Die zeitliche Einordnung und die Verfasserfrage sind nicht ganz sicher zu klären, aber als wahrscheinlichste Variante gilt immer noch, dass der aus dem Umfeld Neros bekannte Titus Petronius Arbiter das Buch geschrieben hat. Es ist offensichtlich als Parodie auf die Homerische Odyssee angelegt; sein Erzähler Enkolp durchläuft eine lockere Folge von sozialen, intellektuellen, sexuellen, kulinarischen und handgreiflichen Abenteuern, die ein zugespitztes Panorama des Lebens der römischen Unterschicht liefern.

An einigen Stellen ist der Humor des Buches für den heutigen Leser wahrscheinlich etwas zu behäbig, an anderen Stellen zu grob, doch wenn man sich auf es einlässt, ist das Buch eine durchweg vergnügliche Lektüre. Leider macht sich der fragmentarische Charakter der Überlieferung an zu vielen Stellen bemerkbar, doch dem lässt sich nicht aufhelfen.

Die Neuübersetzung durch Karl-Wilhelm Weeber, der für eine ganze Flut von Büchern über römische Kultur und insbesondere römisches Alltagsleben verantwortlich zeichnet, ist sehr flott zu lesen, ohne dass sie sich, soweit ich das erkennen kann, vom Original entfernt. Im Gegenteil bildet Weeber zahlreiche grammatikalische Verwerfungen, die dazu dienen, sich über die Bildung diverser Figuren lustig zu machen, getreulich ab. Seine Übersetzung trifft auf jeden Fall den Tenor des Buches besser als so mancher der philologisch disziplinierteren Vorläufer.

Petron: Satyrica. Aus dem Lateinischen von Karl-Wilhelm Weeber. RUB 19553. Stuttgart: Reclam, 2018. Broschur, 297 Seiten. 7.– €.