Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten / Theaterroman

»Ich bin neu«, schrie ich, »ich bin neu! Ich bin unvermeidlich, ich bin angekommen!«

Die Aufzeichnungen eines Toten, die auch unter dem Titel Theaterroman veröffentlicht wurden, sind Bulgakows letzter, unvollendet gebliebener Roman, der in den Jahren 1929 begonnen und 1936/1937 überarbeitet wurde. Bücher, die das Wort Aufzeichnung im Titel tragen, haben in Russland eine lange Tradition der au­to­bio­gra­phi­schen oder wenigstens nah an wirklichen Ereignissen geführten Erzählung. Bulgakow spielt ganz bewusst mit dieser Einordnung, wenn er dem Roman das Vorwort eines fiktiven Herausgebers voranstellt, das nicht nur vom Freitod des Ich-Erzählers Sergej Leontjewitsch Maksudow berichtet, sondern auch betont, dass dessen Darstellung des Theaters in diesen Aufzeichnung vollkommen unrealistisch sei.

Der Roman ist offensichtlich eine satirisch über­spitz­te Verarbeitung von Bulgakows eigenen Erfahrungen als Theaterautor. Der Ich-Erzähler, der seinen Lebensunterhalt als Redakteur einer Dampf­schiff­fahrts-­Zeit­schrift verdient hat, schreibt aus einem plötzlichen Impuls heraus einen Roman, den er dann vergeblich einem Verleger anzubieten sucht. Er kommt durch seine Suche auch in Kontakt mit anderen Moskauer Schriftstellern, die seinen Roman zwar unterschiedlich bewerten, sich aber darüber einig sind, dass er von der Zensur niemals zum Druck zugelassen werden wird. Eines Tages aber wird Maksudow von einem me­phi­sto­phe­lisch erscheinenden Mann aufgesucht, der ihm anbietet, das erste Drittel des Romans in einer Zeitschrift drucken zu lassen. Entgegen aller Wahr­schein­lich­keit kommt es zu dieser Publikation, die wiederum dazu führt, dass Maksudow von einem Regisseur des „Unabhängigen Theaters“ angeschrieben wird, der den Roman als Theaterstück inszenieren will.

Dies alles ist nur das Vorspiel zur eigentlichen Handlung, die in ihrem ersten Teil die Erstellung des Stückes und zugleich dessen Gang durch die diversen Institutionen des Theaters schildert. Der erste Teil endet damit, dass Maksudow als Theaterautor komplett gescheitert zu sein scheint: Sein naives Verhalten gegenüber einem der beiden Direktoren des Theaters, seine Unkenntnis der Machtverhältnisse im Establishment der Schauspieler und seine voreilige Unterschrift unter einen Vertrag mit dem Theater führen dazu, dass sein Stück weder am Unabhängigen Theater noch sonst irgendwo in Moskau gespielt werden soll.

Der zweite Teil des Romans, von dem leider nur ein und ein halbes Kapitel existieren, beginnt mit der wundersamen Nachricht, dass es einem der Regisseure des Theaters trotz allem gelungen ist, dass Stück wieder auf den Spielplan setzen zu lassen. Es beginnt nun eine Farce von Proben unter dem Direktor, der zuvor das Stück verhindert hatte. Leider bricht der Text mitten in der absurden Zuspitzung dieser methodischen Proben ab, die zwar der Theatertheorie des Direktors entsprechen, mit dem Stück aber nur am Rande etwas zu tun haben.

Der Roman nimmt nach einem etwas verhaltenen Anfang deutlich Fahrt auf und kann – auch in seiner fragmentarischen Form – als eine große Satire nicht nur auf den sowjetischen, sondern auf den Theaterbetrieb schlechthin gelesen werden. Ich bin durch den Hinweis Boris Strugatzkis auf ihn gestoßen, der ihn, neben Der Meister und Margarita, als wichtiges Vorbild für Das lahme Schicksal nennt. Es ist nun wirklich an der Zeit, mehr von Bulgakow zu lesen.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten. Theaterroman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. München: Luchterhand, 2005. Kindle eBook. 193 Seiten (Buchausgabe). 8,99 €.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze

Weihnachten? O! Das wird den schlechtesten Aufsatz geben; denn über etwas so Süßes kann man nur schlecht schreiben.

Anlässlich des Erscheinens dieses kleinen Büchleins möchte ich auf die Berner Ausgabe der Werke Robert Walsers hinweisen, die – in weitgehender Stille – vor zwei Jahren mit zwei Briefbänden und einem zugehörigen Kommentarband begonnen wurde und inzwischen bei acht, zumeist schmalen Bändchen angekommen ist. Insgesamt soll sie einmal 31 Bände umfassen; einen vollständigen Editionsplan habe ich allerdings nicht finden können. Heuer sind zwei Bände dazugekommen, darunter eben auch eine Neuausgabe der ersten Buchs von Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze (Insel, 1904). Der dünne Band ist für alle, die Robert Walser kennenlernen wollen, ein nahezu idealer Einstieg.

Walser hat mit dem Verlag lange um sein erstes Buch ringen müssen, bis Insel sich dazu entschließen konnte, diesem sehr eigenwilligen Autor eine Chance zu geben. (Der Verlag sollte mit seiner Skepsis vorerst recht behalten: Das Buch verkaufte sich miserabel.) Die titelgebenden Aufsätze sind vorgebliche Schulaufsätze – Walser hatte in seiner Schulzeit tatsächlich einen Mitschüler mit dem Namen Fritz Kocher –, gehalten in einer naiven, jungenhaften Weltsicht und einem manieristischen Stil, der wohl zu Recht Abiturientenprosa genannt werden darf. Themen sind die für die Schulzeit vieler Generationen üblichen: Der Mensch, Der Herbst, Die Schule, Der Beruf, Meine Stadt und was dergleichen mehr ist. Überall findet sich Walsers luzides Spiel mit der Rolle des schreibenden Schülers, der die Dinge aus seiner mangelnden Lebenserfahrung heraus notwendig falsch und doch immer ein wenig richtiger sieht, als es der Lehrer Leser erwartet. Es wundert daher nicht, dass der Lehrer offenbar gleich den ersten Aufsatz mit der Anmerkung „Stil erbärmlich“ versehen hat.

Es ist ein stilles, leicht melancholisches und zugleich sehr witziges Buch, das Walser hier geschrieben hat, und es weist schon auf seine späteren, stilistisch schlichten und zugleich schillernden Meisterwerke voraus. Noch einmal: Wer neugierig auf Walser ist, findet hier eine gute Gelegenheit. Zudem bekommt man noch die Illustrationen der Erstausgabe von Roberts Bruder Karl, ein kluges Nachwort und Erläuterungen mitgeliefert. Und wer daran Spaß gefunden hat, kann in derselben Ausgabe auch gleich noch Der Gehülfe lesen.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze. Berner Ausgabe. Werke Band 4. Hg. von Dominik Müller und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp, 2020. Broschur, 180 Seiten. 22,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 6

Man sollte nicht so viel Aufhebens von solchem – entschuldigen Sie das Wort – Unfug machen, an den ohnehin niemand ernsthaft glaubt.

Der letzte Band der umfangreichen Werkauswahl der Brüder Strugatzki enthält drei Romane und ein Drehbuch, die alle dem Bereich der Phantastik näherstehen als dem der Science Fiction, wenn auch diese Trennung nicht nur im Allgemeinen, sondern besonders auch im Fall der Strugatzkis immer ein wenig künstlich bleibt. Ich habe schon früher auf den offensichtlichen Einfluss hingewiesen, den Bulgakows Der Meister und Margarita auf die Texte der Strugatzkis gehabt hat, doch existiert spätestens seit der Romantik natürlich eine ganze Tradition der russischen Phantastik, aus der die Brüder für ihre Romane geschöpft haben.

  • Der Montag fängt am Samstag an (1965) ist zugleich ein humoristischer und phantastischer Roman sowie eine lockere Parodie auf den Wissenschaftsglauben und -betrieb in der Sowjetunion der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Erzählt werden drei Episoden aus dem Leben Alexander Iwanowitsch Priwalows, der auf einer Reise zufällig in ein Dorf gerät, in dem das staatliche wissenschaftliche Forschungsinstitut für Hexerei und Zauberkünste (FIFHUZ, im Original NITschaWO, also soviel wie „es ist nichts; es hat nichts zu bedeuten“) betrieben wird. Priwalow ist Programmierer und im Institut wird dringend jemand gesucht, der den Computer Altan zu bedienen und programmieren weiß. Die Forscher im Institut sind bewährte Zauberer, die zum Teil bereits seit Jahrhunderten praktizieren, aber immer noch auf der Suche nach den Lösungen der letzten Rätsel ihrer Kunst sind. Priwalow fügt sich in diese Gemeinschaft von Individualisten gut ein, lernt selbst ein wenig zu zaubern und ist aufgrund seiner technischen Kenntnisse ein gesuchter und beliebter Kollege am Institut. Die drei Episoden enthalten seine Ankunft im Dorf, bei der ihm peu à peu klar wird, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht, seinen ersten Einsatz als Nachtwächter des Instituts in einer Silvesternacht und zuletzt ein exemplarisches Beispiel für die Lösung eines übernatürlichen Problems, bei dem ein phoenixhafter Papagei im Zentrum steht. Der Humor des Textes entstammt nicht nur dem traditionellen Durcheinander, das Zauberer und ihre Magie in der normalen Welt erzeugen, sondern auch aus dem Gegensatz zwischen dem Chaos der Magie einerseits und den Grundsätzen der Logik der naturwissenschaftlichen Forschung und den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Verwaltung andererseits. Das alles ergibt einen sehr netten und lesenswerten Roman in der besten Tradition der europäischen Phantastik.
  • Das Märchen von der Troika (1967) ist oberflächlich gesehen die Fortsetzung von Der Montag fängt am Samstag an, doch erschöpfen sich die Ähnlichkeiten in demselben Erzähler, dem Handlungsort und einigen Figurennamen. Auch Boris Strugatzki stellt im Nachwort des Bandes fest, dass die Troika eine reine Satire sei und sich von daher von dem spielerischen, romantischen Montag deutlich unterscheide. Diesmal macht sich der Erzähler Priwalow mit einem Kollegen in das angebliche 76. Stockwerk des FIFHUZ (s. o.) auf, auch wenn von diesen Stockwerken zuvor nirgends die Rede war. Dort befindet sich die Siedlung Tmuskorpion, die von einer Troika von Beamten verwaltet wird, die eine komplett absurde Bürokratie installiert haben. Die Troika und auch ihr sogenannter wissenschaftlicher Berater sind schlicht nicht in der Lage, die ihr vorgelegten Probleme auch nur zu verstehen. Sie haben einen eigenen Jargon entwickelt, mit dem sie über alles und nichts reden können, ohne dabei durch irgendwelche Tatsache behindert zu werden. Nach der Vorführung mehrerer Fälle, die alle mustergültig misshandelt werden, und kurz bevor auch Priwalow der Herrschaft der Troika verfällt, tauchen „von unten“ als Dei ex machina die Zauberer auf, die dem ganzen Spuk ein Ende setzen.
    Es ist kaum verwunderlich, dass die Strugatzkis hierfür in der Sowjetunion keinen Verleger finden konnten. Eine Beinahe-Veröffentlichung einer gekürzten und abgeschwächten Version in der Zeitschrift Angara führte nicht nur zum Einstampfen der entsprechenden Hefte, sondern auch zu ernsthaften Konsequenzen für den Chefredakteur. Neben dieser Angara-Fassung, die auch in dem hier besprochenen Band enthalten ist, existiert auch noch die ursprüngliche, umfangreichere, komplexer angelegte sogenannte Smena-Fassung, die erst nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte.
  • Fünf Löffel Elixier (1985) ist der Entwurf zu einem Filmdrehbuch, nach dem 1990 ein Film produziert wurde. Sein Stoff ist eine Auskopplung und Bearbeitung aus dem nachfolgenden Roman Das lahme Schicksal: Der Schriftsteller Felix Sorokin gerät durch einen Zufall an eine Gruppe Unsterblicher, die gemeinsam das Geheimnis hüten, dass in einer Grotte am Rande der Stadt ein Elixier von der Decke tropft, fünf Löffel in drei Jahren, die fünf Personen ausreichend gegen Alter und Verfall schützen. Zuerst versucht die Gruppe, Sorokin umzubringen, doch als das misslingt, suchen ihn die Herrschaften nächtlich auf, um zu verhandeln, wer der nunmehr sechs Geheimnisträger sterben muss. Das Ganze ist etwas unharmonisch geraten: Während der erste Teil eine anekdotische Folge wunderlicher Abenteuer ist, wird der zweite von einem langen Gesprächsmarathon gebildet, der immer wieder um dasselbe Thema kreist. Auch das Ende ist wenig überzeugend, da den Autoren offenbar nichts Richtiges eingefallen ist, um ihre Figuren aus der Sackgasse, in die sie sie manövriert haben, wieder herauszuholen.
  • Das lahme Schicksal (1986) ist der direkteste Versuch der Brüder Strugatzki einen Roman in der Tradition Bulgakows zu schreiben. Wie in Der Meister und Margarita werden auch hier zwei Geschichten in alternierenden Kapiteln parallel erzählt: Zum einen der alltägliche Kampf des Schriftstellers Felix Sorokin im winterlichen Moskau der 80er Jahre, zum anderen ein offenbar von Sorokin verfasster phantastischer Roman, in dem der Schriftsteller Viktor Banew in einem offenbar fiktiven, nicht kommunistischen Russland den Beginn des Untergangs der menschlichen Kultur miterlebt. Während die Handlung um Sorokin bewusst unscheinbar gestaltet ist, jedoch im Hintergrund zahlreiche phantastische Elemente aufweist und auch eine kritische Darstellung des Literaturbetriebs in der Sowjetunion liefert, ist die Geschichte Banews als Dystopie mit einer rätselhaften Handlung und diversen schillernden Figuren angelegt. Nicht zuletzt gibt es eine Menge von Motiven, die die beiden Ebenen miteinander verzahnen. Es ist nicht verwunderlich, dass der Roman, wie Boris Strugatzki im kommentierenden Nachwort betont, in den 80er Jahren von den Brüdern „für die Schublade“ geschrieben worden sei. Es handelt sich zweifellos um das erzählerische Prunkstück dieses letzten Bandes der Werkauswahl.

Technisch ist das eBook, das ich gelesen habe, allerdings extrem schlecht produziert: Nicht nur finden sich auf vielen Seiten Leerzeichen mitten in einzelnen Wörtern, was den Lesefluss extrem stört, sondern es sind auch die erläuternden Anmerkungen des Anhangs im Haupttext nicht verlinkt oder auch nur markiert, so dass der Leser vollständig ahnungslos bleibt, welche Stellen kommentiert wurde. Solch ärgerliche Stümperei darf bei einem kommerziellen eBook nicht vorkommen.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 6. Aus dem Russischen von Helga Gutsche (Fünf Löffel Elixier) und zusammen jeweils mit Peter Klassen (Der Montag fängt am Samstag an), David Drevs (Das Märchen von der Troika) und Erika Pietraß (Das lahme Schicksal); Erik Simon (Anhang). München: Heyne, Kindle-Edition, 2014. 1040 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Aravind Adiga: Amnestie

Dhanajaya Rajaratnam, genannt Danny, ist ein Tamile, der ohne Aufenthaltsgenehmigung in Sydney lebt. Er stammt aus Sri Lanka, war auch schon einmal in Dubai beschäftigt und ist als Student nach Australien gekommen. Das College, an dem er studieren sollte, erwies sich aber als eine schlecht getarnte Schleuser-Organisation, die sich an den Studiengebühren der Ausländer bereichert und ihnen im Gegenzug nur fragwürdige Diplome anbieten konnte. Danny hat dieses Studium bald aufgegeben und sich als Putzmann selbstständig gemacht. Er lebt nun seit vier Jahren in Australien, und die meiste Zeit gelingt es ihm, in aller Öffentlichkeit unsichtbar zu bleiben. Doch an dem Tag, von dem Amnestie erzählt, läuft Danny beinahe in eine Morduntersuchung hinein. Eine der Bewohnerinnen im Haus gegenüber dem, in dem er die Wohnung eines Anwaltes putzt, ist ermordet worden. Danny ahnt nicht nur sofort, dass er die Ermordete kennt, er hat auch einen starken Verdacht, wer der Mörder sein könnte.

Das Mordopfer Radha und ihr mutmaßlicher Mörder Prakash waren ein Liebespaar, zusammengehalten durch die gemeinsame Spielsucht und überhaupt ihre Sehnsucht, sich selbst zu spüren. Danny putzte bei Rahda, die versprach sich für ihn einzusetzen und ihm eine Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung oder wenigstens einen Straferlass zu verschaffen. Danny wurde zum regelmäßigen Begleiter bei den Ausflügen des Paares in Kneipen und Spielhallen. Und Danny erfährt auch, dass der Mord an einer Stelle geschehen ist, die das Paar schon des Öfteren aufgesucht hatte. Danny begeht nun den Fehler – und das ist die einzige wirkliche Crux der Fabel – diesen mutmaßlichen Mörder anzurufen, der sofort ahnt, dass Danny ihn verdächtigt. Von diesem Moment an liefern sich beide eine Art von Katz-und-Maus-Spiel, dessen Verlauf und Ausgang hier nicht verraten werden müssen.

Parallel zu diesem einen Tag wird uns nicht nur die Geschichte Dannys in den vier Jahren in Australien erzählt, sondern wenigstens in Teilen seine übrige Lebensgeschichte seit seiner Kindheit in Batticaloa in Sri Lanka. Danny ist ein überdurchschnittlich intelligenter, sogar gebildeter junger Mann, der in Europa wahrscheinlich eine gute akademische Ausbildung bekommen und eine erfolgreiche Karriere angestrebt hätte. Doch in Sydney ist er nur Opfer all jener, die seine Furcht vor Internierung und Deportation ausnutzen.

Der Roman braucht eine Weile, um das richtige Tempo zu finden. Lange Zeit kann man den Verdacht hegen, das alles sei zwar präzise recherchiert, aber kaum originell und unterscheide sich nicht wesentlich von etlichen Dokumentationen, die es inzwischen zu sogenannten Illegalen in der westlichen Welt gibt. Erst die Zuspitzung des psychologischen Duells zwischen Danny und Prakash hilft der etwas zu berechenbaren politischen Ebene des Romans auf.

Alles in allem ein passables Buch zwischen politischer Botschaft und Psycho-Krimi, aber man sollte keinen zweiten Weißen Tiger erwarten.

Aravind Adiga: Amnestie. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. München: Beck, 2020. Pappband, 286 Seiten. 24,– €.

Petron: Satyrica

Petrons Episodenroman, wahrscheinlich aus Neronischer Zeit (zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts), ist leider nur fragmentarisch überliefert. Die zeitliche Einordnung und die Verfasserfrage sind nicht ganz sicher zu klären, aber als wahrscheinlichste Variante gilt immer noch, dass der aus dem Umfeld Neros bekannte Titus Petronius Arbiter das Buch geschrieben hat. Es ist offensichtlich als Parodie auf die Homerische Odyssee angelegt; sein Erzähler Enkolp durchläuft eine lockere Folge von sozialen, intellektuellen, sexuellen, kulinarischen und handgreiflichen Abenteuern, die ein zugespitztes Panorama des Lebens der römischen Unterschicht liefern.

An einigen Stellen ist der Humor des Buches für den heutigen Leser wahrscheinlich etwas zu behäbig, an anderen Stellen zu grob, doch wenn man sich auf es einlässt, ist das Buch eine durchweg vergnügliche Lektüre. Leider macht sich der fragmentarische Charakter der Überlieferung an zu vielen Stellen bemerkbar, doch dem lässt sich nicht aufhelfen.

Die Neuübersetzung durch Karl-Wilhelm Weeber, der für eine ganze Flut von Büchern über römische Kultur und insbesondere römisches Alltagsleben verantwortlich zeichnet, ist sehr flott zu lesen, ohne dass sie sich, soweit ich das erkennen kann, vom Original entfernt. Im Gegenteil bildet Weeber zahlreiche grammatikalische Verwerfungen, die dazu dienen, sich über die Bildung diverser Figuren lustig zu machen, getreulich ab. Seine Übersetzung trifft auf jeden Fall den Tenor des Buches besser als so mancher der philologisch disziplinierteren Vorläufer.

Petron: Satyrica. Aus dem Lateinischen von Karl-Wilhelm Weeber. RUB 19553. Stuttgart: Reclam, 2018. Broschur, 297 Seiten. 7.– €.

George Eliot: Middlemarch

«Ehemänner sind eine untergeordnete Klasse von Männern, die man zur Ordnung rufen muss.»

Diese Lektüre stand nun seit über 30 Jahren an! Während meines Studiums hegte ich als ein mögliches Buchprojekt, etwas über die Darstellung der Ehe in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts (also so ungefähr zwischen Jane Austen und Theodor Fontane) zu schreiben. Die Institution der Ehe als zentrale Organisationsform bürgerlichen Lebens war dem späten 18. Jahrhundert offensichtlich schon sehr fragwürdig geworden, doch die volle Krise setzt erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein. Sie wird verschärft durch die Liebes-Ideologie der Romantik, die Spiegelungen der Trivialliteratur, den zunehmenden Individualismus und die sich aus dem 18. Jahrhundert fortsetzende Krise des christlichen Glaubens.

Offensichtlich profitierte von England bis Russland, von Skandinavien bis nach Italien eine ganze Schriftsteller-Tradition davon, diese Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses zu thematisieren, und erschuf neben dem Liebes- auch explizit den Eheroman, der sich von der Eheanbahnung bis zur Analyse des Scheiterns allen Phasen, Durchgangs- und sonstigen Erscheinungsformen der Institution widmete. Noch heute zehrt ein Gutteil jener Trivial-Dramen, die für Film und Fernsehen produziert werden, vom Ausschlachten dieser Romantradition.

Als ich damals versuchte, mir einen wenigstens ungefähren Überblick zu verschaffen, was denn für einen solches Projekt zu lesen wäre, ist mir natürlich auch George Eliots Middlemarch (1871–1874) untergekommen. Das Buch hat in Großbritannien und darüber hinaus in der englischsprachigen Welt einen legendären Ruf und taucht mit großer Konstanz in den Auflistungen der besten Werke der englischen Literatur auf. Und es ist – wenigstens zu einem bedeutenden Teil – auch ein Eheroman, eigentlich sogar der Roman zweier Ehen, wenn auch noch viel mehr Eheleute in ihm vorkommen. Aber er ist eben auch 1.200 Seiten lang und wurde deshalb in der Liste der zu lesenden Bücher regelmäßig nach unten verschoben. Nun sind aber im vergangenen Jahr anlässlich des 200. Geburtstages der Autorin gleich zwei Neuausgaben des Romans erschienen: eine Bearbeitung der Übersetzung von Rainer Zerbst aus den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und eine neue Übersetzung durch Melanie Walz. Da ich ihre Übersetzungen sehr schätze, war dies der Anlass, das Buch endlich zu lesen.

Und der geübte Leser merkt gleich von der ersten Seite an, dass es sich bei diesem Buch tatsächlich um eines der ganz großen der Literatur des 19. Jahrhunderts handelt. Erzählt wird die Geschichte von etwa zwei Dutzend Figuren in und um den kleinen fiktiven mittelenglischen Ort Middlemarch herum, wobei die Handlung ungefähr fünf Jahre um das Jahr 1830 herum umfasst. Es beginnt und endet mit der Geschichte Dorothea Brookes, einer jungen Frau mit großem Wissensdurst, der durch ihren Erziehungs- und Bildungsgang nicht gesättigt wurde. Sie lebt zusammen mit ihrer jüngeren Schwester im Haushalt ihres Onkels, der eine Art von Universal-Stümper darstellt, auf allen Wissensgebieten beleckt, aber nirgendwo richtig nass geworden. Dorothea hat also eine Vorstellung davon entwickelt, was alles zu wissen wäre, ohne dass sie in ihrem Drang irgend eine Unterstützung gefunden hätte. Quasi ersatzweise ist sie überaus fromm geworden und in Middlemarch stark sozial engagiert.

Diese auffallende junge Frau heiratet nun einen Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie, einen Geistlichen, der seit Jahrzehnten an einer umfassenden Darstellung der europäischen Mythologie arbeitet, die aber über den Status gesammelter Notizen und fragmentarischer Aufsätze nie hinausgekommen und fachwissenschaftlich seit langem überholt ist. Dorothea heiratet Edward Casaubon in der Vorstellung, sie könne ihn als Sekretärin unterstützen und sich auf diese Weise langsam das Wissen erarbeiten, dass sie in Casaubon verkörpert sieht. Natürlich wird diese Hoffnung rasch enttäuscht: Zwar erlaubt ihr Ehemann einige Zuarbeiten, aber zu einer wirklichen Zusammenarbeit lässt er es nie auch nur ansatzweise kommen. Im Gegenteil beweist er sich schon auf der gemeinsamen Hochzeitsreise nach Rom als eigenbrötlerischer Sonderling, der kaum in der Lage ist, auf die Bedürfnisse, Erwartungen und Gefühle seiner jungen Frau einzugehen.

Die zweite Ehekatastrophe des Romans steht unter gänzlich anderen Vorzeichen: Ihren Mittelpunkt bildet Tertius Lydgate, ein junger Arzt, der nach Middlemarch kommt, da er hier eine etablierte Praxis übernehmen kann. Er bringt neue Vorstellungen und Methoden mit in die Provinz, die er auch eloquent vertritt und durch die er nicht nur seine eingesessenen Kollegen verärgert, sondern auch seine potenziellen Patienten verstört. Er wird rasch medizinischer Leiter eines neuen Fieberhospitals, das durch den lokalen Bankier Nicholas Bulstrode gebaut und finanziert wird, und kommt in Kontakt mit der wohlhabenden Kaufmanns-Familie Vincy, deren beide Kinder Fred und Rosamond weitere prominente Figuren des Romans sind. Eigentlich will Lydgate ledig bleiben, doch lässt er sich auf einen Flirt mit der attraktiven Rosamond ein, der unglücklicher Weise in eine Verlobung hineinrutscht. Auch diese Ehe erweist sich nicht als ideal: Lydgate hat sich durch die Hochzeit, die Einrichtung eines großen Hauses und Geschenke an seine anspruchsvolle Verlobte finanziell übernommen und bemerkt zu spät, dass seine Einnahmen nicht ausreichen, um seine Schulden bezahlen zu können. Da sein Schwiegervater nicht willens und wohl auch nicht in der Lage ist, das Ehepaar aus der Notlage zu befreien, und auch Lydgates Verwandte abwinken, muss das Ehepaar eine Pfändung über sich ergehen lassen. In dieser Krise geraten Lydgate, der sich ganz praktisch in bescheidenere Verhältnisse fügen will, und seine Frau sehr aneinander und es scheint über viele Seiten hinweg so zu sein, als habe diese Ehe, die darüber hinaus auch noch durch eine frühe Fehlgeburt belastet ist, überhaupt keine Zukunft.

Um diese beiden zentralen Ehegeschichten herum erzählt Eliot ein ganzes Geflecht weiterer Schicksale und Ereignisse: Von Rosamonds Bruder Fred, einem Taugenichts, der lange braucht, um einen passenden Platz in der Welt Middlemarchs zu finden, von der halben Künstlernatur Will Ladislaw, der als Gegenfigur zu seinem Cousin Edward Casaubon fungiert und für Dorothea so etwas wie ein gänzlich anderes Leben repräsentiert, vom politischen Leben der Provinz, in dem Onkel Brooke sich als Abgeordneter bewerben möchte, von den verschiedenen Pfarrhäusern der Gegend, von Bulstrodes Vorgeschichte, die einen unheiligen Einfluss nicht nur auf sein Leben, sondern auch auf das Lydgate haben soll – diese Nebenhandlung mit ihrem Bösewicht Raffles ist die einzige, die ein wenig nach Dickens riecht, was wiederum deutlich macht, wie überlegen das ganze übrige des Romans ist –, vom reichen Erbonkel Peter Featherstone, der Fred mit der Aussicht auf ein üppiges Erbe terrorisiert, von den medizinischen Gepflogenheiten der Zeit und der vom Kontinent her drohenden Cholera-Epidemie, von der Armut der Hintersassen, die auf Gedeih und Verderb von der Qualität des Grundherrn oder seines Verwalters abhängig sind, von den religiösen Verwerfungen der Zeit, die als Folgen der Reformation immer noch Vorurteile und Ausgrenzungen in der Gesellschaft erschaffen und was der Dinge mehr sind.

Das Buch ist von einem erstaunlichen Reichtum gesellschaftlicher Details, psychologisch in den Hauptfiguren außergewöhnlich fein gearbeitet, in der Konstruktion auf der Höhe der besten Zeitgenossen, ohne dass es in seiner Wirkung auf diese Konstruktion angewiesen wäre, sprachlich aufs sorgfältigste differenziert – kurz: ein echtes Wunderwerk der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sicherlich ist es für einen nachgeborenen Leser nicht vollkommen: Gerade in der Auflösung der Geschichten Dorotheas und Lydgates zeigen sich deutlich Muster der Trivialliteratur, wie sie von den Leserinnen schlicht von einem Roman erwartet wurden. Aber das sind Nebensächlichkeiten, die sich aus den Zwängen des Marktes ergeben, denen sich immer nur ganz wenige Ausnahmen entziehen können. Mit dem, was der Autorin gelungen ist, überstrahlt das Buch auch die besten Exemplare der zeitgenössischen Literatur. Es kann in der Übersetzung von Melanie Walz jeder ernsthaften Leserin nur dringend empfohlen werden!

George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Hamburg: Rowohlt, 2019. Leinen, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 1263 Seiten. 45,– €.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming

Diese Lektüre bedarf einiges an Erläuterungen. August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831) war ein Massenschriftsteller der Goethe-Zeit, der seine Romane in serieller Produktion schrieb. Er hatte einen ungeheuren Erfolg beim Publikum, wurde aber von den Kritikern, wenigstens von jenen, die wir auch heute noch lesen, im besten Falle als ein Trivialautor, im schlimmsten als ein Schreiberling unterster Kategorie angesehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er zu Recht weitgehend vergessen; dennoch ist das vorliegende Buch ein Nachdruck aus dem Jahr 2008 und in einer – wenigstens damals noch – halbwegs prominenten Buchreihe erschienen, den Haidnischen Alterthümern.

Bei den Haidnischen Alterthümern handelt es sich um eine in lockerer Folge herausgegebene Reihe von Büchern, die allesamt auf Hinweise Arno Schmidts zurückgehen. Schmidt hatte Mitte der 1950er Jahre damit begonnen, für den Südfunk Stuttgart, für den Alfred Andersch damals als Redakteur tätig war, sogenannte Nachtprogramme zu schreiben. Es handelte sich um dialogisch aufbereitete Essays zur Literatur, die spät abends gesendet wurden. Damals war die Arbeit für den Rundfunk für die meisten Schriftsteller recht attraktiv, da die Funkhäuser vergleichsweise gut bezahlten. Schmidt, dessen eigene Werke zwar Anerkennung bei Kritik und Kollegen fanden, sich aber nur schleppend verkauften, war auf Brotarbeiten wie Übersetzungen, Texte fürs Feuilleton oder eben auch die Nachtprogramme für den Funk dringend angewiesen.

Die Aufmachung der 2. Serie
der Haidnischen Alterthümer

Für die Funk-Essays griff Schmidt auf seine breite Lektüre der Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und konnte auf einige Autoren und Werke hinweisen, die damals halbwegs oder weitgehend vergessen waren. Als Schmidt dann nach dem Erscheinen von Zettel’s Traum (1970) auch für ein etwas breiteres Publikum zu einem Gerücht geworden war, wurden 1978 die Haidnischen Alterthümer begründet, die angeblich die Lieblingsbücher Arno Schmidts herauszubringen gedachten. Man könnte über diesen Anspruch nun Band für Band diskutieren, aber dafür ist hier kaum der richtige Platz. Wie dem auch sei: Es erschienen in 30 Jahren insgesamt 16 Titel, für die sich allesamt eine Empfehlung Arno Schmidts konstruieren ließ.

Im Jahr 2008 fand die Reihe dann ihr Ende mit dem hier besprochenen Roman. Schmidt hatte 1965 einen entsprechenden Funk-Essay verfasst, der den etwas merkwürdigen Titel Eine Schuld wird beglichen trug. Anlass dafür war, dass sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie über den Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué dem Urteil der Zeitgenossen folgend über August Lafontaine abfällig geäußert hatte. Angeblich hatte er damals auch drei von dessen Romanen gelesen und für schlecht befunden. Nun aber habe er sich eines Besseren belehrt, weitere Romane konsumiert und müsse Abbitte leisten: So schlecht seien Lafontaines Romane gar nicht gewesen. Ganz am Ende bespricht Schmidt dann auch für einige Minuten eben jenen Quinctius Heymeran von Flaming, der es deshalb zur Ehre eines Nachdrucks gebracht hat.

Der vierbändige Roman vom Ende des 18. Jahrhunderts umfasst 1.200 Seiten, auf denen leider nicht viel mehr steht, als bequem auch auf 300 gepasst hätte. Erzählt wird eine endlose Abfolge von Liebeshändeln, wobei Lafontaine auf dem Rücken dieses Stroms von Ge- und Missverständnissen eine milde Satire auf einige gelehrte Theorien seiner Zeit transportiert. Der Titelheld, der aus einem shandyianischen Adels-Haushalt stammt, dessen Hausherr besessen über seine Ahnenreihe dilettiert, eignet sich auf der Universität eine obskure Rassentheorie an, mit der er nun die Welt interpretiert und dabei natürlich aufs Vortrefflichste scheitert. Es wird unsäglich viel geweint – der Beweis der Echtheit der Gefühle in der bürgerlichen Literatur der Zeit – und geschwätzt, die Missverständnisse und ihre Auflösung sind sehr trivial und vorhersehbar. Auch der Humor, den man dem Buch durchaus nicht absprechen kann, reicht nur für den ersten Band aus; danach ist es wie auf der Rückreise von einer Kaffeefahrt: Man ist sicher, dass man jede mögliche Pointe schon mindestens zweimal gehört hat.

Es handelt sich bei diesem Buch um ganz gewöhnliche Unterhaltungsware des späten 18. Jahrhunderts, wie sie so seitdem in ungebrochener Tradition den Buchmarkt betritt und wieder verlässt. Der dünne satirische Anstrich hebt das Buch zwar ein wenig über die Masse hinaus, doch macht sich hier nur einer über ganz offensichtlichen Unfug der Anthropologen seiner Zeit lustig, ohne dabei wirklich das Niveau eines originellen und freien Denkens zu erreichen. Lafontaine steckt im Gegenteil ganz tief in der bürgerlichen Moral seiner Zeit fest und bedient letztlich die entsprechenden Vorurteile zuverlässig. Auch sind die meisten seiner Figuren gänzlich eindimensional und verfügen ausschließlich über Charakterzüge, die dem Verlauf der Handlung dienlich sind. Einzig die Mutter Flaming ist ihm ein wenig menschlich geraten; er wusste also schon, was er da treibt.

Mit Blick auf Arno Schmidt und seine banal-psychoanalytische Sprachtheorie – „Das’ss ja heutzutage bekannt genug, daß jeder Könner zu seinem Können grundsätzlich åuch noch ’ne gänzlich zwecklose Theorie hinzuerfindn muß.“ – ist es nicht unwitzig, dass er einen Roman in den Druck zurückgelobt hat, dessen Protagonist mit einer kruden, selbstgezimmerten Theorie durch die Welt läuft, mit der er überall nur Celten, Mongolen, Slaven und Neger wahrnimmt, aber nicht in der Lage ist, die Realität oder Individualität seiner Mitmenschen zu erfassen.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will – auch weil das Buch in die in Deutschland nur dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit gehört – kann getrost nach der Lektüre des zweiten der ursprünglichen vier Bände aufhören; ich selbst habe die letzten 450 Seiten nur mehr quer gelesen.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 2 Pappbände mit Leinenrücken, Silber-Kopfschnitt, Lesebändchen, 632 + 822 Seiten. 39,90 €.

Fjodor Dostojewskij: Ein grüner Junge

Er war keineswegs dumm, und er war berechnend, aber hitzig und darüber hinaus unerfahren oder, besser gesagt, naiv, das heißt, er kannte sich weder in Menschen noch in der Gesellschaft aus.

Dieser vorletzte große Roman Dostojewskijs erschien bis Ende 1875 nach vergleichsweise kurzer Planung und Niederschrift (seit Februar 1874). Es handelt sich um Dostojewskijs unverstelltesten Beitrag zur Modeform des Entwicklungsromans, wie sie in Europa im 18. und 19. Jahrhundert im Schwange war. Er erfindet zu diesem Zweck einen jungen, naiven und impulsiven Ich-Erzähler, der aus einer nicht-ehelichen, aber langjährigen Beziehung des verarmten Adeligen Andrej Petrowitsch Werssilow und einer Bedienten stammt. Rechtlich gesehen ist der Erzähler Arkadij Makarowitsch der Sohn des Ehemanns seiner Mutter, Makar Iwanowitsch Dolgorukij, dem sein leiblicher Vater die Ehefrau Sofja abgekauft hatte, nachdem er sich leidenschaftlich in sie verliebte. Werssilow hat außerdem noch zwei Kinder aus einer früheren Ehe und eine weitere uneheliche Tochter Lisaweta, deren Mutter ebenfalls Sofja ist.

Die Haupthandlung des Romans setzt ein, als Arkadij nach dem Ende seiner schulischen Ausbildung in einem kleinen Internat auf Einladung seines Vaters nach Petersburg kommt. Er lebt für eine Weile im Haushalt seiner Mutter, in dem auch seine Schwester wohnt. Tägliche Gäste der Familie sind Werssilow und Tatjana Pawlowna Prutkowa, eine Art Faktotum Werssilows und ihm seit Jahrzehnten treu verbunden. Arkadij ist im Internat aufgrund seiner Herkunft als Außenseiter aufgewachsen, schikaniert und verspottet sowohl durch den Leiter der Schule als auch durch seine Mitschüler. Aus dieser Lage heraus hat er den Lebensplan entwickelt, durch den Erwerb eines großen Vermögens – sein Vorbild ist der Bankier Rothschild – Macht und soziale Unabhängigkeit zu erlangen. Außer diesem Ziel sucht er noch nach engem Kontakt zu seinem leiblichen Vater, von dessen Charakter er in Kindheit und Jugend eine stark idealisierte Vorstellung entwickelt hat.

Der verarmte Werssilow befindet sich zu Anfang der Handlung in einem Erbschafts-Prozess gegen das Fürstenhaus Sokolskij, der sehr bald zu seinen Gunsten entschieden wird und ihn von seinen permanenten Geldnöten befreit. Doch Arkadij besitzt aufgrund seiner früheren Moskauer Kontakte zwei „Dokumente“, die beide die Familie des Fürsten Sokolskij betreffen. Das erste ist eine Willenserklärung des Erblassers zu Ungunsten von Werssilows Anspruch; dies Dokument ist zwar juristisch nicht relevant, macht Werssilows Anspruch auf die Erbschaft aber moralisch anfechtbar. Arkadij überreicht Werssilow das Dokument, nachdem der Prozess entschieden ist, was dazu führt, dass Werssilow sofort auf die komplette, gerade erst gewonnene Erbschaft verzichtet. Dieses erste Dokument ist nur vorhanden, um Arkadij in seinem Wahn zu bestärken, dass es sich bei seinem Vater um ein gänzlich selbstloses Wesen von höchster moralischer Integrität handelt.

Um das zweite Dokument herum konstruiert Dostojewskij den eigentlichen Handlungsknoten des Romans, der allerdings erst im letzten Drittel die Handlung weitgehend bestimmen wird. Es handelt sich dabei um einen Brief der einzigen Tochter des Patriarchen Fürst Nikolaj Iwanowitsch Sokolskij, der verwitweten Generalin Katerina Nikolajewna Achmakowa, die in einer zurückliegenden Familienkrise bei einem Anwalt nachgefragt hatte, unter welchen Voraussetzungen es möglich sei, ihren Vater zu entmündigen, um so zu verhindern, dass er das Familienvermögen verschleudere. (Die unwahrscheinliche Vorgeschichte, warum Arkadij im Besitz dieses Briefes ist, kann man getrost vernachlässigen.) Katerina ist nun besorgt, dass ihr Vater sie enterben werde, wenn man ihm den Brief zuspielen würde. Dieses für den Romanschluss entscheidende Dokument hätte Arkadij vernünftigerweise auf Seite 250 verbrennen sollen und Autor und Leser so die ein wenig mühsamen letzten zwei Drittel des Romans ersparen können. Aber so geht es zu im Literaturbetrieb.

Wie bereits in „Böse Geister“ füllt Dostojewskij lange Passagen des Buches mit gesellschaftlichen Intrigen, vertraulichen Gesprächen, die zu überraschend unvertraulichen Handlungen führen, belauschten Aussprachen, ausschweifenden Reflexionen seines naiven und und auch sonst nicht übermäßig hellen Erzählers, Eifersuchtsanfällen, beleidigenden Briefen, ungewollten Schwangerschaften (zugegeben: es ist nur eine), unehelichen Kindern und so weiter und so fort, um dann im letzten Viertel des Romans auf eine vorgebliche Katastrophe zuzusteuern, die aber wenigstens diesmal knapp an der Erzeugung einer Leiche vorbeikommt.

Um die Katastrophe erzählerisch überhaupt als eine solche ausgeben zu können, ist es wesentlich, dass Dostojewskij sich eine literarisch inkompetente Erzählerfigur konstruiert, wie gleich zu Anfang des Romans wiederholt betont wird. Er benötigt zum einen einen Ich-Erzähler, den er ganze Tage von Hinz zu Kunz und zurück laufen lassen kann, wobei alles Entscheidende immer an Orten passiert, an denen sich der Erzähler gerade nicht befindet und von dem er dann um- und missverständlich unterrichtet werden muss. Zum anderen kann er die wirre, zugleich retardierende und dann immer wieder vorausgreifende Erzählweise, die das Ende des Romans bestimmt und die das einzige Mittel ist, mit dem er dem faden Plot zu einiger Spannung verhelfen kann, der Ungeschicklichkeit und Unerfahrenheit seines Erzählers in die Schuhe schieben.

Die Abläufe im Einzelnen nachzuerzählen, lohnt nicht. Der Leser kann aber beruhigt sein, dass sich am Ende alles zum Besten findet, Arkadij zur Vernunft kommt, wahrscheinlich ein Studium aufnehmen und zu einem nützlichen Idioten werden wird und alle anderen von ihren falschen Leidenschaften und unpassenden Heiratsplänen erlöst werden. Nur Russland kann nicht erlöst werden, weil es am rechten Glauben fehlt. Ganz am Ende hängt Dostojewskij einmal mehr ein Kapitel an, indem er erklären möchte, worauf es denn im Buch eigentlich ankommt, falls irgendwer das bei all dem Hin und Her übersehen haben sollte. Man hat es eben nicht leicht, wenn man Schmonzetten mit hochgeistigem Gehalt schreibt.

Sicherlich zu Recht der am wenigsten gelesene der fünf großen Romane.

Fjodor Dostojewskij: Ein grüner Junge. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 2006. Leinenband, Fadenheftung, 832 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 15,– €.

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder (4. Band)

Auf ein zweites Zeichen des Oberhofmarschalls Turneps ging nun ein tausendstimmiger Jubel los, die Bollenartillerie feuerte ihr Geschütz ab und die Musiker der Karottengarde spielten das bekannte Festlied: Salat-Salat und grüne Petersilie!

Der vierte und abschließende Band der Serapionsbrüder erschien im Mai 1821, also ein gutes Jahr vor Hoffmanns Tod.* Die nun wieder komplett versammelten literarischen Freunde sitzen im Spätherbst beisammen; den Auftakt zum siebten Abschnitt macht ein Gespräch über die Konversationskunst, also darüber, wie man ein gepflegtes Gespräch unterhält. Es folgt als erste Erzählung die umfangreiche Novelle

  • Signor Formica (Ot)**, die mit einer Entschuldigung für ihre Weitschweifigkeit eingeleitet wird, wobei sich Hoffmann als Vorbild auf Boccaccio beruft. Die Erzählung beginnt als Künstlernovelle, in der der schon bekannte Maler Salvator Rosa bei seiner Ankunft in Rom erkrankt und nach einigen Umständen den Wundarzt Antonio Scacciati kennenlernt, der heimlich ebenfalls als Maler arbeitet und eine entsprechende künstlerische Ausbildung bei bedeutenden Meistern durchlaufen hat. Rosa gelingt es durch einen Trick, ein Werk Scacciatis an der römischen Akademie durchzusetzen. Dieses Bild bildet nun den Übergang zu einer Liebesnovelle: In die im Bild als Maria Magdalena portraitierte junge Marianna ist Scacciati selbstredend verliebt, und Rosa verspricht ihm, dass er ihm helfen werde, um diese Geliebte zu werben. Der Rest des Novelle schildert nun die umständlichen Versuche, Marianna aus den Klauen ihres Onkels, der sie ebenfalls heiraten will, zu befreien und am Ende zu entführen.
  • Nach dieser weitgehend klassischen Liebesnovelle und einer sich daran anschließenden Kritik der aktuellen Komödien folgen zwei für die bisherigen Bände der Serapionsbrüder eher ungewöhnliche Stücke: zum einen ein Gespräch über den sehr kontrovers rezipierten zeitgenössischen Dichter [Zacharias Werner] und zum anderen das kurze Fragment Erscheinungen (Cy), das einmal mehr Hoffmanns Erfahrungen bei der Belagerung Dresdens im Jahre 1813 thematisiert. Die Diskussion um Zacharias Werner, mit dem Hoffmann nicht nur eine persönliche Bekanntschaft, sondern auch so manches biographische Detail verband, dürfte für heutige Leser nur noch historischen Wert haben. Die Erscheinungen wiederum liefert Hoffmann gleich in zwei Lesarten: einer phantastischen Erzählung und einer Auflistung jener tatsächlichen Begebenheiten, die in ihr geschildert werden. Man darf getrost davon ausgehen, dass das Fragment für Hoffmann einerseits persönlich sehr wichtig war, ihm aber andererseits klar war, dass kaum jemand mit diesem kurzen Text würde etwas anfangen können. Zu der lange geplanten und immer wieder aufgeschobenen Verarbeitung des gesamten Dresden- Komplexes ist Hoffmann dann nicht mehr gekommen.

Der siebte Abschnitt endet mit der Schilderung einer improvisierten italienischen Nonsens-Oper, die die Freunde „gewaltsam aufgeregt zu toller Lust“ in die Nacht entlässt.

Der achte Abschnitt beginnt nach einer denkbar kurzen Einleitung mit der Erzählung

  • Der Zusammenhang der Dinge (Sy) – in der Rahmenhandlung eine Satire auf das Leben des Adels, das sich in nichtssagenden Ritualen und leeren Gesten erschöpft. Erzählt wird von zwei jungen Baronen, die miteinander aufgewachsen sind. Der eine von ihnen, Ludwig, hat einen etwas exaltierten Charakter und ist ständig in das nächstbeste Frauenzimmer verliebt, wirbt aber zugleich um die Hand der Grafentochter Viktorine. Der andere, Euchar, ist ein stiller, in sich gekehrter junger Mann, der Ludwig zwar die Treue hält, sich im Übrigen aber von der Albernheit der ihn umgebenden Gesellschaft weitgehend fern hält. In einer Binnenerzählung, die Euchar bei einer ästhetischen Teegesellschaft zum Besten gibt und die von den Abenteuern seines vorgeblichen Freundes Edgar im Spanischen Befreiungskrieg berichtet, werden Elend und Not der Wirklichkeit in die isolierte Adelswelt hereingeholt.
  • Nach einem kurzen Gespräch der Serapionsbrüder über historische Romane und dem Lob Walter Scotts, kommen die Freunde auf das Phänomen des [Vampyrismus] zu sprechen. Dazu passend erzählt Cyprian eine kurze, reine Schauergeschichte, in der eine junge Frau nach dem Tod ihrer unheimlichen Mutter selbst dem Schrecklichen verfällt.
  • Es folgt die sehr kurze Parodie [Die ästhetische Teegesellschaft] (Ot), die sich sowohl über die belanglose Mode der zeitgenössischen Laien-Dichtung als auch über die ihr entgegengebrachte Begeisterung eines sich literarisch gebildet dünkenden Publikums lustig macht.
  • Das Prunk- und Abschlussstück des Bandes aber ist Die Königsbraut (Vi), ein zuvor bereits mehrfach angekündigtes Märchen, in dem Hoffmann einmal mehr sein phantastisches und humoristisches Talent spielen lässt. Erzählt wird das Abenteuer des jungen Fräuleins Ännchen von Zabelthau, die mit ihrem etwas vergeistigten Vater in ärmlichen Verhältnissen auf dem väterlichen Gutshof lebt. Verlobt ist sie dem Studenten Amandus von Nebelstern, und es ist auch schon alles geregelt zwischen den jungen Leuten, als Ännchen eines Tages in ihrem Gemüsegarten einen Ring findet, durch den eine Karotte gerade hindurchgewachsen ist. Unbedacht streift sie den Ring über und findet sich unversehens mit dem Gemüsekönig Daucus Carota I. verlobt. Ob und wie sie aus dieser Not aufs Umständlichste gerettet werden kann, soll bitte jede und jeder selbst nachlesen.

Der vierte Band der Serapionsbrüder bringt noch einmal eine breite Palette der Hoffmannschen Erzählkunst von der historischen Künstlernovelle über Satire und Schauergeschichte bis hin zum phantastischen, humoristischen Märchen. Zugleich zeigt sich aber auch einmal mehr, dass Hoffmann nicht nur als Unterhaltungsautor seiner Zeit wahrgenommen werden sollte.

Alles in allem dürften besonders die Märchen, die in den Bänden 1, 2 und 4 jeweils den Abschluss bilden, den Hauptteil des Erfolges tragen, den die Sammlung bis heute hat. Aber natürlich wirken auch weiterhin Stücke wie Die Bergwerke zu Falun oder Das Fräulein von Scuderi nach, ganz abgesehen von Hoffmanns nicht zu unterschätzendem stilistischen Einfluss auf die phantastische Literatur des 19. und 20. Jahrhundert.

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Sämtliche Werke 4. Hg. v. Wulf Segebrecht. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 2001. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1679 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.


* – Grundsätzliches zu Die Serapionsbrüder findet man in der Besprechung des ersten Bandes.

** – Titel in eckigen Klammern tauchen nicht im Original auf; die Kürzel in Klammern hinter den Titeln zeigen an, welcher der Serapionsbrüder die Erzählung vorträgt.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 5

Der Dummkopf war zur Norm geworden; es fehlte nicht mehr viel, dann wurde er zum Ideal, und die Doktoren der Philosophie tanzten begeistert Ringelreihen um ihn.

Auch dies die Fortsetzung eines Leseprojektes, das im Jahr 2012 begonnen wurde. Als Heyne dann im Jahr darauf den 5. Band der Gesammelten Werke herausbrachte, waren die Strugatzkis schon wieder aus meinem Blick geraten. Doch nun bin ich zufällig auf die beiden anscheinend letzten Bände dieser Werkauswahl gestoßen. Das Marketing zum fünften Band behauptet, dass er sieben Romane zu enthalte, was bei einem Umfang von knapp unter 800 Druckseiten etwas schwierig sein dürfte; drei der abgedruckten Romane umfassen denn auch deutlich unter fünfzig Seiten und nur drei dürften nach den heutigen Konventionen des Marketings mit mehr als 150 Seiten als Romane bezeichnet werden. Tatsächlich enthält der Band keinen einzigen Roman, sondern eine Sammlung von Erzählungen, die alle im Zeitraum zwischen 1958 und 1965 entstanden sind. Sie hängen sehr locker über wiederkehrende Figuren und Motive zusammen und machen deutlich, dass die Brüder Strugatzki mit zahlreichen Texten versucht haben, ein geschlossenes Universum des 22. Jahrhunderts zu entwerfen. In diesem Universum ist es den Menschen gelungen, in den interstellaren Raum vorzudringen und andere Planeten zu erforschen und besiedeln. Einige der kürzeren Erzählungen dienen dabei dem Zweck, die Überwindung konkreter physikalischer bzw. technischer Hindernisse für solche Kolonisations- und Forschungsreisen zu erfinden. Dabei bewegen sich die Brüder interessanterweise immer nah an spekulativen naturwissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit. Überhaupt muss drauf hingewiesen werden, dass der im Anhang zu findende Kommentar aus der Feder von Boris Strugatzki in einigen Fällen interessanter ist als die entsprechenden Erzählungen.

  • Der Weg zur Amalthea (1960) – eine schlichte Aben­teu­er­er­zäh­lung, die vorgibt, ein realistisches Bild von der interplanetaren Zukunft der Menschheit zu zeichnen. Es werden zwei Erzählstränge parallel erzählt: Zum einen von einer Forschungsstation auf dem Jupitermond Amalthea, auf der der kleinen Besatzung von Wissenschaftlern eine Hungersnot droht. Zum anderen die Geschichte von der Havarie und Rettung des „Photonenfrachters“ Tachmasib, der auf dem Weg ist, die Station auf der Amalthea zu versorgen. Das Raumschiff gerät überraschend in einen Meteoritenschauer, der den Antrieb schwer beschädigt, und sinkt langsam in die Atmosphäre des Jupiter hinab. Aufgrund des heldenhaften Einsatzes des Kommandanten Bykow, der bereits in Atomvulkan Golkonda (1959) eine prominente Rolle gespielt hatte, kann sich das Raumschiff aus dieser Lage befreien und glücklich auf der Almathea landen.
  • Die gierigen Dinge des Jahrhunderts (1965) – erzählt vom Agenten Iwan Shilin, der einen Kurort auf der Erde (wohl in Europa) mit einem für den Leser lange Zeit undurchsichtigen Auftrag besucht. Es stellt sich heraus, dass er auf der Spur eines Drogenkartells ist, von deren neuartiger Droge ein bedeutender Teil der Bevölkerung abhängig ist. Die Ich-Erzählung soll Shilins mangelnde Vertrautheit mit der Kultur, in die er sich hineinfinden muss, vermitteln und enthält so den Lesern zentrale Informationen vor, aber leider eben auch diejenigen, die Shilins Auftrag betreffen. Das ist eine Weile ganz lustig, zieht sich aber dann. Ein nicht wirklich gelungener Kriminal-Science-Fiction. Viel interessanter als der Text selbst ist der Kampf um seine Veröffentlichung, der im Anhang des Bandes dokumentiert ist.
  • Die Erprobung des SKYBEK (1959) – kurze Erzählung um die Erprobung eines Systems eigenständiger Erkundungsroboter, die mit einer künstlichen Intelligenz verbunden sind. Offensichtlich nur eine Handübung zu einem weitaus größeren Thema, hier mit einer Liebesschnulze aufgepeppt, um überhaupt etwas zu haben, was man veröffentlichen kann.
  • Das vergessene Experiment (1959) – Science-Fiction-Erzählung im eigentlichen Sinne des Wortes: Zwei Wissenschaftler dringen zusammen mit einem Fahrer in einem gepanzerten Fahrzeug in eine Zone vor, die von ungeklärten Explosionen erschüttert wird. Im Zentrum der Zone steht ein alter Laborkomplex, der nach einem radioaktiven Unfall aufgegeben werden musste. Im selben Komplex lief ein physikalisches Experiment mit einem sogenannten Zeitmotor, das sich als Quelle der Explosionen und anderer Veränderungen der Zone erweist. Anlass dieser Erzählung war eine tatsächlich existierende physikalische Theorie, die Zeit als einen energetischen Prozess zu interpretieren und entsprechend technologisch zu nutzen versuchte, die sich aber im Gang der Forschung nicht erhärten ließ.
  • Spezielle Voraussetzungen (≈ 1959) – kurze Erzählung um die Theorie, dass bei einem Raumflug unter konstant hoher Beschleunigung die Zeit im Raumschiff rascher vergeht, nicht langsamer, wie von der speziellen Relativitätstheorie vorausgesagt. Auch hier wird die etwas dünne Idee durch eine Liebesgeschichte aufpoliert. Der Kommentar hebt hervor, dass in diesem Text ein Abschnitt aus weiblicher Perspektive erzählt wird, was sonst in den Texten der Strugatzkis nicht vorkommt. Nun ja …
  • Mittag, 22. Jahrhundert (1962, erweitert 1967) – eine Sammlung locker miteinander verbundener Einzelerzählungen, die sich alle um die Erforschung anderer Welten und Zivilisationen – auch auf der Erde – drehen. Leider liefert der vorliegende Band nur eine Auswahl, ohne deutlich zu machen, welchen Umfang das Original hatte, das selbst wiederum unterschiedliche Stadien durchlaufen hat. Auch hier findet sich im Anhang ein breiter historischer Kommentar zur Entstehung des Buches, der mindestens so interessant ist wie die Erzählungen. Wohl mit der gelungenste Teil dieses Bandes.
  • Der ferne Regenbogen (1963) – ein Katastrophenroman, der auf dem Planeten Regenbogen spielt, der hauptsächlich von Physikern und einigen anderen Wissenschaftlern bewohnt wird. Die Physiker arbeiten dort am Problem des Null-Transportes (in Star-Trek: Beamen), der aber eine ungewollte, in den meisten Fällen harmlose Nebenwirkung zeitigt: die Welle. Trotz Warnungen aus der Gruppe der Null-Physiker kommt es zu einer katastrophalen Entwicklung, die dazu zwingt, den Planeten aufzugeben. Allerdings reicht der verfügbare Platz auf dem zufällig anwesenden Transportschiff nur für die Kinder des Planeten. Der erste Teil des Romans ist ein wenig beliebig, aber die zweite Hälfte und der Schluss müssen wohl zum Besten gerechnet werden, das die Strugatzkis geschrieben haben. Unbedingt lesenswert!

Der Band liefert eine gelungene Fortsetzung der Werkausgabe; auch hier findet sich eine lockere thematische Verbindung der Texte, die deutlich macht, wie das Mittags-Universum in seiner Entstehung langsam Form gewinnt und wie die Autoren bemüht sind, die offensichtlichen Schwierigkeiten ihrer Fiktion in den Griff zu bekommen. Manche der Erzählungen bleiben skizzenhaft, fügen sich aber in das Gesamtgefüge des Mittags-Universums gut ein. Wer am Genre interessiert ist, dem sei der Band insgesamt empfohlen; den anderen sei wenigstens Der ferne Regenbogen ans Herz gelegt.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 5. Aus dem Russischen von Traute und Günther Stein (Der Weg zur Amalthea), Heinz Kübart (Die gierigen Dinge des Jahrhunderts), David Drevs (Die Erprobung des SKYBEK), Aljonna Möckel (Das vergessene Experiment; Spezielle Voraussetzungen; Mittag, 22. Jahrhundert; Der ferne Regenbogen) und Erik Simon (Anhang). München: Heyne, Kindle-Edition, 2013. 865 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.