Wolfgang Will: Der Zug der 10 000

Wer die Welt als Spiel versteht, das nach den Regeln der Götter geführt wird, braucht keine Analyse des Geschehens mehr […].

Drei Jahre nach seinem Buch über Thukydides und den Peloponnesischen Krieg veröffentlichte Wolfgang Will den sich natürlich ergebenen Nachfolger: eine kritische Nacherzählung der „Anabasis“ des Xenophon aus der Sicht des heutigen Historikers. Ergänzt wird diese Nacherzählung um zwei Anhänge: einen über das Leben Xenophons nach dem Zug durch Kleinasien und einen Epilog, der ein sehr kompaktes komplettes Lebensbild Xenophons entwirft. Das Hintanstellen der Kurzbiographie ergibt sich logisch aus dem Bedürfnis, nichts aus dem Gang der Nacherzählung vorwegzunehmen.

Im Wesentlichen also erzählt das Buch vom Zug eines griechischen Söldnerheeres unter Kyros dem Jüngeren, einem persischen Prinzen, der mit diesem Heereszug durch Kleinasien im Jahr 401 v.u.Z. versucht, die Herrschaft seines älteren Bruders Artaxerxes II. zu stürzen und selbst persischer Großkönig zu werden. Die Expedition scheitert kurz vor Babylon in der Schlacht von Kunaxa, die die überlebenden griechischen Söldner weitgehend führerlos zurücklässt. Während Xenophon auf dem Hinmarsch (der eigentlichen Anabasis) das Heer als ziviler Beobachter begleitet, wächst ihm nach der Schlacht mehr und mehr eine Führungsrolle im Söldnerheer zu, das sich nun nach Norden wendet und gegen widrigste Umstände versucht, das Schwarze Meer zu erreichen. Xenophon hatte in der athenischen Reiterei eine militärische Ausbildung genossen, so dass ihm die Welt des Militärs alles andere als fremd war. Sein Führungstalent beweist sich an der fast unmöglich scheinenden Aufgabe, die griechischen Söldner in ihre Heimat zurückzuführen.

Sicherlich ist vieles im Buch repetitiv, aber dies ergibt sich notwendig aus dem Erzählten, das sich im Hauptteil über einen Zeitraum von 18 Monaten erstreckt, in denen die Söldner immer und immer wieder in ernste Gefahr geraten. Nichtsdestotrotz bewährt sich Will einmal mehr als historischer Erzähler, der den Gang der „Anabasis“ konzise darzustellen weiß. Auch für dieses Buch gilt aber, dass es auf Leser abzielt, die sich in der antiken Welt bereits ein wenig auskennen; den Neuling könnte es überfordern. Eine durchweg gelungene Fortsetzung der vorangegangenen Bücher.

Wolfgang Will: Der Zug der 10 000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres. München: C. H. Beck, 2022. Pappband, 314 Seiten. 28,– €.

Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach

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Angeregt durch die Lektüre des Buches von Frank Rexroth habe ich nach langer Zeit wieder einmal Dieter Kühns biographischen Entwurf zu Wolfram aus dem Regal gezogen. Ich bin während des Studiums auf Kühn aufmerksam gemacht worden, und mein stets waches, aber großteils doch vernachlässigtes Interesse an Kultur und Geschichte des Mittelalters rührt wesentlich aus der Lektüre dieses Buches her.

Kühns Buch hat zwei Teile: Im ersten liefert er auf etwa 330 Seiten – wie bereits gesagt – einen biographischen Entwurf des Lebens und Werks Wolframs, während der zweite, deutlich umfangreichere Teil eine Übersetzung von ungefähr 80 % des Wolframschen „Parzival“ enthält. (Die komplette Übersetzung liegt in der zweisprachigen Ausgabe beim Deutschen Klassiker Verlag leider nur noch als Taschenbuch vor.)

Wie immer, wenn es über die zu verbiographierende Person nur wenig Konkretes zu sagen gibt, liefert auch Kühns Entwurf ersatzweise ein Panorama der zeitgenössischen Kultur und – wenigstens in groben Zügen – Geschichte. Kühn macht dabei an allen Stellen klar, wo er gezwungen ist zu extrapolieren, wo nur Vermutungen möglich sind, was sich nur erraten lässt. Er erfindet zwei Figuren, um in ihnen das vermutliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensumfeld Wolframs zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens zu spiegeln. Natürlich nimmt auch die Besprechung der Werke Wolframs – nicht nur des „Parzival“, sondern auch des „Willehalm“ und des „Titurel“ – breiten Raum ein; alle Werke sind in ausführlichen Zitaten auch schon in diesem ersten Teil präsent. Was das Buch über all das hinweg auszeichnet, ist Kühns äußerst angenehmer Erzählstil, der die unterschiedlichsten Themen und Fiktionen elegant miteinander verbindet.

Kühns Buch über Wolfram ist der erste Teil seines Mittelalter-Quartetts, das mit „Neidhart und das Reuental“, „Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg“ und „Ich Wolkenstein“ vervollständigt wurde. Das hier besprochene und derzeit auch noch vorliegende Taschenbuch enthält eine Überarbeitung des ersten Teils von 1997; da ich das Buch erstmals in der 80-er Jahren gelesen habe, muss dies damals noch die ursprüngliche Fassung gewesen sein; ich kann mich aber an die erste Lektüre leider nicht mehr gut genug erinnern, um einen Vergleich der beiden Fassungen auch nur versuchen zu können.

Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach. Fischer Taschenbuch 13336. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 42006. Broschur, 939 Seiten. 29,– €. – Zur Information: Meine Ausgabe hat im Jahr 2006 12,95 € gekostet.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

S. 161

Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Friedhelm Rathjen: Joyce

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Es gibt einige Autoren, bei denen es sinnvoll ist, sich einer Art von Reiseführer zu bedienen, um ihr Werk zu erkunden; Joyce gehört sicherlich zu ihnen. Joyce hatte von Anfang an und je länger je mehr eine besondere Auffassung von der Funktion poetischer Sprache, ein Bewusstsein dafür, dass Sprache in gewisser Weise unsere Wahrnehmung der Welt mitbestimmt und die Verwendung eines bestimmtem Stils – sei er etwa romantisch, idealistisch oder realistisch – einen ebenso bestimmten Blick auf die Welt zu erzeugen vermag. Er selbst fand in sich eine Souveränität in der Verfügung über diese Stile und Stilebenen vor, ein Verfügen über die Sprache und Sprachen, und so schrieb er sein vermutlich wichtigstes Buch Ulysses von diesem Standpunkt der sprachlichen Vielfalt aus: Der Inhalt des Buches hatte sich der Sprache des bzw. den Sprachen der Erzähler anzupassen, nicht umgekehrt, und das große Kunststück war es, dennoch einen Roman daraus entstehen zu lassen.

Da die meisten Leser von diesem Verfahren wenig ahnen, wenn sie beginnen, den Ulysses zu lesen, scheitern die meisten; sehr oft im dritten Kapitel, in dem Stephen Dedalus am Strand spazieren geht und über die unumgehbare Visualität der Welt philosophiert – ihm ist am Tag zuvor seine Brille zerbrochen, aber das erführe der Leser erst viel, viel später im Buch, wenn er denn nicht hier und jetzt aufgeben würde –, und der unbedarfte Leser weder begreift, was er da liest (was auch gar nicht so wichtig ist; wichtig ist viel mehr, Stephen als einen studierten Philosophen vorzuführen, der auf konkrete Probleme mit sehr abstrakten Gedanken zu reagieren neigt) geschweige denn, warum er das lesen soll.

Nun ist Joyce keiner jener freundlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die ihre Leser an der Hand nehmen und durch den Roman führen, sie auf dies aufmerksam machen, ihnen jenes erklären, ihnen bei einem Dritten nahelegen, es sich gut zu merken, denn er werde es später noch einmal gebrauchen können. Bei Joyce stürzt der Roman auf uns ein wie eine neue Welt, vieles kommt gleichzeitig und das meiste fügt sich erst sehr viel später zu einem sinnvollen Gebilde. Und aus all diesen Gründen ist es nützlich, sich vor der Lektüre der Joyceschen Werke zuerst einmal eine kurze Einführung einzuführen.

Eine dieser Einführungen hat der Joyce-Kenner und -Übersetzer Friedhelm Rathjen nun erneut im eigenen Verlag aufgelegt. Das Buch ist eine Überarbeitung der im Jahr 2004 bei Rowohlt erscheinen Bild-Monographie mit dem Vorteil, dass die Neuausgabe die Lebensbeschreibung und die Einführung ins Werk entzerrt und sie auf diese Weise leichter einer gezielten Lektüre dienen kann. Nach einer für den Einstieg vollständig ausreichenden Biographie, die zugleich auch die Entwicklung der Joyceschen Ästhetik nachzeichnet, folgen Kapitel zu einzelnen Werken, wobei auch eher unbekannten wie dem frühen Gedichtband Kammermusik oder auch dem Text Giacomo Joyce eigene Abschnitte gewidmet sind. Dabei ist allen Werkbesprechungen zu eigen, dass sie nur behutsame Hinweise geben, ohne einer selbstständigen Lektüre im Weg zu stehen.

Allen, die einen ersten Überblick über Joyce gewinnen wollen, bevor sie sich in das Abenteuer der Lektüre dieses Weltautors stürzen, sei der Band anempfohlen.

Friedhelm Rathjen: Joyce. Einführung in Leben und Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2023. Bedruckte Broschur, 152 Seiten. 17,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon

Der Bestand des napoleonischen Empire zeigt die Stabilität eines Kartenhauses. Deren Ursache hat dessen Schöpfer bis zuletzt nicht verstanden.

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Johannes Willms ist in Juli 2022 im Alter von 74 Jahren verstorben. Ich habe über viele Jahre hinweg beinahe alle seine Bücher mitverfolgt und hier vorgestellt; allein bei seiner de-Gaulle-Biographie (Beck, 2019) habe ich nach einem Viertel des Buches gestreikt, nicht weil das Buch schlecht wäre, sondern weil ich einfach das Interesse für diesen machtversessenen Heini nicht weiter aufbringen konnte.

Im Jahr 2019 ist Willms wohl letztes Buch über Napoleon erschienen, der spätestens seit der großen Biographie von 2005 ein immer wiederkehrender Fixpunkt in Willms Beschäftigung mit der Geschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert war. Zumindest dem Untertitel Verheißung * Verbannung * Verklärung nach, handelt es sich bei diesem Buch um so etwas wie eine erweiterte Neufassung seines Buches Napoleon. Verbannung und Verklärung (Droemer, 2000), doch weist nichts in dem neuen Buch auf einen solchen Rückbezug hin. Da ich das frühere Buch nicht kenne, muss ich es (vorerst?) bei diesem Hinweis belassen.

Erzählt werden, wie der Untertitel es andeutet, drei Phasen der Entstehung des Napoleon-Mythos: der Beginn seines militärischen Ruhms als junger General in Italien, die letzten Jahre als französischer Kaiser und die Jahre der Verbannung und schließlich sein Nachleben im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als sein Ruhm und seine Leiche als politisches Kapital fungieren. Das Buch schließt mit einem sehr schmalen Exkurs zu den französischen Napoleon-Biographien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts; leider fehlt ein Ausblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz und eine Erörterung der Frage, warum der Mythos Napoleon bis heute immer noch wirksam ist, obwohl die mediokren Seiten dieser Figur inzwischen gut dokumentiert sind.

Willms ist natürlich ein exzellenter Kenner des Materials, und er versteht es, Napoleons Selbst- und Fremdinszenierungen stringent und einleuchtend nachzuerzählen. Dabei fehlt es nicht an kritischer Distanz, auch wenn zumindest ich mir gewünscht hätte, dass die napoleonische Selbstüberhöhung hier und da ein wenig schärfer beurteilt werden würde.

Ein sehr gut lesbares Buch, das trotz seiner Konzentration auf bestimmte Phasen eine gute Alternative zu den umfangreicheren Napoleon-Biographien liefert. Im März 2023 soll dann als Willms letztes Buch seine Biographie über Louis XIV erscheinen.

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon. Verheißung * Verbannung * Verklärung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022. Pappband, 382 Seiten. 26,– €.

Jeremy Adler: Goethe

Die Engländer waren indessen nicht alle einer Meinung.

Das ging rasch! Nachdem ich im Vorwort der neuen Goethe-Biographie bei Beck schon einigen Unfug hatte lesen dürfen, fand ich auf S. 17 folgendes:

„… zu seinem Faust, der in einer spektakulären Bahn «vom Himmel durch die Erde zur Hölle» führt (FA, 7/1, S. 21, V. 242) …“

Trotz der exakten Stellenangabe ist es weder dem Autor – der angeblich Deutsch kann – noch dem Übersetzer noch dem Lektorat gelungen nachzuschlagen – wenn man es als vorgeblicher Goethe-Kenner nicht ohnehin weiß! –, was dort tatsächlich steht. Allein das gestörte Versmaß und die inhaltliche Sinnlosigkeit des „durch die Erde“ hätten alle warnen müssen.

Lese ich also lieber wieder etwas, dem nicht die allgemeine Schlampigkeit des 21. Jahrhunderts anhaftet.

Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne. Eine Biographie. München: Beck, 2022. Pappband, Lesebändchen, 655 Seiten. 34,– €.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt

„er habe […] aber nicht alles verstanden“1

ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers seine Biografie nicht nur erscheinen darf, sondern muß !

BA III/4, S. 80
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Solch einen Satz lassen sich Autor und Verlag natürlich nicht entgehen, wenn sie noch vor der geforderten Zeitspanne die erste umfangreiche Lebensbeschreibung gerade dieses Schriftstellers vorlegen können. Dass es dagegen nicht gelungen ist, diesen Satz fehlerfrei aus dem Original auf den Buchumschlag zu bringen,2 ist leider nicht nur eine Kleinigkeit, sondern ein Symptom.

Es dürfte unter jenen, die sich intensiver mit Arno Schmidt und seinem Werk beschäftigen, gleichgültig ob nur als Leserinnen3 oder auch als Forscherinnen, Einigkeit darüber bestanden haben, dass eine umfangreiche und detaillierte Biografie ein dringendes Erfordernis war. Jahrelang hatte man auf die Ankündigung Bernd Rauschenbachs hin auf ein sozusagen offizielles Lebensbild von Seiten der Stiftung gewartet; nachdem Rauschenbach sein Projekt schließlich auch öffentlich aufgegeben hatte, wurde hier und da die dadurch verlorene Zeit bedauert, aber nun liegt endlich ein Buch vor, das auf knapp 880 Seiten den Versuch unternimmt, Leben und Werk Arno Schmidts in einem einzigen großen Durchgang darzustellen.

Eine solche erste große Biografie wendet sich in der Hauptsache an gleich zwei Gruppen von Rezipientinnen, was seine Konzeption nicht eben einfacher macht. Da sind zum einen interessierte Leserinnen, die ihr Wissen um den Autor erweitern und Verständnis der Texte vertiefen möchten; zum anderen handelt es sich um aktuelle und zukünftige Forscherinnen, denen eine solche Biografie zur Grundlage der Forschung wird als eine Zusammenführung früherer Arbeiten und Erkenntnisse, die nun nicht mehr an zum Teil entlegenen Orten gesucht, sondern an einem zentralen Locus gefunden werden können.

Um dem Anspruch der ersten Gruppe zu genügen, ist es wichtig, aus den zum Teil disparaten Elementen der Lebensgeschichte eine wenigstens einigermaßen kohärente Erzählung zu entwickeln. Beim Verbiografieren von Schriftstellerinnen ergibt sich oft als Vorteil, dass diese in ihren Schriften schon eine Selbstdeutung vorgeben und ihr eigenes Leben und Denken mit mehr oder weniger Notwendigkeit ins Werk eingegangen ist und sie so ihren Leserinnen bereits ein Lebensbild mitgegeben haben, auf das die Biografie dann aufbauen kann. Nun ist es eine wichtige Maxime beim Verfassen von Biografien, zu diesen Selbstdeutungen der Autorinnen bewusst einen kritischen Abstand einzunehmen, um aus der Distanz heraus die Selbstdeutungen nicht nur hinterfragen, sondern auch in ein umfassenderes Bild der Zeit und der Zeitgenossen einordnen zu können. Darüber hinaus hat die Verfasserin einer Lebensbeschreibung mit den allgemeinen Zweifeln am Gelingen eines solches Vorhabens aufgrund der systematischen Beschränkungen des Genres zu kämpfen, steht sie doch unter dem Verdacht, sowohl aus psychischen als auch aus erzählerischen Gründen ihren Gegenstand notorisch zu verfälschen und zu beschönigen. Man ahnt die Schwierigkeit.

Doch solche eher allgemeinen Bedenken haben keinen wirklich tiefgreifenden Einfluss auf das Genre der Biografie genommen. Eher im Gegenteil werden ungebrochen Lebensbeschreibungen verfasst, die ein Bewusstsein der genrebedingten Schwierigkeiten zwar vor sich hertragen, sich aber im Vollzug von derartigen Zweifeln beim Vordringen in das Feld der Untersuchung nicht hemmen lassen. So auch wir.

Betrachten wir das Buch zuerst aus der Perspektive der Laienlektüre (der Ausdruck möge mir verziehen werden): Schmidt selbst hat seinen Leserinnen ein sowohl breites als auch vielfältiges Selbstbild in seinen Schriften hinterlassen, das einen nicht unwesentlichen Anteil der Faszination seiner Schriften ausmacht: Der autodidaktische, bibliophile Universalbelehrende, der sicheren Urteils die Bücherwelt durchpflügt, Gutes von Minderwertigem zu scheiden weiß, ein hohes aufklärerisches Pathos verkörpert, sowohl für den Fortschritt in der Literatur als auch für die Wertschätzung der Tradition steht, der letzte Vertreter der Französischen Revolution im Geiste Marats und der Erste an der Spitze der literarischen Avantgarde, der als „Topograph der horizontalen Höllenstürze […] nebenher stürzt, und aus seinen Adern mitstenographiert“ [BA Bfe. II, S. 8] und zugleich „ein Bild der Zeit“ [BA II/2, S. 63] hinterlässt, in dem sich die Zeit mit Scham wiedererkennen muss. All das erwächst aus einer unglücklichen Kindheit, aus dem erzwungenen Schweigen des Schriftstellers unter den Nationalsozialisten, im Widerstand gegen den Geschmack des breiten Publikums der Nachkriegszeit, die boshafte Verfolgung durch politisch Andersdenkende und die beständigen Störungen der Arbeit durch die, die glauben, es gut mit dem Autor zu meinen. Ein Einzelkämpfer gegen eine Welt von Plagen, wie er im Buche steht.

Selbst wenn hiervon der offensichtlichste pathetische Unfug abgezogen wird, bleibt immer noch das Bild einer erstaunlichen Persönlichkeit, die den Beruf des Schriftstellers auf sich genommen hat, weil er die beste Möglichkeit zu bieten schien, sich von der Gesellschaft der Mitmenschen weitgehend zurückzuziehen und in einer symbiotischen Partnerschaft mit einer Frau soweit es geht nur den Gesetzen gehorchen zu müssen, die sie selbst anerkannte oder sogar setzen konnte. Schmidt war ein Misanthrop, und er hat sich insoweit mit dieser Haltung durchgesetzt, als es ihm durch seine Berufswahl gelungen ist, Bedingungen zu schaffen, die eine weitgehende Isolation erlaubten. Dafür haben seine Frau und er für lange Jahre ein ärmliches und erbärmliches Leben auf sich genommen, im Dienst der Kunst, wie er behauptete, wohl eher aber, weil ihm ein Leben unter den „groben Leute[n]“ [BA I/1, S. 434] nicht möglich gewesen wäre.

Wie man hier leicht sieht, kann bei der Lebensbeschreibung Schmidts grundsätzlich eine von zwei Richtungen eingeschlagen werden: Es kann der Heldenerzählung gefolgt werden, die Schmidt als Selbstinszenierung in seinem Werk hinterlegt hat, oder es kann der Versuch unternommen werden, sich tatsächlich einmal den „defekten Rest“ [BA I/1, S. 395] anzuschauen, der übrig bleiben soll, falls der Künstler die Wahl trifft, „als Werk“ [BA I/1, S. 395] zu existieren.

Hanuschek ist im Wesentlichen der ersten Linie gefolgt und hat damit eine Biografie vorgelegt, die dem Bedürfnis der meisten Leserinnen Arno Schmidts entgegenkommen dürfte. Das bedeutet nicht, dass er blind wäre für den „defekten Rest“, nur ist er nirgends bereit, sich auch nur für einen Augenblick der Frage zu stellen, ob das Opfer, das Schmidt nicht nur sich, sondern auch seiner Frau abverlangt hat, tatsächlich eine notwendige Bedingung war für das Werk, das für all das über die Jahre und mit den Jahren immer mehr als Rechtfertigung herhalten muss. Die Heldenerzählung überstrahlt alles.

Dabei ist es Hanuschek als Verdienst anzurechnen, dass seine Darstellung die zentrale Rolle von Alice Schmidt bei der Herstellung dieser Lebensbedingungen herausarbeitet: Immer wieder ist es Alice, die die schwere soziale Behinderung ihres Mannes – seine Wut und Überheblichkeit, seinen Größenwahn – im Zaum und im Haus halten kann, die die zerstörerischen Tendenzen ihres Mannes abfängt, ihm zwar zugleich zustimmt, dass man ihn ungerecht und schlecht behandelt, aber dennoch einen Weg findet, mit Verlagen und Verlegern einen professionellen Umgang zu pflegen und so Schmidt zu ermöglichen, wenigstens zu Zeiten das Schneckenhausleben zu führen, das seinen Neurosen entspricht. Und bei aller Bewunderung für den Autor ist es für ihn nur zu verständlich, dass Alice in späteren Jahren gern so eine Art von Dichtergattin geworden wäre, ein wenig vom sich nun doch einstellenden Erfolg und Ruhm genossen hätte, anstatt auf einem Dorf in der Heide zu sitzen und langsam aber sicher von ihrem monomanischen Gatten als Letzte auch noch aus seinem Leben herausgedrängt zu werden. Den Absprung hat sie verpasst; aber das muss ihre Biografie thematisieren, nicht seine.

Am Ende ist es natürlich eine Frage des Geschmacks, aber ich hätte mir für eine erste Biografie Arno Schmidts ein wenig von dem kritischen Abstand gewünscht, den Hanuschek auf den wenigen Seiten (714–717) aufbringt, in denen er ein kurzes Porträt Hans Wollschlägers liefert. Anlass hätte es genug gegeben, so etwa xeno- und homophobische Äußerungen Schmidts, die zwar dokumentiert, nicht aber kommentiert werden. Es hätte dem Buch und auch den Leserinnen Schmidts gutgetan.

Kommen wir zum Forschungsaspekt des Buchs: Eine Arno-Schmidt-Forscherin stellt, wie schon gesagt, andere Ansprüche an eine Biografie. Für sie müssen neue Fakten und Interpretationen geliefert werden, es müssen offene und kontrovers diskutierte Fragen der Forschung entschieden oder wenigstens einer Klärung nähergebracht werden, es muss Relevantes von Obsoletem und Abstrusem geschieden werden.

Auch hier ist zuerst festzustellen, dass Hanuschek durchaus Neues bringt: Besonders was die Familiengeschichte Schmidts angeht, ist seine Darstellung detailreich und geht – soweit ich sehe – über die bisherige Forschung hinaus. Auch folgt er zwar weitgehend der Selberlebensbeschreibung Schmidts, formuliert aber immer wieder berechtigte Zweifel an den Selbstdeutungen des Autors. Wir bekommen etwa kein wirklich geschlossenes Bild von Schmidts Vater geliefert, aber wir bleiben auch nicht bei der extrem negativen Beurteilung durch den Sohn stehen. Hier liefert Hanuschek einen deutlichen Fortschritt.

Was die Einschätzung des Werks und seine Interpretation angeht, schwächelt das Buch auf weiten Strecken. Hanuschek scheint, bei aller Bewusstheit für die romantischen Wurzeln Schmidts, grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich bei Schmidt um einen realistischen Autor gehandelt habe. Hanuschek begreift darunter das Ziel, die sogenannte Wirklichkeit im Text abzubilden, hat aber an zahlreichen Stellen Schwierigkeiten mit diesem Textzugriff – er greift dann zum Terminus „Wirklichkeitskonstitution“ (S. 152, 402 u. ö.). So wird ihm etwa der Gärtner Auen in Brand’s Haide zu einem Problem:

Natürlich kann man sagen, alle diese ›phantastischen Stellen‹ seien so codiert, dass sie eine naturwissenschaftliche Lesart hergeben: Der gute ›Schmidt‹ [die Erzählerfigur von Brand’s Haide] spinnt, er hat zuviel Fouqué gelesen und sieht überall Elementargeister, die es nicht gibt, wie wir wissen. – Das wäre mir eine zu platte Auflösung; für mich stecken hier zwei Möglichkeiten. Zum einen: Brand’s Haide erzählt eine Schriftstellerwerdung, eine Initiationsgeschichte, die gerade durch die Mythologie- und Elementargeister-Schicht wieder geöffnet wird.

S.350

Das „zum anderen“ wird uns nicht geliefert! Die hier ausinterpretierte Spannung kennt der Text aber gar nicht. Zum einen (!) ist die Geisterexistenz dieser Figur mit voller Absicht im Text so versteckt, dass nur eine sehr exakte Lektüre sie überhaupt als wirklichkeitskonstituierendes Element an den Tag bringt, zum anderen (!) behauptet Schmidt zwar in seiner Poetologie, ein Realist zu sein, die Praxis seiner Texte weiß aber überhaupt nichts von einem solchen Dogma. Wenn sich etwas an Schmidts Texten begreifen lässt, dann dies, dass sie weitgehend autonom konstituiert sind und sich an keinerlei vorgegebene Konzepte, seien sie realistisch oder romantisch, halten. Schmidt ist nur insoweit ein Realist, als ihm Realien wichtig sind (warum das so ist, hätte Hanuschek diskutieren müssen, er nimmt es aber als selbstverständlich hin), aber er ist in keiner Weise durch sie verpflichtet oder beschränkt. Schmidt ist weder ein Epigone der Romantik (wovon das Frühwerk noch geprägt ist) noch ein Autor des Realismus. Künstlerisch souverän ist sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk mit Sicherheit gerade darin, den scheinbaren Gegensatz von „Wirklichkeitskonstitution“ und Phantastik mit leichter Hand einzuebnen.

Neben diesem grundsätzlichen Missverständnis weist das Buch als Forschungsbeitrag zahlreiche Mängel auf, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Pars pro toto sei die Entstehungszeit von Pharos genannt:

  • Eine erste Datierung wird auf Seite 136 vorgenommen: „(ca. 1945)“.
  • S. 174 wird es nach dem Achamoth-Fragment terminiert, das von Schmidt selbst in die Zeit nach Weihnachten 1944 gesetzt wurde.
  • Die hauptsächliche Behandlung des Pharos findet dann zu Anfang des Abschnitts über den Zeitraum 1946–1948 (S. 215 ff.) statt.
  • S. 225 wird der Zeitraum der Entstehung zwischen März 1942 und Januar 1944 verortet,
  • was S. 226 noch einmal auf den Zeitraum zwischen November 1943 und Januar 1944 eingegrenzt wird.4

So etwas muss selbstverständlich vermieden werden, und es lässt sich auch durch Autor oder Lektorat problemlos vermeiden, wenn man denn sein eigenes Buch mit jener Gründlichkeit gelesen hätte, mit der man vorgibt, das Werk Arno Schmidts gelesen zu haben.

Es bleibt mir nur noch eine einzige Stelle zu zitieren, die mir die Lektüre dieses Buches letztendlich durch und durch verdorben hat. Auf S. 844 heißt es über Ann’Ev’ – deren Name im Buch übrigens gleich drei Mal falsch geschrieben wird –: „trotz ihrer Herzkrankheit ist sie offensichtlich nicht ganz von dieser Welt“. Wer so etwas schreiben kann, hat bei Schmidt etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Ann’Ev’ ist nicht „trotz“ ihrer Herzkrankheit nicht ganz von dieser Welt, sondern weil sie immer auch von dieser Welt sein muss, ist sie herzkrank. Und wer dabei nicht an Line Hübner denken muss, der gehört, so leid es mir tut, auch unter die „groben Leute“.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. München: Hanser, 2022. Pappband, Lesebändchen, 990 Seiten. 45,– €.

geschrieben für den Bargfelder Boten
Nr. 479–480, S. 30–34


1 – Sven Hanuschek: Arno Schmidt. S. 124

2 – Die Fassung des Hanser-Verlags liest sich so: „Ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tod eines Schriftstellers seine Biographie nicht nur erscheinen darf, sondern muß!“

3 – Dieser Text benutzt ausschließlich zum Zwecke der Provokation das sogenannte generische Femininum.

4 – Mit Dank an Günter Jürgensmeier, der auf diese kleine Bonanza auf Twitter hingewiesen hat: https://twitter.com/Arnotationen/status/1522094272350146562.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson

Kurzbiographie Johnsons in seinem Hausverlag von einer ausgewiesenen Kennerin des Autors. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt: Leben (ca. die Hälfte des Textes), Werk (ein weiteres Drittel) und Wirkung. Es folgt ein Anhang mit Zeittafel, Bibliographie und Personen- sowie Werkregister.

Inhaltlich ist das Buch unter Berücksichtigung des geringen Umfangs tadellos, wenn auch das Leben etwas weichgezeichnet erscheint; Johnsons Fremdheit in Gesellschaft, seine rigorose, auf andere oft verstörend wirkende Rechthaberei oder sein Alkoholismus kommen zwar vor, aber wohl dosiert und abgemildert. Von daher ist das vermittelte Bild nicht ganz richtig, ganz falsch ist es aber eben auch nicht.

Was die Darstellung des Werks angeht, so gibt es kaum etwas einzuwenden; eine bessere Kurzdarstellung aller Aspekte von Johnsons Schreiben kenne ich einfach nicht. Im Abschnitt Wirkung gibt es das zu erwartende Maß von allgemeinem Geschwätz des Sowohl-Als-auch gemischt mit einigen wenigen handfesten Informationen; da ist ein Querlesen vollständig ausreichend.

Die Seiten des Bandes sind recht angenehm gestaltet: Fotos werden in Maßen eigesetzt, die Darstellung des Haupttextes unterstützende Zitate aus Primär- und Sekundärtexten sind in grau hinterlegten Kästen in den Fließtext eingefügt. Auf Fuß- oder Endnoten wird komplett verzichtet.

Insgesamt ersetzt oder ergänzt der Band die inzwischen in die Tage gekommene Rowohlt-Monographie von Jürgen Grambow (1997). Für eine rasche und überblickende Information gut geeignet.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. sb 47. Berlin: Suhrkamp, 2010. Broschur, 158 Seiten. 8,90 €.

Jean Canavaggio: Cervantes

Miguel de Cervantes hat für einen Schriftsteller – wenigstens nach unseren bürgerlichen Vorstellungen – ein recht abenteuerliches Leben geführt. Er wurde geboren in dem Jahr, als der Konquistador Hernán Cortés starb, also noch unter der Herrschaft Karls I., als eines von sieben Kindern eines Wundarztes, der seine Familie mehr schlecht als recht über die Runden brachte. Er machte schon in seiner Kindheit zusammen mit seiner Familie eine unruhige Wanderzeit durch, die sein Leben für sehr lange Zeit prägen sollte. Trotz der Armut seiner Familie erhält Miguel eine solide Schulbildung, man spekuliert, ob in einer jesuitischen Schule in Córdoba; ein nachfolgendes Studium der Theologie, das ihm einige Biographen zuschreiben, ist nicht nachweisbar. Wahrscheinlich träumt er in diesen Jahren schon von einer Karriere als Schriftsteller.

Bevor er überhaupt Zeit gehabt hätte, sich an einer Universität einzuschreiben, flieht er nach Italien, wahrscheinlich um sich einer Verhaftung aufgrund eines Duells zu entziehen, arbeitet dort kurzzeitig als Kammerdiener für den späteren Kardinal Giulio Acquaviva und tritt dann ins spanische Heer ein, wird also Teil der spanischen Besatzungsmacht in Italien. Er nimmt zusammen mit seinem jüngeren Bruder Rodrigo als Soldat an der Seeschlacht von Lepanto teil, wird dort von drei Kugeln verletzt, von denen eine seine linke Hand durchschlägt und unbrauchbar macht.

Da die Kriegstätigkeit der Spanier danach in eine etwas ruhigere Phase eintritt, entschließt er sich, zusammen mit Rodrigo nach Spanien zurückzukehren, doch kurz vor der Ankunft wird das Schiff von Piraten aufgebracht und alle Passagiere als Sklaven bzw. Geiseln nach Algier verschleppt. Da Miguel Empfehlungsschreiben hoher Militärs bei sich hat, vermutet man in ihm und seinem Bruder lohnende Geisel, so dass beide gefangengesetzt, aber nicht als Sklaven verkauft werden. Miguel wird fünf Jahre in Algier bleiben, bis es endlich gelingt, ihn freizukaufen und nach Spanien zurückzubringen. In diesen fünf Jahren unternimmt er vier erfolglose Fluchtversuche; am Ende steht er kurz davor, als Galeerensklave eingesetzt zu werden, als buchstäblich in letzter Minute sein Freikauf gelingt. Nach zehn Jahren Abwesenheit kehrt Miguel im Dezember 1580 zu seiner Familie zurück.

In der Folgezeit arbeitet er zum einen an seinem ersten Roman Galatea – einem Schäferroman, wie sie damals überaus beliebt waren –, dessen erster Teil 1585 erscheint (der zweite Teil wurde wohl nie geschrieben). Zum anderen versucht er gleichzeitig als Veteran und ehemalige Geisel vom Hof eine Sinekure zu erhalten, doch ist seine Familie dafür offenbar nicht einflussreich genug. Nicht, dass man ihm bei seinem Schicksal nicht entgegenkommen möchte, aber nur, indem man ihn mit konkreten Missionen beauftragt, die zwar bezahlt werden, aber das Wann ist eher ungewiss. So schlägt sich Cervantes ab 1587 jahrelang als Kommissar zur Requirierung von Öl und Getreide für die spanische Flotte durchs Leben. Das bedeutet nicht nur umständliche Verhandlungen mit unwilligen Bauern und Magistraten, die die unzuverlässige Zahlweise des königlichen Schatzamtes kennen und ihre Ernte lieber auf dem freien Markt anbieten möchten, Cervantes hat sich auch selbst ständig mit der Finanzbehörde herumzuschlagen, ist böswilligen Verleumdungen ausgesetzt und gerät einmal sogar wegen eine falschen Beschuldigung kurzzeitig ins Gefängnis.

Erst Mitte 1594 gibt er dieses Geschäft auf, um Steuereintreiber zu werden. Seine Besoldung kann er in diesem Fall direkt von den eingetriebenen Steuern in Abzug bringen, was ihm aber nichts nützt, da er die gesamten eingezogenen Gelder bei einem Kaufmann hinterlegt, der das zum Anlass nimmt, einen betrügerischen Bankrott zu veranstalten und sich mit dem Bargeld aus dem Staub zu machen. Zwar gelingt es Cervantes, die Steuergelder aus der Konkursmasse zu retten, sein eigenes Geld aber ist unrettbar verloren. Auch diese Affäre geht nicht ohne einen erneuten Gefängnisaufenthalt ab.

Ab 1598 wieder frei, beginnt Cervantes mit der Arbeit am Don Quijote, an dessen erstem Teil er über sieben Jahre hinweg arbeiten wird. Als der Roman Anfang 1605 in Madrid erscheint, macht er seinen Autor nahezu sofort zu einem der bekanntesten Schriftsteller, und das innerhalb weniger Monate nicht nur in Spanien sondern in ganz Europa und Südamerika (bereits im Februar 1605 wird ein erstes Kontingent des Buches nach Peru exportiert). Von dieser Zeit an scheint Cervantes in der Hauptsache als Autor gelebt zu haben.

Neben 16 Theaterstücken erscheinen in den elf Jahren bis zu seinem Tod – in denen Cervantes übrigens ein weiteres Mal für kurze Zeit ins Gefängnis geworfen wird – noch die Novellas Exemplares (ein weiterer europaweiter Erfolg), ein poetologisches Versepos Die Reise zum Parnass und schließlich im November 1615 der 2. Teil des Don Quijote, nachdem bereits im Jahr zuvor ein pseudonymer 2. Teil erschienen war, der sich nicht nur an den Erfolg des Buches anhängen wollte, sondern dessen Vorwort auch eine üble Beschimpfung des Original-Autors enthielt. Cervantes geht sowohl in der Vorrede als auch im Text seines eigenen 2. Teils auf diese Fälschung und besonders auf die Verleumdungen ein und zahlt es dem anonymen Fälscher mit besserer Münze heim. Am 22. April 1616 – so jedenfalls sein Biograph Canavaggio – stirbt Cervantes in Madrid. Postum erscheint 1617 sein letzter Roman Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda.

All dies schildert in erstaunlicher Detailfülle die musterhafte akademische Biographie Canavaggios, der als einer der bester Kenner Cervantes’ gelten muss. Sein Buch ist – soweit ich das sehe – immer noch die präziseste Beschreibung dieses Lebens, obwohl es bereits aus dem Jahr 1986 stammt. Canavaggio liefert nicht nur die bekannten Tatsachen, sondern auch die zahlreichen biographischen Spekulationen und Legenden seiner Kollegen, jeweils mit einer exakten und verlässlichen Einordnung. Zudem werden der historische Hintergrund und die sehr dynamische ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung Spaniens während der Lebenszeit Cervantes’ kurz und eingängig vermittelt. Dabei ist das Buch durchweg gut lesbar und klar strukturiert. Bei all diesen Vorteilen ist es selbstverständlich, dass es nicht mehr im Druck ist und nur noch antiquarisch erworben werden kann.

Jean Canavaggio: Cervantes. Aus dem Franzöischen von Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Zürich u. München: Artemis, 1989. Leinen, 387 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Michel Winock: Flaubert

Die Worte schienen ihm durchaus nicht zuzuströmen, für einen, dessen bürgerlicher Beruf das Schreiben ist, kam er jämmerlich langsam von der Stelle, und wer ihn sah, mußte zu der Anschauung gelangen, daß ein Schriftsteller ein Mann ist, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten.

Thomas Mann

Der Hanser Verlag hat im Vorfeld des 200. Geburtstages von Gustave Flaubert die in Frankreich hochgelobte Biographie des Historikers Michel Winock aus dem Jahr 2013 ins Deutsche übertragen lassen. Winock ist zweifellos das, was man einen Fan nennen könnte, aber sein Buch bewahrt dennoch eine weitreichende Obejktivität, nicht nur, was Flaubert selbst angeht, sondern auch die vorhergehende Literatur über ihn betreffend. Es kommt dem Buch sicherlich sehr zugute, dass Winock kein Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler ist und so bei einigen der umstrittenen Themen der Flaubert-Forschung die gegensätzlichen Auffassungen schlicht einander gegenüberstellen und dann auf sich beruhen lassen kann. Ebenso ist seine souveräne Position zu Sartres überbordener Interpretation Flauberts erfrischend.

Gustave Flaubert ist ein erstaunlicher Autor: Sein Werk besteht im Wesentlichen aus drei schwierigen Romanen und drei Erzählungen, ergänzt durch das Fragment eines vierten Romans, der bis heute Leser eher irritiert als fasziniert. Zu seinen Lebzeiten scharfer Kritik ausgesetzt, stieg er im 20. Jahrhundert zu einem der Gründungsväter der modernen und Klassiker der französischen Literatur auf; sein Einfluss auf Schriftsteller seiner und nachfolgender Generationen kann kaum überschätzt werden.

Im Vergleich mit seine Kollegen hat Flaubert auf der einen Seite ein weitgehend einsiedlerisches Leben in der Provinz geführt, das der Arbeit an seinen Romane gewidmet war, die langsam und unter den größten stilistischen Skrupeln entstanden sind. Er musste stets seine juvenile Neigung zum Romantizismus und zum sprachlichen Überschwang im Zaum halten, und sein Glaube, dass ein Erzähler sich jedes Urteils über seine Figuren und deren Handlungen enthalten müsse, hat zu seinem bemerkenswert kühlen und distanzierten Stil geführt. Seine Stoffe entstammen einerseits unmittelbar seiner Gegenwart, andererseits einer phantastisch imaginierten Antike, in die er alle seine andern Orts unterdrückten Leidenschaften und schwarzen Gedanken projizierte.

Auf der anderen Seite war er ein aktiver Promoter und Regisseur der Theaterstücke seines Kollegen Louis Bouilhet, der ohne die Freundschaft mit Flaubert heute vollständig vergessen wäre, ein unermüdlicher Briefschreiber, der auf diese Weise durchaus intensive Freundschaften auch zu bedeutenden Kolleginnen und Kollegen (Georg Sand, Iwan Turgenew) unterhielt. Er hat eine Wohnung in Paris unterhalten und gehörte zum Künstlerkreis um die Brüder Goncourt, die in ihren Tagebüchern einige der schönsten und gehässigsten Porträts seiner Persönlichkeit geliefert haben. Er hat Nordafrika, Ägypten, den Nahen Osten und Istanbul bereist und war regelmäßig in England, wahrscheinlich um eine heimliche Geliebte zu treffen – tatsächlich so heimlich, dass auch heute noch nur darüber spekuliert werden kann. Zu diesen persönlichen Widersprüchen treten Flauberts soziologische und politische Vorurteile hinzu, die alles andere als ein einheitliches Weltbild ergeben und zu denen auch noch seine allgemeine Misanthropie und seine tiefe Verachtung der menschlichen, besonders aber der bürgerlichen Dummheit hinzutreten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Winocks resümierendes, letztes Kapitel sich weitgehend in einer Auflistung dieser Gegensätze erschöpft. Flaubert war alles andere als eine gerundete und in sich geschlossene Persönlichkeit, und so erscheint er auch in Winocks Erzählung.

Was die sachliche Ebene angeht ist das Buch, soweit ich sehe, bis auf eine Winzigkeit fehlerfrei. In der ersten Hälfte habe ich als Leser ein wenig zu oft gedacht, das hätte ich so auch schon bei Maxime Du Campe oder Guy de Maupassant gelesen, aber das muss einen anderen Leser durchaus nicht stören. Die Interpretationen der Werke sind durchweg gut bis herausragend – wer sich einen Eindruck von der Qualität des Buches verschaffen will, lese die der Education sentimental gewidmeten Kapitel XVIII bis XX. Bei der Analyse von Leben und Werk wird nebenbei eine kurze Geschichte Frankreichs von der Juli-Revolution bis in die frühen Jahre der Dritten Republik hinein mitgeliefert. Zudem finden sich knappe biographische Portraits etwa von Louis Bouilhet, George Sand oder Maxime Du Camp.

Alles in allem eine runde, gut lesbare und ausgewogene Biographie, nach deren Lektüre man sich als ausreichend informiert und gerüstet für die Lektüre der Werke Flauberts fühlen darf.

Michel Winock: Flaubert. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim. München: Hanser, 2021. Pappband, Lesebändchen, 655 Seiten. 36,– €