Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.
Theo van Doesburg
In diesem Jahr wäre Dada 100 Jahre alt geworden, wenn es nicht bereits unmittelbar vor seiner Zeugung verstorben wäre:
Dada ist tot, bevor es überhaupt angefangen hat. Zum ersten Mal stirbt Dada, als Tzara aus einer Laune eine Kunstrichtung machen will. Dada stirbt seinen Heldentod, als Ball im Juni 1916 Zürich verlässt. Dada dreht sich im Grabe um, als Huelsenbeck, Tzara und Arp versuchen, es in anderen Städten zu etablieren. In der Auseinandersetzung zwischen Picabia, Breton, Tzara und ihren Gesellen stirbt Dada tausend Tode. Aber so darf Dada nicht vertröpfeln, es muss auch einmal ordentlich symbolisch zu Grabe getragen werden.
Banalerweise leben Totgesagte immer länger, besonders dann, wenn zu bezweifeln ist, dass sie überhaupt jemals von selbst geatmet haben. Das alles stört aber Dada und die meisten seiner Vorkämpfer überhaupt nicht. Sich um solch offenbare Widersprüche zu kümmern, hieße die Macht des Paradoxen zu verschwenden. Dada setzt tiefer an, nämlich dort wo sich Vernunft und Unvernunft gute Nacht sagen – an der kargen Oberfläche der bürgerlichen Kultur.
Natürlich ist der Manesse Verlag mit Sitz in Zürich prädestiniert, Dada zum Jubiläum mit einer Anthologie zu würdigen. Die Textauswahl ist beeindruckend umfassend; sogar Clément Pansaers (1885–1922) und Paul von Ostaijen (1896–1928), zwei belgische Dadaisten, von denen ich bis dato noch nie gehört oder gelesen hatte, sind vertreten. Ansonsten ist alles anwesend, was noch keinen Rang hatte und sich einen Namen machte: Tristan Tzara, Hans Arp, Georg Grosz, Walter Serner, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Walter Mehring (den ich besonders schätze), Raoul Hausmann, Francis Picabia, André Breton, Paul Éluard und und und. Die Auswahl der Texte ist ebenso gelungen: Weder fehlen die bekannten Klassiker (etwa Balls „Karawane“ oder Schwitters „An Anna Blume“), noch die Überraschungen, wegen derer man einen solchen Almanach kaufen sollte. Auch die Auswahl aus der unendlichen Flut dadaistischer Manifeste, die bekanntlich nichts sagen, dass aber in einer Ausführlichkeit, mit der sich nur politische Reden messen können, ist exzellent. Begleitet werden die Texte durch einen Anhang, der die wichtigsten Dadaisten in biographischen Kurzporträts vorstellt und die wichtigsten Orte der Aufführung präsentiert. Das zusätzliche Spiel mit Schwarz und Rot im Druckbild rundet den Band perfekt ab. Das einzige, was man vermissen könnte, ist, dass Dada nicht ausschließlich eine textbasierte Strömung war, sondern insbesondere auch Graphik, Collage und Musik mit einbezog.
Wer darüber mehr erfahren und Dada im allgemeineren Kontext der Moderne dargestellt haben möchte, kann zu Martin Mittelmeiers Buch greifen (aus dem auch das längere Zitat oben stammt). Mittelmeier versucht, einen Weg zu finden, dem chronologischen, persönlichen, formalen und inhaltlichen Chaos Dadas gerecht zu werden. Wer sich nicht schon ein wenig in der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auskennt, könnte im Stakkato einiger Passagen des Buches verlorengehen. Alles in allem und im Großen und Ganzen muss man Mittelmeier zugestehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigt, sind doch zahllose biographische Details, parallele Entwicklungen, Verwerfungen, Verfeindungen und Zweckbündnisse, Widersprüche und Gegensätze darzustellen, deren Anlässe für einen, der nicht tief in den Verwicklungen dieser Zeit steckt, nur schwer nachzuvollziehen sind.
Sehr loben muss man Mittelmeier dafür, dass er den bequemen Ansatz, Dada sei die Reaktion einiger Intellektueller auf den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, als unzureichend begreift und Dada stattdessen in die künstlerischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellt: Das Aufgeben der Zentralperspektive in der Malerei, der Harmonik in der Musik – wenn auch seine Rede davon, Schönberg befreie „den einzelnen Ton aus dem Korsett der klassischen Tonalität“ (S. 51) dummes Geschwätz ist –, die Faszination der Geschwindigkeit und die Empfindung der Simultanität sind andere Aspekte desselben grundsätzlichen Zweifels an den tradierten Formsprachen, der sich auch in Dada manifestiert. Auch lässt Mittelmeier keinen Zweifel daran, dass Mangel an konkretem Inhalt, Wiederholung und der Dada notwendig innewohnende Selbstwiderspruch zu nichts anderem als zur baldigen Auflösung von Dada führen konnten, und jede neue Stadt, in die Dada getragen wird, die Agonie nur überdeckt und herauszögert. Ergänzt wird diese sehr klarsichtige Darstellung durch einige dadaistische Zwischenspiele, auf die man sich – wie auf Dada überhaupt – schlicht einlassen sollte.
Ob Mittelmeier aber tatsächlich der Auffassung ist, der Eiffelturm sei 1000 Meter hoch (S. 48), Erich Mühsam habe den Vornamen Ernst geführt (S. 66), moderne Kunst verfüge über „Autonomie“ (S. 102) oder Schwitters Bilder seien „funktional gesehen gotische Dome“ (S. 184), kann man angesichts dessen, was hier gelungen ist, auf sich beruhen lassen.
Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Kontradiktion. Hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon. Zürich: Manesse, 2016. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 176 Seiten. 39,95 €.
Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler, 2016. Pappband, 272 Seiten. 22,99 €.