„Ach Sch…“ Er sprach, sich bückend, das Wort nicht zu Ende; der Kamerad verstand ihn ohnehin. Es war das populärste Wort des ganzen Krieges.
Mit diesem 1927 erschienenen (auf 1928 vordatierten) Roman legte Arnold Zweig den Grundstein seines Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, der damals erst nur eine „Trilogie des Übergangs“ werden sollte. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ sollte vermeintlich das Mittelstück werden und an einem Einzelschicksal jene Wandlung sichtbar werden lassen, die Zweig durch den Ersten Weltkrieg in Deutschland hervorgerufen sah. Ob er die von ihm erzählte Geschichte, der angeblich eine wahre Begebenheit zugrunde liegen sollte, nicht überfrachtet, bleibt zu erörtern.
Erzählt wird das Schicksal des russischen Kriegsgefangenen Grischa Iljitsch Paprotkin, der um den Frühlingsanfang des Jahres 1917 herum in einem Güterzug versteckt aus einem in Polen befindlichen deutschen Gefangenenlager nach Osten flieht. Als er den Zug verlässt, findet er sich in Litauen wieder, wo er nach einigen Tagen, die er sich in den Wäldern durchschlägt, von einer kleinen Gruppe von Widerständlern gegen die deutschen Besatzer aufgelesen und beherbergt wird. Rasch entspinnt sich ein Liebesverhältnis zwischen Grischa und Babka, der Anführerin der Gruppe, was Grischa aber nicht von seinem Plan abbringt, nach Russland zu Frau und Kind zurückzukehren. Als er nach einigen Wochen seine Flucht fortsetzt, rät ihm Babka, sich im Falle der Gefangennahme als der Versprengte Ilja Bjuschew auszugeben, der in der Obhut der Gruppe verstorben war. Grischa fürchtet sonst, in dem Fall einer erneuten Gefangenschaft als Geflohener zu einer längeren Haft verurteilt zu werden und so seine Chance einzubüßen, bei Kriegende mit den anderen Kriegsgefangenen ausgetauscht zu werden.
Leider erweist sich gerade diese Finte als tragischer Fehler: Als Grischa nämlich von den Deutschen in der Nähe des kleinen Ortes Merwinsk aufgegriffen wird, beharrt er auf seiner Geschichte, der Versprengte Bjuschew zu sein, der bereits wochenlang versuche, in die russischen Linien zurückzukehren. Zum Verhängnis wird Grischa eine neue Weisung der militärischen Führung, die zum Zweck der Aufrechterhaltung der Disziplin angeordnet hat, alle sich nicht sogleich in deutsche Gefangenschaft begebenden russischen Versprengten und Deserteure als Spione zum Tode zu verurteilen. Als Grischa das Todesurteil des Bjuschew verlesen wird, besinnt er sich seiner wahren Identität und erzählt die Geschichte seiner Flucht.
Es scheint nun vorerst einmal alles seinen rechtmäßigen Gang zu gehen: Der Schreiber Bertin, inzwischen Gehilfe des Kriegsgerichtsrats Posnanski, macht das Lager ausfindig, aus dem Grischa geflohen ist. Das Lager entsendet zwei Soldaten, um Grischa zu identifizieren, was denn auch unter großem Hallo des gegenseitigen Wiedererkennens geschieht, und anschließend gibt die Division in Merwinsk die Akten an das Hauptquartier des Oberbefehlshabers Ost, Generalmajor Schieffenzahn, damit dort festgestellt werde, welches Militärgericht für den Gefangenen Paprotkin denn nun zuständig sei. Leider erfährt dort der Generalmajor zufällig selbst von der Sache und beschließt, sie als einen politischen Fall zu behandeln. Er lässt also seinen Juristen die Akten nach Merwinsk zurückgeben mit dem Vermerk, dass das Todesurteil des Bjuschew an Grischa zu vollstrecken und ihm der Vollzug zu melden sei.
Mit diesem Befehl des Oberbefehlshabers kommt die Kommandantur in Merwinsk mit ins Spiel, die nun für die Exekution Grischas zuständig geworden ist. Dem der Kommandantur vorstehende Rittmeister von Brettschneider sind sowohl der rechtliche Standpunkt des Kriegsgerichtsrates als auch die Identität des Gefangenen Paprotkin gänzlich gleichgültig. Er wittert nur eine Gelegenheit dem Divisionschef von Lychow eine Niederlage beibringen und sich gleichzeitig beim Generalmajor lieb Kind machen zu können. Dagegen versuchen General von Lychow, sein Adjutant und Neffe Oberleutnant Winfried, Kriegsgerichtsrat Posnanski und Schreiber Bertin – zudem unterstützt von zwei Krankenschwestern, die als Liebesobjekte in Kriegsgeschichten offenbar unumgänglich sind – die Ausführung des Hinrichtungsbefehls zu verzögern, bis der General Gelegenheit hat, mit dem Generalmajor persönlich den eigentlich nichtigen Fall zu erörtern.
Doch kurz bevor es zu diesem persönlichen Treffen kommt, ordnet Schieffenzahn die Vollstreckung des Todesurteils nochmals an mit dem Zusatz, dass er binnen 24 Stunden den Vollzug gemeldet haben möchte. Das Gespräch zwischen Schieffenzahn und von Lychow endet zwar kläglich für den Letzteren, aber in einem Anflug von Mitleid mit dem alten Preußen ist Schieffenzahn anschließend für einen Moment geneigt nachzugeben. Doch leider bricht gerade in diesem Augenblick durch einen geschickt erfundenen Schneesturm die Telefonverbindung nach Merwinsk zusammen.
In Merwinsk werden noch verzweifelte Pläne geschmiedet, Grischa zu retten: Sowohl die inzwischen nach Merwinsk gekommene Babka, die von Grischa schwanger ist, als auch die Gruppe um Oberleutnant Winfried versuchen Grischa vor dem Tode zu bewahren, doch scheitern schließlich beide am Widerstand Grischas. Ihm ist es genug, er will nicht durch eine weitere Episode von Hoffnung, Gefangenschaft oder Flucht und Verstecken, sondern will nur noch seine Ruhe haben, die er am ehesten im Grab zu finden hofft. Die minutiöse und eindringliche Beschreibung des letzten Tages Grischas mit Ausheben des eigenen Grabs, Rasieren, Henkersmahlzeit, Aufsetzen des Testaments, Marsch zur Hinrichtungsstätte und Exekution gehört mit Sicherheit zum Bewegendsten und Beeindruckendsten im Werk Arnold Zweigs. Allein für diese Passage lohnt sich die Lektüre des Romans. Darüber hinaus glänzt dieses Auftaktstück des Zyklus mit der im Vergleich sachlichsten und angemessensten Sprache und überzeugt insgesamt auch durch seine durchweg ökonomische erzählerische Konstruktion.
Fraglich aber scheint mir, wie oben schon angedeutet, ob Zweigs Intention, an diesem Einzelfall exemplarisch den Wertewandel zwischen der deutschen Vor- und Nachkriegsgesellschaft festmachen zu wollen, zu überzeugen vermag. Zweig reduziert damit die hochkomplexe Wandlung der europäischen Gesellschaft in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts auf die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. dem Verhältnis von Recht und Unrecht im Staate. Zwar scheint eine Passage wie diese nahezu prophetisch:
»Tja«, räusperte sich Posnanski endlich, »wie sagten Sie, Deutschland? Was will das heißen, mein Lieber? Wer hochsteigt und ein gemischtes Wesen ist, trampelt auf seiner Seele herum und sinkt also innerlich. Deutschland an Macht geht auf wie ein Napfkuchen, Deutschland als Sittlichkeit schrumpft ein zur Fadendünne. Wen wundert das? So geht es den Staaten. Und es macht auch nicht viel Erst wenn der Faden risse, wenn Rechtlosigkeit als Zustand allgemeine Billigung und ein Siegerbehagen fände, sähe es etwas schlimmer aus.
Doch hieße es, dies Zitat überzustrapazieren, wollte man Zweig hier bereits das Verbrecherregime der Nationalsozialisten vorausahnen lassen. Vielmehr setzt Posnanski optimistisch fort:
Aber da werden immer Leute sein, die ihre Hand zwischenlegen. So kleine Klicken wie wir hier; und wenn sie sich Mühe geben, können sie den ganzen dicken Kloß soweit als lebensnötig wieder durchsäuern. Und wenn nicht — Deutschland ist nicht unentbehrlich, und wenn es jetzt eine Zeitlang abträte, hätte es sich mit diesem Johann Sebastian [Bach] allein schon ein ehrendes Gedenken gesichert.
Zweig selbst lässt denn auch wiederholt keinen Zweifel daran, dass sich die Geschichte des Sergeanten Grischa vollständig ausreichend daraus erklärt, dass im Krieg die Rechte des Individuums und noch dazu eines feindlichen Individuums nur ein bedingt schützenswertes Gut sind. Wo Tod und Zufall die lebensbeherrschenden Prinzipien werden, wird Gerechtigkeit noch mehr zum Glücksfall als ohnehin. Man könnte also den Verdacht hegen, dass „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ entgegen der Absicht des Autors nur eine Illustration mehr der altrömischen Einsicht „silent enim leges inter arma“ darstellt. Als solche ist sie allerdings durch und durch gelungen.
Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa. Berlin: Aufbau-Verlag, 2006. Kindle-Edition. 481 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.
P.S.: Da ich in der Zeit der Lektüre viel unterwegs war, habe ich aus Gründen der Bequemlichkeit diesmal auf die Kindle-Edition des Romans im Aufbau-Verlag zurückgegriffen. Ich habe mir aber nicht die Mühe gemacht, diese Ausgabe, die auf den Text der Erstausgabe zurückgreift, systematisch mit meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1980 zu vergleichen und kann daher auch keine Auskunft geben, inwieweit die ältere Ausgabe zensiert bzw. verändert wurde. Wo ich zufällig einmal Anlass hatte, die beiden Texte miteinander zu vergleichen, habe ich keine Abweichung entdecken können.