Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste

Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle!

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„Unruhige Gäste“ ist ein später, kurzer Roman Wilhelm Raabes und wurde 1885 im populären Familienblatt „Die Gartenlaube“ in zwölf Folgen veröffentlicht; im Jahr darauf erschien die Buchausgabe bei Grote in Berlin. Mit der Fortsetzungsausgabe erreichte der „Roman aus dem Säkulum“ – so die vom Autor gewählte Genrebezeichnung – ein für Raabe vergleichsweise breites Publikum, das den Roman anfänglich zumeist positiv aufnahm, mit dem Ende aber nicht recht zufrieden war; ich werde noch darauf zurückkommen.

Die Handlung spielt in den 1880er Jahren in einem Minendorf im Harz und einem im Tal darunter gelegenen Kurort, für den offenbar Bad Harzburg das Vorbild war. Über den Charakter des Städtchens als Badeort macht sich Raabe, der Bad Harzburg aus eigenem Erleben kannte, ein wenig lustig:

Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen.

S. 90

Zu dieser guten Gesellschaft gehört auch eine Gruppe um Professor Freiherr Veit von Bielow, der das Bad offenbar mit seiner Verlobten in spe Valerie, deren Vater und einer Gruppe von jungen Leuten besucht. Beim Ausflug in das in den Bergen gelegene Dorf macht er einen Abstecher ins Pfarrhaus, um dort seinen ehemaligen Kommilitonen, den in Gott verbitterten Pastor Prudens Hahnemeyer aufzusuchen, den er seit der Studienzeit nicht mehr gesehen hat. Hahnemeyer lebt zusammen mit seiner Schwester Phöbe, einer 20-jährigen Lehrerin und Krankenpflegerin, die sich in der Gemeinde und im Pfarrhaus nützlich macht. Den eigentlichen Erzählanlass bildet der Tod von Anna Fuchs, die gerade an dem Tag stirbt, als von Bielow im Dorf eintrifft. Anna Fuchs war am Typhus erkrankt und wurde zusammen mit ihrem im Dorf ohnehin nur mäßig beliebten Mann Volkmar und ihren beiden Kindern zu einer ärmlichen Existenz in einer notdürftigen Hütte am Dorfrand gezwungen. Nun will man die Tote möglichst rasch unter die Erde bringen, doch Volkmar in seiner Trauer und seinem Zorn auf die Gemeinde verweigert die Herausgabe der Toten, die er lieber im Wald verscharren will, als es zuzulassen, dass sie zusammen mit jenen, die sie verachtet haben, auf einem Friedhof liegen soll.

Es gibt nun mehrere Versuche, Fuchs zur Vernunft zu bringen, die aber alle scheitern: Weder die Drohungen des Ortsvorstehers, noch die Ermahnungen des Pastors helfen; erst als Phöbe, die sich aufopferungsvoll um die Kranke gekümmert hatte, zusammen mit von Bielow noch einmal die Hütte aufsucht, gelingt der Durchbruch, als von Bielow spontan anbietet, drei nebeneinanderliegende Grabstellen zu erwerben, in denen Anna – in der Mitte – bewacht von Phöbe und ihm selbst die letzte Ruhe finden soll. Völlig überrascht und überwältigt von der Zustimmung Volkmars zu diesem Vorschlag, erklärt sich auch Phöbe einverstanden. Nach der Beerdigung geht von Bielow wieder hinab in den Kurort zu der Gesellschaft, zu der er gehört.

Damit beginnt die zweite Hälfte des Romans, in deren Zentrum die Erkrankung von Bielows am Typhus steht. Wieder im Kurort angekommen, muss von Bielow sehr rasch und gegen seinen Willen die Geschichte um das Begräbnis der Anna Fuchs und der dreifachen Grabstelle erzählen. Valerie ist von dieser Festlegung von Bielows auf eine letzte Ruhestätte so betroffen und in Furcht versetzt, dass sie selbst hinauf ins Dorf reitet, Volkmar und Phöbe – in der sie eine Konkurrentin um die Liebe von Bielows zu haben fürchtet – kennenlernt und sich den Friedhof zeigen lässt. Es kommt zu einer Art von Aussprache zwischen den beiden Frauen, und als Valerie abends ins Tal zurückkommt, muss sie erfahren, dass inzwischen von Bielow selbst an Typhus erkrankt ist.

Merkwürdigerweise wird nun nicht das Klischee umgesetzt, dass sich Valerie am Krankenbett Veits zum großen, entsagenden Vorbild der Phöbe hinauf arbeitet, sondern ganz in Gegenteil flieht die Gesellschaft um Valerie den Kurort, von Bielow wird in ein aufgelassenes Siechenspital am Rande des Städtchens verbannt und dort vom lokalen Doktor, Phöbe und Dorette – einer spät eingeführten, aber nichts weniger als unbedeutenden Nebenfigur – gepflegt. Nur dass Veit von Bielow dem Tod entgeht und nach einer Woche Phöbe wieder ins Pfarrhaus zurückkehrt, wird uns erzählt. Und dann schließt Raabe einen ganz merkwürdigen Schluss an: Im nächsten Frühjahr erreichen das Pfarrhaus zwei Briefe. Zum einen von Dorette an Phöbe, in dem ein schlichtes Gemüt die Erlebnisse der Woche der Pflege von Bielows und die Freundschaft der beiden Frauen reflektiert. Zum anderen von dem in Sizilien sich nur langsam erholenden Veit von Bielow und seiner Gattin Valerie, die ihre Flitterwochen zu einem Genesungsurlaub verlängert haben.

Wer die Romane kennt, die im Umfeld um „Unruhige Gäste“ entstanden, wird begreifen, dass ein Gutteil der Leser der „Gartenlaube“ mit einem solchen Ende nur wenig zufrieden sein konnten. Weder wird der durch die Flucht Valeries inszenierte Konflikt auch nur angesprochen, sondern die beiden werden einfach verheiratet, noch findet die aufopferungsvolle Liebe Phöbes, die durch die Persönlichkeit von Bielows doch für den Moment heftig aus dem Gleichgewicht geraten war, eine Auflösung. Stattdessen wird Volkmar Fuchs zu einem angesehenen Mitglied der Gemeinde, nachdem er – offenbar durch die Protektion von Valeries Vater – zu einer Anstellung als Forstwart gekommen ist. Aber eine der üblichen, kunstfertigen Abrundungen darf von Raabe im Ernst nicht erwartet werden.

Neben dem hier Nacherzählten hat der Roman noch die eine und andere knorrige Nebenfigur, wie man sie ähnlich nur in den Romanen von Charles Dickens finden wird. Für seine nur knapp 180 Seiten macht das Buch ein erstaunlich breites Gesellschaftspanorama auf. Und es enthält viel von der Welt, wie sie sich Raabe gezeigt hat.

Jeder für den Mist vor seine Kellerlöcher, und unser Herrgott fürs Ganze!

S. 158

Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2024. Pappband, Fadenheftung, 235 Seiten. 26,– €.

Wolfgang Will: Der Zug der 10 000

Wer die Welt als Spiel versteht, das nach den Regeln der Götter geführt wird, braucht keine Analyse des Geschehens mehr […].

Drei Jahre nach seinem Buch über Thukydides und den Peloponnesischen Krieg veröffentlichte Wolfgang Will den sich natürlich ergebenen Nachfolger: eine kritische Nacherzählung der „Anabasis“ des Xenophon aus der Sicht des heutigen Historikers. Ergänzt wird diese Nacherzählung um zwei Anhänge: einen über das Leben Xenophons nach dem Zug durch Kleinasien und einen Epilog, der ein sehr kompaktes komplettes Lebensbild Xenophons entwirft. Das Hintanstellen der Kurzbiographie ergibt sich logisch aus dem Bedürfnis, nichts aus dem Gang der Nacherzählung vorwegzunehmen.

Im Wesentlichen also erzählt das Buch vom Zug eines griechischen Söldnerheeres unter Kyros dem Jüngeren, einem persischen Prinzen, der mit diesem Heereszug durch Kleinasien im Jahr 401 v.u.Z. versucht, die Herrschaft seines älteren Bruders Artaxerxes II. zu stürzen und selbst persischer Großkönig zu werden. Die Expedition scheitert kurz vor Babylon in der Schlacht von Kunaxa, die die überlebenden griechischen Söldner weitgehend führerlos zurücklässt. Während Xenophon auf dem Hinmarsch (der eigentlichen Anabasis) das Heer als ziviler Beobachter begleitet, wächst ihm nach der Schlacht mehr und mehr eine Führungsrolle im Söldnerheer zu, das sich nun nach Norden wendet und gegen widrigste Umstände versucht, das Schwarze Meer zu erreichen. Xenophon hatte in der athenischen Reiterei eine militärische Ausbildung genossen, so dass ihm die Welt des Militärs alles andere als fremd war. Sein Führungstalent beweist sich an der fast unmöglich scheinenden Aufgabe, die griechischen Söldner in ihre Heimat zurückzuführen.

Sicherlich ist vieles im Buch repetitiv, aber dies ergibt sich notwendig aus dem Erzählten, das sich im Hauptteil über einen Zeitraum von 18 Monaten erstreckt, in denen die Söldner immer und immer wieder in ernste Gefahr geraten. Nichtsdestotrotz bewährt sich Will einmal mehr als historischer Erzähler, der den Gang der „Anabasis“ konzise darzustellen weiß. Auch für dieses Buch gilt aber, dass es auf Leser abzielt, die sich in der antiken Welt bereits ein wenig auskennen; den Neuling könnte es überfordern. Eine durchweg gelungene Fortsetzung der vorangegangenen Bücher.

Wolfgang Will: Der Zug der 10 000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres. München: C. H. Beck, 2022. Pappband, 314 Seiten. 28,– €.

Wolfgang Will: Athen oder Sparta

Bei Chaironeia besiegte im Jahre 338 Philipp II. ein Bündnis griechischer Staaten mit Athen und Theben an der Spitze (Sparta fehlte). Die Hand- und Schulbücher reden von einem epochalen Ereignis, vom Ende einer Ära und der griechischen Freiheit. Die Freiheit, welche die Griechen zuallererst verloren, war freilich nur die, einander sinnlos totzuschlagen.

Dieser Band schließt insofern unmittelbar an Wills vorhergehendes Buch über den Beginn der Geschichtsschreibung an, als es in der Hauptsache dem Bericht des Thukydides folgt, um den Peloponnesischen Krieg von seinen Ursachen bis zu seinen Nachwirkungen darzustellen. Der enge Anschluss an das Werk des Thukydides ergibt sich von selbst, da dessen Bücher für einen bedeutenden Teil der historischen Ereignisse die einzige Quelle sind.

Beim Peloponnesischen Krieg (431–404) handelt es sich nicht nur um den Kampf zweier Hegemonialmächte um die Vorherrschaft in Griechenland, sondern zugleich um die Frage, ob die athenische Demokratie als politisches System erhalten bleiben oder dauerhaft durch eine oligarchische Verfassung ersetzt werden wird. Interessanterweise weist es sich, dass das athenische System der Volksherrschaft sich immer wieder gegen die zum Teil sehr radikalen Versuche, sie zu unterdrücken und ihre Anhänger zu töten oder zu verbannen, durchsetzt und die Oligarchie, für deren Etablierung Sparta neben seinen hegemonialen Ansprüchen kämpft, immer wieder beseitigen kann. Am Ende zeigt die Demokratie sich, wenn sie nicht durch andauernde Kriegführung wirtschaftlich geschwächt und von nationaler Hysterie überlagert ist, als das stabilere und einen allgemeinen Wohlstand garantierende System.

Will bewährt sich einmal mehr als exzellenter Erzähler historischer Ereignisse und ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte. Dabei ist seine Darstellung keine unkritische Nacherzählung des Berichts von Thukydides, sondern Will weiß seine Vorlage nicht nur im Hinblick auf den Parteistandpunkt ihres Autors einzuschätzen, sondern erlaubt sich überhaupt eine reflektierte Distanz zu den Geschehnissen und Akteuren. Hinzukommt eine durchgehende Rückkopplung mit anderen historischen Quellen, insbesondere den Theaterstücken der Zeit. Bei der Betrachtung der Nachwirkungen des Krieges gibt es zudem ein beeindruckendes Kapitel zur politischen Einordnung des Prozesses gegen Sokrates, das zu den Schmuckstücken des Buches gehört.

Wie schon der Vorgängerband ein Buch, das einige Ansprüche an die Leser stellt. Für Geschichtsbeflissene und insbesondere für an der Antike Interessierte unbedingt zu empfehlen.

Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Eine Geschichte des Peloponnesischen Krieges. München: C. H. Beck, 2019. Pappband, 352 Seiten. 26,95 €.

Der Roman des Freiherrn von Vieren

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Dieses Fragment eines Romans aus dem Jahr 1815 wurde 1926 erstmals aus dem Nachlass Adalbert von Chamissos veröffentlicht. Es umfasst faktisch sieben Kapitel von drei Autoren (Adalbert von Chamisso, Karl Wilhelm Salice-Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué) mit in der vorliegenden Ausgabe knapp 50 Seiten; zwar werden acht Kapitel gezählt, aber das fünfte, das einzige von E. T. A. Hoffmann verfasste, fehlt im Manuskript und scheint überhaupt verloren gegangen zu sein. Hoffmann hat es nach der Aufgabe des Projektes offenbar zurückgefordert und als Grundlage für seine Erzählung „Der Doppeltgänger“ (1821) benutzt. Außer Hoffmann hat auch der mit drei Kapiteln beteiligte, heute nur noch literarhistorisch rezipierte Karl Wilhelm Salice-Contessa (1777–1825) aus seinem Anteil am Fragment eine Veröffentlichung erzeugt: „Das Bild der Mutter“ (1818). Beide Verarbeitungen werden in der vorliegenden Ausgabe dankenswerter Weise mit abgedruckt; so hat man wenigstens nicht nur das kurze Fragment zum Lesen.

Das Fragment selbst kommt kaum über die Exposition der angestrebten Verwicklungen hinaus: Offensichtlich geht es um gleich drei Brüder – eineiige Drillinge, was die Voraussetzung für die angestrebten Verwicklungen bildet –, die, nachdem sie getrennt und ohne Kenntnis voneinander aufgewachsen sind, nun schicksalhaft aufeinandertreffen. Nachdem dem Leser dies klar geworden ist, setzen zwei der Figuren zu einer Verfolgungsjagd auf einen der Brüder und eine in all dies verstrickte junge Dame an, doch bricht das Fragment an dieser Stelle ab. So recht beurteilen kann man den Text nicht; einzig klar wird, dass es keinen groben Entwurf der gesamten Handlung gab, sondern die Autoren sich von Kapitel zu Kapitel vorwärts wurschtelten. Wahrscheinlich war es eine kluge Entscheidung, das Experiment dieses Vierer-Romans aufzugeben; jedenfalls geben die erhaltenen Seiten nicht Anlass zur Erwartung, hier wäre ein großer Wurf verloren gegangen.

„Das Bild der Mutter“ von Contessa ist eine Art Schmonzette, die ohne das Doppelgänger-Motiv auskommt, sondern nur mit dem Brüder-Motiv arbeitet. Die familiären Verwicklungen halten sich daher in Grenzen und werden auf recht banale Weise aufs Glücklichste aufgelöst. Ich selbst habe von Contessa nichts außer diesem Text gelesen, und das wird auch bis auf Weiteres so bleiben. Hoffmanns „Der Doppeltgänger“ gehört ebenfalls nicht zu dessen beliebtesten Erzählungen. Wie der Titel schon verrät, übernimmt Hoffmann das bei ihm mehrfach auftauchende Doppelgänger-Motiv, reduziert die Anzahl der Brüder aber auf zwei. Die beiden sind bereits als Kinder unschuldig in den Streit zweier Fürsten geraten, der ihren Lebensgang geprägt hat. Hoffmanns Erzählung ist angereichert durch zahlreiche unterschiedliche Figurenspiegelungen. Hoffmann ist sich der Trivialität der Fabel sehr bewusst und bricht deren Pathos immer wieder durch burlesk übertriebenen Humor, der dem Text eine unübersehbare ironische Ebene einzieht. Das rettet Hoffmanns Erzählung vor der Banalität der Contessas.

Alles in allem ein etwas obskures Dokument; wirklich lesenswert nur für echte Freunde der deutschen Romantik.

Adalbert von Chamisso / E. T. A. Hoffmann / Friedrich de la Motte Fouqué / Karl Wilhelm Salice-Contessa: Der Roman des Freiherrn von Vieren / Das Bild der Mutter / Der Doppeltgänger. Hg. v. Markus Bernauer. München: dtv, 2018. Pappband, Lesebändchen, 223 Seiten. 22,– €. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Friedrich Heinrich Jacobi: Aus Eduard Allwills Papieren

Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) ist einer jener Schriftsteller des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert, die nur deshalb noch einigermaßen in Erinnerung sind, weil sie sich in die reiche Briefkultur dieser Zeit eingeschrieben haben. Jacobis älterer Bruder war der als Dichter oft verspotteter Anakreontiker Johann Georg Jacobi, der an zahlreichen Zeitschriften der Zeit beteiligt war und dessen Prominenz seinem Bruder den Weg zu zahlreichen berühmteren Korrespondenz­partnern eröffnete. Ganz im Geiste der Zeit folgten den Briefen auch persönliche Begegnungen, und so wurde Friedrich Heinrich Jacobi eine der vielen Randfiguren der deutschen Literarhistorie.

Die ersten Briefe Aus Eduard Allwills Papieren erschienen 1775 in der von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Zeitschrift Iris, die sich explizit an ein weibliches Publikum wandte. Fortgesetzt wurde die Reihe der Briefe dann 1776 in Wielands Teutschem Merkur und dann über weitere Zwischenstufen bis 1812, als sie als Allwills Briefsammlung innerhalb der vom Autor selbst besorgten Werke endgültig fixiert wurden. Die Reihe von Briefen einen Roman zu nennen, wie dies weitgehend geschieht, ist etwas verwegen, nicht nur wegen des mäßigen Umfangs, sondern auch, weil eine Handlung eher angedeutet ist, als dass sie wirklich erzählt würde.

Die Briefe erzählen im im Großen und Ganzen eine Episode aus der Geschichte der Familien Clerdon und der mit ihr verschwägerten von Wallberg, zu deren Bekanntenkreis auch der titelgebende junge Eduard Allwill gehört. Allwill hat sich bereits in seiner Kindheit als ein besonders willensstarkes und eigensinniges Kind gezeigt und ist nun ein junger Mann, der auf gesellschaftliche Usancen nur wenig Rücksicht nehmen zu müssen glaubt. Er hat offensichtlich einer jungen Frau – Luzie von Wallberg – den Kopf verdreht und sie dann sitzen lassen. In einem ihrer Briefe schreibt ihre Tante Silly:

So ward unsere Luzie hingewagt, so ging uns das süße Geschöpf verloren; denn sie stirbt, Kinder, und ihr Tod ist dieser Allwill!

Als ganz so dramatisch erweist sich die Lage dann doch nicht: In den beiden letzten Briefen, die das eigentliche Prunkstück der Sammlung (1775/1776) bilden, verbreitet Eduard nicht nur seine libertinistische Philosophie des natürlichen Gefühls, dem es zu folgen gelte, sondern er erhält auch eine vollständige Zurückweisung seines Standpunktes durch die bürgerlich-moralisch argumentierende Luzie, die mit ihrem Plädoyer das letzte Wort behält. Einen sterbenden Eindruck macht sie dabei ganz und gar nicht.

Ich bin an dieses Stück geraten, da ich im Rahmen einer Rezension, die hier nichts zur Sache tut, wieder einmal den Goetheschen Werther in die Hand genommen habe und dabei an Jacobi erinnert wurde, von dem mir bislang nur sein Woldemar dem Namen nach bekannt war. Der Eduard Allwill stand kurzzeitig im Verdacht eine weiterer Briefroman aus der Feder Goethes zu sein, wenn dies auch aus einer eher oberflächlichen Vergleichung mit dem Werther herzurühren scheint. Da das Stück rasch gelesen ist (digitale Texte und deren Ausdrucke finden sich zuhauf), kann ich es für jene, die an der Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang interessiert sind, nur empfehlen. Wahrscheinlich werde ich hier in nächster Zeit noch die eine oder andere kleine Publikation, die im zeitlichen Umfeld des Werthers entstanden ist, besprechen.

Friedrich Heinrich Jacobi: Aus Eduard Allwills Papieren. Düsseldorf: Iris 4.1775 und Weimar: Der Teutsche Merkur 2.1776–4.1776.

Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach

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Angeregt durch die Lektüre des Buches von Frank Rexroth habe ich nach langer Zeit wieder einmal Dieter Kühns biographischen Entwurf zu Wolfram aus dem Regal gezogen. Ich bin während des Studiums auf Kühn aufmerksam gemacht worden, und mein stets waches, aber großteils doch vernachlässigtes Interesse an Kultur und Geschichte des Mittelalters rührt wesentlich aus der Lektüre dieses Buches her.

Kühns Buch hat zwei Teile: Im ersten liefert er auf etwa 330 Seiten – wie bereits gesagt – einen biographischen Entwurf des Lebens und Werks Wolframs, während der zweite, deutlich umfangreichere Teil eine Übersetzung von ungefähr 80 % des Wolframschen „Parzival“ enthält. (Die komplette Übersetzung liegt in der zweisprachigen Ausgabe beim Deutschen Klassiker Verlag leider nur noch als Taschenbuch vor.)

Wie immer, wenn es über die zu verbiographierende Person nur wenig Konkretes zu sagen gibt, liefert auch Kühns Entwurf ersatzweise ein Panorama der zeitgenössischen Kultur und – wenigstens in groben Zügen – Geschichte. Kühn macht dabei an allen Stellen klar, wo er gezwungen ist zu extrapolieren, wo nur Vermutungen möglich sind, was sich nur erraten lässt. Er erfindet zwei Figuren, um in ihnen das vermutliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensumfeld Wolframs zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens zu spiegeln. Natürlich nimmt auch die Besprechung der Werke Wolframs – nicht nur des „Parzival“, sondern auch des „Willehalm“ und des „Titurel“ – breiten Raum ein; alle Werke sind in ausführlichen Zitaten auch schon in diesem ersten Teil präsent. Was das Buch über all das hinweg auszeichnet, ist Kühns äußerst angenehmer Erzählstil, der die unterschiedlichsten Themen und Fiktionen elegant miteinander verbindet.

Kühns Buch über Wolfram ist der erste Teil seines Mittelalter-Quartetts, das mit „Neidhart und das Reuental“, „Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg“ und „Ich Wolkenstein“ vervollständigt wurde. Das hier besprochene und derzeit auch noch vorliegende Taschenbuch enthält eine Überarbeitung des ersten Teils von 1997; da ich das Buch erstmals in der 80-er Jahren gelesen habe, muss dies damals noch die ursprüngliche Fassung gewesen sein; ich kann mich aber an die erste Lektüre leider nicht mehr gut genug erinnern, um einen Vergleich der beiden Fassungen auch nur versuchen zu können.

Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach. Fischer Taschenbuch 13336. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 42006. Broschur, 939 Seiten. 29,– €. – Zur Information: Meine Ausgabe hat im Jahr 2006 12,95 € gekostet.

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik

Die Vernunft steht über dem Gesetz, dieses über der Gewohnheit.

Abaelard

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Während die meisten Darstellungen der Scholastik ihren Schwerpunkt auf die methodische und inhaltliche Entwicklung dieser Denkbewegung und -epoche legen, behandelt Rexroth die Scholastik in der Hauptsache als soziologische Evolution des Bildungssystems im 12 Jahrhundert. Er beschreibt das Aufbrechen des eher starren Schulsystems des frühen Mittelalters in ein durch vielfältige Experimente mit neuen Formen des Zusammenlebens und Unterrichts geprägte neue Form wissenschaftlicher Existenz.

Das Buch setzt beim Leser zumindest Grundkenntnisse der Scholastik voraus, kann unter dieser Bedingung aber als eine nahezu idealtypische historisch-soziologische Ergänzung zu jeglicher Einführung in die Scholastik empfohlen werden. Zumindest bei mir hat das Buch ein intensiveres Nachdenken auch über die gesellschaftliche Bedingtheit neuzeitlicher Philosophie ausgelöst, ein Aspekt, der in der Philosophiegeschichte eher vernachlässigt wird. Für alle an Philosophie Interessierten unbedingt zu empfehlen.

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters. München: C.H. Beck, 22019. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 505 Seiten. 29,95 €.

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler

Nicolas Mahler hat sich sehr rasch einen Namen damit gemacht, anspruchsvolle literarische Texte auf originelle Weise in sogenannte Graphic Novels zu verwandeln. So auch hier bei Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Der Roman ist so etwas wie das Tagebuch eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich nach einem vernichtenden Atomkrieg als vermeintlich letzter Mensch in Europa in der Lüneburger Heide niederlässt. Statt in eines der verlassenen Häuser einzuziehen, baut er sich lieber eine Hütte im Wald – das Warum dafür ist vielfältig und braucht hier nicht erläutert zu werden; interessant ist aber, dass Mahler gerade diesen Aspekt des Romans unterschlägt –, fährt mit seinem Fahrrad nach Hamburg, um dort Bilder für sein Heim aus der Kunsthalle zu entwenden und sich auch in den dortigen Antiquariaten zu bedienen, und richtet sich so in einer menschenleeren Welt auf seine restlichen Tage ein. Es weist sich, dass er natürlich nicht der letzte Mensch ist, sondern sich noch eine Frau einfindet. Nachdem man vorsichtigerweise erst einmal aufeinander geschossen hat, einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der dann kräftig ausgekostet wird. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Mahlers Version der „Schwarzen Spiegel“ ist sehr anspielungsreich: Bei ihm ist es offenbar der Autor Schmidt selbst, der durch das atomwüste Deutschland radelt; in seinen Träumen spiegeln sich andere seiner Werke wider, die auch in wörtlichen Zitaten hier und da präsent sind. Auch Zeichnungen von Schmidt selbst und von Künstlern, die er schätzte, sind in die Verzeichnung des Romans eingegangen. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsames Werk, das sowohl dem Kenner als auch dem Greenhorn in Sachen Schmidt einiges Vergnügen bereiten kann. Sehr empfehlenswert, auch als Geschenkbuch!

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler. Bibliothek Suhrkamp 1528. Berlin: Suhrkamp, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 191 Seiten. 24,– €.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian

Alle lügen sie, Alle, nach ihrer Art! Ich auch! aber nicht so dumm wie die Anderen alle!

Mit diesem Buch beginnt der Wallstein-Verlag eine neue, kritische Wilhelm-Raabe-Ausgabe, ein weiteres erstaunliches Unternehmen dieses Verlages, denn die Präsenz Raabes in unserer föjetonistischen Kultur dürfte mit „eher dürftig“ noch sehr freundlich beschrieben sein. Angekündigt ist für den kommenden Februar noch der Band „Der Lar“ (1889); wie sich die Sache danach entwickeln wird, müssen wir abwarten und hängt sicherlich auch davon ab, wie erfolgreich der Einstieg gerät. Ein Editionsplan ist wenigstens im Moment auf der Webseite des Verlages noch nicht zu finden.

„Fabian und Sebastian“ stammt vom Anfang der 1880er-Jahre und war keiner der großen Erfolge Raabes, der von seiner Schriftstellerei lebte und daher auf den Zuspruch des Lesepublikums angewiesen war. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, von den allerdings der jüngste, Lorenz, zu Beginn der Erzählung gerade auf Sumatra im nierderländischen Militärdienst verstorben ist und eine nun verwaiste, 15-jährige Tochter hinterlassen hat, die gerade auf dem Weg nach Europa ist, um bei ihren Onkeln zu leben. Fabian und Sebastian sind Besitzer einer erfolgreichen Konfitüren- und Schokoladenfabrik, wobei Sebastian der Geschäftsführer ist, während sich Fabian um die künstlerische Gestaltung der Ware kümmert. Beide Brüder sind unverheiratet und wohnen auf dem Fabrikgelände, aber in getrennten Wohnung und haben wenig Kontakt miteinander. Sebastian möchte seine neue Nichte Constanze in einer Pension für jungen Mädchen unterbringen, nicht nur, um sie aus dem Haus zu haben, sondern auch um das Problem der Erziehung des Mädchens auf einfachem Weg zu lösen. Fabian dagegen hat zusammen mit seinem philosophischen Faktotum Knövenagel bereits ein Zimmer für sie eingerichtet und reist nach Marseille, um Constanze dort vom Schiff abzuholen.

Nach der Rückkehr in die Heimatstadt passiert erstaunlich wenig: Weder wird die Beziehung zwischen den beiden Brüdern enger, noch erweitert sich das doch sehr beschränkte soziale Umfeld Fabians durch Constanzes Einfluss. Das Mädchen lebt in der Stadt im eingezogenen Zirkel Fabians; als Gegenwelt dient das ländliche Schielau, in dem Constanze einige glückliche Sommerwochen bei dem mit Fabian eng befreundeten Amtmann und seiner Frau durchlebt. Fabian selbst gerät durch die Ankunft des Mädchens in eine künstlerische Krise, die sich auf die saisonale Vorbereitung der Schokoladenfabrikation für das nächste Weihnachtsgeschäft auswirkt.

Ebenso gerät Sebastian in eine zuerst eher unbestimmtere psychische Krise, die offensichtlich mit der unterdrückten Vorgeschichte der drei Brüder zu tun hat, die von Beginn an in Andeutungen die Erzählungen durchwirkt. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber auch in dieser Vorgeschichte gibt es eine Tochter, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, weshalb ihre Mutter seit beinahe zwanzig Jahren im städtischen Gefängnis sitzt. Diese Geschichte tritt erst peu à peu zutage, so wie sie in immer neuen Teilen Constanze erzählt wird.

Den Abschluss der Erzählung bildet eine bitter-süße Auflösung der Spannungen, die zwischen den Brüdern und dem anderen, unterdrückten Teil dieser Familie bestehen. Es kann nicht ohne Tragik abgehen, aber Constanze bewehrt sich hier als gute Wilde auf das Beste. Es wird zwar nicht alles gut, aber doch besser. All das wird in einer absichtlich umständlichen und etwas redundanten Sprache erzählt, wobei die Geschlossenheit der präsentierten kleinen Welt nur einer oberflächlichen Betrachtung standhält.

Der Band ist eine Gelegenheit, Raabe als komplexen und originellen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennenzulernen. Er ist ein Beispiel für die Neigung des sogenannten literarischen Realismus, auf den ersten Blick eher schlichte Erzählungen mit zahlreichen Bedeutungs-Ebenen zu unterfüttern, ohne damit die Rezeption eines breiteren Lesepublikums zu stören.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2023. Pappband, Fadenheftung, 288 Seiten. 26,– €.

Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz

Geschichte von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne ohne das Neue Rom zu schreiben oder lehren zu wollen, ist […] ein aussichtsloses Unterfangen.

Es ist ein höchst seltener Fall, dass sich eine Sachbuchreihe nach ihrem vermeintlichen Abschluss nicht nur noch einmal zu Wort meldet, sondern sich zudem auch noch ins Wort fällt, wenn man so sagen darf. Der sechste Band der Beck’schen Geschichte der Antike hatte die Antike schon vergleichsweise spät mit dem Aufstieg des Islam enden lassen. Sein Nachfolger Preiser-Kapeller liefert nun einen siebten Band der Hexalogie und verlängert mit ihm die Geschichte der Antike mit einigem Recht bis ins Jahr 1453, also bis zum endgültigen Fall von Konstantinopel an die Osmanen. Er weist darauf hin, dass im Selbstverständnis, aber durchaus auch im Verständnis des sogenannten Westens Konstantinopel noch für sehr lange Zeit als zwar beschränkte, aber dennoch ungebrochene Fortsetzung des römischen Kaisertums und seines Reiches empfunden wurde.

Es ist verständlich, dass eine Darstellung von über 1.000 Jahren Historie auf etwas über 300 Seiten in weiten Teilen summarisch sein muss. Besonders die letzten 200 Jahre der Geschichte des „Neuen Rom“, wie der Autor das Byzantinische Reich bevorzugt nennt, sind eine dichte Aneinanderreihung von Haupt- und Staatsaktionen, auch wenn sich Preise-Kapeller redlich bemüht die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Menschen unter den römischen Kaisern nicht ganz zu vernachlässigen. Die Darstellung macht viele Verflechtungen zwischen Macht- und Religionspolitik deutlich, wie etwa in der Spätzeit des oströmischen Reiches die Kaiser immer erneut mit dem Pfund einer Kirchenvereinigung wuchern, um Unterstützung aus dem Westen Europas zu erlangen, sich dabei aber notwendig gegen ihre eigene Kirche und die Masse der gläubigen Untertanen wenden müssen. Auch die sowohl auf byzantinischer als auch auf slawischer, mongolischer und islamischer Seite immer erneute Selbstschwächung durch innere Konflikte beim Herrscherwechsel sind eine Konstante der Darstellung, die deutlich macht, wie wenig das Konzept des Einzelherrschers tatsächlich in der Lage ist, eine zuverlässige, stabile und erfolgreiche Ge­sell­schafts­ord­nung über Generationen hinweg zu garantieren. Nicht zuletzt folgt Preiser-Kapeller der Tugend der Gesamtreihe, die grundlegenden Quellen seiner Geschichtsschreibung nicht zur zu benennen, sondern auch immer kritisch auf deren eigene Agenda hin zu befragen.

Man würde sich 150 oder sogar 200 Seiten mehr wünschen, nicht nur um die soziale und intellektuelle Entwicklung des Neuen Rom detaillierter zu verstehen, sondern auch um mehr über die näher und weiter entfernten Feinde des Reiches zu erfahren. So wird etwa die Rolle der Mongolen und der Entwicklung ihres Reiches immer wieder thematisiert, doch bleibt das Bild dieses Volkes und der inneren Struktur seiner Herrschaft leider zwangsläufig schemenhaft. Doch solche Nachforderungen lassen sich natürlich immer und bei jedem Werk gleich welchen Umfangs formulieren.

Insgesamt ein sehr würdiger Abschluss dieser Reihe, die in ihrer Gesamtheit nur einmal mehr empfohlen werden kann.

Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters. C. H. Beck Paperback 6535. München: Beck, 2023. Klappenbroschur, 352 Seiten. 22,– €.