Hans-Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit

Ihr hört, was der gelehrte Mann uns schreibt,
Und hier, so glaub’ ich, kommt der Doktor schon.
Der Kaufmann von Venedig

Gelfert-ShakespeareEin weiteres Shakespeare-Buch, das kaum Originelles enthält: ein wenig Biographie (weil mehr schlicht nicht existiert), viel über die Kultur und Gesellschaft der elisabethanischen Zeit und ein Durchgang durch das Werk Shakespeares mit den üblichen Inhaltsangaben und ein wenig Interpretation. Da Gelfert emeritierter Anglist ist, fällt bei ihm die Darstellung der Literatur der Shakespeare-Zeit etwas ausführlicher aus als in vergleichbaren Veröffentlichungen. So gibt er ein ganzes Kapitel zum Sonetten-Kult, das er zudem mit Beispielen von Sir Philip Sidney, Samuel Daniel, Edmund Spenser und Michael Drayton illustriert. Es ist allerdings zu befürchten, dass er damit ebenso wie mit seinen eigenen Übersetzungen aus Shakespeares Sonetten, die immerhin 20 Seiten füllen, über die Köpfe seines eigentlichen Zielpublikums hinweg redet.

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze bleiben alles in allem und ganz im Sinne einer Einführung schlicht, wobei sich Gelfert in der Hauptsache auf die Themenkomplexe Leidenschaft versus Vernunft sowie Ordnung und Autorität konzentriert. Zwischendurch werden immer wieder einmal die Figuren Shakespeares als ganz besonders natürlich und menschlich hervorgehoben – all das bleibt ganz im Rahmen dessen, was man gewöhnlich über Shakespeare sagt. Natürlich weiß Gelfert dies alles selbst und betont denn auch gleich zu Anfang, dass es nicht der Anspruch seines Buches sei, „neue biographische Erkenntnisse“ zu liefern oder „sich ins Getümmel der mit Theorie überfrachteten kritischen Auseinandersetzung mit Shakespeares Werken“ zu stürzen.

Wohl aufgrund dieser Vorbehalte gegen Theorie fallen zumindest die dramaturgischen Einsichten etwas dünn aus: Einzig die „Poetik“ des Aristoteles wird ansatzweise genutzt, wenn auch nur, um die für Shakespeare nicht sehr ergiebige Katharsis-Theorie heranzuziehen. Die für Shakespeares Dramaturgie viel wichtigere Standesklausel – nicht umsonst heißt George Lillos berühmte bürgerliche Tragödie von 1731 „The London Merchant“ – bleibt gänzlich unerwähnt, sein Ignorieren der Drei Einheiten wird wenigstens im letzten Teil zur Rezeption kurz angesprochen. Die in zahlreichen Stücken dynamisch ausgespielte Spannung zwischen den äußerlichen Formen Tragödie und Komödie bleibt unzureichend begriffen bzw. beschrieben. Hier wäre auch nur ein weniges mehr an Theorie sicherlich dem Verständnis des Besonderen in Shakespeares Stücken förderlich.

Wer sich einen ersten Eindruck vom Gesamtwerk Shakespeares verschaffen will und wen Phrasenhaftes wie

Am Unnachahmlichsten ist Shakespeare darin, dass es ihm gelingt, über die komische und manchmal ans Tragische grenzenden Handlungen ein Licht der Poesie zu gießen, das die disparaten Elemente der Stücke – Fürsten und Bauern, weise Narren und dumme Tölpel, die Guten und Bösen, Höfisches und Pastorales – zu einer bruchlosen Einheit verschmilzt. (S. 264)

nicht stört, ist mit dem Buch wahrscheinlich gut bedient. Wer sich auch nur halbwegs auskennt, wird in ihm kaum etwas Interessantes finden.

Hans-Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit. München: C.H. Beck, 2014. Pappband, Lesebändchen, 471 Seiten. 26,95 €.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod

Der fröhliche Selbstmörder, der sich schon dreißig Jahre vorher darauf freut.

Zu Beginn von Woody Allens „Annie Hall“ erzählt Alvy Singer zwei Witze; der erste geht so:

Es gibt da einen alten Witz. Äh: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill-Berghotel – sagt die eine: »Gott, das Essen hier ist wirklich schrecklich!« – sagt die andere: »Stimmt, und diese kleinen Portionen!« – Naja, und im wesentlichen sehe ich so auch das Leben.

Canetti_TodDas Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die Versuche zur Überwindung des Todes – mystisch als individuelle Unsterblichkeit, metaphorisch in der Erinnerung der Lebenden oder im Werk oder biologisch in den Nachkommen – sind bereits früh als entscheidende Antriebe menschlichen Handelns verstanden worden. Es wird aber wohl nur wenige Beispiele einer so ausgeprägten Todfeindschaft geben, wie sie „Das Buch gegen den Tod“ dokumentiert. Elias Canetti begriff sich als radikalen Gegner des Skandalons Tod und plante spätestens seit 1942 ein Buch gegen den Tod zu schreiben, zu dem aber letztendlich nie mehr als umfangreiche Notizen entstanden sind.

Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger haben nun aus den bereits veröffentlichten Notizen Canettis und dem Nachlass eine Auswahl zusammengestellt, die eine wenigstens ungefähre Vorstellung davon geben können, wie „Das Buch gegen den Tod“ hätte aussehen können. Etwa zwei Drittel des präsentierten Materials war bislang noch unveröffentlicht; angeordnet ist es chronologisch, wobei in jedem Jahr die bereits gedruckten Notizen den ungedruckten vorangestellt sind. Das Material bewegt sich vom aphoristischen Einzeiler über Zitate aus Zeitungen und Büchern bis hin zu autobiographischen Einträgen und Briefentwürfen, so etwa diejenigen, die sich um die Begegnungen und Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard drehen.

Aus all dem ergibt sich kein einheitliches Bild, sondern eine Gemengelage diverser mythologisch und rationalistischer Zugriffe, die immer wieder neu gewendet und durchdacht werden. Hin und wieder finden sich ganz unvermittelt Gedanken von einer bemerkenswerten Originalität:

Zum Mond
Vielleicht fehlen noch Tote auf dem Mond. Mit den ersten Menschen, die dort zugrundegehen, mit seinen ersten Toten, wird er uns vertrauter werden. (S. 133)

Wer das zu Ende denken kann, wird sowohl dem Begriff der Heimat als auch dem Sinn von Friedhöfen ein ganzes Stück näher sein.

Interessanterweise fehlt der biologische Zugriff auf den Tod als eine notwendige Voraussetzung höherer Evolution beinahe vollständig. Ob dies an der Auswahl liegt oder ob dieser Aspekt erst sehr spät im Denken Canettis auftaucht, kann aus dem vorliegenden Material nicht beurteilt werden. Erst unter den Notizen aus dem Jahr 1993 taucht das folgende Fragment eines Gedankens auf:

Der Darwinismus, der aus dem Tod etwas Fortschrittliches macht. (S. 304)

Wenigstens ich finde es sehr schade, dass dies als Gegengewicht zu dem mythologischen Denken Canettis erst so spät, zu spät wirksam zu werden scheint.

Kein Buch für eine systematische Lektüre, aber eine anregende und in allen Teilen interessante Materialsammlung.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hg. v. Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger. München: Hanser, 2014. Pappband, 352 Seiten. 24,90 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw

Stein-Alphabet-3Der erste Roman von Benjamin Stein, der 1995 beim Ammann unter dem Titel „Das Alphabet des Juda Liva“ erschienen war, wird nun in einer sprachlich komplett überarbeiteten Neuausgabe erneut vorgelegt. Es handelt sich um einen phantastischen Roman in der Traditionslinie von E. T. A. Hoffmann, Michail Bulgakow, Gustav Meyrink und Karel Čapek. Die Handlung ist in der Hauptsache in Berlin und Prag angesiedelt, aber auch Wien kommt drin vor. Den erzählerischen Rahmen bildet die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem anscheinend etwas aus der Bahn geratenen Jacoby, der sich eines Abends in einem Lokal an den Tisch des Erzählers setzt und sich ihm als Erzähler anbietet, der ihn und seine Ehefrau einmal pro Woche abends mit einer Geschichte unterhalten will.

Die Kern-Erzählung setzt allerdings erst mit dem Tod Jacobys ein, den dieser per Telegramm aus einer Irrenanstalt heraus ankündigt. Jacoby vermacht seinen Gastgebern testamentarisch eine Reihe von Tonband- und Videoaufzeichnungen, die die Fortsetzung seiner Geschichte enthalten, was den Erzähler dazu bringt, seinen Beruf aufzugeben und der Schriftsteller der Erzählung Jacobys zu werden.

Erzählt wird die ebenso ausschweifende wie phantastische Geschichte von Großmutter, Mutter und Tochter Marková und ihrer Liebhaber, von denen sie in schöner Reihe in der ersten und jeweils einzigen Liebesnacht geschwängert werden, wonach sich die Herren alle im Handumdrehen aus dem Staub machen, verfolgt vom durchaus nicht harmlosen Fluch ihrer Geliebten. Nach viel zu kurzer Schwangerschaft bringen die Mütter jeweils eine Tochter zur Welt, mit der es offenbar eine mehr als irdische Bewandtnis hat. Jacoby wird in diese Geschichte verwickelt, da er mit Alex Rottenstein, dem Liebhaber von Eva, der Jüngsten der Markovás, befreundet ist. Von der komplexen Fabel hier mehr nachzuerzählen, ist ganz unnötig; überhaupt gilt für das Buch, dass der Leser sich seinem lebendigen und verwickelten Gang schlicht anvertrauen sollte, um alle seine Wunder und Zeichen kennen zu lernen. (Wem die Beziehungen der Figuren allerdings über den Kopf zu wachsen drohen, der findet auf der Webseite des Autors eine kleine, interaktive Hilfe-Stellung.)

Das Buch ist nicht nur aufgrund seiner stofflichen Fülle für einen Erstling erstaunlich, sondern überzeugt auch durch die Beherrschung der phantastischen Erzähltradition, die auf ganz natürlich Weise mit Motiven und Mythen der jüdischen Kultur durchflochten wird. Wie auch bei den späteren Büchern Steins entsteht aus diesen Traditionslinien ein durch und durch außergewöhnlicher und origineller Text.

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher Verlag, 2014. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 286 Seiten. 24,– €.

Elmar Schwertheim: Kleinasien in der Antike

Schwertheim-Kleinasien

Der Band bietet einen Marsch durch die Geschichte Kleinasiens von den ersten fassbaren archäologischen Spuren bis zur Gründung Konstantinopels als zukünftiger Hauptstadt Ostroms. Angesichts dieses Zeitraums und der Kürze des Bandes darf man nicht zu viel erwarten. Auf vielen Seiten bleibt dem Autor praktisch nichts anderes übrig, als eine gedrängte Chronologie des historischen Ablaufs zu liefern, wobei besonders in der Zeit des Hellenismus die Verhältnisse so komplex sind, dass wenigstens ich der Darstellung ohne einen daneben liegenden historischen Atlas nicht folgen konnte.

Dies wird dann bei der Darstellung der römischen Zeit in Kleinasien wieder etwas besser, wobei aber auch hier der Versuch, gleichzeitig die religiöse Entwicklung des Christentums und die politische Entwicklung Roms zu beschreiben, den Leser letztlich etwas unbefriedigt zurücklässt. Das Dilemma des Autors, einerseits kein wesentliches Details vernachlässigen zu wollen, andererseits nicht mehr als knapp 120 Seiten für seine Darstellung zur Verfügung zu haben, ist dem Text auf beinahe jeder Seite abzulesen.

Dabei handelt es sich bei Kleinasien tatsächlich um einen der spannendsten und spannungsreichsten Kulturräume der Antike, der aber in den großen Überblicksdarstellungen der antiken Geschichte beinahe immer etwas stiefmütterlich abgehandelt wird. Ich selbst bin gespannt, ob ich mir die Zeit nehmen werde, Christian Mareks umfangreiches Buch zum Thema wenigstens auszugsweise zu lesen.

Elmar Schwertheim: Kleinasien in der Antike. Von den Hethitern bis Konstantin. BR 2348. München: C.H. Beck, 22011. Broschur, 128 Seiten. 8,95 €.

Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit

Welwei-Griechische-FrühzeitEin kurzer Überblick über die Zeit von Beginn der europäischen Zivilisation auf Kreta bis zum Übergang der archaischen Periode zur klassischen Antike. Der im vergangenen Jahr verstorbene Althistoriker Karl-Wilhelm Welwei war zu Recht als einer der besten Kenner des antiken Griechenlands bekannt; entsprechend detailreich und dicht ist seine Darstellung geraten. Welwei behandelt alle wichtigen Aspekte der historischen Entwicklung, wobei er angenehmerweise gar nicht erst versucht, für die sogenannten Dunklen Jahrhunderte (ca. 1200–800 v.u.Z.) eine Erklärung zu liefern. Zwar erwähnt er die als mitursächlich anzunehmenden Erdbeben, deren Zerstörungen sich faktisch nachweisen lassen, doch verzichtet er darauf, die Spekulationen des 19. und 20. Jahrhunderts (barbarische Eroberer, Seuchen, rassische Degeneration etc.), für die es keinerlei archäologische Belege gibt, auch nur zu erwähnen.

Im zweiten Teil der Darstellung liegt das Hauptgewicht auf der verfassungsrechtlichen Entwicklung verschiedener lokaler Ethnien, die schließlich zu der Form der athenischen Demokratie führte, die das populäre Bild des klassischen Zeitalters prägt. Nebenbei wird in einem kurzen Kapitel auch die kulturelle Entwicklung in Architektur, Plastik, Keramik und Dichtung behandelt, wobei auf den wenigen Seiten nur die ganz großen Linien angedeutet werden können.

Die gedrängte Darstellung zielt eher auf ein studentisches Publikum ab, ist also für eine allererste Einführung in das Thema nur bedingt geeignet. Wer allerdings bereits eine allgemeine Idee von der historischen Entwicklung der griechischen Frühzeit hat, wird kaum einen auch nur annähernd kompakten und zugleich kompetenten und informativen Überblick zum Thema finden.

Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit. 2000 bis 500 v. Chr. BR 2185. München: C.H. Beck, 22007. Broschur, 128 Seiten. 8,95 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 3

Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir uns gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.

Johnson-Jahrestage-3Der dritte Band der „Jahrestage“ ist der schmalste der Tetralogie und markiert die Lebens- und Schreibkrise in Johnsons Leben. Er umfasst nur zwei Monate aus dem Leben der Protagonistin im Jahr 1968 statt der vier der beiden vorangegangenen Bände. In Gesines Leben gibt es keine bedeutenden Änderungen: Sie beobachtet auch weiterhin im Auftrag der Bank, bei der sie angestellt ist, die Entwicklung in der ČSSR zu dem Ende, dass sie als Vertreterin der Bank nach Europa wechseln soll.

Für ihre Tochter Marie sind es Monate der politischen Desillusionierung: Ihr Idol John Vliet Lindsay, der Bürgermeister von New York, fällt bei ihr als Opportunist in Ungnade, und auch ihre Trauer um den am 5. Juni 1968 niedergeschossenen und tags darauf verstorbenen New Yorker Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy wird erheblich getrübt durch ihre Einsicht in die Inszenierung dieses Todes durch Politik und Familie. Marie ist zudem gegen den bevorstehenden Umzug nach Europa und will ihre Mutter zum Bleiben in den USA überreden, indem sie ihr ein Haus und eine geruhsame Zukunft verspricht, sobald sie selbst Geld verdienen wird.

Ganz kurz taucht an einem Urlaubswochenende mit zwei Kolleginnen aus der Bank die Alternative einer Frauen-WG vor den Toren New Yorks auf, die es Marie eventuell ermöglichen würde, in den Staaten zu bleiben, während ihre Mutter in Europa arbeitet, doch zerschlägt sich dieser Plan nach kurzer Zeit, weil eine der Frauen doch wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und auch die Beziehung zwischen Gesine und dem bislang wohl noch gar nicht erwähnten D. E., bürgerlich Professor Dietrich Erichson, einem für die Rüstungsindustrie tätigen Physiker Mecklenburger Herkunft, der Gesine regelmäßig Heiratsanträge macht, die anzunehmen sie sich fürchtet, da sie ihrer eigenen Befähigung zu einem bürgerlich ruhigen Leben misstraut, macht keine wirklichen Fortschritte.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Leben Heinrich Cresspahls im Nachkriegsdeutschland dramatisch: Zwar übt er auch unter der russischen Besatzung zunächst weiterhin das Amt des Bürgermeisters von Jerichow aus, doch wird er eines Tages aus für ihn nicht durchschaubaren Gründen verhaftet, wochenlang verhört und schließlich ins Lager Fünfeichen überführt und dort anscheinend vergessen. Die dreizehnjährige Gesine lebt nun im väterlichen (eigentlich eigenem) Haus unter der Aufsicht von Jakob Abs und seiner Mutter, ist in Jakob verliebt, ohne es ihm zu zeigen, besucht wieder die Schule und versucht, ohne ihre wichtigste Vertrauensperson, ihren Vater in den ärmlichen Zeiten zurechtzukommen. Der Band schließt mit der Beschreibung des Wiederaufbaus nicht nur der Infrastruktur der russischen Besatzungszone, sondern auch des politischen Lebens durch von der Besatzungsmacht angeregte Gründungen von bürgerlichen Parteien, die die Entstehung eines deutschen Sozialismus vorbereiten sollen.

Uwe Johnson: Jahrestage 3. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. April 1968 – Juni 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Leinen, Fadenheftung, 357 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 593 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität

[…] als sei generell alles, was aus meinem Mund komme, abwegig, ja, idiotisch sogar.

Schimmelbusch-MurauDas Buch beruht auf einem netten, wenn auch banalen Einfall: Thomas Bernhard ist 1989 nicht gestorben, sondern hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Seitdem lebt er unter dem Pseudonym Murau als Ehemann, Vater und Freizeitler auf Mallorca und in New York. Allerdings dreht sich das aus dieser Idee entwickelte Buch nur sehr am Rande um Bernhard, wahrscheinlich deshalb, weil seinem Autor zu Bernhard nicht so recht viel einfallen will. Stattdessen füllt er viele, viele Seiten mit etwas, was er wohl für eine Satire des Lebens eines Jet-Set-Journalisten hält, in der ein überzeichnetes Alter Ego in der Welt herumfliegt, seine Obsession für Fellatio aus- und dem finanziellen Ruin entgegen lebt.

Das Rückgrat der Erzählung bildet eine mäßig gelungene Stil-Parodie auf die Notate Siegfried Unselds aus dem Briefwechsel-Band Bernhard/Unseld. In insgesamt fünf Lieferungen durch das ganze Buch hindurch berichtet in ihnen Unseld von seinen Treffen mit Bernhard nach dessen fingiertem Tod. Was sich im ersten Teil noch ganz witzig liest, verflacht bald zu einer öden Wiederholung des immer gleichen Superman-Habitus, ohne dass etwas anderes als eben zusätzliche Seiten gewonnen würde. An einer einzigen Stelle schwingt sich dieser Text zu einer wirklich witzigen Pointe auf, als nämlich Unseld bei einem Besuch in einem Bordell erkennen muss, dass Bernhard die chinesische Vase, die er ihm Ende 1974 in Ohlsdorf geschenkt hat (vgl. Briefwechsel S. 453), zuvor offenbar aus eben diesem Puff entwendet hat (S. 98 ff.). Leider fällt alles andere gegen diesen Höhepunkt steil ab.

Da die ohnehin zu lang geratene Parodie allein kein Buch füllen würde, schreibt Schimmelbusch die oben schon angedeutete Schickimicki-Handlung drumherum und zwischenrein. Ganz zum Schluss tritt dann noch ganz kurz der Leibhaftige selbst auf, redet aber auch nur das, was wir nach der Lektüre des Buches ohnehin erwarten konnten. Ansonsten ist der Text gespickt mit sachlichen Fehlern (um von dem im Titel fehlenden Bindestrich einmal ganz abzusehen), alle natürlich sorgsam absichtsvoll im Text platziert und an entsprechender Stelle (S. 141 f.) poetologisch gerechtfertigt. Wer einen dummen Text schreibt, muss inzwischen offensichtlich nur noch die Klugheit als obsoletes Konzept deklarieren, um mit allem im Reinen zu sein.

Ein Text mehr, der die von ihm selbst aufgelegte Latte mühelos unterspringt. Schade …

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität. Berlin: Metrolit, 2014. Bedruckter Pappband, 208 Seiten. 18,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979

BB-375-377Nachdem nun wohl die seit vielen Jahren angekündigte Biographie Arno Schmidts aus der Feder von Bernd Rauschenbach auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist, liefert Friedhelm Rathjen, der Herausgeber des Zentralorgans der Arno-Schmidt-Forschung, des Bargfelder Botens, in einer Dreifach-Nummer eine 90 Seiten starke „Chronik von Leben und Werk“ des berühmten Bargfelder Autors. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die bislang umfassendste Sammlung von Daten zu Leben und Werk Schmidts, wobei Rathjen bis auf die unumgängliche Fundierung interpretierende Zugriffe weitgehend vermeidet. Da die kurze Rowohlt-Bildmonographie von Wolfgang Martynkewicz (1992) inzwischen nicht mehr im Druck ist, wird Rathjens Chronik wohl für längere Zeit die einzige Grundlage für eine biographische Annäherungen an Schmidt sein.

En passant beerdigt Rathjen durch Nichterwähnung den von Schmidt selbst in die Nachkriegswelt gesetzten Mythos seines Studiums (wahlweise der Mathematik und/oder der Astronomie), den Schmidt einerseits dazu benutzte, seine autodidaktisch erworbene Kompetenz in ein bürgerlicheres Licht zu setzen, andererseits benötigte, um eine biographische Lücke zu füllen, die entstanden war, als er sich in englischer Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter machte, wahrscheinlich um dem Einsatz als Zwangsarbeiter zu entgehen. Zudem verwendete Schmidt diesen Mythos dazu, sich zu einem Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren:

Da seine Schwester einen jüdischen Kaufmann geheiratet hatte, brach er 33 – ganz bewußt, um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen – sein Studium ab. [BA, Suppl. 1, S. 329]

Diese Fiktion hält er auch 1957, als eine Korrektur des Geburtsjahres in seinen Papieren längst erfolgt ist, weiterhin aufrecht:

Versuch des Mathematikstudiums vereitelt durch Zusammenstoß mit Hitlerei. [BA, Suppl. 1, S. 336]

Offenbar hat sich Schmidt keine ausreichenden Gedanken darüber gemacht, was die Aneignung einer solchen Opferrolle bedeutet. Dieser dunkle Teil der autobiographischen Selbststilisierung Schmidts bleibt bei Rathjen leider unerwähnt. Zudem ordnet Rathjen die Postkarte Schmidts vom 25.11.1933 an seinen Freund Heinz Jerofsky, auf der er behauptet, er habe sich zur SS melden wollen und an einem entsprechenden Schulungsabend teilgenommen, ausdrücklich als Scherz ein. Dies ist wohl nicht die einzige Einschätzung, die sich anbietet. Womit nicht gemeint ist, Schmidt sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, doch hätte ihn 1933 sein naives, weitgehend apolitisches oder auch antipolitisches Weltbild, wie es uns aus den Frühschriften entgegentritt, wohl kaum vor einem solch fatalen Schritt nach dem Motto „wenn schon Militär, dann wenigstens Elite“ bewahrt. Es steht zu befürchten, dass diese und ähnliche Fragen noch lange, wenn nicht für immer ein Desiderat bleiben werden.

Ansonsten trägt Rathjens Chronik nicht nur lückenlos die bereits bekannten Daten zusammenzutragen, sondern hier und da blitzen einzelne Neuigkeiten und zumindest von mir so noch nicht realisierte Zusammenhänge auf. Für alle enthusiastischen Schmidt-Leser ein Muss, für alle Interessierten die derzeit umfangreichste Grundlage für einen biographischen Überblick. Bleibt zu hoffen, dass sich in absehbarer Zeit doch einmal eine oder einer der undankbaren Aufgabe unterzieht, eine umfangreiche, geschlossene Biographie Arno Schmidts vorzulegen.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979. Chronik von Leben und Werk. Bargfelder Bote Lfg. 375–377. München: edition text und kritik, 2014. Broschur, 97 Seiten. Bei Einzelbezug: 15,– €.