Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität

[…] als sei generell alles, was aus meinem Mund komme, abwegig, ja, idiotisch sogar.

Schimmelbusch-MurauDas Buch beruht auf einem netten, wenn auch banalen Einfall: Thomas Bernhard ist 1989 nicht gestorben, sondern hat seinen Tod nur vorgetäuscht. Seitdem lebt er unter dem Pseudonym Murau als Ehemann, Vater und Freizeitler auf Mallorca und in New York. Allerdings dreht sich das aus dieser Idee entwickelte Buch nur sehr am Rande um Bernhard, wahrscheinlich deshalb, weil seinem Autor zu Bernhard nicht so recht viel einfallen will. Stattdessen füllt er viele, viele Seiten mit etwas, was er wohl für eine Satire des Lebens eines Jet-Set-Journalisten hält, in der ein überzeichnetes Alter Ego in der Welt herumfliegt, seine Obsession für Fellatio aus- und dem finanziellen Ruin entgegen lebt.

Das Rückgrat der Erzählung bildet eine mäßig gelungene Stil-Parodie auf die Notate Siegfried Unselds aus dem Briefwechsel-Band Bernhard/Unseld. In insgesamt fünf Lieferungen durch das ganze Buch hindurch berichtet in ihnen Unseld von seinen Treffen mit Bernhard nach dessen fingiertem Tod. Was sich im ersten Teil noch ganz witzig liest, verflacht bald zu einer öden Wiederholung des immer gleichen Superman-Habitus, ohne dass etwas anderes als eben zusätzliche Seiten gewonnen würde. An einer einzigen Stelle schwingt sich dieser Text zu einer wirklich witzigen Pointe auf, als nämlich Unseld bei einem Besuch in einem Bordell erkennen muss, dass Bernhard die chinesische Vase, die er ihm Ende 1974 in Ohlsdorf geschenkt hat (vgl. Briefwechsel S. 453), zuvor offenbar aus eben diesem Puff entwendet hat (S. 98 ff.). Leider fällt alles andere gegen diesen Höhepunkt steil ab.

Da die ohnehin zu lang geratene Parodie allein kein Buch füllen würde, schreibt Schimmelbusch die oben schon angedeutete Schickimicki-Handlung drumherum und zwischenrein. Ganz zum Schluss tritt dann noch ganz kurz der Leibhaftige selbst auf, redet aber auch nur das, was wir nach der Lektüre des Buches ohnehin erwarten konnten. Ansonsten ist der Text gespickt mit sachlichen Fehlern (um von dem im Titel fehlenden Bindestrich einmal ganz abzusehen), alle natürlich sorgsam absichtsvoll im Text platziert und an entsprechender Stelle (S. 141 f.) poetologisch gerechtfertigt. Wer einen dummen Text schreibt, muss inzwischen offensichtlich nur noch die Klugheit als obsoletes Konzept deklarieren, um mit allem im Reinen zu sein.

Ein Text mehr, der die von ihm selbst aufgelegte Latte mühelos unterspringt. Schade …

Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität. Berlin: Metrolit, 2014. Bedruckter Pappband, 208 Seiten. 18,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979

BB-375-377Nachdem nun wohl die seit vielen Jahren angekündigte Biographie Arno Schmidts aus der Feder von Bernd Rauschenbach auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist, liefert Friedhelm Rathjen, der Herausgeber des Zentralorgans der Arno-Schmidt-Forschung, des Bargfelder Botens, in einer Dreifach-Nummer eine 90 Seiten starke „Chronik von Leben und Werk“ des berühmten Bargfelder Autors. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die bislang umfassendste Sammlung von Daten zu Leben und Werk Schmidts, wobei Rathjen bis auf die unumgängliche Fundierung interpretierende Zugriffe weitgehend vermeidet. Da die kurze Rowohlt-Bildmonographie von Wolfgang Martynkewicz (1992) inzwischen nicht mehr im Druck ist, wird Rathjens Chronik wohl für längere Zeit die einzige Grundlage für eine biographische Annäherungen an Schmidt sein.

En passant beerdigt Rathjen durch Nichterwähnung den von Schmidt selbst in die Nachkriegswelt gesetzten Mythos seines Studiums (wahlweise der Mathematik und/oder der Astronomie), den Schmidt einerseits dazu benutzte, seine autodidaktisch erworbene Kompetenz in ein bürgerlicheres Licht zu setzen, andererseits benötigte, um eine biographische Lücke zu füllen, die entstanden war, als er sich in englischer Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter machte, wahrscheinlich um dem Einsatz als Zwangsarbeiter zu entgehen. Zudem verwendete Schmidt diesen Mythos dazu, sich zu einem Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren:

Da seine Schwester einen jüdischen Kaufmann geheiratet hatte, brach er 33 – ganz bewußt, um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen – sein Studium ab. [BA, Suppl. 1, S. 329]

Diese Fiktion hält er auch 1957, als eine Korrektur des Geburtsjahres in seinen Papieren längst erfolgt ist, weiterhin aufrecht:

Versuch des Mathematikstudiums vereitelt durch Zusammenstoß mit Hitlerei. [BA, Suppl. 1, S. 336]

Offenbar hat sich Schmidt keine ausreichenden Gedanken darüber gemacht, was die Aneignung einer solchen Opferrolle bedeutet. Dieser dunkle Teil der autobiographischen Selbststilisierung Schmidts bleibt bei Rathjen leider unerwähnt. Zudem ordnet Rathjen die Postkarte Schmidts vom 25.11.1933 an seinen Freund Heinz Jerofsky, auf der er behauptet, er habe sich zur SS melden wollen und an einem entsprechenden Schulungsabend teilgenommen, ausdrücklich als Scherz ein. Dies ist wohl nicht die einzige Einschätzung, die sich anbietet. Womit nicht gemeint ist, Schmidt sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, doch hätte ihn 1933 sein naives, weitgehend apolitisches oder auch antipolitisches Weltbild, wie es uns aus den Frühschriften entgegentritt, wohl kaum vor einem solch fatalen Schritt nach dem Motto „wenn schon Militär, dann wenigstens Elite“ bewahrt. Es steht zu befürchten, dass diese und ähnliche Fragen noch lange, wenn nicht für immer ein Desiderat bleiben werden.

Ansonsten trägt Rathjens Chronik nicht nur lückenlos die bereits bekannten Daten zusammenzutragen, sondern hier und da blitzen einzelne Neuigkeiten und zumindest von mir so noch nicht realisierte Zusammenhänge auf. Für alle enthusiastischen Schmidt-Leser ein Muss, für alle Interessierten die derzeit umfangreichste Grundlage für einen biographischen Überblick. Bleibt zu hoffen, dass sich in absehbarer Zeit doch einmal eine oder einer der undankbaren Aufgabe unterzieht, eine umfangreiche, geschlossene Biographie Arno Schmidts vorzulegen.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979. Chronik von Leben und Werk. Bargfelder Bote Lfg. 375–377. München: edition text und kritik, 2014. Broschur, 97 Seiten. Bei Einzelbezug: 15,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage (1)

Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.

Johnson-Jahrestage-1Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.

Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.

Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.

Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.

Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.

Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.

Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.

Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).

Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.

Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.

Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Altes und Neues aus Bargfeld

Schriftsteller sollte man nie persönlich kennenlernen!

Arno Schmidt hat das große Glück gehabt, dass sich – zwar spät, aber immerhin – mit Jan Philipp Reemtsma ein potenter Mäzen eingefunden hat, der dafür gesorgt hat, dass Werk und Nachlass dieses außergewöhnlichen Autors nach seinem Tod von einer Stiftung betreut und sorgfältig ediert zum Druck gebracht wird. So sind in diesem Herbst im Vorfeld des 100. Geburtstages am 18. Januar 2014 vier Neuveröffentlichungen vorgelegt worden, die auf ganz unterschiedliche Lesergruppen abzielen.

Arno-Schmidt-PostautoMit »Und nun auf, zum Postauto!« erscheint zum ersten Mal eine umfangreiche Anthologie von Briefen Arno Schmidts außerhalb der Briefedition der Bargfelder Ausgabe. Wie die Herausgeberin Susanne Fischer, die unter anderem Geschäftsführerin der Bargfelder Arno Schmidt Stiftung ist, in ihrem kurzen Vorwort herausstellt, dokumentieren alle ausgewählten Briefe „Schmidts Selbstverständnis als Schriftsteller“. Von den in der Sammlung enthaltenen 160 Briefen sind einige bereits in den bislang erschienenen Briefwechseln enthalten, allerdings findet sich auch eine erkleckliche Anzahl bislang unveröffentlichter, von denen die an Schmidts langjährigen Verleger Ernst Krawehl und an Hans Wollschläger wohl zu den interessantesten gehören.

Für den Fachmann stellt sich über weite Strecken das gewohnte Bild der Selbstinszenierung des Autors als autodidaktisch errichtete Festung der Hochliteratur ein, das auch heute noch einen Teil der Rezeption Schmidts unangenehm prägt. Hier und da und besonders in den späteren Briefen finden sich aber erfreuliche Momente des Nachlassens jenes unentwegten, offiziellen Strammstehens im Dienste der Literatur.

Was ZETTELS TRAUM anbelangt, so sind 2.000 Seiten fertig, (dh im Rohentwurf; der aber notfalls auch schon einen recht leidlichen Begriff gäbe, (ich hab ihn ziemlich sorgfältig durchgeackert)); da er jedoch im Ganzen 5.000 bekommen wird, sind noch weitere 2 Jahre nötig. (Und dann noch womöglich eine ›Reinschrift‹!). Überdem werden unlängst (fürcht ich!) auch wieder Brotarbeiten einzuschalten sein; (war’s doch ohnehin wunders genug, daß ich anderthalb Jahre so pausenlos daran schuften durfte) – man schwâfelt so gern & viel von buddhistischer Ascese oder Acta Sanctorum plus Thebaischer Wüste: ich glaube immer ›zwei Jahre Bargfeld & Arbeit an ZT‹ würden selbst dem rindsledernsten Heiligen zu denken geben. (Zumal ich im – krassen Gegensatz zu Ihrer wohlwollenden Prognose – mit nichten der Hoffnung lebe, ich würde nun, mit diesem Werk in der Hand, endgültig den Gipfel des Parnaß usw.; (was allein rein technisch unmöglich ist; wird mein Büchlein doch, (wie Krawehl jüngst, besorgt, errechnete), 25 Pfund wiegen: wir haben vor, es mit Trageriemen binden zu lassen, und den größten Teil der Auflage unserer Bundeswehr, für Gepäckmärsche, zu offerieren); immerhin, Sie sehen, eine gewisse Einzigartigkeit ist fast schon garantiert).

an Hans Wollschläger, 20. 1. 67

Wie gesagt: Momente!

Die Briefe sind spärlich mit dem Notwendigsten kommentiert, was ich durchweg als angenehm empfunden habe; dem nicht so sehr bewanderten Leser dürfte aber wohl die eine oder andere Stelle etwas kryptisch bleiben, und ihm wird dann auch der Verweis des Kommentars auf die entsprechende Stelle der Bargfelder Ausgabe eher nur mäßig helfen, so er die nicht gerade zufällig zur Hand hat. Aber wahrscheinlich wird es ohnehin nicht so sehr viele Leser dieser Art geben.

Insgesamt eine vergnügliche Passage durch Leben und Werk, die mich an so manichäerleye (sorry!) erinnert und gemahnt hat.

»Und nun auf, zum Postauto!«. Briefe von Arno Schmidt. Hg. v. Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2013. Pappband mit Leinenrücken, Fadenheftung, 296 Seiten. 29,– €.

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In der Universalbibliothek von Reclam sind gleich zwei Bändchen erschienen:

Arno-Schmidt-zum-VergnügenZum einen ist in der inzwischen sehr ansehnlichen Reihe „… zum Vergnügen“ (mit den feinen Umschlagbildern von Nikolaus Heidelbach) nun auch ein Arno-Schmidt-Band erschienen. Die Reihe versammelt Kurz- und Kürzesttexte des jeweiligen Autors, macht also selbst Kant zu einem potenziellen Aphoristiker. Schmidt ist für das Konzept ein sehr geeigneter Kandidat, da beinahe alle seine Text mit pointiert formulierten Gedanken und Schlagsätzen geradezu durchwirkt sind:

›Oh diese Deutsch’n!‹): »Die halbe Nazion iss irre; (& die andre Hälfte nich ganz bei Groschn!): Ich mag sie nicht.« (S. 83)

Das Leben des Menschen ist kurz; wer sich betrinken will, hat keine Zeit zu verlieren! (S. 133)

Ein Irrenhaus nimmt mich gar nicht mehr auf, ich habe mich erkundigt, ich machte ihnen bloß die Leute verrückt, hieß es. (S. 171)

Dabei beschränkt die Herausgeberin Susanne Fischer die Auswahl durchaus nicht nur auf solche aphoristischen Bonmots, sondern sie mischt zuweilen auch eine komplette Erzählung etwa aus Schmidts Stürenburg-Reihe, eines seiner Prosagedichte oder auch ein langes Briefzitat unter die Fragmente.

Für alle, die sich vor Schmidt aufgrund der gängigen Vorurteile über den Autor, ein wenig fürchten, ist dieses hübsch gemachte Bändchen eine Gelegenheit zum Schnuppern, für die anderen ein Vademecum zum Entdecken und Wiedererinnern.

Arno Schmidt zum Vergnügen. Hg. v. Susanne Fischer. RUB 18931. Stuttgart: Reclam, 2013. Broschur, 191 Seiten. 5,– €.

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Arno-Schmidt-WeimarZum anderen hat der Wieland-Kenner und -Herausgeber Jan Philipp Reemtsma die umfangreicheren Texte Arno Schmidts zum Weimar der Wieland- bzw. Goethezeit in einem Band versammelt: »Na, Sie hätten mal in Weimar leben sollen!« Der Weimarische Musenhof bildet ein für Schmidts Denken nicht unerhebliches Modell, das er ebenso zustimmend wie kennerisch ablehnend direkt und indirekt immer wieder an- und ausspielt.

Es ist ohne Zweifel so, dass trotz der an vielen Stellen formulierten kritischen, oft polemischen Haltung, Goethe derjenige Schriftsteller ist, den Arno Schmidt in seinem Werk am häufigsten zitiert und assoziiert. Diese Zitate belegen eine umfassende Kenntnis der Goetheschen Schriften. Auch für Wieland muss Schmidt als guter Kenner angesehen werden. Im Vergleich dazu spielt Johann Gottfried Herder, der Dritte im Bunde des Reclam-Bändchens, bei Schmidt nur eine nebensächliche Rolle. Zwar existiert ein umfangreicher Radio-Essay zu Herder, doch darüber hinaus scheint er nur wenig Einfluss auf Schmidt gehabt zu haben. Es ist auch unwahrscheinlich, dass Schmidt über eine etwa seiner Wieland- oder Goethe-Lektüre vergleichbare umfangreiche Kenntnis der Schriften Herders verfügte. Dabei ist der Radio-Essay über ihn durchaus quellen- und kenntnisreich, doch merkt man zum Beispiel dort, wo Schmidt die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ anhand der Kapitelüberschriften bespricht, dass seine Einsicht zumindest in die theoretischen Schriften Herders doch wohl eher kursorisch geblieben ist.

Als eigentliche Lücke in der Darstellung des klassischen Weimar stellt auch Reemtsma zu Recht Schmidts unterbliebene Auseinandersetzung mit Leben und Werk Friedrich Schillers fest. Schiller, der in den frühen „Dichtergesprächen im Elysium“ als christlicher Eiferer und Gegenstück zum heidnischen Goethe vom Dichter-Paradies ausgeschlossen bleibt, findet auch später keine Gnade mehr vor den Augen des Bargfelder Meisters. Auch hier gilt, dass Schmidt Schiller durchaus pointiert und richtig zu zitieren weiß, doch findet er für ihn keinen Platz in seinem Pantheon, ein Schicksal, das natürlich noch andere Autoren dieser und der nachfolgenden  Zeit teilen: Hölderlin, Kleist und später dann Heine – um nur die mir wichtigsten zu nennen – bleiben Schmidt auch alle wesentlich fremd.

Vielleicht hätte man dem Band noch den kleinen Aufsatz „DIE GROSSEN SPINNEN.“ – ich zitiere den Titel absichtlich in der Schreibweise der Bargfelder Ausgabe (III/3, 228) – beigeben können, der sich zwar nur in der ersten Hälfte mit Weimar beschäftigt, aber eben in dieser Kürze ein Bild von den ungeselligen Dichtern zeichnet, das Schmidts Modell Weimar nahtlos an die Welt seiner „Gelehrtenrepublik“ anknüpft.

Arno Schmidt: »Na, Sie hätten mal in Weimar leben sollen!« Über Wieland – Goethe – Herder. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma. RUB 18979. Stuttgart: Reclam, 2013. Broschur, 234 Seiten. 6,40 €.

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Arno-Schmidt-LesebuchBleibt abschließend noch „Das große Lesebuch“ zu würdigen, das im Fischer Taschenbuch Verlag den ehemaligen Hausautor Arno Schmidt an die Reihe anderer Großer Lesebücher anfügt. Als Herausgeber fungiert in diesem Fall Bernd Rauschenbach, der Geschäftsführende Vorstand der Arno Schmidt Stiftung.

Wem das reclamsche „Arno Schmidt zum Vergnügen“ dann doch zu fragmentiert und sprunghaft ist, findet im „Großen Lesebuch“ auf über 430 Seiten eine Fülle kurzer und längerer erzählerischer und essayistischer Texte vom erst posthum gedruckten Frühwerk bis zu den „Ländlichen Erzählungen“ aus der ersten Hälfte 60er Jahre, die in Erzählweise und Sprache schon deutlich auf „Zettel’s Traum“ verweisen. Dabei lässt sich Rauschenbach nicht von der Chronologie des Schmidtschen Werks leiten, sondern mischt Texte aller Werkphasen, wobei im Großen und Ganzen Länge und Komplexität der Stücke im Laufe einer kontinuierlichen Lektüre immer weiter zunehmen. Natürlich ist eine kontinuierliche Komplettlektüre von der ersten zur letzten Seite bei einem solchen Lesebuch wohl ohnehin eher die Ausnahme, was durch das Aufbrechen der Chronologie noch gefördert werden dürfte.

Es muss allerdings kritisch angemerkt werden, dass es bei einer solch chaotischen Ordnung dann eher misslich ist, wenn die spärlichen Angaben zur Entstehungszeit der einzelnen Stücke im Anhang des Bandes fehlerhaft sind: So ist „Enthymesis oder W.I.E.H.“ nicht im Februar 1956, sondern im Februar 1946 entstanden, ist also die allererste Nachkriegsprosa Schmidts, was für das Verständnis nicht ganz unerheblich ist. Aber hier hört die negative Kritik an dem Band auch schon wieder auf.

Eine gelungene Auswahl, die nicht nur für jeden an der deutschen Nachkriegsliteratur interessierten Leser etwas bringt, sondern sich auch uneingeschränkt als Einstieg in die literarische Welt Arno Schmidts empfehlen lässt.

Arno Schmidt: Das große Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Fischer Tb. 90555. Broschur, 445 Seiten. 9,99 €.

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages’ Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch

Trojanow-MenschDas Einreise-Verbot der USA für Ilija Trojanow, der wohl zu einem Germanisten-Kongress unterwegs war, ist ein schöner Anlass, sein gerade erschienenes Buch zu lesen. Trojanow ist einer jener jüngst so vehement angeforderten kritischen Schriftsteller, die sich mit dem jeweils rezenten gesellschaftlichen und politischen Elend auseinandersetzen. Bei Trojanow ist der Kern des derzeitigen Übels – wenig originell – der Kapitalismus, wobei der Begriff bei ihm wie fast überall sonst, wo er gebraucht wird, gleich zweifach mangelhaft bleibt: Weder wird an irgendeiner Stelle des Büchleins auch nur ansatzweise versucht zu definieren, was denn Kapitalismus sein soll, noch wird uns an irgendeiner Stelle eine moderne, praktikable Form des Wirtschaftens vorgestellt, die – und sei es auch nur in der Theorie – nichtkapitalistisch funktioniert. Offenbar ist solche Genauigkeit unter den Teilnehmern des großen kritischen Stammtischs unnötig: Alle wissen ohnehin Bescheid darüber, was genau Kapitalismus ist und wie er funktioniert.

Natürlich sieht sich jeder Gutwillige genötigt, Trojanows Einsichten ins Elend zuzustimmen: Die Folgen des Kapitalismus sind für einen zunehmend größer werdenden Anteil der Menschheit höchst nachteilig: Hartz-IV-Empfängern und jenen, die in der sogenannten Dritten Welt auf den Müllkippen um ihr Überleben kämpfen, geht es schlecht – vielleicht nicht gleich schlecht, aber es könnte hier wie dort besser sein. Dies liegt offensichtlich an der ungerechten Verteilung des vorhandenen Geldes (Trojanow spricht zwar von Reichtum oder Vermögen, meint am Ende aber faktisch nur Geld, nicht Kapital) sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Abgesehen von Feinheiten geht es jenen schlecht, die wenig Geld haben, und jenen gut, die über viel davon verfügen. Unter denen, denen es schlecht geht, geht es vielen noch schlechter als anderen; unter denen, denen es gut geht, geht es einigen wenigen so gut, dass es leider nicht mehr besser gehen kann. Einige von denen, denen es gut geht, meinen nun, dass man eigentliche keine Leute braucht, denen es schlecht geht, und man auf solche Leute auch gut verzichten könnte. Der einfachste Weg, auf diese Leute zu verzichten, ist, sie abzuschaffen. Solche Leute plädieren  in einem „erstaunlichen posthumanitären Cocktail aus neomalthusianischen und fundamentalistisch sozialdarwinistischen Positionen“ für eine Reduktion der Weltbevölkerung. Soweit die Analyse.

Als Prognose sagt Trojanow – ganz entlang der Linie der Marxschen (der natürlich an keiner Stelle auch nur erwähnt wird!) Akkumulations- und Verelendungstheorie – eine Zunahme des revolutionären Potenzials voraus. Was das Ziel der angeblich heraufdämmernden Revolution angeht, redet er sich mit einem Zitat von Georgi Konstantinow heraus: „In einem solchen revolutionären Moment ist es unmöglich, die Richtung der Veränderung vorherzusagen.“ Trojanow lässt dem noch eine etwas flach geratene Betrachtung über die modischen apokalyptischen Phantasien Hollywoods folgen, um sich abschließend unter der Überschrift „Auswege“ zu folgender Forderung aufzuschwingen:

Wir müssen uns unverzagt vorstellen, wie eine bessere Gesellschaft und ein tatsächlich gerechtes und nachhaltiges Wirtschaften aussehen können. Wir benötigen utopische Entwürfe, wir brauchen Träume, wir müssen Verwegenes atmen. [Hervorhebungen nicht im Original.]

Dies ist die konzise Zusammenfassung des momentanen Elends der Gesellschaftskritik: Die einzige wenigstens halbwegs ordentliche politische Utopie der Verteilungsgerechtigkeit, zu der sich die Moderne hat verdichten können, ist nicht nur 150 Jahre alt, sie ist auch durch einen nach ihr benannten praktischen Versuch derartig desavouiert worden, dass man den Namen ihres Begründers heute besser nicht einmal erwähnen sollte, um sich nicht sogleich dem Spott der politischen Kleingeister auszusetzen. Eine andere theoretisch fundierte und mit Blick auf eine menschliche Praxis ausgearbeitete Utopie für eine gerechte oder auch nur gerechtere Gesellschaft fehlt.

Ich könnte nun darauf hinweisen, dass all dies nur dann tatsächlich ausreichend durchdrungen werden kann, wenn man sich auf die Kantische Einsicht besinnt, dass beinah alles philosophische Fragen letztlich in die Frage „Was ist der Mensch?“ mündet. Eine Frage, deren Antwort tatsächlich so unausdenklich ist, dass jeder, der eine Antwort auch nur versucht, sich allein deshalb schon dem Verdacht aussetzt, Unrecht zu haben. Und ich könnte darauf hinweisen, dass der andere, fast ebenso radikale Utopist des 19. Jahrhunderts uns heftig auf die Einsicht hingestoßen hat, dass der Mensch ein halbgares Zwischenprodukt darstellt, ein Wesen, das zwar die Idee der Gerechtigkeit erfassen kann, zu ihrer Realisierung wenigstens im Großen aber noch gänzlich unfähig zu sein scheint. Und schließlich kann es kein gutes Zeichen sein, dass wir – vielleicht mit der Ausnahme von John Rawls – in unserer Diskussion des Elends, in dem wir uns vorgefunden haben, immer noch nicht wesentlich über das 19. Jahrhundert hinausgekommen sind.

Angesichts dieser desolaten Lage ist es schon fast wieder tröstlich, dass Trojanows Kritik mit einem Lob der Vita contemplativa – im Sinne des Aristoteles, nicht Benedikts – ausklingt:

Selten halten wir inne, nehmen Auszeit von einem rasanten Alltag aus Pflicht und Unterhaltung, sitzen am Ufer oder schwingen auf der Schaukel, der Kontemplation zugetan oder einfach nur dem Nichtstun.

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch. St. Pölten u. a.: Residenz, 2013. Kindle-Edition, 324 KB, 96 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,99 €.

Friedrich von Borries: RLF

Alle Wege führen unweigerlich
in die Perversität
und in die Absurdität
Wir können die Welt nur verbessern
wenn wir sie abschaffen
Thomas Bernhard
Der Weltverbesserer (1978)

Borries-RLFBücher, nach deren Lektüre man sich nicht sicher ist, ob es sich beim Autor um einen Volldeppen handelt, sind vielleicht nicht die schlechtesten. Die besten sind es aber sicherlich nicht.

„RLF“ – die drei Buchstaben stehen für „das richtige Leben im falschen“, einer Negation eines zum Schlagwort verkommenen Satzes von Adorno; der Anklang an die RAF ist beabsichtigt und fast noch das Netteste am ganzen Buch – erzählt die Geschichte von Jan, einem ganz normalen, notgeilen Arschloch aus der Werbebranche, der von ein paar Möchtegern-Revolutionären dazu benutzt wird, um an Geld zu kommen. Um ihn wieder loszuwerden, lässt ihn der Autor am Ende besoffen vom Balkon eines Luxushotels in Venedig fallen. Ist nicht schade drum.

Jan wird auf den grandiosen Einfall gestoßen, die Revolution als kapitalistisches Kunstwerk zu vermarkten. Zu diesem Zweck tut er, was er am besten kann: voller Pathos dummes Zeug quatschen. Das ganze Buch bewegt sich mit seinen Pappkameraden knapp unterhalb des Reflexionsniveaus von „Narziß und Goldmund“. Auch nur für einen Moment zu versuchen, sein substanzloses Gewäsche mit Adorno in Beziehung zu setzen, hieße, es maßlos zu überschätzen. So wie die Welt.

Unterbrochen wird die Fiktion durch Auszüge aus Interviews mit tatsächlichen Revolutionären der heutigen Zeit zur Frage nach der Möglichkeit des richtigen Lebens im falschen (das Falsche ist bei Adorno übrigens die Inneneinrichtung). Ein paar von ihnen haben auch etwas zu sagen. Zwei scheinen sogar irgendwann einmal Adorno gelesen zu haben.

Wohlgemerkt: Es könnte sich bei alle dem auch um eine Satire handeln; wirklich zu erkennen ist das nicht. Ich fürchte aber, dass der Autor irgend etwas ernst meint; nur was er ernst meint, steht nicht im Buch. Ist auch nicht nötig, verkauft sich auch so, wenn nur richtig Werbung gemacht wird. Bei Suhrkamp. Um 13,99 €.

Friedrich von Borries: RLF. Das richtige Leben im falschen. Berlin: Suhrkamp, 2013. Klappenbroschur, 252 Seiten. 13,99 €.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel

Es ist ein Elend mit den Äußerlichkeiten.
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Die dritte Wiederlektüre eines Frauen-Romans von Fontane im Rahmen einer kleinen, didaktisch begründeten Reihe. Nach „Mathilde Möhring“, das im Kleinbürgertum spielt, und „Effi Briest“, dem adligen Pendant, nun also das preußische Großbürgertum und die kleine Gelehrtenwelt eines Gymnasialprofessors, der allerdings damals noch etwas galt.

Erzählt wird der Konflikt zwischen der Titelfigur, einer an der Oberfläche schwärmerischen und sentimentalen, in der Substanz aber knochentrockenen Fünfzigerin, die sich aus einfachen Verhältnissen nach oben geheiratet hat, und Corinna Schmidt, der Tochter eines Gymnasialprofessors, die es sich in den Kopf gesetzt hat, ihr zukünftiges Wohlleben dadurch zu sichern, dass sie sich von Jennys Sohn Leopold heiraten lässt. Jenny will Corinna gleich aus mehreren Gründen nicht in der Familie haben: Zum einen wäre ihr die ständige Erinnerung an ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg zuwider, zum anderen ist Corinna so eigenständig und intellektuell überlegen, dass Jenny kaum hoffen kann, jemals bedeutenden Einfluss auf sie oder ihren Sohn zu nehmen, sollten die beiden heiraten. Wie oft beim grundpessimistischen Fontane, setzen sich die bösen Absichten durch. Man fühlt sich unwillkürlich an die Zusammenfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen durch Doktor Wrschowitz in „Der Stechlin“ erinnert:

Oberklasse gutt, Unterklasse serr gutt, Mittelklasse nicht serr gutt.

Da der alte Meister aber genau wusste, was sein Publikum von ihm erwartete, hat er zum Ausgleich ein Komödienende hinzuerfunden: Der weichliche Leopold bleibt unter der Knute seiner Mutter und kommt zusätzlich unter die einer von allen Familienmitgliedern ungeliebten Ehefrau, Corinna aber heiratet den ihr sowieso immer schon zugedachten Vetter und Junggelehrten Marcell Wedderkopp, der ihr wenigstens einigermaßen wird Paroli bieten können. So weit, so gehöft.

Der Roman ist ein leichte und angenehme Lektüre. Zu bewundern ist aber die höchste Ökonomie, mit der das Buch geschrieben wurde: Exposition, Schürzen des Knotens und Durchführung des Konflikts sind von einer solchen Stringenz, dass das alles mehr der Konzeption eines Theaterstücks ähnelt als einem auf epische Breite angelegten Roman. Sicherlich: Für ein Bühnenstück sind die Nebenfiguren etwas zu zahlreich und ausführlich geraten, auch sind einige Lokalitäten nicht wirklich bühnentauglich, aber was die Konstruktion des ganzen angeht, hat Fontane offenbar bei den Dramatikern einiges gelernt. Die Exposition wird mit der Beschreibung eines einzigen Tages erledigt, eigentlich beinahe nur durch die Beschreibung zweier Abendgesellschaften: Eine im Hause Treibel, die dem gesellschaftlichen Glanz des Hauses und der politischen Karriere des Hausherrn förderlich sein soll, eine in der Wohnung Professor Willibald Schmidts, der mit ein paar Kollegen einen vergnügten Abend bei Oderkrebsen und Schliemannschen Ausgrabungen begeht. Die Beschreibung dieses ersten Tags macht die ersten ⅖ des Romans aus, und alles, was folgt ist nur die konsequente Durchführung der in diesem ersten Teil angelegten Themen.

Wieder einmal durfte ich feststellen, dass ich Fontane umso mehr schätze, je älter ich werde.

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 14. Berlin: Aufbau Verlag, 2005. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 374 Seiten. 24,90 €.

Seume, sein Verlag und einer seiner Leser

Habent sua fata libelli.

1. Seume – Johann Gottfried Seume (1763–1810) ist einer von jenen Zeitgenossen Goethes mit einer Biographie von unten, wie Walter Jens das einmal genannt hat. Er wird daher heute normalerweise zusammen mit Karl Philipp Moritz und Ulrich Bräker in einer der kleineren Schubladen der Literaturgeschichte des ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhunderts abgelegt. Seume war Sohn eines Landwirts und ehemaligen Böttchers, erwies sich als begabter Knabe, studierte zuerst Theologie an der Universität von Leipzig, machte sich noch als Student auf den Weg nach Paris, wurde aber von Zwangswerbern des Landgrafen von Hessen-Kassel aufgegriffen und zusammen mit zahlreichen Landeskindern als Soldat nach Amerika verkauft. Doch hatte er Glück im Unglück: Als er endlich in der Neuen Welt ankam, wurden seine Dienste als Soldat nicht mehr benötigt. Also schiffte man ihn wieder nach Deutschland ein, wo er umgehend aus hessischen Diensten desertierte, aber in der preußischen Armee landete, der er sich ebenfalls mehrfach durch Desertion zu entziehen suchte, was ihm eine Kerkerhaft eintrug. Erst 1789 gelingt es ihm, nach Leipzig zurückzukehren, diesmal um dort Jura, Philosophie und Geschichte zu studieren. Nach dem Studium gerät er über den Umweg einer Hofmeisterstelle wieder ins Militär, diesmal in die russische Armee, bis er 1796 endgültig ins Zivilleben zurückkehrt.

Seume arbeitet nun einige Jahre als Korrektor für den ehemals Leipziger, nun Grimmaschen Verleger Göschen, bevor er im Oktober 1801 zu einem längeren Spaziergang aufbricht, der ihn in gut zehn Monaten von Grimma aus nach Syrakus und wieder zurück bringen wird. Bereits im Jahr 1803 erscheint dann der umfangreiche Bericht zur Reise als Buch, wobei einiges von dem Material, noch während Seume unterwegs ist, in Wieland »Teutschem Merkur« zu lesen gewesen war. Das Buch ist ein so großer Erfolg, dass bereits nach einem knappen halben Jahr eine zweite Auflage nötig ist. Und dem ersten Reisebuch folgt ein zweites: Von April bis September 1805 unternimmt Seume eine Reise durch Polen, Russland, Finnland, Schweden und Dänemark, aus der dann nach nun bewährtem eigenen Vorbild im Jahr darauf das Buch »Mein Sommer 1805« hervorgeht. Der »Sommer« wird allerdings kein ähnlicher Verkaufserfolg wie der »Spaziergang«, er sorgt dafür in anderem Sinne für Furore, indem er kurz nach seinem Erscheinen in Russland, Österreich und Süddeutschland aufgrund der unverhohlen republikanischen Gesinnung seines Autors verboten wird. Das letzte große Prosabuch Seumes, die Autobiographie seines wechselvollen Lebens, bleibt Fragment, da Seume im Juni 1810 nur 47-jährig stirbt.

Dass Seumes vergleichsweise dünnes Werk es geschafft hat, den Zeitläuften bis heute zu trotzen, liegt wohl in der Hauptsache an einer seltenen Kombination von Eigenschaften: Seumes Neigung zu unverstellter Ehrlichkeit, seinem direkten und zugleich immer persönlichen Stil, der Komplexität seiner politischen Auffassung (um nicht Auffassungen zu schreiben) und nicht zuletzt seinem kantigen, wenig kompromissbereiten Charakter. Aus dieser Vielfalt konnten sich zahlreiche Interessengruppen des 19. Jahrhunderts immer das heraussuchen, was ihnen am besten in ihren Kram passte: Die einen lasen ihn als Vorläufer des Vormärz und deutschen Republikaner, den anderen war er ein deutscher Nationalist von echtem Schrot und Korn, den Dritten wieder war er ein individualistischer Querdenker, der eine spannungsreiche Alternative sowohl zur Weimarer Klassik als auch zur Jenaer Romantik lieferte. So beginnt Seumes Kanonisierung als Deutscher Klassiker bereits im 19. Jahrhundert, als seine Schriften in mehreren Gesamt- und Werkausgaben gleichrangig mit denen Goethes, Schillers, Shakespeares und anderer deutscher Nationalschriftsteller ediert werden.

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2. Sein Verlag – Damit sind hier weder Göschen noch Hartknoch gemeint, sondern der 1981 gegründete Deutsche Klassiker Verlag (DKV), dessen edelste und zugleich einzige Aufgabe darin bestand, die Bibliothek deutscher Klassiker (BdK) herauszubringen. Gegründet wurde er von Siegfried Unseld als Schwesterverlag zu Suhrkamp und Insel, und die BdK sollte wohl so etwas wie ein verlegerisches Denkmal für diesen etwas eitlen deutschen Verleger werden: Eine nach einheitlichen Kriterien und in einheitlicher Aufmachung erstellte, kanonische Sammlung dessen, was in der deutschen Literaturtradition gut und wichtig war und ist.

Da es bei großen Dingen bekanntlich genügt, sie gewollt zu haben, fiel auch die Größe dieses intellektuellen Gebirges weit bescheidener aus, als man es sich aus der Idee allein imaginieren würde: Zwar wurde eine halbwegs ansehnliche Auswahl mittelalterlicher Texte zusammengestellt, aber die deutschsprachige Literatur vom Beginn der Neuzeit bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist wie üblich äußerst dünn repräsentiert. Erst mit Lessings Werken beginnt eine einigermaßen kanonisch-umfassende Präsentation wichtiger Autoren und Werke. Man bemerkt auch bei der Auswahl für das 18. und 19. Jahrhundert leicht, dass die BdK nicht viel anderes ist als eine Neuauflage eines sehr traditionellen und weitgehend unoriginellen Literaturkanons, wie man ihn ähnlich auch im 19. Jahrhundert schon kennt. Hier und da kann die Auswahl trotzdem überraschen:

  • Herder etwa wird mit einer umfangreichen Ausgabe aufgenommen, obwohl er zwar zu den einflussreichsten, aber sicherlich nicht mehr zu den populären Weimarer Klassikern gehört.
  • Novalis, der es als Vertreter der Romantik sicherlich verdient hätte, wenigstens in einer bedeutenden Auswahl präsentiert zu werden, fehlt.
  • Dagegen würdigt man Bettine von Arnim gleich mit vier Bänden und den doch etwas randständigen, eher für Germanisten und Historiker interessanten Karl August Varnhagen von Ense (dessen »Denkwürdigkeiten« zu edieren zweifellos eine Großtat war) gleich mit fünf Bänden. (Witzigerweise kommt die Vanhagen-von-Ense-Ausgabe im sogenannten Gesamtverzeichnis des Deutschen Klassiker Verlages 2008/2009 überhaupt nicht vor. Vielleicht weiß beim Verlag inzwischen niemand mehr, dass man das einstmals gedruckt hat.)
  • Heine fehlt, obwohl er sicherlich weit bedeutender und einflussreicher ist als etwa Gottfried Keller (ohne damit etwas gegen Keller als Schriftsteller sagen zu wollen).
  • Grillparzer ist vorgesehen, nicht aber Grabbe oder Hebbel.

Damit sind wir bei den Schwächen der Realisierung des ambitionierten Projekts angekommen. Zahlreiche der angefangenen Ausgaben wurden nicht abgeschlossen: Wieland bleibt ein Fragment (drei Bände erscheinen), ebenso Tieck (fünf Bände) und Grillparzer (zwei Bände); bei der Kant-Ausgabe blamiert man sich komplett, da man nicht nur falsch einschätzt, dass kein Mensch Kant in einer Ausgabe des DKV lesen, geschweige denn zitieren wird, so dass man dieses Seitenstück nach dem einzigen erschienenen Band einfach für abgeschlossen erklärt. Und natürlich sind auch die tatsächlich abgeschlossenen Ausgaben durchaus nicht auf einem einheitlichen Niveau: Während etwa die Herausgeber der Kleist-Ausgabe bei ihrem Kommentar offenbar davon ausgehen, dass Kleist in der Hauptsache von Sechstklässlern gelesen wird, scheint der Herausgeber der Hölderlin-Ausgabe zu der Ansicht gekommen zu sein, es handele sich bei dem von ihm kommentierten Autor um einen Verfasser literarischer Rätsel – jedenfalls gleicht sein Kommentar einem Lösungsteil und sollte in zukünftigen Ausgaben daher besser auf dem Kopf stehend gedruckt werden.

Natürlich ist nicht alles schlecht: Zur Herder-Ausgabe gibt es keine rezente Alternative; die Lessing-Ausgabe überzeugt auch und besonders durch die Briefsammlung und auch die E.T.A.-Hoffmann-Ausgabe weiß zu gefallen. Hinzukommt, dass die Ausstattung der Leinen- bzw. Lederbände mit Fadenheftung, je zwei Lesebändchen und gutem Dünndruckpapier überzeugt. Im Bücherschrank machen sich die Bände gut, und auch in der Hand liegen sie so, wie das sein soll. Typographisch ist eine solche Massenausgabe (Masse nur, was die Menge der Texte angeht, nicht im Sinne der potenziellen Käuferschicht) natürlich immer ein Kompromiss, aber auch das ist mehr als annehmbar gelöst worden.

Aus all diesen Gründen habe ich zur BdK immer eine gewisse Hass-Liebe gehegt: Man hätte so vieles an ihr besser machen können, aber andererseits muss man angesichts des Umfangs und dessen, was gewollt wurde, zugestehen, dass es auch viel schlimmer hätte kommen können.

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3. Einer seiner Leser – Das alles steht hier aus einem ganz konkreten Anlass: Vor zwei Jahren hatte ich mich endlich entschlossen, mir für eine unbestimmte Zukunft endlich doch die Herder-Ausgabe des DKV zuzulegen: Mein Buchhändler – Gott schütze das Gewerbe! – war so nett, mir die Bände zu liefern und mir zu erlauben, sie in monatlichen Raten abzustottern. Als wir damit fertig waren, hatte ich mich inzwischen entschlossen, noch ein paar andere Ausgaben zu kaufen, besonders weil mir klar war, dass sich das Lager des DKV in absehbarer Zeit sehr lichten und ich mich vielleicht doch am Ende ärgern würde, wenn ich die wenigen, für mich noch interessanten Ausgaben nicht gekauft hätte.

Also gab ich noch einmal eine Bestellung für eine umfangreichere und zwei der kleineren Ausgaben auf. Darunter auch die Seume-Auswahl, die drei Bände umfasst: Band 1 bringt die drei großen und mehr oder weniger bekannten autobiographischen Texte, Band 2 eine Auswahl der Kleineren Schriften und Gedichte und Band 3 schließlich eine Sammlung von Briefen Seumes, die die eigentliche Perle der Ausgabe ist. Wahrscheinlich um im Lager endlich Platz zu schaffen, gab es seit einiger Zeit alle drei Bände zum Gesamtpreis von 128 €, was etwa 65 % des ursprünglichen Preises entspricht. Nun ließ sich an der Ausgabe durchaus einiges aussetzen: Das wissenschaftliche Renommee des Herausgebers wird wohl am besten dadurch charakterisiert, dass die Titanic ihn einst Jörg »Professor« Drews genannt hat, die Auswahl der Kleineren Schriften fällt eher dürftig aus und die drei Texte des ersten Bandes standen natürlich längst in akzeptablen Ausgaben im Bücherschrank. Andererseits kostete der Band 3 mit den Briefen allein schon 80 €, so dass man die Bände 1 und 2 zum reduzierten Preis beinahe geschenkt bekam. Daher wurde die Ausgabe mitbestellt.

Als mein Buchhändler dann im vergangenen Januar mit dem Verlagsvertreter zusammensaß, schüttelte der bedenklich den Kopf: Die Seume-Ausgabe sei leider derzeit nicht lieferbar, da Band 1 fehle. Aber angesichts der doch nicht unerheblichen Gesamtbestellung griff er zum Telefon, fragte beim Verlag nach und erhielt die Auskunft: Band 1 werde in jedem Fall entweder im März oder im Mai nachgedruckt und die Ausgabe zu dem günstigen Preis wieder angeboten. Unter dieser Voraussetzung bestellte mein Buchhändler für mich. Als mir das erzählt wurde, gab ich zu Bedenken, dass derzeit noch ein einzelnes, neues Exemplar bei Amazon lieferbar sei und ich mich ärgern würde, wenn sich die Zusicherung von Suhrkamp als falsch erwiese. Doch mein Buchhändler war optimistisch, und so blieb es dabei.

Als im Juni dann von der Seume-Ausgabe immer noch nichts zu sehen war, fragte mein Buchhändler beim Verlag nach, bei genau jenem Mitarbeiter, der im Januar den Nachdruck von Band 1 fest zugesagt hatte. Er erhielt daraufhin per E-Mail die Auskunft, dass der Band 1 nicht mehr nachgedruckt werde, dass überhaupt mit dem Erscheinen der Register-Bände der Goethe-Ausgabe (ein tragikomisches Stück deutscher Editionskunst für sich) die Produktion des DKV zum Ende gekommen sei. Die jetzt fragmentarischen Ausgaben würden nicht mehr vervollständigt; auch weitere Taschenbuch-Ausgaben würden nicht mehr hergestellt. Man könne ersatzweise Band 2 und 3 der Seume-Ausgabe zum reduzierten Preis und Band 1 in der Leder-Ausgabe zum Preis bei Abnahme der Gesamtedition liefern, was zusammen allerdings noch deutlich über dem ursprünglichen Gesamtpreis der Leinenausgabe gelegen hätte, den ich ja schon nicht hatte zahlen wollen. Und das einzige, im Januar noch lieferbare Exemplar bei Amazon war natürlich auch längst verkauft.

Ich habe dann den Fehler begangen, den Mitarbeiter bei Suhrkamp selbst anzurufen, anstatt meinen Buchhändler alles Weitere regeln zu lassen. Der Mann war von meinem Anruf alles andere als begeistert, meinte dass er den Band 1 nicht habe und daher auch nicht liefern könne und auch bei der entsprechenden Lederausgabe könne er mir preislich nicht weiter entgegenkommen. Ich war – bei allem Verständnis für die schwierige Lage des Verlags – alles andere als begeistert davon, dass er sich bei einem durchaus guten Kunden nicht einmal dafür entschuldigte, dass er im Januar den Nachdruck noch fest zugesagt hatte und das nun alles nicht mehr stimmen sollte. Er beendete das Gespräch dann mit der Vertröstung, dass er einmal schauen wolle, was er für mich noch tun könne und dass er sich noch einmal melden würde.

So weit, so schlecht. Dass ich mich abgewimmelt fühlte und nicht mehr daran glaubte, noch etwas von Suhrkamp zu hören, versteht sich von selbst. Doch als mein Buchhändler vierzehn Tage später nachfragte, ob sich in der Sache denn noch etwas getan habe, bekam er die überraschende Auskunft, Suhrkamp werde die Ausgabe wie bestellt liefern. Der Mitarbeiter von Suhrkamp hatte sich die Mühe gemacht, ein einzelnes Exemplar der Leinenausgabe des ersten Bandes in einer Lieferung von Remittendenexemplaren ausfindig zu machen, die an einen Berliner Buchhändler verkauft worden war. Er hat den Buchhändler angerufen, der den Band herausgesucht und zurückgelegt hat, ist persönlich dort vorbeigegangen und hat das Buch für mich dort abgeholt. Seit Dienstag bin ich nun im Besitz eines vollständigen, neuwertigen Exemplars der Seume-Ausgabe zum versprochenen Preis.

Eigentlich wollte ich mich hier nur kurz bedanken! Das war außergewöhnlich nett von ihm und ich werde, immer wenn ich eines der Bücher zur Hand nehme, an ihn und daran denken, wie die Bände in mein Regal gelangt sind!

  • Johann Gottfried Seume: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Jörg Drews. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1101 u. 927 Seiten. Nur noch Band 2 lieferbar: 76,– € bei Einzelbezug.
  • Derselbe: Briefe. Hg. v. Jörg Drews und Dirk Sangmeister. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1135 Seiten. 80,– € bei Einzelbezug.