Auf dem anderen Ufer grasten ein paar Schafe. Die hatten’s gut: Die wußten nicht, wie schlecht sie’s hatten.
Den ersten der bis dato vier Martin-Schlosser-Romane, »Kindheitsroman«, hatte ich auf eine Empfehlung hin im Oktober 2012 als Taschenbuch gekauft und so ziemlich in einem Zug ausgelesen. Anschließend habe ich die kurz zuvor erschienene Kindle-Ausgabe aller vier Romane gekauft und mich seitdem peu à peu und so, wie es gerade kam, durch das Leben Martin Schlossers bis in sein 21. Lebensjahr gelesen. Martin steht am Ende des vierten Romans vor der Aufnahme eines Studiums, nachdem er Abitur, ein paar Monate Wehr- und ein paar Monate Zivildienst hinter sich gebracht hat. Zuvor erlebt Martin die Freuden der Schule, der Freundschaft, des Fußballspielens, der Pubertät, der Lektüre, erste Erfolge als Schülerzeitungsredakteur, erste Liebe, ersten Sex, Urlaube und viel Familiengeschichte; nur wenig, das sich nicht im Leben vieler seiner bundesdeutschen Zeitgenossen so oder ähnlich wiederfinden ließe.
Formal lässt sich über die drei Fortsetzungen – »Jugendroman«, »Liebesroman«, »Abenteuerroman« – kaum mehr sagen als über den ersten Teil: Entlang der Kette der biographischen Entwicklung des Protagonisten wird eine Fülle von authentischen und zeittypischen Alltagsdetails und exakten sprachlichen Wendungen aufgereiht, die wohl besonders bei Lesern, die diese Zeit selbst durchlebt haben – ich selbst bin nur wenige Monate älter als Martin Schlosser (und der Autor) –, ein erstaunlich reichhaltiges Bild von der damaligen Alltagswelt Westdeutschlands erzeugt. Die dem Ganzen zugrunde liegende Recherchearbeit dürfte von beeindruckendem Umfang sein, selbst wenn man annimmt, dass zumindest für die späteren Bände persönliche Tagebuchaufzeichnungen Henschels das Rückgrat der Erzählung liefern. Man darf gespannt sein, wie lange Henschel die Reihe der Romane fortsetzen wird. Am »Universitätsroman« – oder wie immer er heißen wird – arbeitet der Autor sicherlich längst.
Gerhard Henschel: Alle vier Martin-Schlosser -Romane. Kindle-Edition. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2012. 2076 Seiten (gedruckte Ausgabe). 21,99 €.
Nirgends lagen modernitätsbejahender Optimismus und modernitätskritischer Eskapismus im wilhelminischen Deutschland der Vorkriegszeit wohl so dicht nebeneinander wie im akademischen Milieu.
Eine kurze, dennoch alle wesentlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte ansprechende Geschichte des deutschen Kaiserreichs zwischen etwa 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die erkenntnisleitende These lautet, dass sich die Rede von einem deutschen Sonderweg, die in einem prominenten Teil der historischen Literatur zum deutschen Kaiserreich vorherrscht, angesichts der vielfältigen, zu einem bedeutenden Teil widersprüchlichen Tendenzen dieser Epoche, die sich in vergleichbarer Ausprägung immer auch in anderen westeuropäischen Staaten finden lassen, kaum aufrecht erhalten lässt. Zum Glück für den Leser orientiert sich Krolls Darstellung aber nicht an dieser ideologischen Leitlinie, sondern konzentriert sich weitgehend auf konkrete Daten und Fakten.
Der Fachmann wird wahrscheinlich die Darstellung in seinem jeweiligen Spezialgebiet notwendig verkürzt und daher ein wenig schief finden, aber das gezeichnete Gesamtbild scheint durchaus stimmig und gibt wohl im Großen und Ganzen einen zutreffenden Eindruck von der sehr dynamischen Entwicklung Deutschlands in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei ist es sicherlich so, dass Krolls Darstellung für den historischen Laien oft zu knapp ausfällt, so dass sich das Buch für einen ersten Überblick nur bedingt eignet. Doch sowohl als Propädeutik zu weiterer Lektüre als auch zur konzisen Auffrischung des Gedächtnisses kann das informative Büchlein nur empfohlen werden.
Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 216 Seiten. 4,50 €.
Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.
Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen.
Bei Goethes »Wanderjahren« handelt es sich unbestreitbar um den schwierigsten Roman des Weimarer Meisters. Nicht nur die Editions- und Redaktionsgeschichte stellt eine Herausforderung für jeden Herausgeber dar, sondern die inhaltliche Breite und formale Beliebigkeit des Buches fordern auch ein hohes Maß an Toleranz von den Lesern. Für die konkrete Lektüre hilft es auch wenig, wenn uns versichert wird, bei dem Roman handele es sich um einen frühen Vorläufer der Moderne, wenn man von Seite zu Seite mehr geneigt ist, ausnahmsweise ein einziges Mal im Leben Friedrich Gundolf zuzustimmen und den Roman nicht nur stofflich, sondern auch technisch langweilig, d. h. verfehlt zu finden (»Goethe«, Berlin 101922, S. 716). Auch dass sich Goethe des höchst problematischen Charakters seines Buches offenbar bewusst war, hilft nur indirekt weiter; aber dazu später noch ein paar Worte.
Was erzählt wird, lohnt kaum der Mühe, es wiederzugeben: Wir finden den aus den »Lehrjahren« wohl bekannten Wilhelm Meister zu Anfang des Romans zusammen mit seinem Sohn Felix auf dem Weg nach Italien. Die Turmgesellschaft, die sich in den »Lehrjahren« als eine Wilhelms Geschick steuernde Vereinigung herausgestellt hatte, hat ihm für diese Reise einige merkwürdige Bedingungen auferlegt, die ihn in Bewegung halten sollen: Er darf nicht mehr als drei Tage und Nächte unter demselben Dach verbringen, muss von Station zu Station seiner Reise immer eine erkleckliche Distanz zurücklegen und darf an einen einmal besuchten Ort erst nach Jahr und Tag wieder zurückkehren. Dies liefert die natürliche Grundlage für die anekdotische Reihung von Orten und Ereignissen, die die erste Hälfte des Romans weitgehend beherrscht. Im Laufe des Romans wird außerdem die auktoriale Erzählstruktur überschrieben durch eine Herausgeberfiktion, die vorgibt, es handele sich bei dem Roman eben nicht um eine Erzählung im herkömmlichen Sinn, sondern um eine Auswahl aus einem ungeordneten Konvolut von Papieren, das dem Herausgeber vorliege.
Dementsprechend ist das Buch denn auch eine lose Folge von Ereignissen, Gesprächen, Reden, Briefen und Novellen, die – je weiter, desto schlechter motiviert – schlicht auf den Faden einer vollständig beliebigen Handlung aufgereiht werden. Auf der Ebene der Fabel im traditionellen Sinne erscheinen nur zwei Elemente als für den Roman wesentlich: Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt – nicht zum Arzt im Sinne eines Allgemeinmediziners, wie man hier und da lesen kann – und der am Ende stattfindende utopische Aufbruch einer großen Gruppe unter Leitung der Turmgesellschaft nach Amerika, wo man in einer selbstbestimmten – tatsächlich aber natürlich von den weisen Führern der Turmgesellschaft vorgegebenen – Gesellschaftsform zu leben gedenkt. Zum Glück ist der deutschen Literatur ein dritter, in einem fiktiven Amerika spielender Teil der Lebensgeschichte Wilhelms erspart geblieben.
Thematisch tritt das Buch mit großem Anspruch auf: Pädagogik, Gesellschaft, Industrialisierung, vita activa versus vita contemplativa, Vulkanismus versus Ozeanismus – dies alles und mehr wird in Gesprächen und Reden der Figuren (und damit immer zugleich auch unter individuellem Vorbehalt) diskutiert und analysiert. Hinzu kommen die beiden Spruchsammlungen der Ausgabe von 1829, die unter anderem Kleinigkeiten wie Kunst, Wissenschaft und Wissenschaften, Mathematik, Wahrheit, Poesie, Lord Byron und Laurence Sterne aphoristisch bewirtschaften. Falls der heutige Leser hier nicht einfach vor dem intellektuellen Anspruch des Buches kapituliert – denn er soll nicht nur verstehen, was hier überhaupt gesagt wird, sondern er muss es immer auch noch in den historischen Horizont der 1820er Jahre einstellen, um es angemessen wahrnehmen zu können –, so könnten ihm durchaus Bedenken kommen, ob denn ein Roman, und sei es auch ein so umfangreicher wie die »Wanderjahre«, das geeignete Medium für die Erörterung so zahl- und umfangreicher Themen ist.
All dies hat zu scharfer Kritik geführt; Gundolfens haben wir oben schon zitiert, weil er aber so spitz und witzig ist, soll hier einmal mehr Arno Schmidt zu Wort kommen:
Das erste Axiom ist für heute: es gibt gar keine »Klassiker«, sondern nur »klassische Werke« (wenn man schon den albernen Begriff weiter behalten will). So ist wohl Faust »klassisch« aber Wilhelm Meisters Wanderjahre eine freche Formschlamperei mit durchschnittlichem Inhalt; und die »Prinzessin Brambilla« ist ein Kunstwerk, und »Hanswursts Hochzeit« und dergleichen, säuische Lappalien, nicht wert der Druckerschwärze. Und ich wiederhole, was ich Euch – Dir und Alice – so oft gesagt habe: es gibt keinen Dichter, der nicht besser nur die Hälfte geschrieben hätte; bei den meisten war ein Viertel schon zu viel. –
Und der zweite Satz lautet: abgesehen von Goethes wissenschaftlichphilosophischen und seelischen Defekten, hatte er als Autor noch den, daß er keinen Roman schreiben konnte. Das ist auch gar keine Schande: Wieland, Poe, Storm, Keller waren völlig unbegabt für’s Bühnenspiel, Hoffmann und Stifter für gebundene Rede aller Art, Klopstock hätte sich im Formalen auf Ode, Anekdote und grammatische Gespräche beschränken sollen. Unangenehm für die Nachwelt wird so Etwas aber, wenn der Dichter das selbst nicht merkt, also Wieland sich an der Alceste versucht, Klopstock ein Epos schreibt, und Goethe die Wanderjahre »macht«.
»An Uffz. Werner Murawski«
(Und gleich der Gegensatz [zu Wieland]: bei Goethe ist die Prosa keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste – den »Werther« beiseite; und »Wahrheit und Dichtung«, wo allerdings ja gar kein Problem einer Stofformung vorliegt –: gewaltsam aneinandergepappte divergente Handlungsfragmente; grob an den Hauptfaden geknotete Novellen; Aforismensammlungen; Waidsprüchlein aller Art – todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was läßt er das Kind Ottilie für onkelhaft weltkundige »Maximen« in ihr Tagebuch schreiben! – Das demonstrativste Beispiel ist der »Wilhelm Meister«, zumal die »Wanderjahre«: was er sich hier, z. B. an Kapitelübergängen leistet, ist oft derart primitiv, daß ein wohlgeratener Primaner, der n bißchen was auf sich hält, sich ihrer schämen würde. Eine freche Formschlamperei; und ich mache mich jederzeit anheischig, den Beweis anzutreten (wenn ich nicht meine Arbeitskraft ernsthafteren Dingen schuldig wäre: Goethe, bleib bei Deiner Lyrik! Und beim Schauspiel!).
»Aus dem Leben eines Fauns«
Schmidt hält die Faulheit eines diktierenden Schriftstellers (»An Uffz. Werner Murawski«) für eine der Ursachen von Goethes frecher Formschlamperei, was immerhin eine bodenständig-handwerkliche Erklärung für den Zustand des Textes liefert, statt sich in poetologische Spekulationen zu verlieren.
Dagegen darf mit Sicherheit angenommen werden, dass sich Goethe über den heiklen Charakter seines Buches vollständig im Klaren war. Es gibt zahlreiche Stellen im Text, die – wie die eingangs als Motto zitierte – die Zumutungen der formalen Beliebigkeit und inhaltlichen Schwierigkeit explizit thematisieren. Goethe lässt den Erzähler immer erneut den brüchigen Aufbau und die losen Übergänge kommentieren und anmerken, dass es zu dem gerade Verhandelten noch viel zu sagen gäbe, nur sei eben hier der Ort nicht. Auch die letzten Worte des Romans (Ist fortzusetzen.) deuten auf das unendliche Projekt, von dem das Buch nur einen verschwindenden Ausschnitt liefert.
Im Gegensatz zu den beiden Hauptströmungen der Deutung bin ich heute weder geneigt, dem Roman seinen Mangel an formaler und inhaltlicher Geschlossenheit als Fehler anzukreiden, noch halte ich es für besonders überzeugend, Goethe als einen frühen, noch unsicheren Modernen zu lesen. Offensichtlich resultiert der Mangel der Form zuerst einmal aus dem ausschweifenden inhaltlichen Anspruch, dem Goethe zu genügen versucht. Doch scheint es mir zu kurz gegriffen, die bis dahin für einen Roman unerhörte thematische Fülle allein für die brüchige Form verantwortlich zu machen. Vielmehr scheint Goethe allerspätestens in den 1820er Jahren nicht mehr am Erzählen um des Erzählens willen, an der Fiktion als Fiktion interessiert gewesen zu sein. Die Fabel im traditionellen Sinne liefert ihm nur mehr ein Vehikel, mit dem er versucht, seine Weltsicht und -deutung einem breiteren Kreis des gebildeten bürgerlichen Publikums bekannt zu machen. Auch befreit die künstlerische Aufarbeitung sozialer, wissenschaftlicher und philosophischer Thesen ihn von jenen Ansprüchen an die Theorie, denen er weitgehend misstraut:
Man tut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das eine noch auf das andere.
[…]
Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des Wahren bedient man sich solange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann. Dieses zu erfahren, war mir erst ein Ärgernis, dann betrübte ich mich darüber, und nun macht es mir Schadenfreude. Ich habe mir das Wort gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.
Da zudem im Kern der Weltdeutung der »Wanderjahre« ein Plädoyer für das Tätigsein in der Welt und gegen das übermäßige – um nicht ›maßlose‹ zu sagen – Theoretisieren und Abstrahieren steht, erschiene jede rein essayistische Behandlung der verhandelten Themen als eine Bewegung in die falsche Richtung.
Goethes Missachtung der Form sollte also gerade nicht als eine Missachtung der Kunst der Literatur verstanden werden, sondern geradezu als ihre Hochschätzung: Nur die Kunst erlaubt es Goethe, seiner Auffassung nach angemessen über die Welt und ihr Verständnis zu schreiben, ohne sich entweder in Abstraktion einer- oder Banalität andererseits zu verlieren. Dazu aber ist es zugleich nötig, die traditionelle Form zu zerbrechen (man entschuldige diese Reminiszenz an Schillers »Lied von der Glocke«) und in den Trümmern der Form weiter zu erzählen.
Besser macht all dies das Buch aber leider nicht!
Vielleicht zum Schluss noch ein Wort zu der hier gelesenen Ausgabe. Wie oben bereits erwähnt, haben die »Wanderjahre« eine etwas komplizierte Publikations- und Redaktionsgeschichte: Es erschienen zu Goethes Lebzeiten zwei Fassungen, eine fragmentarische 1821, die notwendig wurde durch die Pustkuchensche Fortsetzung der »Lehrjahre« (ebenfalls 1821), und eine umgearbeitete und erweiterte 1829, die heute die Grundlage der meisten Ausgaben bildet. Allerdings hatte Goethe Eckermann gegenüber erwähnt, dass die beiden Spruchsammlungen der Ausgabe von 1829 in der Hauptsache aufgenommen worden seien, um den Umfang des jeweiligen Bandes abzurunden. Eckermann hat sich daher später entschlossen, die Spruchsammlungen wieder aus den »Wanderjahren« herauszunehmen, eine Praxis, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die meisten Herausgeber gefolgt sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Redaktion der Ausgabe von 1829 eher flüchtig war und so ungewollt einige zusätzliche Brüche und fehlende Anschlüsse produziert hat. Natürlich bringt die Münchner Ausgabe, die seit einigen Jahren meine Brotausgabe der Werke Goethes ist, die »Wanderjahre« vollständig in beiden Fassungen. Doch wenn man nicht die Geduld aufbringen möchte, den Text gleich zweimal zu lesen, so bietet die Ausgabe bei Reclam so etwas wie eine integrale Fassung der beiden Versionen und ergänzt einige der aus der Ausgabe von 1829 herausredigierten, zum Verständnis aber notwendigen Teile.
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. RUB 7827. Stuttgart: Reclam, 1982/2002. Broschur, 565 Seiten. 9,60 €.
Meine Lektüregeschichte zu »Effi Briest« ist lang und etwas kompliziert: Es ist der erste Roman Fontanes, den ich überhaupt gelesen habe – es muss 1981 gewesen sein – und ich war bei meiner erste Lektüre alles andere als angetan. Ich war damals – beeinflusst durch die intensive Lektüre Arno Schmidts und das langsame Erobern des »Ulysses« – ein sehr formaler Leser und hatte zugleich vom 19. Jahrhundert kaum mehr als eine Ahnung. Von daher erschien mir Fontane in der Hauptsache als ein laxer, unordentlicher Erzähler, der wenig um das Gerüst bzw. die Konstruktion seiner Erzählung gab. Während des Studium begriff ich dann langsam, um was es Fontane beim Erzählen dieses Romans gegangen war und lernte von den scheinbaren formalen Schwächen abzusehen.
Noch später dann verwendete ich »Effi Briest« als Gegenfolie zu Arno Schmidts sogenannter Etym-Theorie, indem ich spaßeshalber bei dem auf den ersten Blick unverdächtigen Fontane den bewussten Einsatz von Etym-Techniken nachwies, also Schmidts Rede von der »4. Instanz« konterkarierte. Und mit der Zeit stellte sich Effi Briest dann endlich auch in die Reihe der berühmten literarischen Frauengestalten des 19. Jahrhunderts ein.
Wenn man nach einer solchen Lektüregeschichte von fünf oder sechs Lektüren aus didaktischem Anlass erneut zu einem Buch zurückkehrt, besteht immer die Gefahr, dass man enttäuscht wird, dass die Faszination des Buches ausgeschöpft scheint. Doch auch diesmal hat sich Fontane als Erzähler bewährt.
Wie bekannt sein sollte, erzählt »Effi Briest« von Schicksal der zu Anfang 17-jährigen Titelheldin, die an einen mehr als doppelt so alten Mann, einen ehemaligen Bewerber um die Gunst ihrer Mutter verheiratet wird. Effi und Geert von Instetten passen nicht sehr gut zusammen oder, um nicht ungerecht zu sein, sie finden erst nach längerer Zeit die Ebene, auf der sie miteinander statt nebeneinander her leben können. In der Zwischenzeit aber hatte Effi aus Langeweile und Neugier eine kurze Affäre mit einem anderen Mann, die nicht nur gut sechs Jahre später ihre Ehe, sondern ihr gesamtes Leben ruinieren soll. Nach der Scheidung findet sich Effi gesellschaftlich isoliert, sogar zu ihrer eigenen Tochter findet sie keinen Kontakt mehr. Und, obwohl schuldig, endet ihr Leben tragisch: Zu unangemessen an ihren Fehltritt erscheint die Härte, mit der sie von ihrer Welt abgeschlossen wird. Selbst jenen, die ihr am nächsten standen, ihren Eltern und ihrem ehemaligen Ehemann, kommen Bedenken, aber auch ihnen fehlt eine wirkliche Alternative zu dem, was sie eben tun. Es tut ihnen leid, aber was soll man angesichts der Forderungen der Gesellschaft nach Moral und Gerechtigkeit anderes machen, als der Ungerechtigkeit nachgeben?
Daher müsste natürlich einmal gründlich über die Menschlichkeit der Fontaneschen Erzählungen geredet werden: Trotz der unbestreitbaren Ungerechtigkeit, die sich in Effis Schicksal manifestiert, ist keine der Hauptfiguren (vom Apotheker Gieshübler vielleicht einmal abgesehen) ganz schuldig oder ganz und gar unschuldig. Natürlich hätten sich sowohl Instetten als auch Effis Eltern anders verhalten können und sollen, als sie es getan haben, aber Fontane bleibt misstrauisch gegenüber solchen moralischen Anforderungen an das Individuum. Auch nützt es wenig, Effi oder Crampas anzuklagen; die eine, weil sie keine wirkliche Chance hat, sich der Verführung zu erwehren (I can resist everything except temptation.), den anderen, weil er eben auch nur seiner Natur folgt und sich jederzeit über die möglichen Folgen im Klaren ist, die er resignierend in Kauf nimmt. Und so geschieht hier das Böse ohne die Bösen (den Bösen waren wir schon in Goethes Faust losgeworden). Niemand, den man nicht verstehen könnte, der nicht seine Gründe hätte, sich erst einmal um sich und erst später um die Folgen für die anderen zu kümmern. Es gehört zu den besten bei Fontane zu findenden Einsichten, wie ganz obenhin, gedankenlos und zugleich unausweichlich die Grausamkeit der menschlichen Gesellschaft entsteht.
Darüber hinaus ist mir bei der jetzigen Lektüre deutlicher als zuvor die motivische Dichte des Romans aufgefallen: Überall finden sich Ehebrühe oder außereheliche sexuelle Beziehungen, ständig wird der Leser daran erinnert, welche eine dünne Lackschicht die offizielle Moral bildet über einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Sexualität in den unterschiedlichsten Formen umgetrieben wird.
Und wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeit lang an dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«, schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ – zu der Bemerkung hinreißen, »das Käthchen liege sehr gut da,« welche Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleich kam oder doch zu solcher hinüber leitete.
Es ist erstaunlich, wie subtil und dennoch nicht weniger deutlich Fontane die zentrale Bedeutung sexueller Verhältnisse zu thematisieren vermag, ohne dabei für die Leserinnen der Familienblätter, für die er in erster Linie schrieb, anstößig zu werden. Zugleich macht er klar, dass ihm die unverstelltere Behandlung des Themas in der zeitgenössischen Literatur durchaus bekannt ist:
… die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel, sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer fünfundzwanzig, so als Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi, beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, »ob es denn wirklich so schrecklich sei,« habe die Zwicker geantwortet: »Ach, meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz anderes.« »Sie schien mich auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit diesem ›anderen‹ bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und ähnlichem herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden. Dazu kommt noch, daß Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier außerordentlich unter der Hitze.«
Ein durch und durch wundervoller Roman, der auch in sieben Lektüren nicht auszulesen ist. Ich bin schon jetzt gespannt, wann ich wieder bei ihm vorbeikommen werde.
Theodor Fontane: Effi Briest. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15. Berlin: Aufbau Verlag, 1998. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 534 Seiten. 25,– €.
Sinn hat dieses verrückte Leben keinen und scheinbar einen konstruieren kann man nur dann, wenn man eine Unmenge neuen Unsinns dem alten Unsinn hinzufügt. Alles was man tun kann, ist Märchen erzählen und sich und andere so vorübergehend zu unterhalten.
Der Band präsentiert wohl etwa die Hälfte oder auch etwas mehr des Briefwechsels zwischen Paul Feyerabend und Hans Peter Duerr, der den Band herausgegeben hat. Das heißt, es handelt sich in der Hauptsache um Briefe Feyerabends an Duerr, denn die Briefe Duerrs in umgekehrter Richtung haben sich leider nur in Einzelfällen erhalten, da Feyerabend mit ihnen gänzlich sorglos umgegangen ist.
Es ist natürlich hübsch, Briefe gerade von diesen beiden kreativen Außenseitern des akademischen Wissenschaftsbetriebs lesen zu können. Während Duerr eher durch seine Inhalten und Interpretationen verstört, nimmt Feyerabend den gesamten Betrieb nicht mehr ernst und nur noch im Sinne einer Lebensweise an ihm teil. Was die meisten Fachkollegen und Kritiker an Feyerabends Schriften am meisten irritiert haben dürfte, ist ihre prinzipiell skeptische Grundposition, die nicht versucht, dem Allmachtsanspruch des Rationalismus einen anderen entgegenzusetzen, sondern sich mit der Haltung des Kindes begnügt, das die Nacktheit aller Herrscher ausschreit.
Außer um das Elend des Wissenschaftsbetriebs im persönlichen und allgemeinen Sinne geht es in der Hauptsache ums Schreiben und Lesen, hier und da auch um Frauen, Familie und Essen. Am Rande fallen einige hübsche Kurzporträts ab – am reizvollsten ist vielleicht das Siegfried Unselds geraten.
Für mich persönlich war es hübsch zu lesen, dass Feyerabend als ehemaliger popperscher Rationalist seine Wandlung der Wittgensteinschen Gehirnwäsche verdanke.
Ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund. Hg. v. Hans Peter Duerr. edition suhrkamp 1946. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Broschur, 291 Seiten. 11,50 €.
Eine kleine, reich bebilderte Arno-Schmidt-Biographie. Die Bilder sind vorgeblich aus dem Malwettbewerb der Volksbank Bargfeld »Kinder malen Arno Schmidt« hervorgegangen (leider macht Storch im Vorwort zu deutlich, dass es sich dabei um eine Fiktion handelt). Der Text, der die infantilen Bunt- und Filzstiftbilder begleitet, erzählt eine hübsch schaurige Biografie Schmidts gemischt aus Fakten, Anekdoten, groben Erfindungen und Geschmacklosigkeiten. Wer Storch ernst nimmt, findet reichlich Stoff, sich aufzuregen; es ist daher nur jenen die Lektüre anzuraten, die sowohl über einen gehörigen Abstand zum obskuren Objekt der Darstellung als auch einen recht breit angelegten Humor verfügen – zwei Dinge, in denen die meisten Arno-Schmidt-Kenner bekanntlich nicht gerade exzellieren.
Interessant an dem Büchlein ist wahrscheinlich weniger sein Inhalt als vielmehr die Tatsache, dass jemand erfolgreich den Aufwand betreibt, sich in dieser Art und Weise über Arno Schmidt und sein öffentliches Bild lustig zu machen. Einerseits macht es sich mit dem Humor des kulturellen Spießbürgers über den aus der Spur geratenen, schreibenden Spießbürger Arno Schmidt lustig (was gleich zwei wesentlich Züge der Schmidt-Rezeption ironisiert), andererseits stellt es unter Beweis, dass Schmidt bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der deutschen Kulturträger im kulturellen Bewusstsein fest verankert ist, und sei es auch nur als eine Karikatur seiner tatsächlich biografischen und schriftstellerischen Existenz.
Wenzel Storch: Arno & Alice. Ein Bilderbuch für kleine und große Arno-Schmidt-Fans. Hamburg: KVV konkret, 2012. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Kunstdruckpapier, ca. 88 hauptsächlich illustrierte Seiten (unpaginiert). 24,80 €.
Das «Mittelalter» ist ein typisch europäisches, genauer sogar ein westliches Phänomen. Weder die Hochzivilisationen Indiens oder des Fernen Ostens, noch das christliche Byzanz oder die Länder des Islam kennen ein vergleichbares Wahrnehmen einer abgesteckten, als minderwertig verworfenen und auf der Suche nach den Quellen der eigenen Kultur geradezu auszuschabenden «aetas media».
Einem gut 550-seitigen Text, der einen Zeitraum von 1.000 Jahren verhandelt, auch nur als Leser, geschweige denn als Rezensent gerecht zu werden, ist kaum möglich. Johannes Fried ist die Problematik seines Versuchs, das gesamteuropäisches Phänomen des Mittelalters in einem Überblick zu erfassen, durchaus bewusst; entsprechend defensiv ist auch das Vorwort gehalten. Leider ist aber wenigstens mir bei der Lektüre nicht klar geworden, wen Fried sich als Leser für dieses Buch vorgestellt hat und was genau er ihm vermitteln wollte.
Ein Buch, das kaum eine halbe Seite hat, um ein Jahr Geschichte abzuhandeln, und dabei nicht nur die äußerlichen historischen Ereignisse vermitteln, sondern auch über Gesellschaft, Kunst und Kultur sprechen will, muss zwangsläufig bei allem an der Oberfläche bleiben. Wie wenig befriedigend das ist, zeigt sich hauptsächlich an zwei Phänomenen: Beim Abhaspeln der historischen Chronologie stellt sich zum einen nur ganz selten tatsächlich ein geschlossenes Bild ein, das dem Leser das Nach- und Miteinander der Ereignisse und ihre Bedingtheit deutlich macht. Wenn man sich selbst mit einem Abschnitt der Geschichte etwas intensiver auseinandergesetzt hat, kann man Fried durchaus folgen, aber dort, wo einem selbst die Zusammenhänge eher vage vorschweben, hilft seine Darstellung oft kaum weiter. Das gilt aber durchaus nicht für alle Abschnitte: Den Einfall der Mongolen nach Europa etwa und seine Folgen weiß er kompakt und bildhaft zu schildern, was den Mangel an Geschlossenheit an anderen Stellen nur um so schärfer hervortreten lässt.
Zum anderen tritt an Stellen, an denen man selbst halb ein Kenner ist, häufig ein ratloses Schulterzucken auf. Wenn es etwa über die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles heißt
Die Natur zu erforschen bedeutete, die Ursachen der Bewegung zu erfassen, deren vier zu unterscheiden waren: die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis, Materie, Form, Beweger und Zweck oder Ziel. (S. 360)
so kann das für eine der mittelalterlichen Aristoteles-Interpretationen durchaus richtig sein (Fried verrät uns nicht, welche dafür in Frage käme), aber für Aristoteles selbst ist die auslegende Übersetzung der causa efficiens als Beweger zumindest ungeschickt, wenn nicht sogar irreführend, denn der (unbewegte) Beweger ist bei Aristoteles als causa finalis gedacht. Auch wäre es wahrscheinlich geschickter, statt von der mit neuzeitlichen, physikalischen Ideen assoziierten Materie vom Stoff zu sprechen. Und da der Leser über die Vier-Ursachen-Lehre nicht mehr als das oben Zitierte erfährt, entsteht bestenfalls ein schiefes Bild der ganzen Angelegenheit.
Auch sprachlich ist das Buch nicht immer auf der Höhe:
Der Hundertjährige Krieg warf England endgültig auf die Insel zurück; Frankreichs Wiedergeburt konnte es nicht verhindern. (S. 517)
Zumindest ich habe beim ersten Lesen das es nicht auf England, sondern auf den Vorgang des Zurückwerfens bezogen. Ähnliche Holprigkeiten finden sich öfter.
Aber es mag auch einfach nur sein, dass ich nur der falsche Leser für das Buch bin und ein anderer mit all dem bestens zurecht kommt. Mir jedenfalls scheint es nicht ganz und gar gelungen zu sein, wenn ich auch dem Autor gern zugestehe, dass er sich angesichts der kaum zu leistenden Aufgabe einer Gesamtdarstellung des Mittelalters in nur einem einzigen Band sehr beachtlich aus der Affäre gezogen hat. Man kann mit einem solchen Projekt auch ganz allerliebst kompletten Schiffbruch erleiden.
Wie so oft ein Buch, das seinesgleichen sucht und von dem man sich dennoch leicht enttäuscht verabschiedet.
Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. Jubiläumsedition. München: C. H. Beck, 2013. Broschur (22 × 15 cm), 606 Seiten. 16,– €.
Angesichts der sich gerade überschlagenden Diskussion um das Übersetzen literarischer Texte in eine gerechte Sprache – es wird für nachfolgende Jahrhunderte wenige andere vergleichbar schlagende Beispiele für die vollkommene Bodenlosigkeit der rezenten Kulturstufe geben – sei wenigstens an dieser Stelle an ein kleines Büchlein aus den goldenen Zeiten des seligen Haffmans Verlages erinnert. Nur zum Zwecke der Demonstration soll hier zumindest eine Stelle ausführlicher zitiert werden:
Goethe war kein Neger noch scherte er sich viel um sie. Ganz anders dagegen Franz Kafka. Er legte dem Brief an Felice vom 24. 11. 1912 eine Notiz aus dem ›Prager Tagblatt‹ vom 25. 9. über die »Seligsprechung der 22 christlichen Negerjünglinge von Uganda« bei, welche »als erste Blutzeugen vor 26 Jahren für den Glauben den Verbrennungstod erlitten«:
Wie aus Rom von der Zentrale der St. Petrus Claver-Sodalität gemeldet wird, waren die Kardinäle, welche die Angelegenheit zu beraten hatten, über den Heldenmut der jugendlichen Märtyrer bis zu Tränen ergriffen. Es herrscht über die Nachricht des eingeleiteten Seligsprechungsverfahrens allenthalben bei den Negern und besonders bei denen von Nord-Viktoria-Nyanza, der Heimat der ersten Märtyrer, der größte Jubel, den sie in Tänzen und Sprüngen zum Ausdruck brachten.
Kafka beauftragt Felice, den Artikel aufzubewahren, und kommentiert: »Fast jeden zweiten Tag finde ich in der Zeitung eine derartige, für mich allein bestimmte Nachricht.«
Abgesehen von Kafkas überaus einleuchtender Nachrichten- und Medientheorie (jeder muß nur je einen Artikel in je einer Zeitung lesen) – […]
Jeder denkende Mensch mache sich bitte klar, dass falls die die Diskussion beherrschenden Hysteriker den Sieg davontragen werden (und alles sieht danach aus), ein solcher Text nie wieder wird gedruckt werden können. Das ist zwar keine Zensur, wie die Nichtsnutze der anderen Seite schreiend behaupten, aber es ist schlimmer: Es handelt sich um die Selbstverstümmelung einer Kultur aufgrund galoppierender Dummheit.
Eckhard Henscheid / Immanuel Kant: Der Neger (Negerl). Zürich: Haffmans, 1988. Pappband, Fadenheftung, 174 Seiten. Nie wieder im Buchhandel erhältlich.
»Ach Thilde, was unsereiner auch alles erleben muß. Und das nennen sie dann Fügungen, und man soll sich auch noch bedanken.«
Fontanes letzter Roman, obwohl er von der Länge her kaum diesen Namen verdient. Fontane ist vor der Endredaktion verstorben, so dass der Text erst 1907 aus dem Nachlass erschienen ist und das zudem in einer starken herausgeberischen Bearbeitung. Erst Ende der 60-er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde erstmals eine sich enger am Manuskript orientierende Edition gedruckt. Das alles bedeutet allerdings nicht, dass es sich um ein Fragment handelt. Man weiß zwar, dass Fontane immer ziemlich lange an seinen Text gefeilt und verändert hat, aber die Fabel ist vollständig aus- und zu Ende erzählt. Sicherlich könnte man spekulieren, dass besonders der in Westpreußen spielende Teil der Fabel noch hätte ausgeweitet werden können, aber wie Fontane gegen Ende deutlich macht, war die Kürze der politischen Karriere der Großmanns beabsichtigt.
Die Titelfigur Mathilde Möhring ist die Tochter eines früh verstorbenen Berliner Exportkaufmanns, die sich zusammen mit ihrer Mutter in kleinbürgerlichen Verhältnissen über Wasser hält, indem sie eines ihrer Zimmer an Studenten vermieten. Als der etwas verbummelte und der schönen Literatur zugeneigte Jura-Student Hugo Großmann bei den Damen Möhring einzieht, wittert Mathilde ihre Chance. Eine Erkrankung Hugos bietet den Anlass zum familiären Anschluss, und der kaum Genesene verlobt sich wie geplant mit Mathilde. Die nimmt daraufhin Hugos Leben in die Hand, treibt ihn systematisch durchs Examen und besorgt ihm anschließend eine Stelle als Bürgermeister in einem Kleinstädtchen in Westpreußen. Dort beginnt sie, mit Hilfe ihres leicht regierbaren Ehemanns erfolgreich Politik zu machen.
Doch natürlich kommt es, wie es kommen muss: Der gesundheitlich empfindliche Hugo erkältet sich gleich beim ersten scharfen Wind und kommt mit einer Lungenentzündung nieder. Zwar erholt er sich noch einmal, aber zu Ostern erleidet er aus heiterem Himmel einen Rückfall und stirbt. Mathilde, nur wenig erschüttert, kehrt zu ihrer Mutter nach Berlin zurück und bessert ihre Witwenpension auf, in dem sie Lehrerin wird.
Von Hugo Großmann wird selten gesprochen, seine Photographie hängt aber mit einer schwarzen Schleife über der Chaiselongue, und zweimal im Jahre kriegt er nach Woldenstein hin einen Kranz. Silberstein legt ihn nieder und schreibt jedesmal ein paar freundliche Zeilen zurück.
Es ist erstaunlich, dass dieser kleine Roman Fontanes nicht viel bekannter ist. Vielleicht liegt es dran, dass der Autor selbst nicht richtig warm geworden ist mit seiner berechnenden, sich kaum je ihren Gefühlen überlassenden Protagonistin. An Mathildes Karriere zeigen sich die Vorurteile, der Standesdünkel und die Enge der preußischen Gesellschaft, ohne dass Mathilde dem Leser dadurch sympathischer wird oder er sich auf sonst einem Wege mit ihr identifizieren kann. Auch jede Tragik verweigert ihr der Autor: Hugos Tod ist zwar bedauerlich, aber nicht das Ende der Welt. Mathilde weiß sich durchzuschlagen und gerät so zu einer Gegenfigur zu Effi Briest, was der Autor durch einige Anspielungen auch deutlich zu machen weiß.
Alles in allem ein kleines Meisterwerk, das ein weiteres, wichtiges Segment in Fontanes Panorama der Rolle der Frau in der preußischen Gesellschaft hinzufügt.
Ich habe hier, da der Hintergrund der Lektüre einmal mehr ein didaktischer ist, aus praktischen Gründen den von Gotthard Erler edierten Text bei dtv zugrunde gelegt, wie er auch in der Hanser-Ausgabe der Werke Fontanes abgedruckt ist. Philologisch orientierten Lesern ist aber natürlich anzuraten, den von Gabrielle Radecke edierten Text in der »Großen Brandenburger Ausgabe« (Bd. 20, Aufbau Verlag, 2008) heranzuziehen, der den Zustand des Fontaneschen Manuskript ungeschönt wiedergibt. Auch ist die Entscheidung des Deutschen Taschenbuch Verlages, die Anmerkungen der Hanser-Ausgabe unbearbeitet zu übernehmen, als eher unglücklich anzusehen, da diese nicht nur an einzelnen Stellen sachlich falsch sind, sondern zum Teil auch auf Kommentare zu anderen Texten innerhalb der Hanser-Ausgabe verweisen, die dem Leser des Taschenbuchs naturgemäß nicht verfügbar sind.
Theodor Fontane: Mathilde Möhring. dtv 13113. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 32005. Broschur, 158 Seiten. 6,50 €.
Als »Seelandschaft mit Pocahontas« 1955 in Alfred Anderschs Literaturzeitschrift »Texte und Zeichen« erschien, wussten wohl nur ganz wenige der ohnehin nicht so sehr zahlreichen Leser, wer Pocahontas war. Aufgrund der gleichnamigen Disney-Operette dürfte der Name heute bei den meisten Menschen süßliche Assoziationen an eine bezaubernde indianische Prinzessin auslösen. Arno Schmidts Pocahontas stammt dagegen von der eher herben und unglücklichen Seite der historischen Person ab. Für Schmidt bestand die ganz persönliche Verbindung zur Biographie der Indianerin darin, dass sie bekanntlich dem englischen Kapitätn John Smith (»Es kann schließlich nich Jeder Schmidt heißn.« BA 1/3/403) das Leben rettete. Die Geschichte der Rothäutin, die in der Fremde leben musste und starb, kam ihm daher ganz recht, als er daran ging, einen sommerlichen Kurzurlaub mit seiner Frau Alice in ein Stück Literatur umzuwandeln.
Erzählt wird von den beiden Kriegskameraden Erich und Joachim (dem Ich-Erzähler), die sich – wahrscheinlich im Sommer 1953 – auf einen Kurzurlaub am Dümmer treffen. Joachim, der sich als Schriftsteller ärmlich durchschlägt, wurde von Erich, der als selbstständiger Malermeister mit »fuffzehn Geselln« gut etabliert ist, eingeladen. Dieses ökonomische Missverhältnis ist wohl auch der Grund, dass Joachim, als die beiden Herren am Urlaubsort Dümmerlohausen ein weibliches Urlaubspärchen aufreißen, die unattraktive, hoch aufgeschossene Selma abbekommt, weil Erich mit der handfesten und feisten Annemarie anbandeln möchte. Doch erweist sich die erzwungene Wahl schließlich als Glücksfall: In den vier Tagen, die Joachim und Selma miteinander verbringen, zeigt sich eine starke Seelenverwandtschaft der beiden. Sie lieben die Natur, sind lieber für sich als in großer Gesellschaft und teilen das Gefühl, in einem Leben und einer Welt gefangen zu sein, in die sie weder der Neigung noch dem Charakter nach passen. Trotzdem bleibt es zwischen ihnen bei einer kurze Sommerliebe:
Sie sagte es wild vor sich hin, »Was denn?«, blieb stehen, mit dem Rücken zu mir, den Kopf gesenkt: »Dich will ich! Noch was länger.«, und wir gingen betrübt weiter. Schüttelte aber doch streng die Fantasien weg: »Ja, wenn wir reiche Leute wären« (sachlich) »dann würds vielleicht gehen. Wenn ich immer nur die Pocahontas sein könnte. Und wir keine Sorgen hätten; Angst wegen Kindern und so. – Aber dann würdest Du Dir auch noch ne Andere aussuchen. Als mich –« sie sah sich an den Ästen um nach dem dürrsten Wort: »– Vogelscheuche!«, und blickte haßvoll und flehend: ?.
Aus dieser Konstellation heraus entsteht eine der schönsten, zugleich zarten und rabiaten Liebesgeschichten der deutschen Literatur, und der Text hat es verdient, jetzt mit einer ganz wundervoll reich illustrierten Einzelausgabe bei der Officina Ludi gewürdigt zu werden. Die Illustrationen von Felix Scheinberger liefern eine ganz eigenständige Spiegelwelt zum Text, in der sich sowohl die breiten Landschaftsschilderungen als auch die Fülle an Wirklichkeitsdetails, die einen wesentlichen Reiz der Erzählung ausmachen, wiederfinden.
Das Erscheinen der »Seelandschaft« war übrigens einer der Wendepunkte in der Existenz des Schriftstellers Arno Schmidt: Aufgrund einer Anzeige wegen Pornographie und Gotteslästerung gegen den Autor, den Herausgeber Alfred Andersch und den Luchterhand-Verleger Eduard Reifferscheid sah sich Schmidt gezwungen, aus dem katholischen Kastel in das liberalere Darmstadt zu flüchten. Die städtische Existenz in der Künstlerkolonie ging ihm bald derartig auf die Nerven, dass es ihn stark zurück in die geliebte Lüneburger Heide zog. Er suchte daher alle Mittel und Wege auf, von dort wieder fort zu kommen, und erwarb schließlich 1958 im Dörfchen Bargfeld bei Celle ein Holzhäuschen, in dem er die produktivsten Jahre seines Schriftstellerlebens verbringen sollte.
»Seelandschaft mit Pocahontas« ist überhaupt allen Lesern zu empfehlen, die es einmal mit Schmidt versuchen wollen, sich aber wegen des Mythos seiner angeblichen Unlesbarkeit bislang nicht getraut haben; und allen Schmidt-Kennern und -Liebhabern sei empfohlen, diese überraschende und wundervolle Ausgabe ihren Sammlungen einzuverleiben.
Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. Illustrationen von Felix Scheinberger. Großhansdorf bei Hamburg: Officina Ludi, 2012. Bedruckter Pappband mit Leinenrücken, Fadenheftung, 170 g-Papier, 83 Seiten mit zahlreichen farbigen Illustrationen. 24,80 €. Vorzugsausgabe (100 Exemplare): 160,– €. Luxusausgabe (25 Exemplare): vergriffen.