Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen

Es gibt nicht viele große, entscheidende Schritte der Philosophie, trotz des Aufwandes und Windes, den sie durch die Geschichte hindurch gemacht hat.

978-3-518-29355-3Eine der zahlreichen Editionen aus dem Nachlass von Hans Blumenberg. Dort fand auch eine Mappe mit dem Titel des Buches, der auch der Titel eines der darin gesammelten Essays ist. Thematisch hängt die Sammlung nur locker zusammen: Es geht um Gefälligkeit von Philosophen und Philosophien, um Martin Heidegger und seine nationalsozialistischen Verstrickungen, es geht aber auch um Sigmund Freud – der Essay »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes« enthält eine der knappsten und präzisesten Analysen der Freudschen Psychoanalyse, die ich kenne – und Arthur Schnitzler, um Hegel und das Holstentor.

Insgesamt wie immer bei Blumenberg eine sehr anregende Lektüre, die in diesem Fall zwischen einem gehobenen feuilletonistischen und maßvollen philosophischen Niveau pendelt. Eine anspruchsvolle Lektüre für den Nachttisch.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen. stw 1755. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Broschur, 208 Seiten. 10,– €.

Michael Buselmeier: Wunsiedel

Es war ein schwerer Fehler gewesen, dem Lockruf des alten Intendanten zu folgen und nach Wunsiedel zu fahren, eine fatale Dummheit, die aber nun nicht mehr rückgängig zu machen war.

978-3-88423-362-7Wunsiedel ist der Ort, an dem Jean Paul und der Mörder Carl Sand geboren wurden und Rudolf Heß begraben lag. Es ist auch der Ort, an den der ehemalige Schauspieler  Moritz Schoppe nach 44 Jahren zurückkehrt. 1964 hatte er in Wunsiedel bei den Luisenburg-Festspielen seine Karriere als Schauspieler begonnen, es aber nur schlecht ertragen, dort nicht die intellektuell herausragende Position zugewiesen zu bekommen, derer er sich würdig dünkt. Inzwischen ist er Schriftsteller geworden, eine Profession, die es ihm erlaubt, ausgiebig auf die alten Kollegen und deren Geistesferne zu schimpfen. Dass er dies im Ton Thomas Bernhards versucht, soll wohl der Sache eine ironische Distanz verleihen, tut es aber nicht, sondern bleibt nur eine der Stilübungen, von denen der Roman voll ist.

Neben der Enttäuschung des jungen Schauspielers, nicht unmittelbar als Genie erkannt zu werden, plagt ihn das Heimweh – er vermisst besonders seine ihn allein erzogen habende Mutter – und er wird von seiner Freundin Ulla, einer Neurotikerin aus reichem Elternhaus, per Briefpost verlassen. Während der Erzähler einerseits behauptet, darüber verzweifelt zu sein, unternimmt er andererseits mit einem Kollegen Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend. Gegen Ende verliert der Roman dann auch noch an formaler Geschlossenheit und der Erzähler erzählt noch rasch ein paar Träume und was ihm sonst noch so einfällt.

Ganz nett sind die Naturbeschreibungen. An einer Stelle gerät der Autor sogar in Versuchung, einen romantischen Geist auftreten zu lassen, aber er traut sich oder auch dem Leser dann doch nicht und plaudert alles aufs Platteste aus. Kein wirklich schlechtes Buch, aber eben auch nicht gelungen. Es wirkt wie ein Produkt aus einer Creative-Writing-Klasse: Der Autor hat gut aufgepasst und weiß nun wie es geht; er hat viel recherchiert und sich einen spannungsreichen Charakter ausgedacht; er schreibt, was er erlebt hat, und mit einer biegsamen Feder und vermag zahlreiche Töne zu treffen, und dennoch fühlt man Absicht und man ist verstimmt.

Michael Buselmeier: Wunsiedel. Theaterroman. Heidelberg: Wunderhorn, 2011. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 159 Seiten. 18,90 €.

Hans Blumenberg: Löwen

Ein Löwe, wie dürfte es anders sein, ist so gleich wie der andere, und wenn es schon einmal Christen zu fressen gegeben hatte, dann eben auch für alle.

978-3-518-22454-0Wie bereits gesagt, hat Hans Blumenberg zahlreiche kurze Essays für Tageszeitungen geschrieben, die unter anderem auch in der Bibliothek Suhrkamp in einige hübschen Sammelbänden gedruckt worden sind. Angeregt durch die Lektüre von Sibylle Lewitscharoffs »Blumenberg« habe ich natürlich zu »Löwen« gegriffen. Das Bändchen umfasst, wie der Titel schon andeutet, eine Auswahl von Texten, in denen mehr oder weniger zentral jeweils von Löwen bzw. einem Löwen die Rede ist. Blumenbergs früheste Löwen, wenigstens der biographischen Chronologie nach, dürften jene beiden Lübecker Löwen gewesen sein, zwischen denen hindurch schon Tonio Kröger das »erste Haus am Platz« in seiner Heimatstadt betreten hatte und die Hans Blumenberg und seine Schulkameraden zu reiten pflegten, bis sie der Portier des Hotels einmal mehr davon jagte.

Die Themen sind breit gestreut und reichen von Reflexionen über biblische Stoffe und Legenden über philosophische Miniaturen und literarische Anmerkungen bis hin zu Anekdoten und Zeitgeschichtlichem. Manchmal steht der Löwe im Zentrum, manchmal schleicht er sich gerade noch am Rande in den Essay hinein. Eine schöne kleine Sammlung, die man ruhig peu à peu lesen sollte, und die, wie fast alle kurzen Texte von Hans Blumenberg, neugierig auf mehr macht.

Hans Blumenberg: Löwen. Bibliothek Suhrkamp 1454. Berlin: Suhrkamp, 2010. Pappband, Lesebändchen, 130 Seiten. 12,80 €.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg

Gerhard war ein lieber, kluger Kerl, aber sie brauchte einen Mann, der sie mit Stumpf und Stiel ausrottete.

978-3-518-42244-1Beginnen wir mit dem Positiven: Natürlich ist es verdienstvoll, wenn eine der bekannteren jungen Autorinnen einen Roman einem der unbekannteren deutschen Philosophen widmet. Hans Blumenberg (1920–1996) ist eine wirkliche Berühmtheit als deutscher Philosoph, wie sie etwa Jürgen Habermas oder Hans Georg Gadamer erlangt haben (an Darsteller wie Peter Sloterdijk oder Rüdiger Safranski wollen wir hier gar nicht erst denken), erspart geblieben. Dazu war Hans Blumenbergs anthropologisches Denken wohl nicht recht geeignet, da sich aus seiner Position nur schlecht handfeste und eingängige gesellschaftliche Thesen ableiten ließen. Überhaupt behindert Blumenbergs tiefes Misstrauen gegen alle starken systematischen Zugriffe auf die Welt eine schlagwortartige Aufbereitung seines Denken, die ja in den meisten Fällen die Grundlage einer breiteren Popularisierung einer Philosophie bildet. Wer hat nicht schon alles vom Ding an sich, dem Weltgeist, der Dialektik der Aufklärung oder der Diskurs-Ethik geschwatzt, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, worum es dabei eigentlich geht.

Auf der anderen Seite handelt es sich bei Hans Blumenberg zugleich um einen der zugänglichsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, da man bei ihm eine sehr niedrige Einstiegsschwelle zum Werk findet: Blumenberg hat zahlreiche kurze Texte für Tageszeitungen verfasst, sehr oft Miniaturen, die wenig Vorwissen und nahezu keine philosophische Vorbildung voraussetzen. Der Suhrkamp Verlag hat eine reiche Auswahl dieser Texte in der Bibliothek Suhrkamp wieder abgedruckt, die eine beinahe unverbindliche Bekanntschaft mit diesem originellen Denker ermöglichen. (Ich werde hier zeitgleich mit dieser Besprechung eine des Bändchens »Löwen« veröffentlichen.)

Lewitscharoffs Erzählung beginnt im Jahr 1982, also nur wenige Jahre bevor Hans Blumenberg emeritiert. Zu Anfang entdeckt Blumenberg nächtens in seinem Arbeitszimmer einen Löwen, der sich allerdings nicht weiter um ihn kümmert. Auch am nächsten Tag erscheint der Löwe bei einer Vorlesung, doch scheint ihn außer Blumenberg keiner wahrzunehmen. Als Blumenberg eines Tages einen auf den Tod kranken Freund besucht und ihn der Löwe dabei begleitet, trifft er auf eine Nonne, die den Löwen ebenfalls sehen kann und mit Blumenberg einige lobende Worte über ihn wechselt. Später sieht Blumenberg den Löwen wieder in seinem Arbeitszimmer. Er wagt es aber nicht, mit einem befreundeten Journalisten über die Erscheinung des Löwen zu sprechen. Noch später stirbt Blumenberg.

Blumenberg hat naturgemäß auch Studenten. Isa ist in Blumenberg verliebt und sitzt bei allen seinen Vorlesungen in der ersten Reihe. Sie hat eine Liebelei mit Gerhard. Isa springt von einer Brücke vor einen Laster. Keiner versteht warum; auch der Leser nicht. Gerhard wird Philosophie-Professor und stirbt an einem Schlaganfall. Wenigstens da kann man sich für einen Moment lang einbilden, man verstehe warum. Richard ist Gerhards Freund und macht eine kleine Erbschaft, die es ihm erlaubt, in Südamerika ermordet zu werden. Hansi ist niemandes Freund und schreibt Gedichte, die sich reimen und die er in Gaststätten vorträgt. Er schnappt über und bricht, als man ihn abführt, tot zusammen. Nachdem alle tot sind, treffen sie sich in einer Höhle (vielleicht sogar der platonischen?) wieder und die Autorin raunt noch ein paar weitere Seiten zusammen, bevor das Buch dann endlich aus ist.

Ich gebe zu, dass meine Zusammenfassung etwas knapp geraten ist. Immerhin erfährt der nicht eingeschlafene Leser noch, dass das Ehepaar Blumenberg mit einem befreundeten Ehepaar und deren Mercedes in Ägypten war. Und dass Blumenberg gern Auto fährt. Wer aber hofft, auch nur Rudimentäres über Blumenbergs Philosophie zu erfahren oder mehr als zufällige Fragmente seiner Biographie, der wird sich enttäuscht finden. Am Ende weiß man fast mehr vom Löwen als über die Figuren, von Hans Blumenberg ganz zu schweigen.

Kollege Mangold vermutet, das Buch berge ein Geheimnis, das es nicht preisgebe. Ich vermute, die Autorin hat nicht so recht herausgefunden, was sie denn eigentlich erzählen will und sich ins Raunen gerettet; wenn sie es wenigstens noch in gutem Deutsch getan hätte. Ganz am Ende des Buchs bittet die Autorin um »Nachsicht«; verbuche ich die 21,90 € also unter Milde Gaben.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Berlin: Suhrkamp, 2011. Bedruckter Pappband, 221 Seiten. 21,90 €.

Nikolaus Heidelbach: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund

Ich glaube, Mama kommt nicht zurück.

978-3-407-79443-7Nikolaus Heidelbach macht die erstaunlichsten Bilderbücher. Nicht nur erzählt er Geschichten, die beglückend frei von jeglichem pädagogischen Pathos sind, er illustriert sie auch auf eine zugleich klare und phantastische Weise, die ihresgleichen sucht.

»Wenn ich groß bin, werde ich Seehund« erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der mit seinen Eltern in einem einsamen Haus am Meer lebt. Sein Vater ist Fischer, und eines Tages macht der Junge eine unheimliche Entdeckung: Im Klappsofa (wer kennt heute noch solche Möbel?) versteckt der Vater ein Seehundsfell, was bekanntlich all jene tun, die in Wirklichkeit keine Menschen, sondern Seehunde sind, damit sie eines Tages ins Meer zurück können. Doch seine Vermutung erweist sich als nicht ganz richtig …

Ein wundervolles Buch, das ein Märchen erzählt, so wie es sie im 19. Jahrhundert noch gegeben hat.

Nikolaus Heidelbach: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2011. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 31 Seiten (25 × 25 cm²). 14,95 €.

Johannes Willms: Talleyrand

Von den drei Möglichkeiten, die Talleyrand zwischen 1789 und 1814/15 aufgrund seines aristokratischen Herkommens hatte, Emigration, Passivität oder die Bereitschaft, dem Staat, sprich dem jeweiligen Regime, zu dienen, entschied er sich immer für das Letztere.

978-3-406-62145-1Johannes Willms setzt die Reihe seiner französischen Biographien fort, diesmal mit einem Seitenstück zu seiner umfangreichen Napoleon-Biographie. Talleyrand ist wohl eine der schillerndsten politischen Figuren der Wendezeit zur europäischen Moderne. Er hat es verstanden sowohl vor und während der Französischen Revolution als auch unter Napoleon und der auf ihn folgenden Restauration bedeutende politische Positionen einzunehmen. Keine seiner politischen Niederlagen hat ihn wirklich zu Fall gebracht, jeder seiner Rücktritte markiert nur eine Phase des Übergangs bis zum nächsten Aufstieg in Amt und Würden. Selbst als er sich mit guten Gründen und aus freien Stücken endgültig ins Privatleben zurückziehen wollte, erwies sich sein Drang zu Macht und Einfluss als zu stark, und er betrat binnen Kurzem wieder die politische Bühne. Dabei muss er im persönlichen Umgang ein bestrickender Gesprächspartner voller Esprit gewesen sein.

Johannes Willms zeigt sich mit diesem Buch einmal mehr als ein vorzüglicher Biograph, der nicht nur exzellent schreibt, sondern es auch versteht, den richtigen Abstand zu seinem Objekt einzunehmen: Weder verherrlicht er Talleyrand noch stimmt er in die Kritik ein, die in diesem Mann hauptsächlich einen schamlosen Opportunisten der Macht erkennen will. Sein Blick auf Talleyrand ist differenziert und von einem tiefen Verständnis für dessen Person und die gesellschaftliche, soziale und politische Situation Frankreichs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getragen. Dabei scheut er sich nicht vor starken, eigenständigen Urteilen, die zum Teil so ausfallen, dass ihm die historische Forschung kaum wird folgen wollen, was nicht heißen soll, dass diese Urteile falsch sind. Und da Willms spätestens seit seiner Napoleon-Biographie als ausgewiesener Kenner der französischen Geschichte gelten darf, hat das Buch zudem den Vorteil, dem Leser wie nebenbei eine kleine Historie der Französischen Revolution und ihrer Folgen für Frankreich und Europa zu liefern.

Nicht nur wer Willms »Napoleon« goutiert hat, sollte dieses Buch nicht an sich vorbeigehen lassen, sondern auch all jene, die sich für die Französische Revolution als einem der Keime der heutigen westlichen Welt interessieren.

Johannes Wilms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, Lesebändchen, 384 Seiten. 26,95 €.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Unerträglich, aber schön.

978-3-518-42177-2Eine der beeindruckendsten, intensivsten Lektüren der letzten Jahre! Schalanskys Roman ist motivisch höchst kompakt und die meisten ihrer Sätze von meisterhafter Ambiguität. Oft will man nicht einen Satz oder Absatz, sondern gleich die ganze Seite mit einem Ausrufezeichen versehen!

Erzählt wird etwa ein halbes Jahr aus dem Leben von Inge Lohmark (der Name erinnert nicht zufällig an Jean-Baptiste de Lamarck), einer 55-jährigen Lehrerin für Biologie und Sport an einem Gymnasium in einer kleinen, vorpommerschen Kreisstadt. Dem Charles-Darwin-Gymnasium steht die Schließung bevor, da keine ausreichende Anzahl von Schülern mehr vorhanden ist. Die von Inge Lohmark in Biologie unterrichtete 9. Klasse ist die letzte, die an dieser Schule Abitur machen wird. Inge Lohmark ist in der DDR aufgewachsen und ausgebildet worden und betrachtet die Gegend als ihre Heimat, die sie nicht verlassen will. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet mit Wolfgang, einem ehemaligen Veterinär-Techniker, der sich erfolgreich mit einer Straußenzucht selbstständig gemacht hat. Sie hat eine Tochter, Claudia, 35 Jahre alt, die in den USA studiert hat und seitdem dort lebt. Claudia heiratet im Verlauf der Erzählung einen ihrer Mutter unbekannten Mann, wovon sie ihr nachträglich per E-Mail Nachricht gibt. Die Ehe der Lohmarks besteht nur noch pro forma; die Eheleute sehen sich kaum, reden noch weniger miteinander, und Inge Lohmark würde sich wohl von ihrem Mann trennen, wenn sie bereit wäre, darüber länger als zehn Sekunden nachzudenken. Inge Lohmark hatte vor unbestimmter Zeit eine Affäre, aus der eine Schwangerschaft resultierte; sie hat das Kind abgetrieben. Aber auch damit kann sie sich weder intellektuell noch emotional angemessen auseinandersetzen.

Inge Lohmarks Leben ist der Unterricht. Sie ist eine strenge und kaltherzige Lehrerin, die ihre Schüler mit wenigen Ausnahmen für Versager, Idioten und Faulpelze hält; und auch die wenigen Ausnahmen gehen ihr auf die Nerven. Lohmarks Denken und Handeln scheint gänzlich bestimmt von ihrer evolutionstheoretischen Ideologie: Das Leben ist ein Kampf, in dem man sich durchzusetzen hat oder zu Recht untergeht. Sie betrachtet Schüler als »natürliche Feinde«, glaubt nicht an Liebe (»ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen«; »Mutterliebe, das war ein Hormon. Ein Mythos«), stattdessen an Dominanz und die Nützlichkeit von Überforderung. Sie ist eine Rassistin und hält AIDS für eine geniale Strategie der Natur, um mit den Homosexuellen aufzuräumen. Sie hält »die Wahrheit« für zumutbar. Ihre Welt ist aufgeteilt zwischen Gewinnern und Verlierern:

Ihr hatte er [Schulrektor Kattner] verbieten wollen, im Sport die Verlierer an die Tafel zu schreiben. Aber wer sonst sollte nach dem Unterricht die Matten und Geräte wegräumen?

Doch in diesem Panzer aus Ideologie und emotionaler Kälte gibt es Lücken: Lohmark ist an einer ihrer Schülerinnen, Erika, auffällig interessiert. Über Erika macht sie sich Gedanken, findet sie »schön«, überlegt, warum das stille Mädchen wohl so ist, wie es ist, betrachtet es beinahe als Individuum. Dieses Interesse gipfelt in einer der merkwürdigsten Passagen des Buches: Als der Schulbus auf der Stecke, die auch Lohmark morgens mit dem Auto zurücklegt, liegen bleibt, holt sie Erika an ihrer Haltestelle ab und nimmt sie mit zur Schule. Auf dem Weg hat Lohmark plötzlich eine Phantasie von Kindesentführung und sexuell getönter Gewalt, die für einen kurzen Moment wie in einem Schlaglicht ihre sonst unter Kontrolle gehaltene Emotionalität sichtbar werden lässt. Auch Lohmarks Kindheitserinnerungen und ihre Klage über die Abwesenheit ihrer Tochter machen deutlich, dass diese Figur bei weitem nicht so eindimensional unmenschlich ist, wie sie sich selbst gerne sehen möchte. Sie ist im Gegenteil eine tief verletzte Persönlichkeit, die zudem befürchtet, an ihren eigenen ideologischen Standards gemessen eine der Verliererinnen zu sein.

Ein stehendes Gewässer. Kein Zugang zum Meer. Brackwasser stinkt.

Die Handlung gipfelt schließlich darin, dass der Rektor der Schule Lohmark dafür verantwortlich macht, dass sie sich nicht um eine von ihren Mitschülern gemobbte Schülerin gekümmert hat. Der Rektor hat die Schülerin in der Toilette eingesperrt gefunden; Lohmark hatte ihr Fehlen nicht einmal bemerkt. Es ist wahrscheinlich, dass der Rektor diesen Vorfall dazu nutzen wird, Lohmark vorzeitig aus dem Lehrerkollegium zu entfernen.

»Das Klima in deiner Klasse ist total vergiftet. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht die Richtige dafür bist. Stand ja alles in dem Bericht. Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit. Aber ich hab gedacht, altes Eisen ist nun mal hart, hab mich sogar dafür eingesetzt, dass du doch noch bis zum Schluss hierbleiben kannst. Aber jetzt hört der Spaß auf. Das wird Konsequenzen haben.«

Die personal erzählte Geschichte wird auf weiten Strecken vom Gedankenstrom Inge Lohmarks getragen. Es ist kein kleines Kunststück, eine solch unsympathische und jegliche Identifikation des Lesers abweisende Figur dominierend ins Zentrum eines Romans zu stellen, ohne sie zur Karikatur oder Parodie verkommen zu lassen. Inge Lohmark wird bei den meisten Lesern Widerwillen und Verachtung hervorrufen, hoffentlich aber auch ein wenig Mitleid mit ihr, denn sie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie sich sich selbst und ihre Mitmenschen behandelt. Niemand hat das verdient. »Der Hals der Giraffe« ist ein sehr präzises und zugleich erzählerisch schlankes Porträt eines ungeliebten, verbitterten Menschen. Mich hat es in jedem einzelnen Satz überzeugt, was ich von wenigen Büchern zu sagen vermag. In ihrer Intensität und Konsequenz kann ich Schalanskys Prosa auf Anhieb nur der von Thomas Bernhard vergleichen. Und das ist eines der größten Komplimente für einen Schriftsteller, das ich machen kann.

Bleibt zu ergänzen, dass das Buch auch in Typographie und Ausstattung aus der gewöhnlichen Ware heraussticht: ein sorgfältiger und ausgewogener Schriftsatz (von der Autorin selbst erstellt), lebende Kolumnentitel, zahlreiche, wundervolle Illustrationen, Fadenheftung und ein bedruckter Leineneinband. Da kann ich nur einmal mehr Lichtenberg zitieren :

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp, 2011. Bedrucktes Leinen, Fadenheftung, 222 Seiten. 21,90 €.

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel

Des Menschen Leben : das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch ! !) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation.

Auf den ersten Blick ist Arno Schmidts erster Zukunftsroman ein Musterbeispiel für einen 100-Seiter. Doch könnte man Bedenken erheben: Zum einen hat Schmidt von seinem Roman »Das steinerne Herz« behauptet, er sei aufgrund der »Dehydrierung« des Textes eigentlich »ein Roman von 1200 Seiten« (was bei knapp 300 Druckseiten immerhin einem Faktor größer 4 entspricht), eine Rechnung, die man getrost auch für »Schwarze Spiegel« aufmachen kann. Zum anderen könnte die Zugehörigkeit von »Schwarze Spiegel« zur Trilogie »Nobodaddy’s Kinder« zur Annahme verleiten, dass auch dieses Buch wie die beiden anderen einen dritten Teil haben müsste.

Doch halten wir uns ans Augenscheinliche: Erzählt werden die Erlebnisse des beinahe letzten Menschen, nachdem der atomare Dritte Weltkrieg Mitte der 50-er Jahre die Welt zerstört hat. Fünf Jahre nach der Katastrophe kommt der namenlose Ich-Erzähler nach Cordingen in der Lüneburger Heide und beschließt, dort eine Hütte im Wald zu bauen. Holz liefert ein nahegelegenes Sägewerk, Vorräte ein englisches Armeedepot. Über Bau und Ausstattung der Hütte vergeht der Sommer. Der zweite Teil setzt zwei Jahre später ein, als sich zum Erzähler die letzte Frau gesellt: Lisa. Die beiden verbringen einige Wochen miteinander, doch dann bricht Lisa wieder auf, da sie die Sesshaftigkeit nicht aushält. Ein dritter Teil fehlt, wie gesagt: Lisa kehrt nicht zurück, die Menschheit wird nicht fortgesetzt.

Diese idyllische Dystopie mit Anklängen an »Robinson Crusoe« und Coopers »Lederstrumpf« bietet einen hervorragenden Einstieg in Schmidts erzählerisches Frühwerk.

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. In: Brand’s Haide. Zwei Erzählungen. Reinbek: Rowohlt, 1951. Leinen, Fadenheftung, Schutzumschlag mit Zeichnung des Autors, 260 Seiten.

(Geschrieben für die Reihe 100 Seiten beim Umblätterer.)

Uwe Timm: Freitisch

Wat wullen Se denn? Ich frage, wo Arno Schmidt wohnt. Da hat der Bauer in die Dunkelheit gezeigt. Und gesagt: Kümmt immer wieder ener. De let keenen vor.

Es ist heute schon eine angenehme Ausnahme, wenn ein erzählender Text mit der spezifischen Gattungsbezeichnung Novelle versehen ist und nicht mit dem allgemeinen Vertriebslabel Roman beklebt wird. Wenn dann zudem tatsächlich eine »sich ereignete unerhörte Begebenheit« – wenn auch in ironischer Brechung – den Höhepunkt der Erzählung bildet, kann man als Leser höchst zufrieden sein.

Uwe Timms »Freitisch« erzählt von der Begegnung zweier alter Münchner Studienkollegen in einer Kleinstadt an der Peene. Der eine der beiden, der Ich-Erzähler, ist pensionierter Studienrat, Deutsch und Geschichte, der andere ein Fachmann für Müllentsorgung, der für die Stadt eine neue Deponie planen soll. Kennengelernt haben sie sich Mitte der 1960er Jahre am Freitisch einer Versicherungsgesellschaft, einem Vierertisch, den außer den beiden auch ein Jurist und ein weiterer Germanist mit dem Spitznamen Falkner regelmäßig frequentierten. Und an diesen Tisch hatte der damalige Mathematikstudent – daher sein Spitzname Euler – und jetzige höhere Müllmann die Arno-Schmidt-Lektüre eingeführt, ausgerechnet mit dem Band »Kühe in Halbtrauer«, damals die letzte Neuerscheinung Schmidts.

Da der pensionierte Studienrat aus der Zeitung erfahren hatte, dass Euler in die Stadt kommen werde, passt er ihn vor dem Rathaus ab, und man geht miteinander in ein Café am Ort und erinnert sich der alten Zeiten: Der eigenen Aufbruchstimmung, die mit der der 68er-Generation nicht viel gemeinsam hatte, der Schreibversuche, die nur Falkner schließlich zum Beruf gemacht hat, der Diskussionen um Arno Schmidt, die durchaus kontrovers waren, und schließlich auch zweier Fahrten Eulers nach Bargfeld, um den »Meister« persönlich kennenzulernen; auf der zweiten hatte ihn der Ich-Erzähler begleitet. Und auf dieser Fahrt geschieht dann das Unerhörte: Durch einen Trick – der hier natürlich nicht verraten wird – gelingt es Euler diesmal (beim ersten Besuch hatte sich Schmidt nicht sehen lassen) tatsächlich, den »Meister« neugierig zu machen und an den Zaun zu locken. Als das Gespräch erst einmal eröffnet ist, darf Euler auch eintreten und bekommt sogar die mitgebrachten Exemplare von »Kühe in Halbtrauer« signiert. Allerdings erhält er auch verbindlichst Auskunft über die Texte, die er Schmidt vorab zugeschickt hatte, was seine Stimmung gründlich ruiniert. Diese Begegnung findet übrigens Anfang August 1965 statt, also kurz bevor Schmidt in die Niederschrift von »Zettel’s Traum« abtaucht.

Doch ist Schmidt nicht nur in den Erinnerungen der beiden alten Freunde präsent: Der Text ist durchwirkt mit zahlreichen Schmidt-Zitaten und -Anspielungen. Auch ist es sicherlich kein Zufall, dass gerade der Band »Kühe in Halbtrauer« als zentrales Paradigma Schmidtschen Schreibens benutzt wird, denn nicht nur die Erzählung »‹Piporakemes!›«, die Timm explizit heraushebt, stand bei der Entstehung der Novelle Pate, sondern sie ist als Erzählung über zwei sich erinnernde Alte auch eine Variation auf »Kühe in Halbtrauer« selbst. Und auch in den hier und da eingeschobenen Kleinsterzählungen und Anekdoten blitzt Schmidtsche Erzählkunst auf. Alles in allem eine höchst produktive, zugleich lakonische und intelligente Auseinandersetzung mit Arno Schmidt und seinem Erzählen, die jeglichen Versuch der Imitation oder Anbiederung vermeidet. Dass der Text bei all seiner Kunstfertigkeit auch für diejenigen attraktiv geblieben ist, die Schmidt nicht oder nur oberflächlich kennen, beweisen die zahlreichen positiven Besprechungen in den Feuilletons. Als Schmidt-Kenner und -Leser wünschte man sich, mehr solch gelungene Aneignungen zu Gesicht zu bekommen.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. Leinen, 136 Seiten. 16,95 €.

(geschrieben für den Bargfelder Boten, Lfg. 343–344.)

Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen.

Tod-in-VenedigNachdem mir bei der Besprechung von Koeppens »Der Tod in Rom« der grobe Schnitzer unterlaufen war, Gustav Aschenbach für einen Tonsetzer zu erklären, war klar, dass es dringend an der Zeit war, Thomas Manns Erzählung wieder einmal zu lesen. Innerlich hatte ich wohl vor etwa zwanzig  Jahren mit den Erzählungen Manns abgeschlossen, nachdem ich auch die letzten eher aus einem Sinn für einen Abschluss als aus echtem Interessen heraus gelesen hatte. Viele der kürzeren Erzählungen von Thomas Mann schienen mir damals wenig zu taugen, so dass ich mich , wenn Mann bei mir noch einmal dran sein würde, auf die Romane konzentrieren wollte. Überhaupt muss ich gestehen, dass mir die Deutschen Thomas Mann weit zu überschätzen scheinen, nicht etwa als Erzähler, wo er fraglos zur ersten Garnitur gehört, sondern als Intellektuellen.

Wie genau Thomas Mann um die Windigkeit seines Status als Intellektueller wusste, macht eine kleine Passage aus seinem schlechtesten Roman »Königliche Hoheit« deutlich. Da muss die Königliche Hoheit gelegentlich in einem kleinen Ort ein Denkmal enthüllen und zu diesem Anlass einige Worte sagen:

Als er im Namen des Großherzogs, »meines gnädigsten Herrn Bruders«, die Enthüllung des Johann-Albrecht-Standbildes zu Knüppelsdorf vollzog, hielt er auf dem Festplatze gleich nach dem Vortrage des Vereins »Geradsinnliederkranz« eine Rede, in der alles untergebracht war, was er sich über Knüppelsdorf notiert hatte, und die allerseits den schönen Eindruck hervorrief, als habe er sich zeit seines Lebens vornehmlich mit den historischen Schicksalen dieses Mittelpunktes beschäftigt. […] Und Klaus Heinrich stand lächelnd, mit einem Gefühle der Ausgeleertheit unter seinem Theaterzelt, froh in der Sicherheit, daß niemand ihn weiter fragen dürfe. Denn er hätte nun kein Sterbenswörtchen mehr über Knüppelsdorf zu sagen gewußt.

Präziser lässt sich der Status des Festredners Thomas Mann nicht auf den Punkt bringen.

Doch zu »Der Tod in Venedig«: Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück  des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, wie es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeutung, Spiegelungen und  Ringstrukturen angeht, eine Perle traditioneller Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Kindle Edition. Frankfurt/M.: Fischer E-Books, 2009. 317 KB. 6,99 €.

(Die zweite Hälfte dieser Besprechung ist auch in der
Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.)