Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Wahrscheinlich der Text Goethes, den ich inzwischen neben dem ersten Teil des Faust am häufigsten gelesen habe, diesmal aus didaktischen Gründen. Das Buch vorstellen, geschweige denn rezensieren zu wollen, stellt angesichts der mehr als hundertjährigen Vernachlässigung und seiner anschließend erfolgten Ausschlachtung durch die Germanistik natürlich eine Verwegenheit dar. Ich habe daher einige Zeit überlegt, meine wiederholte Lektüre hier einfach stillschweigend zu übergehen und mich Unbesprochenerem zuzuwenden. Andererseits ist ja gerade hier der Ort, Lektüre von und Auseinandersetzung mit klassischen Texten zu dokumentieren. Versuchen wir es also:

Erzählt wird die Geschichte des adeligen Ehepaares Charlotte und Eduard, die erst nach der Verheiratung mit jeweils anderen Partnern dazu gekommen sind, sich mehr aus sentimentaler Erinnerung als aus Liebe miteinander zu verheiraten. Sie haben sich nach der Hochzeit aufs Land zurückgezogen, um dort in trauter Zweisamkeit ihrer Idylle zu leben. Gestört wird dies Verhältnis durch einen Jugendfreund Eduards, den Hauptmann Otto, der verarmt und arbeitslos für eine Weile auf dem Schloss des Ehepaars Zuflucht findet. Um der Asymmetrie der Verhältnisse aufzuhelfen, wird dann noch Charlottens Nichte und Pflegekind Ottilie hinzugegeben. Leider bricht nun über die Gesellschaft als eine Naturgewalt die Liebe herein: Eduard und Ottilie verlieben sich ebenso ineinander wie Charlotte und der Hauptmann; während jene ihrem Gefühl weitgehend ausgeliefert sind, üben diese eine strengere Zurückhaltung sich und dem anderen gegenüber. Das fatale Überkreuz-Verhältnis gipfelt in einer Liebesnacht der Ehepartner, in der beide an den jeweiligen Geliebten denken und aus der ein Kind hervorgeht, dass nicht den leiblichen Eltern, sondern den bei der Zeugung nur im Geiste anwesenden Geliebten ähnelt.

Nach dem, von den meisten Zeitgenossen als zutiefst anstößig empfundenen, doppelten geistigen Ehebruch hat Goethe einige Schwierigkeiten, das Tempo des Romans aufrecht zu erhalten. Eduard wird vom Erzähler vorerst fortgeschickt, zuerst auf ein kleines Gut, dann gleich in den Krieg, damit er in der Zeit der Schwangerschaft keine zu großen Dummheiten anstellen kann. Auch der Hauptmann, von dem nur eine geringere Gefahr ausgeht, wird durch eine passende Arbeitsstelle entfernt, und um die Zeit zu füllen, finden sich einige neue Kandidaten ein, die Ottiliens Reizen verfallen: ein junger, romantischer Architekt und ein etwas pedantischer, aber um so vernünftigerer Pädagoge, die aber natürlich bei Ottilie kein Glück haben. Nach so manchem weiteren retardierenden Moment wird das Kind endlich geboren, Eduard kehrt zurück und das Unglück kann endlich seinen Lauf nehmen: Gerade als Charlotte in eine Scheidung einzuwilligen bereit ist, erfüllt sich Ottiliens tragisches Schicksal. Aufgeregt und durch Eduard verwirrt und verspätet, fällt ihr das Kind der Eheleute in den Teich, wo es ertrinkt. Diese tragische Schuld bringt Ottilie zur sittlichen Reife; sie entsagt ihrer Liebe und dann auch gleich noch ihrem Leben und hungert sich zu Tode. Natürlich kann auch Eduard nun nicht mehr leben und folgt der Geliebten, die ganz nebenbei im Tode auch beinahe noch zur Heiligen wird, nach. Am Ende soll der Leser für die beiden nebeneinander aufgebahrten Liebenden auf ein glücklicheres Wiedersehen in einer besseren Welt hoffen. Hienieden war ihnen kein Glück beschieden.

Die Wahlverwandtschaften stehen mit am Anfang der langen Reihe von Eheromanen des 19. Jahrhunderts, in denen das Bürgertum die Spannungen zwischen dem seiner Kultur zentralen Gefühlskult und der traditionellen Form der Partnerschaft zum Ausdruck bringt. Wie in vielen späteren Fällen steht auch bei Goethe letztlich eine tragisch aufgefasste Frauengestalt im Zentrum der Erzählung, für die eine Lösung ihres Konflikts im Leben nicht gefunden werden kann und die deshalb beinahe zwangsläufig sterben muss. Dass Ottilie dabei nicht in einem tragischen Sinne scheitert, sondern von ihrem Autor wenn nicht zur Heiligen so doch zumindest zu einem Engel verklärt wird, muss der Leser als unvermeidliche Folge des Goetheschen Optimismus hinnehmen.

Der Roman ist deutlich dichter erzählt als die sonstige späte fiktionale Prosa Goethes. Die Distanz des Erzählers zu seinen Figuren ist beachtlich, wenn er auch Sympathien für die stark idealisierte Ottilie natürlich nicht ganz verbergen kann. Es ist daher nicht erstaunlich, dass viele Leser den Roman eher verstörend fanden und finden. Lässt man sich allerdings ein auf das zugrunde liegende Konzept der Spannung zwischen elementarer Liebeserfahrung und gesellschaftlicher Konvention, liefert das Buch weit mehr als einen Kommentar zur adeligen Gesellschaft der Zeit nach der Französischen Revolution. Wahrscheinlich handelt es sich um Goethes modernsten Roman überhaupt.

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. RUB 7835. Stuttgart: Reclam, 2010. 282 Seiten. 5,60 €.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends

3-423-11928-4Zweitlektüre, zum einen als mein Einstieg ins Kleist-Jahr 2011, zum anderen aus didaktischem Anlass. Mein Gedächtnis will die erste Lektüre in die Zeit des Studiums verlegen, doch meine Ausgabe belehrt mich eines anderen: Sie stammt aus dem Jahr 1994. Auch sonst ist von damals nicht viel in Erinnerung geblieben, und ich fürchte, dass das auch diesmal nicht viel anders gehen wird.

Erzählt wird eine fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 in Winkel am Rhein im Haus der Brentanos. Karoline ist in Begleitung des Ehepaars Savigny, Kleist in der des Arztes Wedekind, in dessen Haushalt er halb als Patient, halb als Gast lebt. Außerdem anwesend sind Clemens Brentano mit seiner Frau Sophie und seiner Schwester Bettine sowie weitere prominente Gäste. Nach anfänglichem Fremdeln geraten die Günderrode und Kleist schließlich auf einem Spaziergang in ein tiefschürfendes Gespräch, in dem beider Missverhältnis zur Welt ausführlich zur Sprache kommt.

Solche fiktiven Gespräche, in denen sich in der Hauptsache der Autor, in diesem Fall die Autorin mit sich selbst unterhält, wurden klassischerweise als Totengespräche inszeniert. Es ist nicht nur durch das ideologische Umfeld, in dem der Text entstand, verständlich, dass Wolf auf eine derartige metaphysische Szenerie verzichtet. Außerdem fügt es dem Gespräch eine gewisse existentielle Note hinzu, dass ihr Selbstmord den beiden Teilnehmern noch bevorsteht. Ob sich die Günderrode und Kleist tatsächlich in ein derartig spätpubertäres, hochtrabendes Geraune verloren hätten, wie Wolf imaginiert, soll ruhig jeder Leser für sich entscheiden. Hübsch ist natürlich der Titel, bei dem es sich um die Eindeutschung des Wortes »Utopie« handelt.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. dtv 11928. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1994. 150 Seiten.

Ferdinand von Schirach: Schuld

978-3-492-05422-5 Wie beinahe immer bei einem schnellen Nachschuss zu einem Bestseller kann der Autor auch in diesem Fall das Niveau nicht halten. Weder erreicht er die durchgängige Lakonie des erzählerischen Tons wie im ersten Band, noch halten alle Geschichten das vorgegebene Niveau, noch sind die Erzählungen so dicht und die Stoffe so überraschend. Nun könnte man dem Autor zugute halten, dass man das zweite Buch nicht am ersten messen sollte, aber sowohl Verlag als auch Autor haben es offensichtlich auf den Eindruck angelegt, bei »Schuld« handele es sich um eine unmittelbare Fortsetzung von »Verbrechen«.

Grundthema der meisten Erzählungen scheint die Differenz zwischen dem tatsächlichen Geschehen – also dem, was der Erzähler weiß – und dem zu sein, was davon in der juristischen Abarbeitung relevant ist. Aber auch dies gilt nicht für alle Erzählungen. Insgesamt macht die Sammlung daher einen eher erratischen Eindruck und kann trotz einiger recht guter Stücke nicht so überzeugen wie »Verbrechen«.

Ferdinand von Schirach: Schuld. München: Piper, 2010. Pappband, Lesebändchen. 200 Seiten. 17.95€.

Bernhard Schlink: Sommerlügen

978-3-257-06753-8 Männer lügen. Sie lügen, weil es bequem ist, weil sie glauben, damit durchzukommen, weil sie emotional distanziert oder auch weil sie geile Trottel sind. Trottel sind sie auf jeden Fall. Hier und dann lügt auch einmal eine Frau, aber wahrscheinlich ist es nur eine Alibi-Lüge oder eine Quoten-Lüge, damit der Autor nicht in den Verdacht gerate, er schreibe genau den Unfug, den er schreibt.

Wie entfernt muss ein Autor von der Existenz seiner eigenen Figur sein, um zum Beispiel so etwas zu schreiben:

Auch ihn schlugen seine Eltern manchmal. Aber wenn es geschah, akzeptierte er es als Reaktion auf eine Torheit, die er begangen hatte. (91)

Wie durch und durch taub für Dialoge, um einen Satz wie diesen zu verfassen:

Du willst vielleicht wissen, warum ich dir nicht geglaubt habe und ihr glaube – ich höre in der Stimme einer Frau besser, ob sie die Wahrheit sagt oder lügt, als in der eines Mannes. (79)

Und den Unterschied zwischen »auf« und »offen« sollte ein Autor auch beherrschen, wenn ihn schon nicht eine Wortwiederholung vor einem stilistischen Patzer bewahrt:

Die Tür stand auf, und er setzte sich auf den Fahrersitz. (120)

Wahrscheinlich endgültig das letzte Buch von Bernhard Schlink, das ich lesen werde.

Bernhard Schlink: Sommerlügen. Geschichten. Zürich: Diogenes, 2010. Leinen, Lesebändchen, 279 Seiten. 19,90 €.

Benjamin Stein: Die Leinwand

978-3-406-59841-8-1Einer der ungewöhnlichsten Romane der letzten Jahre. Es beginnt damit, dass es sich bei diesem Buch um einen sogenannten Zwillingsband oder ein Dos-à-dos handelt, also ein Buch, das zwei Texte enthält, die Rücken an Rücken einen Einband teilen. Das Buch hat daher zwei vordere Buchdeckel, zwei Titelblätter etc.; aus Sicht des einen Textes steht der jeweils andere auf dem Kopf. Durch diese ungewöhnliche Präsentation der beiden Texte, die sich zu einem Roman fügen, erscheinen beide tatsächlich gleichberechtigt, und der Autor überlässt es dem Leser ausdrücklich, wo er mit dem Lesen anfängt, ja auch, ob er zuerst den einen Text zur Gänze und dann den anderen oder ob er seiner Lektüre sonst eine (Un-)Ordnung zugrunde legen will.1 Natürlich hält man dergleichen auf den ersten Blick für einen Manierismus des Autors (was es in vielen ähnlich gelagerten Fällen auch ist), doch leuchtet es nach der Lektüre ein, dass kaum eine andere Form dem Roman angemessen wäre.

978-3-406-59841-8-2Die bedeutendste Schwierigkeit für eine Rezension scheint mir zu sein, die Fabel auch nur andeutungsweise nachzuerzählen, ohne dem Leser einen Teil des Spaßes an der Lektüre zu nehmen. Vielleicht nur soviel: Der Roman erzählt das Leben zweier Juden nach, die sehr unterschiedliche Biographien haben, deren Leben aber durch die Bekanntschaft mit einer dritten Person unlösbar miteinander verschränkt werden. Amnon Zichroni stammt aus Israel, zieht aber als Jugendlicher zu einem Nenn-Onkel nach Zürich, der für seine Ausbildung sorgt. Zichroni hat die ungewöhnliche Gabe, Erinnerungen anderer Menschen durchleben zu können. In der Absicht, diese Fähigkeit zum Wohle anderer einzusetzen, wird er Psychoanalytiker. Jan Wechsler dagegen ist zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin aufgewachsen und ein mehr oder weniger erfolgreicher Schriftsteller geworden. Wie schon gesagt, ist beider Leben durch ihre Bekanntschaft mit einer dritten Person verbunden, über die man am besten vorweg so wenig wie möglich erzählt.

Das zentrale Thema des Romans ist die Frage nach der Identität: Wie konstituiert sich ein Mensch, wenn seine Erinnerungen nicht ihm zu gehören scheinen bzw. den sogenannten Tatsachen seines Lebens widersprechen. Wann und wie hört jemand auf, er selbst zu sein? Ist er in der Lage, seine Erinnerungen angesichts dieser Tatsachen aufrecht zu erhalten oder wird er sie aufgeben und akzeptieren, dass er nicht ist, wen er zu erinnern glaubt? Diese Fragen scheinen sehr abstrakt zu sein, und es ist kein kleines Kunststück, einen Roman zu erfinden, in dem sie sich in eine wirklichkeitsnahe und überzeugende Fabel einfügen.

Es beweist die Stärke von Steins Roman, dass er die Antworten, nach denen seine Erzählung verlangt, nicht auszubuchstabieren braucht, sondern dass er es sich leisten kann, vieles – wenigstens dem Anschein nach – offen zu lassen. Das Buch mündet in ein sorgfältig konstruiertes Rätsel, dessen Lösung zu entdecken der Autor ganz bewusst seinen Lesern überlässt. Was der Autor ausdrücklich nicht erzählt, gehört mit zum Interessantesten an diesem Buch.

Eine der überraschendsten und intelligentesten Lektüren seit langem – jedem ambitionierten Leser unbedingt empfohlen!

Benjamin Stein: Die Leinwand. München: C.H. Beck, 2010. Pappband, 416 Seiten. 19,95 €.

1: Es sei hier nur ganz am Rand und sehr leise und entgegen der Intention des Autors empfohlen, zuerst der Geschichte Amnon Zichronis zu folgen und dann erst die Jan Wechslers zu lesen.

»Zettel’s Traum« lesen

Zur Herbstmesse wird als Abschluss der IV. Werkgruppe der Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts die gesetzte Neuausgabe von »Zettel’s Traum« erscheinen. Ich habe mir vorgenommen, das Buch in dieser Neuausgabe zum dritten und wohl letzten Mal zu lesen. Ich werde diese Lektüre mit einem Blog begleiten, das seit vorgestern online ist. Einige einleitende Gedanken und Vorabmeldungen sind dort bereits zu finden. Die Seite wird bis zum Herbst langsam wachsen; es lohnt sich also vielleicht, dort von Zeit zu Zeit vorbeizuschauen.

Sibylle Berg: Der Mann schläft

978-3-446-23388-1 Mit ihren ersten beiden Büchern, Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997) und Sex II (1998, beide Reclam Leipzig), hatte Sibylle Berg bei mir großen Eindruck gemacht. Ich hatte mit ihrer Unverfrorenheit und ihrer klaren, schlanken und harten Prosa viel Spaß. Dann kam – vielleicht zu schnell – Amerika (1999) heraus, das ich fad und voller sprachlicher Klischees fand. Daraufhin habe ich erst einmal aufgehört, Sibylle Berg zu lesen. Nun tauchte sie im letzten Jahr bei Hanser wieder auf, und ich habe es wieder mit ihr versucht und bin nicht enttäuscht worden.

Sibylle Berg ist vielleicht die einzige wirklich misanthropische Autorin, die wir haben, sprich: die so erfolgreich ist, dass man von ihr weiß. Es mag andere misanthropische Autorinnen geben, aber wahrscheinlich fehlt ihnen die geschliffene Prosa Bergs und ihre – ja, was ist jetzt das genaue Gegenteil von Weinerlichkeit? Toughness?

Ihr jüngstes Buch erzählt die Geschichte einer Frau in den besten Jahren, die nach einem langen misanthropischen und einsamen Leben endlich ihren Mann findet. Die beiden leben etwa vier Jahre zusammen und unternehmen dann ihre zweite gemeinsame Urlaubsreise auf eine kleine, vor Hongkong liegende Insel. Dort verschwindet der Mann eines Tages. Die Frau bemüht sich 14 Tage lang erfolglos darum, ihn wiederzufinden, und verfällt anschließend in eine langsam sich steigernde Depression. Nach einiger Zeit wird sie von einem chinesischen Mädchen adoptiert und zu sich nach Hause eigeladen. Aber auch der dortige Familienanschluss hilft nicht; die Erzählerin verfällt als letztem Trost dem Alkohol. Am Ende bleibt es unklar, ob sie gerettet wird oder einem Wahnzustand verfällt. Die Fabel wird in alternierenden Kapiteln erzählt, die jeweils »Damals« und »Heute« überschrieben sind und deren Handlungsbögen sich auf den letzten Seiten vereinigen.

Entscheidend ist aber weniger die erzählte Geschichte, sondern die tief misanthropische Grundposition des Buches: Die Erzählerin verachtet die Menschen, ihre Anstrengungen, ihre Routinen, ihre Dummheit, ihre Lügen und – wahrscheinlich am schlimmsten – ihre Wahrheiten.

Dieses Theater, das um Sexualität gemacht wird, zu unerheblich, um sich davon beeinflussen zu lassen. Selbst die seltsamste Fetischanwandlung wollen wir heute begreifen und akzeptieren, wir wollen tolerant sein und offen und ersticken an unserem Hass gegen alles, was uns nicht ähnelt, und brüllen umso lauter das Lied der Gleichberechtigung.
Alles muss definiert sein, geregelt, geordnet; geheiratet muss werden, auch gleichgeschlechtlich, auch Familienmitglieder und Tiere, so entfernt von Anarchie und Ungehorsam wie jetzt schienen die Menschen noch nie, gerade weil sie so frei sind. Wenn sie nicht das Pech hatten, im Mittelalter geboren zu werden, also bei Fundamen-talisten, also im Patriarchat, versagen sie es sich, suchen nach Geländern zum Festhalten, haben Angst, sich zu verlieren, wenn sie die Regeln nicht befolgen, die sie selber aufgestellt haben. Alle müssen über ihre sexuellen Präferenzen reden, sie müssen sich mitteilen, unbedingt, und akzeptiert werden. [S. 167 f.]

Dabei ist die Erzählerin durchaus nicht selbstgerecht:

Meine Wut auf die Rasse, der ich angehörte, verschwand, denn ich hatte es kaum besser gemacht. Anstatt die Welt zu verändern, hatte ich mich auf die Unmöglichkeit dieser Aufgabe berufen und mich in Gemütlichkeit zurückgezogen, mit meinem kleinen Beruf, den kleinen Freunden, den kleinen Möbeln. Da konnte ich fein ruhig sein, und das war ich dann auch. [S. 175]

Wer die Bücher von Sibylle Berg noch nicht kennt, findet hier einen »netten« Einstieg – nur eben Humor sollte man mitbringen, sonst fällt einem das menschenfeindliche Gezeter leicht auf die Nerven.

Sibylle Berg: Der Mann schläft. München: Carl Hanser, 2009. Pappband, 309 Seiten. 19,90 €.

Herta Müller: Atemschaukel

978-3-446-23391-1Mein erstes Buch der Literatur-Nobelpreis-Trägerin. Bekannt sein dürfte, dass es sich um ein Buchprojekt handelt, das Müller zusammen mit Oskar Pastior entwickelt hatte, aber wegen des Todes von Pastior im Jahr 2006 schließlich alleine schreiben musste. Erzählt wird die Geschichte Leopold Aubergs, der 1945 nach der Befreiung Rumäniens als Siebenbürger Sachse durch die Rote Armee nach Russland deportiert wird. Er muss in Russland fünf Jahre lang Zwangsarbeit leisten, bevor er in seine Heimat zurückkehren kann.

Erzählt wird das in kurzen Episoden aus der Ich-Perspektive Aubergs, wobei der Text parallel unterschiedliche zeitlichen Ebenen präsentiert, ohne dass diese scharf voneinander getrennt wären: Der Erzähler kann an einigen stellen auf 60 Jahre Vergangenheit zurückblicken, ohne dass die Ereignisse im Arbeitslager als aus dieser zeitlichen Distanz geschildert erscheinen. Besonders diejenigen Teile, die in der Zeit nach der Rückkehr spielen, schildern nicht nur die Folgen der Deportation, sondern auch die aus der Homosexualität des Erzählers resultierenden Schwierigkeiten. Inwieweit diese zusätzliche »Belastung« des Protagonisten für die Erzählung notwendig ist, lässt sich nach einer ersten Lektüre schlecht beurteilen.

Wie man sich denken kann, ist das Buch nur eingeschränkt wegen des präsentierten Materials wichtig. Zwar gab es wohl bislang keine erzählende Darstellung dieser besonderen Verschleppung, aber abgesehen davon sind die Details aus anderen Quellen bekannt: Die Entmenschlichung der Opfer wie der Aufseher, das Nebeneinander von Hoffnung und Verzweiflung, der Hunger als Zentrum der täglichen Existenz etc. Was das Buch heraushebt, ist seine literarische Sprache und die Reflexion des Erzählers auf das Erzählen. Das beginnt bereits mit den ersten Sätzen:

Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.

Das ist natürlich zuerst einmal ein literarisches Zitat; das Omnia mea mecum porto mag uns an Seneca denken lassen oder an Cicero, an Bedürfnislosigkeit als Ideal oder an die Verehrung hoher Tugenden, es wird in jedem Fall sogleich gekontert:

Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.

Es mag dem Leser später klar werden, dass diese ersten Sätze nicht nur aus der Situation heraus verstanden werden sollten, sondern dass sie zugleich eine Lebensbilanz ziehen. In diesem Anfang steckt schon der Blick auf die Gesamtheit des geschilderten Schicksals.

Wie schon gesagt, ist der Hunger selbstverständlich eines der zentralen und immer wiederholten Themen dieses Buches. Aber wo konnte man je zuvor solche Sätze lesen:

Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.

Als dem Erzähler im russischen Dorf in der Nähe des Lagers von einer alten Frau, die sich um ihren Sohn sorgt, ein weißes Spitzentaschentuch geschenkt wird, wird dieses Taschentuch zu einer Reliquie der Hoffnung für ihn:

Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch. Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.

Oder diese Stellen über die Erinnerung:

Schau, wie der heult, dem läuft was über.
Diesen Satz habe ich mir oft überlegt. Dann habe ich ihn auf eine leere Seite geschrieben. Am nächsten Tag durchgestrichen. Am übernächsten wieder darunterge-schrieben. Wieder durchgestrichen, wieder hingeschrieben. Als das Blatt voll war, habe ich es herausgerissen. Das ist Erinnerung.

Dass mich das Lager nach Hause gelassen hat, um den Abstand herzustellen, den es braucht, um sich im Kopf zu vergrößern. […] Immer mehr streckt sich das Lager vom Schläfenareal links zum Schläfenareal rechts. So muss ich von meinem ganzen Schädel wie von einem Gelände sprechen, von einem Lagergelände. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen.

Das Buch hat mich überrascht und trotz meines besserwisserischen Vorurteils ihm gegenüber – »nur noch eine Deportationsgeschichte mehr« – überzeugt  und berührt.

Herta Müller: Atemschaukel. München: Hanser, 2009. Pappband, 299 Seiten. 19,90 €.

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

978-3-492-05362-4 Stilistisch erstaunlicher Erstling. Der Band enthält elf kurze Kriminalerzählungen, die in einem markanten, lakonischen und sehr präzisen Stil erzählt sind. Nicht alle Erzählungen können die Stilhöhe halten, aber die besten zeigen einen abgeklärten Erzähler, der keinen Satz zu viel gebraucht. Alle sind aus der Ich-Perspektive eines Strafverteidigers heraus erzählt, wobei die Schilderung der Fälle in einer weitgehend auktorialen Perspektive geschieht, die die deutliche Distanz des Erzählers zum Geschehen noch weiter erhöht.

Die meisten Erzählungen scheinen mir zudem auch stofflich originell zu sein, wobei ich als Nicht-Krimileser zugestehen muss, das nicht gut beurteilen zu können; mich jedenfalls haben die meisten überrascht. Auch die kurzen Darstellungen exzessiver Gewalt haben mich wahrscheinlich mehr berührt, als dies dem abgeklärten Krimileser passieren wird.

Ein bisschen ärgerlich fand ich die Verlagswerbung, die penetrant auf die Wahrheit der geschilderten Fälle abhebt. Das Buch selbst ist zum Glück deutlich intelligenter als diese Sensationsmache: Es schließt mit dem schönen Satz René Magrittes »Ceci n’est pas une pomme.«

Ferdinand von Schirach: Verbrechen. München: Piper, 2009. Pappband, Lesebändchen, 208 Seiten. 16,95 €.