Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassische Griechenland

Als ich 2015 und 2016 die ersten fünf Bände der C. H. Beckschen „Geschichte der Antike“ gelesen und hier besprochen habe, war der sechste Band gerade noch nicht erschienen. Er wurde dann zwar nachgekauft, gelesen habe ich ihn aber erst jetzt, als eher überraschend noch ein siebter Band „Byzanz“ erschienen ist, der in Kürze ebenfalls hier vorgestellt werden wird. Schmidt-Hofners Band schließt die Lücke zwischen „Das archaische Griechenland“ und dem Anschlussband zur römischen Geschichte „Der Hellenismus“. Zwar liefert das Schlagwort vom klassischen Griechenland den Titel des Buches, allerdings spielt ein Konzept von Klassik bei der Darstellung keine Rolle; nur der Epilog geht auf wenigen Seiten relativierend auf dieses Klischee ein, das die allgemeine Wahrnehmung der Hochzeit der griechischen Antike immer noch weitgehend bestimmen dürfte.

Entscheidend sind für Schmidt-Hofners Auffassung dieser Zeit die beiden im Untertitel genannten Begriffe von Krieg und Freiheit. Seine Erzählung umfasst die Zeit von den sogenannten Perserkriegen über die zahlreichen innergriechischen Verwerfungen und Auseinandersetzungen bis hin zum Aufstieg Makedoniens als Führungsmacht und dem Übergang zum nächsten Perserkrieg unter Alexander III. Dabei nehmen die Schilderungen der Konflikte einen breiten Raum ein, wobei Schmidt-Hofner nicht nur stets klar macht, aus welchen Quellen er schöpft, sondern auch immer eine kritisch reflektierenden Abstand zu diesen Quellen und ihren tradierten Interpretationen einnimmt. Daraus ergibt sich notwendig, dass die griechische Lebenswelt und Kultur im engeren Sinne etwas zu kurz kommen – auf Skulptur und Malerei etwa geht das Buch nur ganz am Ende ein, um klar zu machen, dass dem Autor dieses Manko durchaus bewusst ist –, wobei allerdings Schwerpunkte gesetzt werden, die deutlich machen, dass hier noch ein weiter Hallraum zu entdecken wäre. Es sollte aber betont werden, dass sich Schmidt-Hofner in Sprache und Dichte der Darstellung deutlich an ein akademisches Publikum wendet; für den interessierten Laien ohne Vorkenntnisse dürfte der Band eine eher anspruchsvolle Lektüre bilden.

In einzelnen Details ist man als halber Fachmann immer anderer Meinung, aber alles in allem ist die Aufgabe, die hochkomplexe Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung kompakt auf 350 Seiten zu portraitieren, exzellent gelöst. Der Band reiht sich so ungebrochen in diese überaus empfehlenswerte Reihe ein.

Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassischen Griechenland. Der Krieg und die Freiheit. C. H. Beck Paperback 6152. München: Beck, 2016. Klappenbroschur, 368 Seiten. 16,95 €.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig

Der zweite und, wie er bereits im Vorwort explizit schreibt, letzte Band von Fontanes Autobiographie erschien in seinem Todesjahr 1898. Mit seinem 70. Geburtstag Ende 1889 wurde Fontane ein deutschlandweit bekannter und besprochener Romanautor, wodurch ihn auch Anfragen nach seiner Autobiographie – einem damals immer beliebter werdenden Genre – erreichten. Als er nach einer überstandenen Lungenerkrankung unter einer Depression litt, riet auch sein Arzt als Heilmittel zur Beschäftigung mit seiner Jugend und Kindheit. So erschien 1894 zuerst Meine Kinderjahre, dem dann vier Jahre später der hier vorgestellte Band folgte.

Die erzählte Zeitspanne verrät bereits der Titel, wobei als äußerliche Ereignisse Fontanes Eintritt in die Ausbildung zum Apothekergehilfen einerseits und seine Heirat und der Übergang in den beruf des Journalisten andererseits die Grenzen bilden. In diese Zeitspanne fällt nicht nur Fontanes Bekanntschaft mit zahlreichen Literaten seiner Zeit, die durch eine literarische Gesellschaften vermittelt werden, sondern auch sein Erleben der Revolution von 1848 in Berlin. Beiden Bereichen werden ausführliche Abschnitte gewidmet, während Fontane was seine familiären Umstände und auch seine Liebe zu Emilie Kummer eher zurückhaltend ist. So ist ein Gutteil des Buches mit Portraits mehr und weniger bekannter Persönlichkeiten aus dem Tunnel über der Spree gewidmet, die für Literaturinteressierte auch heute noch gewinnbringend zu lesen sind.

Eher ein locker und entspannt erzähltes Zeitbild als eine Autobiographie im engeren Sinne, dem natürlich aufgrund des anekdotischen Stoffes die Dichte der Fontaneschen Romane fehlt. Für Fontane selbst war es wohl wichtiger, dass die Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit ihm wieder zum Schreiben zurück verhalf.

Wie alle Bände der Große Brandenburger Ausgabe ist auch dieser Band mit einem umfangreichen, vorzüglichen Anhang versehen, der den Band erläuternd, kommentierend und durch ein ausführliches Register erschließt.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Große Brandenburger Ausgabe. Das autobiographische Werk. Bd. 3. Berlin: Aufbau, 2014. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 967 Seiten. 68,– €.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls

»Arme Verwandte,« sagte Therese mit halblauter Stimme vor sich hin.

Die Poggenpuhls entstanden zwischen 1891 und 1894, was für den sehr effizienten Arbeiter Fontane eine lange Zeit für die etwa 120 Seiten darstellt, die das Buch umfasst. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Fontane parallel dazu an seiner Autobiographie arbeitete (Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreißig (1898)), was ihm von seinem Arzt als Mittel gegen seine Depressionen empfohlen worden war. Es lässt sich diskutieren, ob es sich nach dem Verständnis der Zeit überhaupt um einen Roman handelt, da es dafür recht kurz ist. Andererseits ist der Sammelbegriff „Erzählung“ sehr unspezifisch und eher eine germanistische Notlösung als einen hilfreiche Einordnung. Von Der Stechlin aus betrachtet, handelt es sich bei Die Poggenpuhls um eine Art von Handübung für den späteren Roman: Auch hier wird auf eine spannende Handlung verzichtet, auf Konflikte oder eine Liebesgeschichte, wie es von Romanen der Zeit gern erwartet wurde. Ersetzt wird dies durch eine Art von Panorama – nicht umsonst wird diese populäre zeitgenössische Kunstform gleich zweimal erwähnt – der gesellschaftlichen Schnittstelle zwischen Bürgertum und Adel.

Im Mittelpunkt steht die Familie von Poggenpuhl, genauer der verwitweten Albertine von Poggenpuhl, die allerdings bürgerlich geboren wurde und sich nie so recht in die Rolle als Adelige eingefunden hat. Sie hat fünf Kinder, zwei Söhne, die beide gemäß der Familientradition beim Militär dienen, und drei Töchter, die zusammen mit der Mutter in eher bescheidenen Verhältnissen in Berlin leben. Therese, die Älteste der Töchter, versucht das Adelsbewusstsein der Familie aufrecht zu erhalten, was sie zu einer leicht skurrilen Figur macht, während die bei jüngeren Töchter, Sophie und Manon, sich eher handfest und bürgerlich orientieren. Keine der Töchter hegt Heiratspläne, da die Familie über keinerlei Vermögen verfügt, das sich in eine Mitgift verwandeln ließe. Von den Söhnen hat nur der Ältere, Wendelin, Aussichten auf eine militärische Karriere; demgegenüber entspricht der jüngere Leo dem typischen literarischen Offiziers-Klischee der Zeit: Er gibt sich „schneidig“, schwätzt viel Unfug, macht Schulden (wenn auch nur mäßig) und langweilt sich im Dienst. Offenbar denkt er ernsthaft darüber nach, als Abenteurer nach Afrika zu ziehen, um dort sein Glück zu suchen.

Aus dieser Grundkonstellation entwickelt Fontane ein Nichts von Handlung: Leo besucht seine Mutter zu Ihrem Geburtstag, man trifft den Onkel Eberhard (den Schwager der Mutter), der als Deus ex machina Leos Rückfahrt zu seinem Standort finanziert, Sophie fährt mit Onkel Eberhard nach Hause, um seiner Frau Josephine – ebenfalls eine Bürgerliche, die in die Familie Poggenpuhl eingeheiratet hat – Gesellschaft zu leisten. Sophie bricht sich ein Bein, bemalt die Wände der örtlichen Kirche und erlebt, wie ihr Onkel binnen weniger Tage an der Tuberkulose verstirbt. Nach der Beerdigung eröffnet Josephine Albertine, dass sie den privaten Teil ihres Vermögens zugunsten von deren Töchtern einsetzen wird, so dass alle drei Schwestern nun Aussicht auf eine Ehe haben werden. Auch Leo soll geholfen werden (Wendelin wird natürlich auch nicht vergessen, aber der spielt ohnehin im Roman kaum eine wirkliche Rolle), auf dass er nicht nach „Afri- od- Ameriko“ entfliehen muss. Insgesamt wird viel geredet, und sonst passiert kaum etwas.

Was im Gegensatz zu Der Stechlin fehlt, sind echte Charaktere: Zwar gehen Onkel Eberhard und seine Gattin gerade noch dafür durch, aber ansonsten ist vieles einfach nur Markierung einer Position oder Karikatur: Therese als eingebildete Adelige, die weder über Einfluss noch Land noch anderes Vermögen verfügt, ist nur eine lächerliche Figur, Leos Status als Klischee ist schon festgestellt worden, Sophie ist leider etwas zu frühklug und volksreligiös geraten und Manon ist eigentlich kaum etwas Eigenständiges und dient nur dazu, den neuen, jüdischen Geldadel wenigstens am Rande mit in den Roman zu bringen. Wer Fontane mag, wird sich unterhalten; alle anderen, so fürchte ich, werden sich langweilen.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 16. Berlin: Aufbau, 2006. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 292 Seiten. 28,– €.

Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen (1893–1912)

Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.

Cover

Thomas Mann gilt den meisten Lesern in Deutschland nicht nur als einer der besten Roman-Autoren ihrer neueren Literatur, sondern auch als ein Meister der kürzeren Form. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich teile diese Meinung nur sehr eingeschränkt. Zwar glaube ich, dass die Mehrzahl der Mannschen Romane zum Besten gehören, was die Tradition des 19. (sic!) Jahrhunderts hervorgebracht hat (auch hier gibt es durchaus Ausreißer), dagegen fallen jedoch seine Erzählungen im engeren Sinne deutlich ab, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sicherlich finden sich auch hier sorgfältig konstruierte und minutiös ausgeführte Stücke, aber in der Menge sind Manns Erzählungen oft seicht und scheinen geschrieben, um eben etwas geschrieben zu haben und gedruckt zu werden, selbstgefälliges, manieristisches Kunsthandwerk.

Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht.

Auch inhaltlich sind einige der frühesten Stücke eher verstörend (etwa Gefallen, Luischen oder Tobias Mindernickel), ohne dass ich erkennen könnte, dass sie auf mehr als einen Effekt abzielen.

Nun bin ich sofort bereit zuzugestehen, dass diese Texte nicht geschrieben wurden, um in einem Zuge und direkt nacheinander gelesen zu werden; die daraus resultierende Wahrnehmung erzeugt wohl ein vergleichendes, ungerechtes Urteil gerade für die schwächeren Stücke, das durch eine Rezeption der Stücke über den längeren Zeitraum hinweg gemildert würde.

Bleiben die beiden zu recht bekannteren Stücke Tonio Kröger (ein Seitenstück zu Buddenbrooks) und Der Tod in Venedig, die bei der jetzigen erneuten Lektüre aber bei weitem nicht mehr die Wirkung auf mich hatten wie vor über 30 Jahren. Doch das liegt natürlich an mir; ich bin einfach nicht mehr geeignet für solch eher gestellten als gekonnten Stücke.

Insgesamt mehr „naja, soso“ als alles andere.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 22008. 604 Seiten (in der Druckfassung; die Seitenzählung der Kindle-Ausgabe ist defekt). 9,99 €.

Wird fortgesetzt …

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise

Es sind [/] Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.

Ich kehre immer wieder staunend zu Lessing zurück. Der Nathan war direkt nach dem Goetheschen Werther einer meiner Ini­tia­tions­tex­te für das, was ich später „Klassiker“ zu nennen gelernt habe. Das frühe „Potztausend!“ (Friedrich Schlegel) differenzierte sich während des Studiums ein wenig aus, und über die Jahre hin habe ich immer und immer wieder die eine und andere Inszenierung auf der Bühne angeschaut (zuletzt eine, die nicht nur nicht lustig, sondern auch gänzlich ohne Witz war), stets in der Hoffnung, es würde sich eine oder einer an dem Text bewähren; das Beste, was ich zu sehen bekam, war ein Bühnenbild. Aber ich gebe zu: Es ist sehr schwierig, dem Stück gerecht zu werden.

Die Schwierigkeiten beginnen schon auf dem Titelblatt: Obwohl der Nathan offenbar eine Komödie (in Lessings Deutsch ein „Lustspiel“) darstellt und als solche inszeniert werden muss, merkte Lessing wohl, dass es mit dieser Einordnung nicht so einfach gehen dürfte. Zu ernst sind die verhandelten Probleme, zu wenig komisch die Dialoge, zu gesucht und künstlich (und fragil, aber dazu später) das Komödienende, selbst wenn die Inszenierung Lessings mühevolle Vorbereitungen dazu nicht kürzen sollte; und kürzen muss sie irgendwo (wenn auch nicht gleich auf 100 Minuten, wie zuletzt), wenn sie in den dem heutigen Publikum zumutbaren Grenzen bleiben will. Als Warnschild stellt Lessing deshalb die Gattungsbezeichnung „Ein dramatisches Gedicht“ voran, als zweifle er selbst daran, dass er ein Schauspiel für die Bühne geschrieben habe.

Als nächstes haben wir höchst anspruchsvolle Charaktere: Außer der Titelfigur ist keiner ohne Fehl und Tadel, alle hegen Vorurteile, handeln rasch und unüberlegt, lassen sich von Einfällen und Leidenschaften hinreißen. Am schlimmsten ist vielleicht die Figur des Patriarchen von Jerusalem, ein Fanatiker („Tut nichts! der Jude wird verbrannt.“ IV/2, V. 168 u. ö.), der überhaupt nur einmal leibhaftig auftritt, aber als Da­mo­kles­schwert das Schicksal Nathans und Rechas bedroht. Man denke: Das Oberhaupt der Christenheit in Jerusalem als der heimliche Bösewicht des Stücks und dagegen ein Muselman (wenn der auch erst noch ein wenig geläutert werden muss) und ein Jude als Repräsentanten einer ver­nunft­be­stimm­ten Humanität. Und auch sonst ist fast alles Vorurteil, Intrige und Vorteilsnahme; es ist ein Wunder, dass das Stück überhaupt zu seinem versöhnlichen Ende kommt.

Und dieses Ende ist nicht leicht zu glauben: Statt des einen Ge­schwis­ter­paars (Saladin und Sittah) stehen nun plötzlich deren zwei (Recha und der Tempelherr) auf der Bühne und sollen zudem auch noch untereinander miteinander verwandt sein als Onkel und Tante und Neffe und Nichte. Und der in Liebe entflammte Tempelherr wird von jetzt auf gleich ein liebevoller Bruder, und die Familienbande überlagern alle religiösen Konflikte, die doch gar nicht gelöst wurden. Und am ärgsten: Die neu gewonnene Harmonie schließt Nathan gar nicht ein, der zwar als Stifter der Familienbande glänzt, aber im gegenseitigen Erkennen ganz außen vor bleibt. Wenn’s denn bedeuten soll, dass alle Menschen und immer schon heimlich Brüder und Schwestern einander sind und waren und die Religionen nur die Tünche über den wirklich bedeutenden Verbindungen, warum bleibt dann gerade der weise Jude außen vor? (Ich sehe es vom Dramaturgischen her schon ein: Das Ende ist auch so schon un­wahr­schein­lich genug, aber dennoch …).

Und vom Fragmenten-Streit, der zu alle dem den fernen Hintergrund bildet, haben wir da noch gar nicht geredet.

So bleibt das Stück ein Meisterwerk an Sprache und Gehalt, doch wacklig konstruiert, und sein Weg am dramaturgischen Abgrund entlang verlangt ein sorgsam bedachtes und in jeder Einzelheit beherrschtes Spiel. Dieser Anspruch geht offenbar über das hinaus, was heutiges Theater will und kann. Daher habe ich eine politische Inszenierung nach der anderen gesehen, die von Text und Absicht des Stückes einfach nicht getragen wurden, habe Kürzungen erlebt, die das Ende ganz zuschanden machten. Da saß dann ein ahnungsloses Publikum und lachte Lessing aus statt jener, die für das Scheitern verantwortlich waren und es am Ende wohl auch gewollt haben. Mag sein, Lessing ist tatsächlich nicht mehr für unsere Zeit, doch das sagt nichts Gutes über unsere Zeit.

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. In: Derselbe: Werke und Briefe. Bd. 9: Werke 1778–1780, S. 483–627. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 1383 Seiten. Nicht mehr im Druck.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt

„er habe […] aber nicht alles verstanden“1

ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers seine Biografie nicht nur erscheinen darf, sondern muß !

BA III/4, S. 80
cover

Solch einen Satz lassen sich Autor und Verlag natürlich nicht entgehen, wenn sie noch vor der geforderten Zeitspanne die erste umfangreiche Lebensbeschreibung gerade dieses Schriftstellers vorlegen können. Dass es dagegen nicht gelungen ist, diesen Satz fehlerfrei aus dem Original auf den Buchumschlag zu bringen,2 ist leider nicht nur eine Kleinigkeit, sondern ein Symptom.

Es dürfte unter jenen, die sich intensiver mit Arno Schmidt und seinem Werk beschäftigen, gleichgültig ob nur als Leserinnen3 oder auch als Forscherinnen, Einigkeit darüber bestanden haben, dass eine umfangreiche und detaillierte Biografie ein dringendes Erfordernis war. Jahrelang hatte man auf die Ankündigung Bernd Rauschenbachs hin auf ein sozusagen offizielles Lebensbild von Seiten der Stiftung gewartet; nachdem Rauschenbach sein Projekt schließlich auch öffentlich aufgegeben hatte, wurde hier und da die dadurch verlorene Zeit bedauert, aber nun liegt endlich ein Buch vor, das auf knapp 880 Seiten den Versuch unternimmt, Leben und Werk Arno Schmidts in einem einzigen großen Durchgang darzustellen.

Eine solche erste große Biografie wendet sich in der Hauptsache an gleich zwei Gruppen von Rezipientinnen, was seine Konzeption nicht eben einfacher macht. Da sind zum einen interessierte Leserinnen, die ihr Wissen um den Autor erweitern und Verständnis der Texte vertiefen möchten; zum anderen handelt es sich um aktuelle und zukünftige Forscherinnen, denen eine solche Biografie zur Grundlage der Forschung wird als eine Zusammenführung früherer Arbeiten und Erkenntnisse, die nun nicht mehr an zum Teil entlegenen Orten gesucht, sondern an einem zentralen Locus gefunden werden können.

Um dem Anspruch der ersten Gruppe zu genügen, ist es wichtig, aus den zum Teil disparaten Elementen der Lebensgeschichte eine wenigstens einigermaßen kohärente Erzählung zu entwickeln. Beim Verbiografieren von Schriftstellerinnen ergibt sich oft als Vorteil, dass diese in ihren Schriften schon eine Selbstdeutung vorgeben und ihr eigenes Leben und Denken mit mehr oder weniger Notwendigkeit ins Werk eingegangen ist und sie so ihren Leserinnen bereits ein Lebensbild mitgegeben haben, auf das die Biografie dann aufbauen kann. Nun ist es eine wichtige Maxime beim Verfassen von Biografien, zu diesen Selbstdeutungen der Autorinnen bewusst einen kritischen Abstand einzunehmen, um aus der Distanz heraus die Selbstdeutungen nicht nur hinterfragen, sondern auch in ein umfassenderes Bild der Zeit und der Zeitgenossen einordnen zu können. Darüber hinaus hat die Verfasserin einer Lebensbeschreibung mit den allgemeinen Zweifeln am Gelingen eines solches Vorhabens aufgrund der systematischen Beschränkungen des Genres zu kämpfen, steht sie doch unter dem Verdacht, sowohl aus psychischen als auch aus erzählerischen Gründen ihren Gegenstand notorisch zu verfälschen und zu beschönigen. Man ahnt die Schwierigkeit.

Doch solche eher allgemeinen Bedenken haben keinen wirklich tiefgreifenden Einfluss auf das Genre der Biografie genommen. Eher im Gegenteil werden ungebrochen Lebensbeschreibungen verfasst, die ein Bewusstsein der genrebedingten Schwierigkeiten zwar vor sich hertragen, sich aber im Vollzug von derartigen Zweifeln beim Vordringen in das Feld der Untersuchung nicht hemmen lassen. So auch wir.

Betrachten wir das Buch zuerst aus der Perspektive der Laienlektüre (der Ausdruck möge mir verziehen werden): Schmidt selbst hat seinen Leserinnen ein sowohl breites als auch vielfältiges Selbstbild in seinen Schriften hinterlassen, das einen nicht unwesentlichen Anteil der Faszination seiner Schriften ausmacht: Der autodidaktische, bibliophile Universalbelehrende, der sicheren Urteils die Bücherwelt durchpflügt, Gutes von Minderwertigem zu scheiden weiß, ein hohes aufklärerisches Pathos verkörpert, sowohl für den Fortschritt in der Literatur als auch für die Wertschätzung der Tradition steht, der letzte Vertreter der Französischen Revolution im Geiste Marats und der Erste an der Spitze der literarischen Avantgarde, der als „Topograph der horizontalen Höllenstürze […] nebenher stürzt, und aus seinen Adern mitstenographiert“ [BA Bfe. II, S. 8] und zugleich „ein Bild der Zeit“ [BA II/2, S. 63] hinterlässt, in dem sich die Zeit mit Scham wiedererkennen muss. All das erwächst aus einer unglücklichen Kindheit, aus dem erzwungenen Schweigen des Schriftstellers unter den Nationalsozialisten, im Widerstand gegen den Geschmack des breiten Publikums der Nachkriegszeit, die boshafte Verfolgung durch politisch Andersdenkende und die beständigen Störungen der Arbeit durch die, die glauben, es gut mit dem Autor zu meinen. Ein Einzelkämpfer gegen eine Welt von Plagen, wie er im Buche steht.

Selbst wenn hiervon der offensichtlichste pathetische Unfug abgezogen wird, bleibt immer noch das Bild einer erstaunlichen Persönlichkeit, die den Beruf des Schriftstellers auf sich genommen hat, weil er die beste Möglichkeit zu bieten schien, sich von der Gesellschaft der Mitmenschen weitgehend zurückzuziehen und in einer symbiotischen Partnerschaft mit einer Frau soweit es geht nur den Gesetzen gehorchen zu müssen, die sie selbst anerkannte oder sogar setzen konnte. Schmidt war ein Misanthrop, und er hat sich insoweit mit dieser Haltung durchgesetzt, als es ihm durch seine Berufswahl gelungen ist, Bedingungen zu schaffen, die eine weitgehende Isolation erlaubten. Dafür haben seine Frau und er für lange Jahre ein ärmliches und erbärmliches Leben auf sich genommen, im Dienst der Kunst, wie er behauptete, wohl eher aber, weil ihm ein Leben unter den „groben Leute[n]“ [BA I/1, S. 434] nicht möglich gewesen wäre.

Wie man hier leicht sieht, kann bei der Lebensbeschreibung Schmidts grundsätzlich eine von zwei Richtungen eingeschlagen werden: Es kann der Heldenerzählung gefolgt werden, die Schmidt als Selbstinszenierung in seinem Werk hinterlegt hat, oder es kann der Versuch unternommen werden, sich tatsächlich einmal den „defekten Rest“ [BA I/1, S. 395] anzuschauen, der übrig bleiben soll, falls der Künstler die Wahl trifft, „als Werk“ [BA I/1, S. 395] zu existieren.

Hanuschek ist im Wesentlichen der ersten Linie gefolgt und hat damit eine Biografie vorgelegt, die dem Bedürfnis der meisten Leserinnen Arno Schmidts entgegenkommen dürfte. Das bedeutet nicht, dass er blind wäre für den „defekten Rest“, nur ist er nirgends bereit, sich auch nur für einen Augenblick der Frage zu stellen, ob das Opfer, das Schmidt nicht nur sich, sondern auch seiner Frau abverlangt hat, tatsächlich eine notwendige Bedingung war für das Werk, das für all das über die Jahre und mit den Jahren immer mehr als Rechtfertigung herhalten muss. Die Heldenerzählung überstrahlt alles.

Dabei ist es Hanuschek als Verdienst anzurechnen, dass seine Darstellung die zentrale Rolle von Alice Schmidt bei der Herstellung dieser Lebensbedingungen herausarbeitet: Immer wieder ist es Alice, die die schwere soziale Behinderung ihres Mannes – seine Wut und Überheblichkeit, seinen Größenwahn – im Zaum und im Haus halten kann, die die zerstörerischen Tendenzen ihres Mannes abfängt, ihm zwar zugleich zustimmt, dass man ihn ungerecht und schlecht behandelt, aber dennoch einen Weg findet, mit Verlagen und Verlegern einen professionellen Umgang zu pflegen und so Schmidt zu ermöglichen, wenigstens zu Zeiten das Schneckenhausleben zu führen, das seinen Neurosen entspricht. Und bei aller Bewunderung für den Autor ist es für ihn nur zu verständlich, dass Alice in späteren Jahren gern so eine Art von Dichtergattin geworden wäre, ein wenig vom sich nun doch einstellenden Erfolg und Ruhm genossen hätte, anstatt auf einem Dorf in der Heide zu sitzen und langsam aber sicher von ihrem monomanischen Gatten als Letzte auch noch aus seinem Leben herausgedrängt zu werden. Den Absprung hat sie verpasst; aber das muss ihre Biografie thematisieren, nicht seine.

Am Ende ist es natürlich eine Frage des Geschmacks, aber ich hätte mir für eine erste Biografie Arno Schmidts ein wenig von dem kritischen Abstand gewünscht, den Hanuschek auf den wenigen Seiten (714–717) aufbringt, in denen er ein kurzes Porträt Hans Wollschlägers liefert. Anlass hätte es genug gegeben, so etwa xeno- und homophobische Äußerungen Schmidts, die zwar dokumentiert, nicht aber kommentiert werden. Es hätte dem Buch und auch den Leserinnen Schmidts gutgetan.

Kommen wir zum Forschungsaspekt des Buchs: Eine Arno-Schmidt-Forscherin stellt, wie schon gesagt, andere Ansprüche an eine Biografie. Für sie müssen neue Fakten und Interpretationen geliefert werden, es müssen offene und kontrovers diskutierte Fragen der Forschung entschieden oder wenigstens einer Klärung nähergebracht werden, es muss Relevantes von Obsoletem und Abstrusem geschieden werden.

Auch hier ist zuerst festzustellen, dass Hanuschek durchaus Neues bringt: Besonders was die Familiengeschichte Schmidts angeht, ist seine Darstellung detailreich und geht – soweit ich sehe – über die bisherige Forschung hinaus. Auch folgt er zwar weitgehend der Selberlebensbeschreibung Schmidts, formuliert aber immer wieder berechtigte Zweifel an den Selbstdeutungen des Autors. Wir bekommen etwa kein wirklich geschlossenes Bild von Schmidts Vater geliefert, aber wir bleiben auch nicht bei der extrem negativen Beurteilung durch den Sohn stehen. Hier liefert Hanuschek einen deutlichen Fortschritt.

Was die Einschätzung des Werks und seine Interpretation angeht, schwächelt das Buch auf weiten Strecken. Hanuschek scheint, bei aller Bewusstheit für die romantischen Wurzeln Schmidts, grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich bei Schmidt um einen realistischen Autor gehandelt habe. Hanuschek begreift darunter das Ziel, die sogenannte Wirklichkeit im Text abzubilden, hat aber an zahlreichen Stellen Schwierigkeiten mit diesem Textzugriff – er greift dann zum Terminus „Wirklichkeitskonstitution“ (S. 152, 402 u. ö.). So wird ihm etwa der Gärtner Auen in Brand’s Haide zu einem Problem:

Natürlich kann man sagen, alle diese ›phantastischen Stellen‹ seien so codiert, dass sie eine naturwissenschaftliche Lesart hergeben: Der gute ›Schmidt‹ [die Erzählerfigur von Brand’s Haide] spinnt, er hat zuviel Fouqué gelesen und sieht überall Elementargeister, die es nicht gibt, wie wir wissen. – Das wäre mir eine zu platte Auflösung; für mich stecken hier zwei Möglichkeiten. Zum einen: Brand’s Haide erzählt eine Schriftstellerwerdung, eine Initiationsgeschichte, die gerade durch die Mythologie- und Elementargeister-Schicht wieder geöffnet wird.

S.350

Das „zum anderen“ wird uns nicht geliefert! Die hier ausinterpretierte Spannung kennt der Text aber gar nicht. Zum einen (!) ist die Geisterexistenz dieser Figur mit voller Absicht im Text so versteckt, dass nur eine sehr exakte Lektüre sie überhaupt als wirklichkeitskonstituierendes Element an den Tag bringt, zum anderen (!) behauptet Schmidt zwar in seiner Poetologie, ein Realist zu sein, die Praxis seiner Texte weiß aber überhaupt nichts von einem solchen Dogma. Wenn sich etwas an Schmidts Texten begreifen lässt, dann dies, dass sie weitgehend autonom konstituiert sind und sich an keinerlei vorgegebene Konzepte, seien sie realistisch oder romantisch, halten. Schmidt ist nur insoweit ein Realist, als ihm Realien wichtig sind (warum das so ist, hätte Hanuschek diskutieren müssen, er nimmt es aber als selbstverständlich hin), aber er ist in keiner Weise durch sie verpflichtet oder beschränkt. Schmidt ist weder ein Epigone der Romantik (wovon das Frühwerk noch geprägt ist) noch ein Autor des Realismus. Künstlerisch souverän ist sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk mit Sicherheit gerade darin, den scheinbaren Gegensatz von „Wirklichkeitskonstitution“ und Phantastik mit leichter Hand einzuebnen.

Neben diesem grundsätzlichen Missverständnis weist das Buch als Forschungsbeitrag zahlreiche Mängel auf, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Pars pro toto sei die Entstehungszeit von Pharos genannt:

  • Eine erste Datierung wird auf Seite 136 vorgenommen: „(ca. 1945)“.
  • S. 174 wird es nach dem Achamoth-Fragment terminiert, das von Schmidt selbst in die Zeit nach Weihnachten 1944 gesetzt wurde.
  • Die hauptsächliche Behandlung des Pharos findet dann zu Anfang des Abschnitts über den Zeitraum 1946–1948 (S. 215 ff.) statt.
  • S. 225 wird der Zeitraum der Entstehung zwischen März 1942 und Januar 1944 verortet,
  • was S. 226 noch einmal auf den Zeitraum zwischen November 1943 und Januar 1944 eingegrenzt wird.4

So etwas muss selbstverständlich vermieden werden, und es lässt sich auch durch Autor oder Lektorat problemlos vermeiden, wenn man denn sein eigenes Buch mit jener Gründlichkeit gelesen hätte, mit der man vorgibt, das Werk Arno Schmidts gelesen zu haben.

Es bleibt mir nur noch eine einzige Stelle zu zitieren, die mir die Lektüre dieses Buches letztendlich durch und durch verdorben hat. Auf S. 844 heißt es über Ann’Ev’ – deren Name im Buch übrigens gleich drei Mal falsch geschrieben wird –: „trotz ihrer Herzkrankheit ist sie offensichtlich nicht ganz von dieser Welt“. Wer so etwas schreiben kann, hat bei Schmidt etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Ann’Ev’ ist nicht „trotz“ ihrer Herzkrankheit nicht ganz von dieser Welt, sondern weil sie immer auch von dieser Welt sein muss, ist sie herzkrank. Und wer dabei nicht an Line Hübner denken muss, der gehört, so leid es mir tut, auch unter die „groben Leute“.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. München: Hanser, 2022. Pappband, Lesebändchen, 990 Seiten. 45,– €.

geschrieben für den Bargfelder Boten
Nr. 479–480, S. 30–34


1 – Sven Hanuschek: Arno Schmidt. S. 124

2 – Die Fassung des Hanser-Verlags liest sich so: „Ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tod eines Schriftstellers seine Biographie nicht nur erscheinen darf, sondern muß!“

3 – Dieser Text benutzt ausschließlich zum Zwecke der Provokation das sogenannte generische Femininum.

4 – Mit Dank an Günter Jürgensmeier, der auf diese kleine Bonanza auf Twitter hingewiesen hat: https://twitter.com/Arnotationen/status/1522094272350146562.

Johann Wolfgang Goethe / Friedrich Schiller: Xenien

Als 1794 die Zusammenarbeit Goethes und Schillers beginnt, befinden sich beide in einer Art von Isolation vom und Opposition zum literarischen Leben der Zeit: Schiller hatte drei Jahre lang von einem Stipendium gelebt und suchte im Anschluss daran nun eine Möglichkeit, seine Familie und sich mit der Herausgabe einer anspruchsvollen literarischen Zeitschrift – Die Horen – zu finanzieren, stand aber in einer gewissen Spannung zu der jungen Generation von Schriftstellern, die gerade in Mode war. Auch hatte er selbst zuletzt neben einem historischen Werk hauptsächlich theoretische Texte zur Literatur veröffentlicht. Sein Ruhm als einer der jungen Feuerköpfe der Literatur gehörte inzwischen der Vergangenheit an. Von daher war der in der Nachbarschaft lebende Goethe, dem ebenfalls der Ruf anhaftete, eine gewesenes Genie zu sein, eine natürliche Wahl als Mitstreiter für das neue Projekt. Auch Goethe hatte nach seiner Rückkehr aus Italien Schwierigkeiten, wieder ans gesellschaftliche und literarische Leben anzuknüpfen. Es ist daher nur zu verständlich, dass er sich für Schillers Vorschlag zur Mitarbeit an den Horen begeistern konnte: Es bestand die Aussicht, auf diesem Weg wieder innovative Akzente setzen und sich damit zurück in die literarische Diskussion der Zeit bringen zu können.

Diese Interessengemeinschaft wird im Laufe des Jahres 1795 zu einer Art Kampfbündnis und schließlich zu der Arbeitsgemeinschaft, über deren mehr als zehnjähriges Bestehen dann der Briefwechsel eine so umfassende Dokumentation liefern wird. Als erstes echtes Gemeinschaftsprojekt entstehen ab Dezember 1795 während eines knappen Jahres etwa 1.000 Distichen („Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein; [/] Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus“ wird Matthias Claudius spöttisch dichten), zuerst als satirische Kurzkritiken anderer Zeitschriften vorgeschlagen, dann aber zu einem Rundumschlag werdend gegen Schriftsteller und andere Zeitgenossen, literarische Tendenzen und Moden, poetologische Theorien und schließlich beinahe alles und jedes.

Peterskirche

Suchst Du das Unermeßliche hier? Du hast dich geirret,
Meine Größe ist die, größer zu machen dich selbst.

537

Die Zusammenarbeit ist dabei so eng, dass sich bei zahlreichen dieser sogenannten Xenien (wörtlich: „Gastgeschenke“, nach den Epigrammen Martials) auch heute nicht bestimmen lässt, wer der eigentliche Autor der einzelnen Verse ist. So werden die Xenien für gewöhnlich vollständig sowohl in die Werke Goethes als auch Schillers eingereiht.

Die Xenien waren übrigens ein vollständiger Erfolg, was ihre Wirkung angeht: Sie waren der literarische Skandal der Jahreswende 1796/1797, nachdem 400 von ihnen anonym bei Cotta im Musen-Almanach für das Jahr 1797 erschienen waren. Es fühlten sich über den Kreis der Gemeinten hinaus zahlreiche andere Autoren getroffen und das allgemeine Palaver war vollkommen. Die beiden Weimarer Klassiker hatte einmal mehr bewiesen, dass sie noch dazu in der Lage waren, die literarische Welt aufzumischen.

Die jetzt von Reclam vorgelegte Ausgabe ist leider eine Enttäuschung: Nicht nur enthält sie nur eine Auswahl der Xenien, sondern sie bringt auch nur eine minimale Kommentierung dieser Texte, die bereits für die Zeitgenossen nicht immer leicht zu entschlüsseln waren. Das knappe Nachwort ist zwar inhaltlich untadelig, schafft es aber auf dem wenigen Raum, den es einnimmt, problemlos, sich zu wiederholen. Hier hätte man sich eine dem heutigen Leser weiter entgegenkommende Aufbereitung dieser oft kryptischen Verse gewünscht. Auch ist die vorgenommene Auswahl zwar durchaus nachvollziehbar, aber was einer vollständigen Ausgabe entgegensteht, will sich wenigstens mir auf Anhieb nicht eröffnen: Wenn sich schon jemand für die Xenien interessiert und sie nicht ohnehin als Teil eines umfassenden Werkausgabe besitzt, warum sollte der nicht eine vollständige und umfangreich kommentierte Ausgabe wünschen statt dieser konsequenten Halbheit? Am Preis kann es in diesem Fall wirklich nicht liegen.

Johann Wolfgang Goethe / Friedrich Schiller: Xenien. Eine Auswahl. Hg. v. Frieder von Ammon u. Marcel Lepper. RUB 14250. Stuttgart: Reclam, 2022. Broschur, 96 Seiten. 6,– €.

Thomas Mann: Der Erwählte

Sehr oft ist das Erzählen nur ein Substitut für Genüsse, die wir selbst oder der Himmel uns versagen.

Im Jahr 1951 erschien nach einer für Thomas Mann recht kurzen Entstehungszeit von nur etwas mehr als drei Jahren sein kürzester und zugleich sein letzter abgeschlossener Roman Der Erwählte. Es handelte sich um eine modernisierte, sanft parodistische Nacherzählung des Gregorius des Hartmann von Aue, den Mann schon in seinem Münchner Studium kennengelernt hatte. Der Stoff hatte in der Fassung der Gesta Ro­ma­no­rum im Doktor Faustus eine kleine Rolle gespielt, was dann eine intensive Beschäftigung mit dem kleinen Epos Hartmanns auslöste. Dabei hatte Mann durchaus Schwierigkeiten, sich das mittelhochdeutsche Original anzueignen, konnte auch in den USA eine vage von ihm erinnerte Übersetzung im Reclam Verlag nicht finden, doch erhielt er Hilfe vom Schweizer Mediävisten Samuel Singer, der ihn schon bei der Arbeit am Doktor Faustus unterstützt hatte und der seine Mitarbeiterin Marga Bauer den Text Hartmanns ins Hochdeutsche übertragen ließ. (Dan­kens­wer­ter­wei­se liefert der Kommentarband dieser Ausgabe die Übersetzung voll­stän­dig mit!) Auf dieser Grundlage entstand ab Anfang 1948 der kleine Roman.

Den Inhalt habe ich schon an anderer Stelle kurz skizziert. Der le­gen­den­haf­te Stoff und die Freiheit, die ein weitgehend unbestimmt und ironisch geschildertes Mittelalter dem Autor ließ, sowie die Engführung der Parodie an der Vorlage haben Thomas Mann eine erzählerische Leichtigkeit erlaubt, wie sie in seinem Werk sonst nur in einigen seiner Erzählungen zu finden ist. Der Roman ist scheinbar mit leichter Hand wie nebenbei erzählt und weist die für Mann typische tonale Einheitlichkeit des Erzählens in einem besonderen Maße auf. Es liegt wahrscheinlich an dem etwas entlegenen Sujet, dass dieses Buch zu den eher unbekannten Thomas Manns gehört.

Die Neuedition innerhalb der Großen Frankfurter Ausgabe bringt im Textteil keine echten Verbesserungen, da die letzten Korrekturfassungen des Romans komplett verloren gegangen sind; es wird deshalb der im März 1951 innerhalb der Stockholmer Werkausgabe erschienene Text nachgedruckt. Dafür glänzt aber auch dieser Teil der aktuellen Werkausgabe mit einem umfangreichen Kommentarband, der neben einem Ein­zel­stel­len­kom­men­tar nicht nur Entstehungsgeschichte und Rezeption minutiös dokumentiert, sondern, wie oben schon angedeutet, unter anderem auch die beide wichtigen Quellentexte reproduziert, die Mann benutzt hat. Für alle Freunde des Romans eine reiche biographische und stoffliche Fundgrube.

Thomas Mann: Der Erwählte. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 11. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021 (erschienen 2022!). Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 302 (Text) + 559 (Kommentar) Seiten. 139,– €. Beide Bände sind auch einzeln lieferbar.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson

Kurzbiographie Johnsons in seinem Hausverlag von einer ausgewiesenen Kennerin des Autors. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt: Leben (ca. die Hälfte des Textes), Werk (ein weiteres Drittel) und Wirkung. Es folgt ein Anhang mit Zeittafel, Bibliographie und Personen- sowie Werkregister.

Inhaltlich ist das Buch unter Berücksichtigung des geringen Umfangs tadellos, wenn auch das Leben etwas weichgezeichnet erscheint; Johnsons Fremdheit in Gesellschaft, seine rigorose, auf andere oft verstörend wirkende Rechthaberei oder sein Alkoholismus kommen zwar vor, aber wohl dosiert und abgemildert. Von daher ist das vermittelte Bild nicht ganz richtig, ganz falsch ist es aber eben auch nicht.

Was die Darstellung des Werks angeht, so gibt es kaum etwas einzuwenden; eine bessere Kurzdarstellung aller Aspekte von Johnsons Schreiben kenne ich einfach nicht. Im Abschnitt Wirkung gibt es das zu erwartende Maß von allgemeinem Geschwätz des Sowohl-Als-auch gemischt mit einigen wenigen handfesten Informationen; da ist ein Querlesen vollständig ausreichend.

Die Seiten des Bandes sind recht angenehm gestaltet: Fotos werden in Maßen eigesetzt, die Darstellung des Haupttextes unterstützende Zitate aus Primär- und Sekundärtexten sind in grau hinterlegten Kästen in den Fließtext eingefügt. Auf Fuß- oder Endnoten wird komplett verzichtet.

Insgesamt ersetzt oder ergänzt der Band die inzwischen in die Tage gekommene Rowohlt-Monographie von Jürgen Grambow (1997). Für eine rasche und überblickende Information gut geeignet.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. sb 47. Berlin: Suhrkamp, 2010. Broschur, 158 Seiten. 8,90 €.