Ruth Klüger: unterwegs verloren

978-3-552-05441-7 Eine alte Frau schreibt ihre Erinnerungen auf. Sie ist Überlebende des Holocaust, hat ein Buch über diese Erfahrung geschrieben, das ein Bestseller geworden ist in Deutschland und dann auch in der Welt. Nun wird uns eine Fortsetzung angeboten. Woran erinnert sie sich? Da hat sie einer nicht gegrüßt, als er ihr Haus betrat. Ein anderer hat sie nicht in seinem Seminar haben wollen. Ein dritter hat sie zwar gefördert, sie aber nicht so ernst genommen, wie sie ernst genommen werden wollte. Wieder andere haben ihr nicht das soziale Umfeld bereitet, das sie sich erhofft hatte. Noch andere haben sie als berufliche Konkurrentin wahrgenommen und behandelt. Sie alle stehen unter dem Generalvorwurf, zumindest Frauenfeinde zu sein, wahrscheinlicher aber Antisemiten.

Warum war ich ihnen zuwider? Frau oder Jüdin? Zufall war’s nicht …

Und dann steht da plötzlich dieser eine Satz:

Ich frage mich allerdings, warum die Frauen immer meinen, sie könnten es besser als ihre Vorgängerinnen, anstatt sich vor geschiedenen Männern zu hüten.

Ein solcher Satz kann einem ein ganzes Buch zerschlagen. Das ist von einer so bodenlosen zwischenmenschlichen Dummheit, dass ich ganz fassungslos werde. Das schreibt eine Frau, deren Söhne angeblich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, deren Schwiegertochter jeden Kontakt mit ihr vermeidet, deren Enkel ihr zu distanziert sind, mit der die meisten Kollegen keinen Umgang haben wollten und der dennoch eines ganz sicher ist: Am Scheitern von Ehen sind die Männer schuld, und wem einmal eine missraten ist, der trägt ein Stigma.

Der Autorin selbst ist hier kein Vorwurf zu machen, aber denen, die mit ihrer Bekanntheit Geld verdienen, die nicht eingegriffen haben, das Manuskript nicht behutsam zur Seite gelegt haben, sondern die es gedruckt haben in dem klaren Bewusstsein, damit einen Bestseller zu produzieren. Das ist ekelerregend, und es ist verächtlich. Ich habe selten ein so peinliches Buch in der Hand gehabt.

Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay, 2008. Pappband, 238 Seiten. 19,90 €.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe

978-3-10-041510-3 Roman auf Grundlage der Vermutung, Christopher Marlowe habe als Geheimagent gearbeitet. Es gibt keine harten Beweise für diese Hypothese, aber Marlowes Bekanntschaft mit Agenten des Elisabethanischen Geheimdienst und nicht zuletzt die Anwesenheit Robert Poleys bei seinem Tod stützen entsprechende Spekulationen. Dieter Kühn erfindet die letzten Monate im Leben des Christopher Marlowe dementsprechend: Marlowe wird in Kühns Fiktion zum zweiten Male vom Geheimdienst angeworben und unter falscher Identität nach Paris geschickt. Die dortigen Ereignisse bilden eine nicht sehr originelle und nicht sehr detaillierte Agentenschmonzette, die damit endet, dass Marlowe vom französischen Geheimdienst enttarnt wird, der nun versucht, ihn als Doppelagenten zu instrumentalisieren. Als Marlowe nach England zurückkehrt, wird er in dieser Sache von seinen Arbeitgebern zur Rede gestellt. Marlowe macht den Vorschlag, ihn durch einen fingierten Tod aus dem Verkehr zu ziehen, was als Abschluss des Buches dann auch zu geschehen scheint.

Erzählt wird das ganze nun nicht als traditioneller Thriller, sondern als vorgebliches Aktenkonvolut des englischen Geheimdienstes. Kühn verzichtet zum Glück auf den Versuch, den tatsächlichen Ton irgendeiner Akte irgendeiner Zeit nachzubilden, was den Text aber nur unwesentlich spannender macht. Auch der echt witzige Einfall des Autors, sich selbst als Agent »Writer« in die Akte einzumischen, rettet das Buch nicht. Das ganze ist lahm, konstruiert und bemüht.

Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 262 Seiten. 18,90 €.

Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück

978-3-480-22544-6 Dritter Band der Herr-Eichhorn-Bücher von Sebastian Meschenmoser, und auch diesmal sind wieder der Igel und der Bär mit von der Partie. Ganz passend zum Ende des zweiten Bandes und zur Jahreszeit erwachen die drei Helden aus dem Winterschlaf in den neuen Frühling. Und während Eichhorn und Bär sich die Bäuche vollschlagen und sich Bewegung verschaffen, war der Igel unten am Teich und – hat sich verliebt! Leider weiß er aber nicht, wie er die schöne Igelin ansprechen soll. Doch Herr Eichhorn weiß Rat, und so ziehen die beiden auf eine echte Aventiure aus, damit der Igel sich Ruhm und Ehre erwerben kann. Wie man sich denken kann, läuft dabei nicht alles so ganz glatt ab; aber ich will hier nicht zu viel verraten.

Der dritte Band ist eine schöne und würdige Fortsetzung der Herr-Eichhorn-Reihe. Alle Freunden und jenen, die es werden wollen, warm ans Herz gelegt.

Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn weiß den Weg zum Glück. Esslingen: Esslinger Verlag, 2009. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 60 Seiten. 9,95 €.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte

978-3-406-58663-7 Der Band entstammt der Reihe der Oxford University Press A Very Short Introduction, aus der hier zuletzt Bände von Leofranc Holford-Strevens und Harry Sidebottom vorgestellt wurden. Nicholas Boyle ist in Deutschland bekannt durch seine großangelegte, bislang aber fragmentarisch gebliebene Goethe-Biografie. Seine Kleine deutsche Literaturgeschichte zielt wohl in der Hauptsache auf Studenten des Blütenfachs Germanistik an englischen und amerikanischen Universitäten. Es ist daher verständlich, dass Boyle einen bedeutenden Teil des Bändchens darauf verwendet, die historischen und sozialen Bedingungen zu vermitteln, unter denen die deutsche Literatur entstand. Dabei werden die Literaturen Österreichs und der Schweiz in kurzen getrennten Kapiteln behandelt, die allein vom Umfang her nur als ungenügend bezeichnet werden können.

Aber auch die im engeren Sinne deutsche Literatur wird in einer so abstrakten und oberflächlichen Weise vorgeführt, dass bezweifelt werden darf, ob das Buch überhaupt jemandem einen angemessenen Eindruck der deutschen Literatur vermittelt. So führt Boyle etwa die wichtigen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, die sich heute in der deutschen Literatur als wirksam zeigen, ausschließlich auf einen Konflikt innerhalb des bürgerlichen Lagers zurück: Hier habe es einen gesellschaftlichen Gegensatz von Staatsbeamten einerseits, die eine rationalistische Aufklärung betrieben hätten, und einer bürgerlich-liberale Aufklärung andererseits gegeben. Eine solche Dichotomie, die als hauptsächliches Erklärungsmuster Boyles bis ins 19. Jahrhundert hinein dienen muss, greift für die komplexe Lage des geistigen Umbruchs im 18. Jahrhundert offenbar zu kurz. Sie negiert, dass sich die Emanzipation des Bürgertums gegen eine höfisch geprägte Kultur mit zahlreichen aufklärerischen Bestrebungen kreuzt und auf diese Weise die unterschiedlichsten Position hervorbringt. Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts etwa als »Demontage der christlichen Heiligen Schriften« zu charakterisieren, beweist ein grundlegendes Unverständnis für bedeutende Teile der deutschen Aufklärung, zu deren Hauptforce neben Lessing auch Kant gehörte. Während sich diese deutschen Aufklärer einem französischen Projekt der Ersetzung des Christentums durch einen Kult der Vernunft gegenübersahen, versuchten sie selbst zu zeigen, dass sich Vernunft und ein Kernbestand an göttlicher Offenbarung nicht widersprachen, sondern als einander ergänzend gelesen werden konnten.

Als ebenso fragwürdig muss der Versuch angesehen werden, die Romantik in eine kritisch-fortschrittliche und eine »preußisch-eskapistische« aufteilen zu wollen. Die Behandlung Tiecks, Hoffmanns und Eichendorffs als Vertreter letzterer Richtung, die auf nicht mehr als 1½ Seiten geschieht, wird weder deren Einzelwerken noch deren Entwicklung innerhalb der Romantik in irgendeiner Weise gerecht.

Da sich Boyle nicht nur der Belletristik widmet, sondern sich immer auch Ausflüge in die Philosophie erlaubt, lässt sich leicht denken, dass man eine Rezension des Bändchen allein mit der Aufzählung all jener Schriftsteller füllen könnte, die Boyle nicht einmal erwähnt. Wenn dem wenigstens eine empathische und sinnvermittelnde Behandlung der erwähnten Werke gegenüberstünde, so wäre dies verzeihlich. Da Boyles Darstellung aber abgehoben und akademisch bleibt, ist das Buch für deutsche Leser überflüssig, und für die englischsprachige Welt ist seine Existenz nur zu bedauern.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München: C. H. Beck, 2009. Pappband, 272 Seiten. 17,90 €.

Bernhard Schlink: Das Wochenende

978-3-257-06633-3 Eine merkwürdig gekünstelte Auseinandersetzung mit den Spätfolgen des deutschen Terrorismus. Erzählt wird vom ersten Wochenende des ehemaligen Terroristen Jörg, der nach über zwanzig Jahren Haft begnadigt wurde. Seine Schwester hat ein Wochenende auf dem Land geplant und dazu einige alte Freunde Jörgs zusammen mit ihren Familien und seinen Anwalt eingeladen; uneingeladen stoßen dann noch ein politischer Agitator, der Jörg als Leitfigur eines neuen Terrorismus instrumentalisieren will, und Jörgs Sohn hinzu, der nach dem Selbstmord seiner Mutter bei den Großeltern aufgewachsen ist und während der Zeit der Haft keinen Kontakt zu seinem Vater gehabt hat.

Man denkt sich leicht, dass aus einem solchen Reagenzglasexperiment kaum etwas Originelles hervorgehen kann. Und genauso kommt es auch: Das Buch ist angefüllt mit phrasenhaften Dialogen, Wendungen und Beschreibungen. Selbst die potenziell spannendste Figur, der Terrorist, schwafelt nur dumm daher wie alle anderen. Zwischendurch sollen dann auch noch die Anschläge vom 11. September mittels einer Binnenerzählung eingebunden werden. Als dann zuletzt auch noch hochsymbolisch der im Unwetter vollgelaufene Keller gemeinsam ausgeschöpft wird, erreicht der Roman zugleich den Höhepunkt seiner erzählerischen Hilflosigkeit. Weder weiß der Autor, was er eigentlich erzählen will, noch gelingt es ihm, aus der von ihm angelegten Konstellation irgend etwas Interessantes oder Spannendes zu entwickeln. Nichts, was der Autor einfach wirken lassen kann, kein noch so kleines Geheimnis, das er nicht sofort und auf direktestem Wege ausplaudern würde.

Ein – angesichts der durchaus ansprechenden Bücher Schlinks zuvor – durch und durch enttäuschendes Buch.

Bernhard Schlink: Das Wochenende. Zürich: Diogenes, 2008. Leinen, Lesebändchen, 225 Seiten. 18,90 €.

Lion Feuchtwanger: Die häßliche Herzogin

978-3-7466-5627-4 Auf eine Empfehlung hin als vorläufig letzten der historischen Romane Feuchtwangers gelesen. Auch sonst kommt nun erst einmal wieder ein anderer Autor dran und das nicht nur, damit dies hier nicht zu einem Feuchtwanger-Blog ausartet. Zudem fällt mir die Rezension dieses Mal ausgesprochen schwer, denn es ist kein richtig schlechtes Buch, so richtig gelungen ist es aber auch nicht.

Es beginnt damit, dass das Buch mehr eine historische Phantasie als einen historischen Roman liefert. Zwar werden die historischen Rahmenbedingungen im Großen weitgehend korrekt dargestellt, aber damit ist die Grenze auch schon erreicht. Es muss als Legende gelten, dass Margarete, Herzogin von Kärnten, ausnehmend hässlich gewesen sei, jedenfalls wissen die zeitgenössischen Quellen darüber nichts. Der Beiname Maultasch scheint überhaupt nicht auf die Körperbildung der Herzogin zurückzugehen, vielmehr scheint es sich dabei um gegnerische Propaganda gehandelt zu haben. Damit fällt zumindest schon einmal jeglicher Zusammenhang zwischen der von Feuchtwanger angesetzten Hässlichkeit der Herzogin und den tatsächlich geschehenen geschichtlichen Abläufen weg. Auch der den Großteil des Buches durchziehende Kampf der hässlichen Margarete gegen die schöne Agnes gerät so zur reinen Phantasie und muss ganz für sich selbst, ohne die Weihe der historischen Wahrhaftigkeit bestehen.

Hier aber kommt die bereits bei der Josephus-Trilogie angemerkte Schwäche in der Figurenentwicklung zum Tragen. Feuchtwangers Figuren mögen sich für die Bühne eignen, für einen Roman sind sie deutlich zu eindimensional und statisch. Alles an Maragrete und was sie tut, erklärt sich letztlich aus ihrer Hässlichkeit, der Frauenberger ist ein skrupelloser Intrigant und sonst eben gar nichts, der Schenna treu, Prinz Friedrich ein verantwortungsloser Hallodri usw. usf. Jede Figur bleibt in ihrem Muster, erfüllt brav die ihr zugedachte Funktion, aber keine einzige Figur hat wirklich Leben, changiert, wird ihrer Eintönigkeit selbst einmal müde oder gerät gar zu sich selbst in einen Widerspruch. Alle Figuren sind ordentlich, funktional und langweilig.

Zudem ist das Buch an einigen Stellen flüchtig und lieblos gearbeitet. So wird etwa das Giftfläschchen, das Margarete dem Frauenberger auf S. 181 in die Hand drückt, auf S. 179 eingeführt, und der darin befindliche »Saft« verwandelt sich auf S. 234 mir nichts dir nichts in ein »Pulver«. Da wird dem Sohn der Maragrete, Meinhard, wohl wegen des charakterisierenden Namens ein Siebenschläfer als Schmusetier beigesellt, von dem nicht nur wiederholt behauptet wird, es handele sich dabei um ein Murmeltier – das nun wieder einer ganz anderen Tierfamilie angehört –, sondern das auch sonst als Haustier denkbar ungeeignet ist:

Der Siebenschläfer wird verhältnismäßig selten in der Gefangenschaft gehalten. Es läßt sich von vornherein erwarten, daß ein so großer Fresser geistig nicht sehr befähigt sein, überhaupt nicht viele gute Eigenschaften haben kann. Sein Wesen ist nicht gerade angenehm, seine größte Tugend die Reinlichkeit; im übrigen wird er langweilig. Er befindet sich fortwährend in gereizter Stimmung, befreundet sich durchaus nicht mit seinem Pfleger und knurrt in eigenthümlich schnarchender Weise jeden wüthend an, welcher sich erfrecht, ihm nahe zu kommen. Dem, welcher ihn ungeschickt angreift, beweist er durch rasch aufeinanderfolgende Bisse in sehr empfindlicher Weise, daß er keineswegs geneigt sei, sich irgendwie behelligen zu lassen. Nachts springt er wie rasend im Käfige umher und wird schon deshalb seinem Besitzer bald sehr lästig. Er muß auf das sorgfältigste gepflegt, namentlich gefüttert werden, damit er sich nicht durch den Käfig nagt oder einen und den andern seiner Gefährten auffrißt; denn wenn er nicht genug Nahrung hat, geht er ohne weiteres andere seiner Art an und ermordet und verzehrt sie ebenso ruhig wie andere kleine Thiere. Auch die im Käfige geborenen Jungen sind und bleiben ebenso unliebenswürdig wie die Alten.

Brehms Tierleben (1882 ff.)

Solche Patzer sind ärgerlich und mit ein wenig Sorgfalt und Recherche vermeidbar.

Wer sich nur für die geschichtlichen Abläufe des 14. Jahrhunderts im Großen interessiert, findet ein ganz nettes Lesebuch; mehr sollte man aber nicht erwarten.

Lion Feuchtwanger: Die häßliche Herzogin. Aufbau Taschenbuch 5627. Berlin: Aufbau, 72008. 270 Seiten. 8,95 €.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen

feuchtwanger_josephus_III Der dritte Band der Josephus-Trilogie. Das Buch ist zuerst 1942 in einer englischen Übersetzung erschienen, dann 1945 das deutsche Original. Der Roman verschärft die Tendenzen, die sich schon im zweiten Teil Die Söhne beobachten ließen: Der Autor kann mit seinem ursprünglichen Protagonisten Josephus Flavius nun noch weniger anfangen als bislang schon. So gerät das Buch zu einem historischen Roman über den Kaiser Domitian, in dem Josephus nurmehr eine Nebenfigur abgibt. Josephus ist zwar weiterhin mit dem Kaiserhaus schicksalhaft verbandelt, aber weder der Umfang der Anteile am Text, die ihm gewidmet sind, noch die darin geschilderten Ereignisse heben ihn wesentlich über andere Nebenfiguren in diesem Roman heraus. So erfahren wir etwa ausführlich vom Schicksal der Vestalin Cornelia, die im berauschten Zustand vom Privatsekretär des Kaisers beschlafen und deshalb einem jämmerlichen Tod zugeführt wird. Oder von Clemens und Domitilla, deren Söhne Domitian zu seinen Nachfolgern bestimmt hat, und die deshalb als störende Elemente in der Erziehung der Knaben beseitigt werden müssen. Oder von der Kaiserin Lucia, ihrem Einfluss, ihrer Macht und ihren Sym- und Antipathien dem Kaiser gegenüber. Usw. usf.

Feuchtwanger war diese Schwäche des Romans natürlich bewusst. Er hat versucht sie dadurch zu verschleiern, dass er die Josefs-Figur an Anfang und Ende des Romans prominent präsentiert – so wird seinem Tod das Schlusskapitel gewidmet, das deshalb auch wie angeklebt wirkt – und außerdem den Roman in zwei Teile gliedert, deren ersten er »Domitian« und deren zweiten er »Josephus« überschreibt. Erzählt wird über Joseph in etwa das folgende: Er sitzt daheim mit seiner neuen Familie, die er mit Mara gegründet hat und schreibt an seiner »Geschichte des jüdischen Volkes«. Er tritt nur selten in der Öffentlichkeit auf und lebt ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben für einen Mann seines Ruhms. Aufgrund seiner prominenten Position unter dem Kaiser Vespasian ist er am Hofe aber nicht vergessen. Er nimmt am Besuch einer Delegation jüdischer Gelehrter aus Jabne beim Kaiser teil, bei der unter anderem erörtert wird, dass der Messias dem Geschlecht  Davids entstammen soll, was auch für Josephus zutrifft. Der Kaiser will nun alle Nachfahren Davids töten lassen, um sicher zu gehen, dass es keinen Messias wird geben können, fürchtet sich aber vor dem unsichtbaren Gott der Juden so sehr, dass er doch lieber darauf verzichtet. Stattdessen sucht er lieber eine Gelegenheit, Josephus zu verletzen, die er auch findet, als dessen Sohn Matthias ins Gefolge der Kaiserin Lucia eintritt und in die Affäre um die oben schon erwähnte Domitilla verwickelt wird. Dies liefert Domitian den Vorwand, Matthias ermorden zu lassen. Josephus überführt die Leiche des Matthias zur Beisetzung nach Judäa und verbringt den Rest seines Lebens dort. Mit über 70 lässt er sich noch einmal von nationalistischen Gefühlen hinreißen und wird von einer Gruppe römischer Soldaten beiläufig zu Tode geschleift.

Auch in diesem Buch zeigt sich wieder Feuchtwangers Desinteresse an Entwicklung oder Veränderung seiner Figuren. Domitian gleicht als Kaiser in seinen Befürchtungen und Motivationen weitgehend seinem Bruder und Vorgänger im Amt Titus, er reagiert nur bösartiger auf sie. Josephus ändert sich in den mehr als 50 Jahren, die die Trilogie umfasst, nicht – wie Feuchtwanger im Roman explizit schreibt –, sondern bleibt im Grunde derselbe eitle, von sich und seiner Sendung überzeugte Dummkopf, der er von Anfang an ist. Das eigentliche Problem mit dieser Hauptfigur ist aber, dass sie die knapp 1.500 Seiten der Trilogie einfach nicht trägt. So wiederholt sich vieles und die soziale Dynamik der Figuren hat sich lange erschöpft, bevor der Leser den dritten Band erreicht. Was bleibt, ist ein Erzählen historischer Ereignisse, von denen sich einige ereignet haben mögen, die meisten aber sicherlich nicht. Insoweit bleibt die Trilogie am Ende eine Enttäuschung, gut zum Zeitvertreib, mehr aber nicht. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, für den genügt es, den ersten Band Der jüdische Krieg zu lesen und den ersten Teil dieses dritten Bandes.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen. Aufbau Taschenbuch 5604. Berlin: Aufbau, 32006. 439 Seiten. 10,00 €.

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P.S.: Was den Aufbau Verlag wohl dazu getrieben haben mag, ausgerechnet Catilina als Abbildung aufs Cover zu setzen?

Lion Feuchtwanger: Die Söhne

feuchtwanger_josephus_II Zweiter Teil der Josephus-Trilogie. Wie bei der Besprechung von Der jüdische Krieg bereits festgestellt, war das Werk ursprünglich nur auf zwei Bände angelegt. Ein Nachwort Feuchtwangers zu Die Söhne teilt dem Leser mit, dass der zweite Band bei Erscheinen des ersten bereits vollständig konzipiert und zu einem großen Teil auch geschrieben war. Diese Fassung und die zugehörigen  Materialien wurde bei der Plünderung von Feuchtwangers Haus im März 1933 – Feuchtwanger befand sich seit November 1932 im Ausland – durch die Nationalsozialisten vernichtet. Feuchtwanger schreibt weiter:

Den verlorenen Teil in der ursprünglichen Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich. Ich hatte zu dem Thema des »Josephus«: Nationalismus und Weltbürgertum, manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen.

Ob das dem Roman gut getan hat, ist natürlich eine kaum zu entscheidende Frage. Allerdings ist das Buch recht handlungsarm und langatmig geraten. Es beginnt mit dem Tod Kaiser Vespasians (79) und erstreckt sich bis über den Tod Titus’ (81) hinaus in die erste Regierungszeit von dessen Bruder Domitian. Wie der Titel schon vorgibt, steht im Zentrum eines Großteils der Handlung der Kampf des Josephus Flavius um seine beiden Söhne: Simon, sein »jüdisches Kind«, das er zusammen mit seiner ersten Frau Mara gezeugt hat, und Paulus, dessen Mutter die Ägypterin Dorion ist, die den Knaben im Sinne der griechischen Kultur erziehen lässt und dem Joseph aus einem Rachebedürfnis heraus entfremdet. Joseph kämpft um seinen Sohn Paulus, in dem er sein Ideal des jüdisch-griechischen Weltbürgers zu verwirklichen sucht, indem er ein Adoptionsverfahren anstrengt. Als er die Gunst des Kaisers Titus für sich erlangen kann, gewinnt er den Prozess, gibt den nun rechtlich unter seiner Obhut stehenden Jungen aber seiner Mutter zurück, als er begreift, wie unglücklich er ihn durch die Trennung von Mutter und Lehrer gemacht hat. Unterdessen ist der etwas von Joseph vernachlässigte Simon bei einem jugendlichen Kampfspiel verunglückt und ums Leben gekommen.

Dann kehrt Joseph nach Judäa zurück. Hier trifft er seine erste Frau Mara wieder, und es gibt eine ganze Menge Gerede um die jüdische Sekte der Christen und den Fortbestand des Judentums überhaupt. Josephus wird für eine Weile in die lokalen religiös-politischen Streitigkeiten verwickelt, entschließt sich dann aber überraschend, Mara wieder zu heiraten und nach Rom zurückzukehren, um endlich mit seiner großen Geschichte des jüdischen Volkes zu beginnen. Das Buch endet mit einer durch Domitian inszenierten öffentlichen Demütigung Josephs, die ihn für immer von seinem Sohn Paulus zu trennen scheint.

Der offensichtlichste Mangel des Buches ist wohl, dass Feuchtwanger ein ausreichend gewichtiger Handlungsfaden fehlt: Während in Der jüdische Krieg der Krieg, seine Vorgeschichte und seine Folgen das Unterfutter für eine Art von Entwicklungsroman Josephs lieferte, fehlt eine solche grundierende Fabel diesmal. Das Buch erschöpft sich daher über weite Strecken darin, zwischen einzelnen Figuren und Schauplätzen hin und her zu springen, ohne dass der Leser einen Eindruck davon bekäme, wo das ganze hinaus will. Der Charakter des Josephus bleibt weitgehend statisch; der Entwicklungsroman wird nicht fortgesetzt, man hat den Eindruck, dass der Autor selbst nicht so recht weiß, was er mit seinem Protagonisten anfangen soll. Dafür treten ideologische Aspekte stark in den Vordergrund: Es wird an einer breiten Zahl von Fällen erörtert, wie Isolationismus der Juden und Vorurteile der Nichtjuden einander bedingen und verstärken, so dass auch der Gutwilligste unfähig bleibt, die Schranken zu überwinden. Allerdings ist derlei höchstens ausreichend für eine Kurzgeschichte und trägt keinen Roman.

Insgesamt ein Buch, das sich nicht recht entscheiden kann, was es nun eigentlich erzählen will, deshalb viele Versuche und nur wenig wirklich Gerundetes enthält.

Lion Feuchtwanger: Die Söhne. Aufbau Taschenbuch 5603. Berlin: Aufbau, 32006. 527 Seiten. 10,00 €.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, …

genazino_frau … ein Roman. Erzählung einer Jugend: Der 17-jährige Ich-Erzähler, der wegen schlechter Leistungen aus dem Gymnasium geflogen ist, beginnt eine Doppelkarriere als kaufmännischer Lehrling und freier Mitarbeiter einer lokalen Tageszeitung. In beiden Branchen bewährt er sich gut und steigt rasch auf; er hat ein sexuelles Abenteuer, trennt sich von seiner langjährigen Freundin Gudrun, der er ausgiebige literarhistorische Vorträge zu halten pflegt, verliebt sich ein wenig in die Journalistin Linda, die aber leider Selbstmord begeht, bevor es zu irgendwelchen Geständnissen kommen kann, erkennt, dass er anders ist als andere Menschen, zieht daheim aus und in ein Appartement ein, entschließt sich, vorerst nicht hauptberuflich Journalist zu werden, und wird derweil ein wenig erwachsen.

Ein erzählerisch recht schlichtes Büchlein, das aufgrund seiner zwar einfachen, aber treffsicheren Sprache durchaus angenehm zu lesen ist. Viele der verarbeiten Motive bleiben zufällig, ebenso wie die ganze Geschichte einen eher beliebigen Eindruck macht. Alles in allem ist mir der Protagonist fremd geblieben, sowohl in seiner intellektuellen als auch in seiner emotionalen Verfasstheit. Aber derlei ist am Ende natürlich eine Frage des Geschmacks.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. dtv 13311. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. 160 Seiten. 8,90 €.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg

feuchtwanger_josephus_I Der erste Roman einer Trilogie, in deren Zentrum der jüdisch-stämmige Historiker Josephus Flavius steht. Der erste Band umfasst in etwa fünf Jahre vom ersten Besuch Josefs in Rom noch unter der Herrschaft Neros bis zu seiner Rückkehr dorthin unter dem Kaiser Vespasian. In der Zwischenzeit hat er eine erstaunliche Karriere hinter sich gebracht: Vom jüdischen Rebellenführer im Kampf gegen die römische Besatzungsmacht Judäas über die Gefangenschaft bis zum offiziellen Kriegsberichterstatter des jüdischen Krieges und persönlichen Berater des Kaisersohns Titus. Am Ende des Romans ist aus dem jungen jüdischen Juristen ein kompletter Außenseiter geworden: Die jüdischen Gemeinden Jerusalems und Roms feinden ihn an und das römische Bürgerrecht, das er sich für einen hohen Preis vom Kaiser hatte erwerben müssen, um seine Geliebte heiraten zu können, erscheint als eine Äußerlichkeit, der keine soziale Gemeinschaft entspricht.

Der Roman konzentriert sich auf einige wenige »große Figuren« der Zeit, wobei deren Motivationen nicht immer ganz zu überzeugen wissen. Auch die konkreten politischen Vorgänge – so etwa die Ausrufung Vespasians zum Kaiser – bleiben eher schemenhaft. Auch der Alltag der »kleinen Leute« in Rom und dem Nahe Osten bleibt bis auf einzelne Schilderung der Unterschiede zwischen jüdischen und römischen Haushalten eher blass. Sehr überzeugend sind dagegen die Belagerung und Zerstörung Jerusalems, deren Beschreibung sicherlich den Höhepunkt des Buches bilden.

Die Entwicklung des Protagonisten hebt sich recht positiv von der Darstellung der anderen Figuren ab: Josef Ben Matthias beginnt seine Karriere als ein hoch begabter, aber auch etwas selbstverliebter junger Mann, der erst langsam lernt, dass seine Handlungen neben den erwünschten auch unerwünschte und von ihm unvorhergesehene Konsequenzen zeitigen, dass sein Konzept des »Vernünftigen« durchaus nicht von allen seinen Zeitgenossen geteilt wird und dass er schließlich weit öfter Getriebener als Treiber ist.

Das Ende des Buches macht deutlich, dass es nicht für sich steht, sondern eine Fortsetzung konkret geplant geplant war; allerdings hatte Feuchtwanger wohl vorerst an einen, nicht zwei weitere Bände gedacht. Es hat sich dann so ergeben, dass die drei Bände der Josephus- zwischen 1931 und 1941 alternierend mit denen der Wartesaal-Trilogie entstanden sind. Die beiden Folgebände werden ebenfalls hier vorgestellt werden.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Aufbau Taschenbuch 5602. Berlin: Aufbau, 32006. 463 Seiten. 10,00 €.