Rosendorfers »Deutsche Geschichte« (Bände 1–5)

dtgeschvDas Erscheinen des fünften Bandes von Herbert Rosendorfers »Deutsche Geschichte. Ein Versuch« habe ich zum Anlass genommen, auch die vorhergehenden Bände noch einmal zu lesen und mir so einen Überblick über den Stand des Projektes zu verschaffen. Mit bislang über 1.300 Seiten dürfte Rosendorfers »Deutsche Geschichte« der anspruchsvollste Versuch eines historischen Laien sein, eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte für historische Laien zu schreiben.

Der erste Band erschien 1998 und umfasst die Zeit von den historisch nur ungenau zu fassenden Anfängen der deutschen Geschichte bis zum Wormser Konkordat (1122), der derzeit letzte Band treibt die Erzählung bis ins Jahr 1740, in dem Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der »Soldatenkönig«, und Kaiser Karl VI. sterben. Dabei ist der Ausdruck ›Erzählung‹ nicht zufällig gewählt. Rosendorfer betont in seinen Nachworten, dass er ausdrücklich nicht den Anspruch habe, ein Geschichtsbuch im traditionellen Verständnis zu schreiben, sondern eine Erzählung der deutsche Geschichte. Das hat für die Leser in aller erster Linie den Vorteil, dass sie von Fußnoten und Quellenzitaten weitgehend verschont bleiben. Die Bücher erfüllen tatsächlich in weiten Teilen den Ansatz, dass sich einer die Mühe macht, uns den Gang der Geschichte zu erzählen, Personen wie Figuren einzuführen, die Ereignisse als Stoff zu betrachten, der von sich aus Interesse verdient und nicht erst durch das Einbinden in ein Geschichtsverständnis interessant wird.

Dabei konzentriert sich Rosendorfer durchaus nicht nur auf die Geschichte im engeren Sinne, sondern zu nahezu jeder Epoche gibt er auch einen Überblick über die kulturelle Entwicklung, den Stand von Kunst und Wissenschaften, und er thematisiert vom ersten Band an auch die Lage jener, die in der ›großen Geschichte‹ gewöhnlich nicht vorkommen, der sogenannten kleinen Leute. Dabei ist ihm durchaus klar, dass seine Sympathie für den ›kleinen Mann‹ anachronistsch ist und den Personen seiner Haupterzählung wesentlich fremd. Überhaupt zeigt Rosendorfer nicht häufig Sympathie für eine der historischen Personen seiner Erzählung; die allermeisten kommen schlecht weg im Urteil des Autors. Rosendorfer neigt zu einem Geschichtspessimissmus, nicht ideologischer Natur, sondern aus einem insgesamt zum Pessimistischen tendierenden Menschenbild heraus. Unbedingt erwähnt werden müssen auch seine massiven und immer präsenten Vorbehalte gegen die katholische Kirche – weniger gegen das Christentum –, später auch gegen bestimmte Zweige der protestantischen Richtung und eine ungewöhnlich scharfe allgemeine Ablehung des Islam, die besonders im letzten Band hinzugekommen ist. Dies wird die Lektüre für bestimmte Personen über Strecken wahrscheinlich etwas mühsam machen. Wenn man, wie ich, das alles in einem Zug liest, verspürt man irgendwann die Neigung, dem Autor ein »Ja, ja, schon gut« an den Rand zu schreiben.

Entscheidend für Rosendorfers Zugriff auf die deutsche Geschichte dürfte aber sein, dass er sich keiner Geschichtstheorie verschreibt, weder was das Große und Ganze angeht noch bei der Darstellung der Details und der einzelnen historischen Person. Rosendorfer glaubt offenbar nicht, dass sich das geschichtliche Geschehen einem systematischen Zugriff öffnet oder das sich Ereignisse oder Entscheidungen besser verstehen lassen, wenn sie streng unter ein psychologisches, ökonomisches, soziologisches oder sonstiges Theoriegerüst gezwungen werden. Das bedeutet nicht, dass Rosendorfer nicht alle diese Aspekte heranziehen würde, wenn es ihm sinnvoll erscheint, aber die Zugriffe bleiben eklektizistisch und immer eng orientiert am jeweiligen Ereignis. Eine solche Grundhaltung gibt dem Autor auf der einen Seite eine große Freiheit der Gewichtung der diversen Aspekte, auf der anderen Seite bringt es die Gefahr mit sich, dass seine Erzählung ins Beliebige und Anekdotische abgleitet. Dies mag auch hier und da tatsächlich geschehen, bleibt aber mit Blick auf das Ganze unerheblich.

Resümierend muss man den Büchern sicherlich die Einmaligkeit des Projektes zugute halten. Jeder Leser, der nicht ganz unbeleckt in Geschichte und Kultur der Deutschen ist, wird in jedem Band schnell auf Punkte stoßen, an denen er nicht einverstanden ist mit Darstellung und Urteil des Autors, aber dem steht auf der anderen Seite die alles in allem gelungene Darstellung der deutschen Geschichte als interessanter und spannender Prozess gegenüber, dessen einzige wirkliche Konstante seine stetige und unberechenbare Veränderung ist. Rosendorfers »Deutsche Geschichte« macht Lust auf mehr Geschichte, auf die Lektüre der einen oder anderen Biografie oder auf eine tiefergehende Beschäftigung mit der einen Epoche oder dem anderen Aspekt. Als historisches Lesebuch scheint es mir konkurrenzlos gelungen zu sein. Es an der Anzahl seiner vermeintlichen Fehler oder Schwächen zu messen, erscheint kleinlich angesichts dessen, was hier gelungen ist.

Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte. Ein Versuch.

  • I – Von den Anfängen bis zum Wormser Konkordat. Nymphenburger, 1998. Pappband, 253 Seiten. 18,90 €. Auch dtv 12817. 9,– €.
  • II – Von der Stauferzeit bis zu König Wenzel dem Faulen. Nymphenburger, 2001. Pappband, 319 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13152. 9,50 €.
  • III – Vom Morgendämmern der Neuzeit bis zu den Bauernkriegen. Nymphenburger, 2002. Pappband, 351 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13282. 9,50 €.
  • IV – Der Dreißigjährige Krieg. Nymphenburger, 2004. Pappband, 191 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13484. 9,50 €.
  • V – Das Jahrhundert des Prinzen Eugen. Nymphenburger, 2006. Pappband, 312 Seiten. 22,90 €.

P.S.: Besprechung des abschließenden sechsten Bandes.

Walter Hinck: Roman-Chronik

Hinck_RomanchronikKurz gefasste Literaturgeschichten treffen offenbar ein Bedürfnis der Zeit. So hat jetzt auch der Germanist Walter Hinck – emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Köln – mit seiner »Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts« einen kurzgefassten Durchgang durch die deutschsprachige Romanliteratur des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Der Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« ist dabei zwar etwas vollmundig geraten, aber ansonsten ist Hincks kleine Literaturgeschichte so schlecht nicht.

Hinck bespricht insgesamt 37 Romane, die zwischen 1900 und 2000 erschienen sind. Jeder Autor ist nur mit einem Werk vertreten (die einzige Ausnahme bildet Herman Broch, dessen Trilogie »Die Schlafwandler« aufgenommen worden ist), und die Liste der Autoren entspricht dem, was man bei einem solchen Buch erwarten darf: Heinrich und Thomas Mann, Franz Kafka und Hermann Hesse, Heinrich Böll und Alfred Andersch, Thomas Bernhard und Arno Schmidt usw. usf. Auch die Auswahl der Romane ist großteils eher sehr konventionell, nur hier und da erlaubt sich Walter Hinck einen Ausreißer: Dass von Thomas Mann etwa der selbstverliebte und zeitferne Roman »Königliche Hoheit« statt des »Zauberbergs« gewählt wurde, begründet Hinck damit, dass er keine Lust gehabt habe »Hunderte von Auslegungen und Spekulationen wiederzukäuen«, ohne allerdings zu verraten, wer solches denn von ihm verlangt oder auch nur erwartet hätte. Auch dass er von Günter Grass statt des einzig im Sinne einer Chronik relevanten Romans »Die Blechtrommel« den weitgehend formlosen und in seinem Anspruch hybriden Spätling »Ein weites Feld« bespricht, bleibt unverständlich. Als einzige wirkliche Überaschung und spannende Ausnahme in der sonst konventionellen Zusammenstellung dürfte Norbert Gstreins »Die englischen Jahre« aus dem Jahr 1999 gelten.

Im Einzelnen findet der Kenner zahlreiche kleinere Fehler, die aber bei der Lektüre des Bandes gar nicht stören müssen. Hincks Roman-Chronik ist ein anregendes Lesebuch, das einen, wenn man den Empfehlungen folgt, mit einer breiten Palette von interessanten deutschsprachigen Roman-Autoren des 20. Jahrhunderts bekannt macht. Gerade den notorisch schlecht belesenen Studenten der Neueren deutschen Literatur kann man das Buch als Lektüreplan sorglos an die Hand geben, und auch der eine oder andere Leser wird aus dem Buch eine knappe Orientierung in der verzweigten Geschichte der Romanliteratur des vergangenen Jahrhundert finden können.

Der mitgelieferte Anspruch, die Roman-Chronik lassen »eine Geschichtschronik durchscheinen«, der sich auch in dem etwas protzigen Untertitel »Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur« niedergeschlagen hat, erweist sich letztendlich als gänzlich banal:

Besondere Aufmerksamkeit richtet sich also auf Romane, in denen der Gang der politischen und der Sozialgeschichte, der Kultur-, der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte seinen Fußabdruck in der Erzählung hinterlassen hat. [S. 9]

Das gilt in dieser Allgemeinheit offensichtlich für jeden Roman – wie weltabgewandt er sich auch immer geben mag, da sein Autor immer auch »ein Mensch mit Menschen« ist – und wird auch nicht weiter spezifiziert. Man kann diesen Aspekt daher getrost auf sich beruhen lassen.

Wer nicht zuviel von diesem Buch erwartet, sondern es als Anregung und kleinen Wegweiser benutzt, dem kann es wahrscheinlich gute Dienste leisten. Wer etwas mehr erwartet, ist sicherlich mit den Bänden 3–5 des Romanlexikons in der Reclamschen Universalbibliothek besser bedient.

Walter Hinck: Roman-Chronik. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. DuMont, 2006. Pappband, 282 Seiten. 24,90 €.

Hier geht’s um die Wurst

Heidelbach_Wurst Wiglaf Droste und Vincent Klink geben seit einiger Zeit zusammen das Magazin »Häuptling Eigener Herd« heraus, das inzwischen bei Heft 28 angekommen ist. Darin geht es ums Essen, Kultur und Unkultur, und das Schönste daran ist, dass die Herausgeber und Autoren sich selbst nicht so besonders ernst nehmen. Nikolaus Heidelbach ist einer der bemerkenswertesten Illustratoren in der deutsche Buchlandschaft. Sein Stil ist unverkennbar, seine Illustrationen sind anspielungsreich und hintergründig, hier und da auch unvergleichlich böse. Heidelbach hat u. a. zahlreiche Kinderbücher illustriert und dabei sehr oft in einmaliger Weise die Abgründigkeit der kindlichen Welt getroffen. Und diese drei haben nun zusammen ein Buch gemacht: »Wurst«.

Eigentlich sollte »Wurst« ein Heft des Magazin »Häuptling Eigener Herd« werden, aber Heidelbachs farbige Illustrationen verlangten nach einem anderen Publikationsort. Und so hat Wiglaf Droste den Kölner Verlag DuMont dazu überredet, ein Buch daraus zu machen. Das Buch bringt genau das, was der Titel verspricht: Es dreht sich alles um die Wurst.

Die Beiträge – deren Autoren jeweils mit einer Heidelbachschen Vignette bezeichnet sind – reichen von der autobiographisch gefärbten Erzählung über eine kosmologische Theorie der Fenchelsalami, Listen mit Wursttiteln in Film und Literatur sowie klassischen Wurstzitaten (dass Heine mit seinen »Göttinger Wurstzitaten« hier fehlt, schmerzt gerade im Heine-Jahr ein wenig), einer kleinen Wurstkunde bis hin zu Rezepten, bei denen dem Fleischfresser bereits beim Lesen der Zutatenliste das Wasser im Munde zusammenrinnt.

Dabei beweist sich insbesondre Vincent Klink einmal mehr als begnadeter Erzähler: Seine Geschichte »Allah schaut weg« über vier Köche aus Afrika, die in München die lokale Küche kennenlernen wollen, um später in der Heimat Touristen bekochen zu können, ist ein kleines Meisterstück lakonischer Erzählkunst.

Und der Band ist reichhaltigst illustriert: Nikolaus Heidelbach setzt die Themen Wurst und Erotik, Wurst und Religion und insbesondere Wurst und Tod auf immer neue Weise ins Bild: Eine Saitenwurst, in der sich der Tod versteckt, eine modebewusste Dame auf hochhackigen Schuhen, die sich als Gipfel der Eleganz eine Scheibe Blutwurst umgeschlagen hat, eine verführerische »Kleine Wurstgöttin« mit Senftöpchen, ein goyascher schlafender Koch, dessen Schlaf Flederwürste gebiert. Mein Lieblingsstück ist vielleicht das ganz stille Doppelblatt »Die Hl. Martha führt den Tod mit Blutwurst in Versuchung«.

Ein Lesebuch, ein Bilderbuch, ein Rezeptbuch, ein Verschenk- und Sichselbstbeschenkbuch – und das alles zum Preis eines bescheidenen Abendessens beim Italiener um die Ecke.

Wiglaf Droste / Nikolaus Heidelbach / Vincent Klink: Wurst. DuMont, 2006. Leinen, fadengeheftet, 160 Seiten. 24,90 €.

Katharina Hacker: Die Habenichtse

habenichtseNun waren die Preisrichter mit ihrem Urteil doch rascher fertig als ich mit meiner Lektüre. Katharina Hackers Roman »Die Habenichtse« ist mit dem Deutschen Buchpreis 2006 ausgezeichnet worden. Die Auswahl der Shortlist im Jahr 2005 war von erstaunlicher Qualität gewesen und das Buch, das den Preis schließlich erhielt, Arno Geigers »Es geht uns gut«, war eine durchweg positive Überraschung. Das ließ für dieses Jahr viel hoffen.

»Die Habenichtse« beginnt mit drei Erzählsträngen, die sich nach etwas mehr als einem Drittel des Buches miteinander vereinen:

1. Die Geschichte von Jakob und Isabelle beginnt in Berlin, wo sich die beiden nach vielen Jahren wieder begegnen. Sie kennen einander aus ihrer Studienzeit in Freiburg, haben damals eine einzige Nacht miteinander verbracht, die Jakob offenbar so einprägsam war, dass er – inzwischen Jurist in Berlin – für viele Jahre darauf wartet, ob ihm das Schicksal Isabelle noch einmal über den Weg führt. Isabelle arbeitet als Graphikerin in Berlin für eine kleine Werbeagentur. (Wer erstellt einmal eine Bibliografie all jener Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, in denen wenigstens eine der Hauptfiguren in der Werbung arbeitet?) Und sie begegnen einander auf einer Feier am Abend jenes unvergesslichen 11. September 2001. Jakob und Isabelle heiraten rasch, und Jakob geht im Auftrag seiner Berliner Firma nach London, in Vertretung eines Kollegen, der beim Anschlag auf das World Trade Center ums Leben gekommen ist – auch dies schicksalhaft, wie Jakob meint, denn eigentlich wäre er an jenem Tag im WTC gewesen, hätte er nicht, um Isabelle sehen zu können, seine Reise vorverlegt.

2. Jim ist ein Londoner Kleinkrimineller und Dealer, der mit Leidenschaft an Mae hängt, einer labilen und drogensüchtigen jungen Frau, die früh aus dem Roman verschwindet, nachdem Jim einmal mehr seine Gewalttätigkeit nicht unter Kontrolle hatte. Jim sucht nach Mae, versucht dem Einfluss seines Bosses zu entkommen und nistet sich in der Wohnung eines entfernten Bekannten ein, der sich für längere Zeit nicht in London aufhält. Jims Geschichte steckt voller Klischees, sowohl inhaltlicher als auch sprachlicher, und sein Milieu wird ungefähr so geschildert, wie sich ein deutscher »Tatort«-Zuschauer die Verbrecherwelt vorstellen mag. Jim bleibt als Figur mager und ohne rechten Hintergrund; wir verstehen nur, dass er ein Umhergetriebener ist, aber wir verstehen nicht, warum. Eine schlimme Kindheit wird angedeutet, das frühe Ausreißen von Zuhause, das diesen Mann »hart« gemacht hat etc. Aber das alles bleibt vage und eher entworfen als erzählt.

3. Sara ist ein kleinwüchsiges und vielleicht auch geistig zurückgebliebenes kleines Mädchen, das mit ihrem älteren Bruder Dave und ihren Eltern in derselben Straße Londons wohnt, in die auch Jakob und Isabelle einziehen werden und in der Jim seine Fluchtwohnung hat. Sara lebt in einem zerrütteten Elterhaus: Der Vater ist Alkoholiker, die Mutter gänzlich willenlos, der Bruder die einzige Person, die sich um Sara kümmert. Die Eltern halten Sara im Haus, lassen sie nicht in die Schule gehen, ob aus Scham, aus Bequemlichkeit oder aus Gedankenlosigkeit wird letztendlich nicht klar, weil Saras Eltern recht schemenhaft bleiben. Sara wird von ihrem Vater geschlagen, eine Stelle des Romans deutet auch einen sexuellen Missbrauch an, sie muss oft mehrere Tage hungern, wenn beide Eltern aus dem Haus sind und auch ihr Bruder den häuslichen Missständen zu entfliehen versucht.

Alle diese Personen und einige Neben- und Randfiguren werden in den beiden hinteren Dritteln des Buches miteinander in Beziehung gesetzt. Genauso aseptisch, wie das klingt, ist es auch. Der größte Mangel des Buches scheint mir zu sein, dass es sich bei allen Figuren um Gedankenkonstrukte, um Platzhalter in einer Installation der Autorin handelt: Keine der Figuren hat Geist, keine der Figuren hat Leben, selbst ihre inneren Widersprüche sind konstruiert und erzeugen keine Spannung. Jim steht für die Gewalt, Isabelle für die Sexualität, Jakob für Weltflucht und Konfliktscheu, Sara für das geschundene, unschuldige Opfer usw. usf. Katahrina Hacker schiebt diese Figuren auf dem Schachbrett ihres Romans 300 Seiten lang herum, ohne dass dabei irgendetwas Relevantes oder auch nur Überraschendes herauskommen würde. Und tatsächlich spielt sie mit all dem bloß: Nichts hat tatsächlich ernsthafte Konsequenzen in diesem Roman – zwei Katzen sterben, das ist aber schon das Ärgste, obwohl die Allgegenwart von Gewalt immer wieder behauptet wird – und von der Gnadenlosigkeit der Zerstörung eines Shakespeares, dessen »King Lear« Katharina Hacker kokett zitiert, hat der Roman auch nicht einen Schimmer. Alles bleibt papieren und – und das ist das Schlimmste überhaupt – langweilig. Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch über weite Strecken gänzlich humorfrei zu sein scheint.

Nur hier und da blitzt einmal auf, dass das auch ein spannendes Buch hätte werden können: Wenn Jakob sich etwa im Auftrag eines Klienten mit Wolf-Heinrich Graf von Helldorf beschäftigt, bekommt man plötzlich eine Seite lang einen Eindruck davon, was die Autorin alles hätte erzählen können. Hier und da sind Wirklichkeitsdetails genau recherchiert und punktgenau getroffen. Aber das geht rasch vorbei und wieder zieht Katharina Hacker seitenlang ihre Figuren übers Brett. Ich jedenfalls habe mich herzlich gelangweilt bei der Lektüre.

Katharina Hacker: Die Habenichtse. Frankfurt: Suhrkamp, 2006. Pappband, 309 Seiten. 17,80 €.

Wolf von Niebelschütz (1913–1960)

kammerherrWolf von Niebelschütz ist immer noch einer der Geheimtipps der deutschen Nachkriegsliteratur. Er hat zwei umfangreiche Romane geschrieben, die beide seit ihrem Erscheinen mehr oder weniger kontinuierliche lieferbar waren, also seit vielen Jahrzehnten sich langsam aber sicher eine immer noch wachsende Menge von Lesern erobern konnten. Solche Slowseller leben von der Mund-zu-Mund- Propaganda, von Lesern, die sich Buchempfehlungen wie Geschenke überreichen. Allerdings fehlt bis heute eine umfangreichere biographische Darstellung zu Wolf von Niebelschütz oder sonst eine umgangreichere akademische Belästigung des Autors. Also: Paradiesische Zustände für Leser! (2013 ist dann eine umfangreiche germanistische Biografie von Dominik Riedo erschienen).

Wolf von Niebelschütz wurde am 24. Januar 1913 in Berlin geboren. Er entstammt einer schlesisch-böhmischen Adelsfamilie und wuchs in Magdeburg auf, da sein Vater dort nach dem Ersten Weltkrieg eine journalistische Tätigkeit ausübte. Er war das dritte von sechs Kindern und verlebte offensichtlich eine weitgehend glückliche Kindheit in der Zeit zwischen den Kriegen. Er interessierte sich früh für Literatur und Musik, lernte zeichnen und war ein hervorragender Schüler.

1927 wechselte Wolf von Niebelschütz auf das Internat von Schulpforta – in dem auch Friedrich Nietzsche seine Schulbildung erhalten hatte –, wo er sich mit den gehobenen Ansprüchen einer Eliteschule konfrontiert sah, die ihm zuerst durchaus Schwierigkeiten bereiteten. Dennoch bestand er dort 1932 das Abitur und begann ein Studium der Geschichte und Kunstgeschichte (auch sein Vater war Kunsthistoriker) in Wien.

Spätestens seit der Zeit in Schulpforta schrieb Wolf von Niebelschütz Gedichte. Die frühesten hat er später selbst verbrannt, aber während der Studienzeit entstanden die ersten Gedichte, die für gut befunden und auch 1939 in der »Neuen Rundschau« gedruckt wurden. Im Januar 1940 wurde Wolf von Niebelschütz dann zur Wehrmacht eingezogen.

Niebelschütz diente als Feldwebel im besetzten Frankreich und das Schreiben wird zum Fluchtpunkt seiner Existenz. Während er tagsüber Dienst schiebt, verbringt er seine Nächte mit dem Schreiben: Ab 1942 entsteht auf einem Wehrmachtsschreibtisch der Großteil seines ersten umfangreichen Romans: Der Blaue Kammerherr. Galanter Roman in vier Bänden. Der Roman umfasst etwa 1.000 Seiten und spielt im Jahr 1732 in dem erfundenen Inselreich Myrrha im Mittelmeer. Die Handlung ist umfangreich und märchenhaft, umfasst wahre Liebe und edle Abenteuer, Staatshändel und Revolution und ist getragen von einer ganz seltenen Mischung aus Vergangenheitssehnsucht und utopischer Hoffnung:

»Kinder, genießt das XVIIIte Jahrhundert, das XIXte wird fürchterlich. Aber das XXste!« – und sie gruppierte ihre Hand auf der Brust – »gnade Gott Eurer armen progéniture! Wer da wagen wollte, Phantasie zu haben, oder Rang, oder Brillanten, oder ein Pantherfell!«

Das Buch erfuhr sowohl schwärmerische Anerkennung als auch krasseste Ablehnung! 1952 verlieh die Stadt Düsseldorf ihren renommierten Immermann-Preis an Wolf von Niebelschütz, aber das war auch schon beinahe der einzige Höhepunkt seiner öffentlichen Anerkennung. 1950 hatte er einen unerwarteten und einzelnen Erfolg mit seiner Komödie »Eulenspiegel in Mölln« bei den »Festspielen des Nordens« gehabt, aber diesem lokalen Publikumserfolg folgten keine weiteren Aufführungen. Und so lebte Wolf von Niebelschütz beinahe ausschließlich von Auftragsarbeiten: 1954 erschien seine Biographie über Robert Gerling – mit dem beinahe schon komischen Untertitel »Ein dramatisches Kapitel deutscher Versicherungsgeschichte« – und von da an erhielt er regelmäßig Aufträge für Festschriften der deutschen Industrie. Immerhin konnte er sich auf diese Weise bescheidene Reisen nach Italien, Korfu und in die Provence finanzieren, wo er zeichnete und Notizen für seinen zweiten und letzten Roman machte.

finsternisDie Kinder der Finsternis spielt im 12. Jahrhundert in der fiktiven Grenzmark Kelgurien, die Niebelschütz zwischen die Provence und das maurische Nordspanien hineinerfindet. Held des Buches ist Barral, ein Bastardsohn des Barons Peregrin von Ghissi, der zu Anfang des Romans als Schäfer lebt und zur Herrschaft über Kelgurien hochgeschwemmt wird. Und Barral erweist sich als kompetenter und guter Herrscher: Er versucht mit allen Mitteln sein Land aus den Umwälzungen der Zeiten herauszuhalten, Kriege zu vermeiden und seine Untertanen zu schützen. Er ist aber auch ein tragischer Held: Alles, was er für andere anfängt, gelingt ihm, alles, was er für sich selbst wünscht, missrät. Das Buch erzählt aber nicht nur die Geschichte des Protagonisten, sondern es enthält auch eine der beeindruckendsten Darstellungen der mittelalterlich-maurischen Kutur in Spanien: Man wird wohl sonst kaum noch ein so einprägsames und zugleich kenntnisreich gezeichnetes Bild von der technischen, medizinischen, kulturellen und ethischen Überlegenheit der islamischen Kultur des Mittelalters finden. Die Kinder der Finsternis ist eines der Musterstücke für das in Deutschland eher vernachlässigte Genre des Historischen Romans. Die eine oder der andere wird sich auf den ersten Seiten an den etwas gehobenen Sprachduktus gewöhnen müssen, aber man wird bald merken, dass es die kleine Mühe lohnt.

Warf ein Baum nicht genügend Frucht, so gingen zwei Männer zu ihm und stritten sich, während er zuhörte, ob man ihn ausroden solle, er trage ja nicht; schon schlug der Eine die Axt stumpf gegen den Stamm, danach mit der Schneide, diesen Schlag fing der Andere ab und bat für den Baum, er werde sich ganz gewiß Mühe geben, wenn man ihm nur ein halbes Jahr Zeit lasse. Erfolg: der Baum bekam Angst, strengte sich an und warf das Dreifache.

Wolf von Niebelschütz starb nur wenige Monate nach dem Erscheinen seines zweiten Romans am 22. Juli 1960 an den Folgen einer Gehirntumor-Operation. Er ist nur 47 Jahre alt geworden und hat zwei bemerkenswerte Bücher der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur hinterlassen. Er passt in keine der großen Tendenzen der Zeit, sondern ragt wie ein Fragment der vorletzten Jahrhundertwende in unsere Welt hinein.

Christoph Martin Wieland (1733–1813)

wielandEr war der erste ernsthafte deutsche Übersetzer Shakespeares, Gründungsvater des Weimarischen Musenhofs, väterlicher Freund Goethes und Heinrich von Kleists, Romanautor von Rang, Griechen- und Römerfreund und bedeutender Übersetzer antiker Autoren, Herausgeber einer der wichtigsten deutschen literarischen und politischen Zeitschriften, des »Teutschen Merkur« – alles in allem eine der herausragenden Gestalten der Literatur seiner Zeit und doch heute nur noch wenig gelesen. Sehr zu Unrecht, wie ich meine.

»In Deutschland«, schreibt Arno Schmidt, »haben wir ja ein ganz einfaches Mittel, einen intelligenten Menschen zu erkennen. […] Wenn er Wieland liebt.« Und auch die Antwort, die Schmidt auf diesen provokanten Satz folgen lässt, dürfte heute noch ebenso zutreffen: »er sagte würdig: ›Ich kenne ihn nicht‹.«

Dabei ist das sehr schade und gar keine Frage von Bildung oder Intelligenz, sondern einfach eine des Lesevergnügens. Wielands Romane und Verserzählungen sind von einem ausgesuchten Humor, sind gedankenreich und wortgewaltig. Manche Literaturgeschichte versucht Wieland als Spätling des Rokoko abzutun, aber damit wird man seiner literarischen Beweglichkeit und seinem aufklärerischen Geist keineswegs gerecht.

Wer war Christoph Martin Wieland?

Er wird 1733 als Sohn eines Pfarrers in der Nähe von Biberach geboren und erhält eine gute Schulbildung. Zum ersten Studium geht er nach Erfurt, wo er sich für die Philosophie einschreibt, die ihn zeitlebens begleiten und beschäftigen wird. Später studiert er noch zwei Jahre Jura in Tübingen und lebt dann für einige Jahre in Zürich, wo er unter anderem als Hauslehrer arbeitet. In diese Zeit fällt auch seine Liebe zu seiner Cousine Sophie Gutermann, mit der er sich zwar verlobt, die diese Verlobung aber löst, um Georg Michael Frank von La Roche zu heiraten. Unter ihrem Ehenamen Sophie von La Roche wird sie eine der führenden Autorinnen in Deutschland werden.

Wieland kehrt 1760 nach Biberach zurück und beginnt ernsthaft an seiner Karriere als Autor zu arbeiten. Es entstehen in rascher Folge die Übersetzungen von 22 Stücken William Shakespeares, die die erste Grundlage für die näherer Bekanntschaft der deutschen Leser mit diesem »dritten deutschen Klassiker« bilden. 1764 erscheint sein erster großer Roman: »Die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva«, ein Märchen im Geiste des »Don Quixote«. Und nur zwei Jahre später folgt »Die Geschichte des Agathon«, eine moralische Erzählung in griechisch-antikem Gewand; nach diesem Muster wird Wieland noch zahlreiche Erfolge schreiben. 1769 übersiedelt Wieland zurück nach Erfurt und tritt dort eine Stelle als Philosophie-Professor an. Im September 1772 verpflichtet ihn die Weimarer Herzogin Anna Amalie als Erzieher ihres bereits 15-jährigen Sohnes Carl August. Wieland nimmt dieses finanziell verlockende Angebot an, das ihm für den Rest seines Lebens eine Grundversorgung durch den Weimarer Hof garantiert.

Leben in Weimar und Oßmannstedt

Wieland ist es, der die Bekanntschaft Carl Augusts mit Goethe anregt und vermittelt, die schließlich ab 1775 zur Entstehung des Weimarischen Musenhofs führt. Wieland arbeitet auch nach seiner Entlassung als Prinzenerzieher unermüdlich weiter: Es folgen seine Übersetzungen des Horaz und des Lukian, für den »Teutschen Merkur« entstehen zahllose Aufsätze zu aktuellen politischen und philosophischen Themen und er schreibt weitere Romane und Versepen: Der satirische Roman »Die Abderiten« (bis heute eine hoch vergnügliche Lektüre!), die Verserzählung »Oberon«, der an Lukian angelehnte Dialogroman »Peregrinus Proteus«, »Agathodämon«, und nicht zuletzt der sehr wichtige Roman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«, der so etwas wie das philosophische Vermächtnis Wielands enthält.

Unterdessen hat Wieland 1803 ein Landgut in der Nähe Weimars, in Oßmannstedt, erworben und hofft, damit die Einkommenslage seiner Familie verbessern zu können, was sich aber auf lange Sicht als Illusion erweist. In Oßmannstedt besuchen ihn Heinrich von Kleist, der zu der Zeit mit seiner Tragödie »Robert Guiskard« ringt, und die unglückliche Sophie Brentano, die Enkelin seiner Jugendliebe Sophie von La Roche und Schwester Clemens Brentanos, die im September 1803 in Oßmanstedt stirbt und auch dort auf dem Gute Wielands beigesetzt wird. Die Grabstätte liegt in einem Ilmbogen und nimmt später auch Wielands Ehefrau und schließlich ihn selbst auf. Die Grabstätte blieb bis heute unversehrt und ist eines der schönsten Dichtergräber der Deutschen Klassiker.

1803 verkauft Wieland das Gut in Oßmannstedt und zieht für die letzten zehn Lebensjahre nach Weimar zurück. 1808 kommt er noch in den »Genuss«, in Erfurt dem französischen Kaiser Napoleon beim Frühstücken zuschauen zu dürfen, ansonsten verbringt er seine späten Lebensjahre mit der Übersetzung der Briefe Ciceros. Am 20. Januar 1813 stirbt Wieland in Weimar und wird in Oßmanstedt beigesetzt.

Wieland wiederentdecken!

Schon zu seinen Lebzeiten galten Wielands Romane als ein wenig unmodern und überholt. Heute haben wir Leser die Chance, unbeeinflusst von solchen Vorurteilen einen witzigen und intelligenten Autor für uns wiederzuentdecken, von dem es viel, viel zu Lesen gibt. In den 80er Jahren gab es eine kleine Wieland-Renaissance, als Franz Greno in seinem Verlag die »Sämmtlichen Werke« Wielands in der Fassung letzter Hand in einer preiswerten Reprint-Ausgabe wieder auf den Markt brachte. Die Ausgabe dürfte heute noch zahlreich in den Antiquariaten zu finden sein. Viel Lesestoff für Neugierige und Literaturbeflissene.

»Nachtwachen« von Bonaventura

nachtwachen

Im Jahr 1804 erscheint unter dem Titel »Nachtwachen« ein kleines Büchlein, das kaum die Bezeichnung Roman verdient, und dessen Verfasser sich hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Es hat bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gedauert, bis man den Autor des Bändchens endlich identifiziert hatte: Ernst August Friedrich Klingemann, ein Theaterintendant und Bühnenautor, dessen sonstige Werke heute beinahe vollständig vergessen sind, hatte mit den »Nachtwachen« sein Meisterstück geliefert.

Erzählt werden die 16 Nachtwachen des Büchleins vom Nachtwächter Kreuzgang, einem Außenseiter, den die bürgerliche Gesellschaft für ebenso verrückt hält wie er sie. Seinen Namen hat er von dem Ort erhalten, an dem er als Waise gefunden worden ist. Bereits durch seine Herkunft von der guten Gesellschaft isoliert, lebt er nun sein Leben im Dunkel der Nacht und läßt die schlafenden Bürger wissen, was die Stunde geschlagen hat. Von den Spießbürgern seiner Stadt wird er wohl als ein Verrückter angesehen, dem man aus Mitleid und weil er sonst zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen war, den Posten des Nachtwächters überlassen hat. So verschläft er denn den Großteil des Tages, und man hat braucht sich mit ihm nicht weiter herumzuärgern.

Die Geschichten, Gedanken, Betrachtungen, mit denen Kreuzgang seine Nächte füllt, sind weder kontinuierlich noch konsequent. Vieles bleibt abgerissen und hingeworfen, Fragment im Fragment eines Fragments. Als Nachtwächter schaut er von draußen in die erleuchteten Fenster hinein, sieht Ausrisse vom Leben und Sterben seiner Mitbürger, geht in Blitz und Donner durch die Nacht, spaziert über Friedhöfe und durch dunkle Kirchen, spricht mit Gott, dem Teufel und sich selbst. Und bei diesen Selbstgesprächen kommen viele und vieles nicht gut weg:

Sagt mir, mit was für einer Mine wollt ihr bei unserm Herrgott erscheinen, ihr meine Brüder, Fürsten, Zinswucherer, Krieger, Mörder, Kapitalisten, Diebe, Staatsbeamten, Juristen, Theologen, Philosophen, Narren und welches Amtes und Gewerbes ihr sein mögt; denn es darf heute keiner in dieser allgemeinen Nationalversammlung ausbleiben, ob ich gleich merke, daß mehrere von euch sich gern auf die Beine machen möchten um Reisaus zu nehmen.

Gebt der Wahrheit die Ehre, was habt ihr vollbracht, das der Mühe werth wäre? Ihr Philosophen z. B. habt ihr bis jezt etwas Wichtigers gesagt, als daß ihr nichts zu sagen wüßtet? – das eigentliche und am meisten einleuchtende Resultat aller bisherigen Philosophien! – Ihr Gelehrten, was hat eure Gelehrsamkeit anders bezwekt als eine Zersezung und Verflüchtigung des menschlichen Geistes um zulezt mit Muße und einfältiger Wichtigkeit an das übriggebliebene caput mortuum euch zu halten. – Ihr Theologen, die ihr so gern zur göttlichen Hofhaltung gezählt werden möchtet, und indem ihr mit dem Allerhöchsten liebäugelt und fuchsschwänzt, hier unten eine leidliche Mördergrube veranstaltet und die Menschen statt sie zu vereinigen in Sekten auseinander schleudert und den schönen allgemeinen Brüder- und Familienstand als boshafte Hausfreunde auf immer zerrissen habt. – Ihr Juristen, ihr Halbmenschen, die ihr eigentlich mit den Theologen nur eine Person ausmachen solltet, statt dessen euch aber in einer verwünschten Stunde von ihnen trenntet um Leiber hinzurichten, wie jene Geister. Ach nur auf dem Rabensteine reicht ihr Brüderseelen vor dem armen Sünder auf dem Gerichtsstuhle euch nur noch die Hände und der geistliche und weltliche Henker erscheinen würdig neben einander! –

Was soll ich gar von euch sagen, ihr Staatsmänner, die ihr das Menschengeschlecht auf mechanische Prinzipien reduzirtet. Könnt ihr mit euern Maximen vor einer himmlischen Revision bestehen, und wie wollt ihr, da wir jezt in einen Geisterstaat überzugehen im Begriffe sind, jene ausgeplünderten Menschengestalten placiren, von denen ihr gleichsam nur den abgestreiften Balg, indem ihr den Geist in ihnen ertödtetet, zu benuzen wußtet. – O, und was drängt sich mir nicht noch alles auf über die einzeln stehenden Riesen, die Fürsten und Herrscher, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben. –

Die »Nachwachen« sind ein dunkles und wildes Buch, dessen abgerissene und befremdliche Gedanken auch heute noch den einen und anderen Blick auf die Nachtseite des Menschen in seiner bürgerlichen Verfassung erlauben. Es ist eines der seltenen Bücher, die in einer Epoche ganz für sich stehen und denen es deshalb gelingt, weit über ihre Zeit hinaus zu wirken.

Nachtwachen von Bonaventura. Im Anhang: Des Teufels Taschenbuch. Mit einem Nachwort v. Peter Küppers. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. Pappband, Fadenheftung, 223 Seiten. 22,90 €.

Bernhard Schlink: Die Heimkehr

Schlink_HeimkehrBernhard Schlink war mit »Der Vorleser« das kleine Wunder eines Weltbestsellers gelungen. Nachdem er 2001 seine Trilogie um den Detektiv Gerhard Selb abgeschlossen hatte, legt er nun seinen neuen Roman vor: »Die Heimkehr« ist ein vielschichtiger und komplexer Roman über die Suche eines Sohns nach seinem Vater.

Erzählt wird das Buch vom Ich-Erzähler Peter Debauer, der zu Anfang von seinen glücklichen und harmonischen Ferientagen bei seinen Großeltern väterlicherseits erzählt. Sein Vater, so glaubt Peter Debauer, ist im Zweiten Weltkrieg noch vor der Geburt seines Sohnes gestorben. Peter Debauer lebt mit seiner Mutter in Deutschland und besucht in den Sommerferien stets seine Großeltern in der Schweiz. Weil seine Großeltern für einen Verlag arbeiten, bekommt Peter mehr zufällig Druckfahnen eines Romans an die Hand, der von der Flucht einer Gruppe von deutschen Soldaten von Sibirien nach Deutschland erzählt. Der Roman fasziniert ihn, aber die Fahnen, deren Rückseiten Peter als Schmierpapier benutzt, enthalten schon nicht mehr das Ende des Romans. Viele Jahre nach der ersten Lektüre dieses Romans macht sich Peter Debauer auf die Suche nach dem Autor und gerät dabei zugleich immer mehr auch in eine Suche nach seinem Vater hinein, der in Wahrheit eine ganz andere Geschichte hat, als Peter sie von seiner Mutter erzählt bekommen hat. Ich will nicht zuviel von den zahlreichen Verwicklungen und Überraschungen der Romans verraten.

Das Buch ist in dem schon aus seinen früheren Texten bekannten ruhigen und gelassenen Stil Schlinks verfasst. Schriftstellerische Aufgeregtheit ist Schlink wesentlich fremd. Seine Geschichte ist auch diesmal sorgfältig durchkonstruiert und literarisch reichhaltig unterfüttert. Mir persönlich hilft zwar dem Protagonisten ein wenig zu oft ein glücklicher Zufall auf den richtigen Weg, aber so etwas ist oft nur eine Frage des Geschmacks und mag andere Leser gar nicht weiter stören.

Allerdings erschöpft sich das Buch nicht im Erzählen der durchaus verwickelten Handlung, sondern auf einer zweiten Ebene verhandelt Schlink einmal mehr seine Lieblingsthemen: Die Nachwirkungen und die Nachgeschichte des Nationalsozialismus und die Frage nach der Gerechtigkeit. Dabei geht es besonders zum Ende des vierten und im fünften Teil durchaus anspruchsvoll zur Sache, wobei allerdings gefragt werden kann, ob es nicht mehr beim Anspruch bleibt als dass es zur Erfüllung dieses Anspruchs kommt. Da spielt zum Beispiel die Philosophie des Dekonstruktivismus eine nicht unbedeutende Rolle. Nun ist dem Autor durchaus klar, dass ein Großteil seiner potentiellen Leser mit dem Wort wenig werden anfangen können und will ihnen deshalb ein wenig Hilfestellung leisten:

Dekonstruktivismus bedeutet Ablösung des Texts von dem, was der Autor mit ihm gemeint hat, und Auflösung in das, was der Leser aus ihm macht; er geht sogar weiter und kennt keine Wirklichkeit, sondern nur die Texte, die wir über sie schreiben und lesen.

Das ist nicht falsch, aber es besagt so zusammenhanglos, wie es auch im Buch stehen bleibt, wenig und ist am Ende nur eine philosophische Klippschuldefinition. Dabei ist – wie gesagt – das Thema Dekonstruktivismus nicht nur eine intellektuelle Verzierung des Romans, sondern gehört zum gedanklichen Kernbestand dessen, worum es Peter Debauer und seinem Autor geht: Um die Frage nämlich, ob und in welcher Form das Böse, das im Nationalsozialismus in fürchterlichster Form in Erscheinung tritt, heute noch immer wirksam ist und in einem »modernen intellektuellen Faschismus« fortsetzt wird. Und ob und wie sich die Generation der Söhne von den Theorien der Väter absetzen kann, ohne dass es ihnen gelingt, die Kernfrage nach dem Verhältnis von Gut und Böse auch nur annähernd zu beantworten.

Gerade in seinem denkerischen Kern bleibt das Buch halbherzig: Auf der einen Seite will es ein ernstes und anspruchsvolles Thema transportieren, auf der anderen Seite traut es sich nicht, seinen Lesern den dazu notwendigen Aufwand an gedanklicher Differenzierung und Theorie tatsächlich zuzumuten. Es will sein Thema einerseits nicht auf Kosten der Wahrhaftigkeit popularisieren, andererseits die Romanhandlung nicht durch langatmige theoretische Exkurse überfrachten. Und so fürchte ich, dass am Ende viele Leser Schlinks unbefriedigt bleiben: Diejenigen, denen diese Ebene letztlich unzugänglich bleibt, stehen ein wenig ratlos vor den letzten 110 Seiten, und diejenigen, die an der Auseinandersetzung teilnehmen könnten und wollten, sind enttäuscht, weil das Buch nirgends wirklich ein Niveau erreicht, auf dem es über intellektuelle Banalitäten hinausgelangen würde. Und so ist das Buch – je nach Perspektive – entweder 150 Seiten zu lang oder 700 Seiten zu kurz geraten.

Bernhard Schlink: Die Heimkehr. Diogenes Verlag, 2006. Leinen; 375 Seiten. 19,90 €.

Ralf Schmerberg: Poem

Schmerberg_PoemSchon etwas älter, aber erst heute bei mir angekommen: »Poem«, ein anderthalbstündiger Episodenfilm von Ralf Schmerberg. Das »Making of« begeht gleich zu Anfang die Dummheit zu behaupten, es handele sich um »eine filmische Interpretation deutscher Gedichte verschiedener Poeten«, was der Film – wahrscheinlich zu seinem Glück – nicht ist. Es handelt sich im Gegenteil zum Großteil um eine Bebilderung von 19 Gedichten, die miteinander nicht viel mehr zu tun haben, als dass sie in diesem Film vorkommen. Dazu spielt in den meisten Fällen eine mehr oder minder passende Musik. Bei Schillers »Ode an die Freude« hat man auf Schillers Text verzichtet und dafür den Schlusschor aus Beethovens Neunter Symphonie eingesetzt.

Insgesamt ist kein geschlossenes Konzept des Filmes zu erkennen. Alles funktioniert nach dem Prinzip des Einfalls: Man suche zwei Handvoll Gedichte zusammen, die einem gefallen, und gehe dann nach der Methode »da könnte man doch dies und das machen« vor. Wichtig sind einige exotische Schauplätze, damit das Team in der Welt herumfahren kann, ein bißchen Musik dazu und denn passt des scho’!

brandauer.jpgDass dabei trotzdem einige gelungene Stücke herausgekommen sind, mag überraschen: Mascha Kalékos »Sozusagen grundlos vergnügt« wird im Berliner Hebbel-Theater in einer kleinen Bühneninszenierung umgesetzt und von einer grandiosen Meret Becker vorgeführt. Oder David Bennett, der mit gezogenen Schwert und in glänzender Rüstung im Morgengrauen die Leipziger Straße in Berlin entlanggeht und dabei ohne einen einzigen Schnitt, in einem Zug sozusagen, Georg Trakls »Das Morgenlied« ausschöpft. Auch die Inszenierung des Gesichts Klaus Maria Brandauers als Flächen von Licht und Schatten, während er Heinrich Heines »Der Schiffsbrüchige« spricht, überzeugt, eben weil sie auf jede Ablenkung verzichtet.

Dagegen wird Ernst Jandls »glauben und gestehen« so durch Pausen zerlegt, dass keinerlei Sinn zwischen den Wörtern übrigbleibt, und Johann Wolfgang von Goethes »Gesang der Geister über den Wassern« wird von einer stimmlich und textlich vollständig überforderten Luise Rainer so rücksichtslos gegen einen isländischen Wasserfall anrezitiert, dass nicht viel mehr als eine Karikatur der Inszenierungsidee entsteht.

Die zweite DVD mit dem »Making of« bringt einige zusätzliche Informationen, die das Gesamtprojekt verständlicher machen. Man wird dadurch etwas versöhnlicher gestimmt.

»Poem« hat eine eigene Webseite. Zu beziehen ist der Film über Lingua-Video.com.

Schon wieder »Lichtjahre« entfernt?

Lichtjahre Im April ist mit einigem Getöse und einem kleinen Literaturskandal Volker Weidermanns »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute« erschienen. Nachdem Elke Heidenreich sich des Buchs angenommen hatte, stand es für fünf Wochen auf der Sachbücher-Bestsellerliste des SPIEGEL. Seitdem hört man nicht mehr viel von ihm. Also eine gute Gelegenheit, es endlich einmal zu lesen.

Die wichtigste und erste Frage, wenn man einem solchen Buch gerecht werden will, ist, für wen es denn eigentlich geschrieben sei: Es kommt dafür wohl nur der im Irr-Garten der Literatur herumtaumelnden Bücherfreund in Frage.

Und der mag auch tatsächlich angetan sein von der Sache: Weidermanns Stil ist flott und lebt von Hauptsätzen. Sein Urteil ist beinahe immer deutlich und pointiert – „meinungsstark“ nennt das ein guter Freund von mir. Es fallen viele, viele Namen, bekannte und auch nicht so bekannte. Und wenn man durch ist, kann man glauben, nun finde man sich ein bisschen besser zurecht, habe ein wenig mehr Durchblick, vielleicht sogar hier und dort Übersicht gewonnen, und läge mit dieser Einschätzung vielleicht nicht einmal so falsch. Also: Ein gutes Buch!

Ein gutes Buch? Ich bin mir nicht sicher. Ich liste einfach mal auf, was mir so aufgefallen ist:

Arno Schmidt – da kenne ich mich aus: Keines der Lebensdetails stimmt; weder hat Schmidt in englischer Kriegsgefangenschaft über Feen und Elementargeister geschrieben, noch hat seine Frau in Bargfeld in den ersten Jahren unter dem Dach gewohnt. Erst als Schmidt wegen seines Herzens die Treppe nicht mehr steigen sollte, ist sie nach oben, er nach unten gezogen. Kleinlich? Na gut!

Heimito von Doderer – wir erfahren ein paar Titel, einige Inhaltsangaben, die nicht unbedingt von einer eigenständigen Lektüre zeugen, und dann den einen weltberühmten, ganz arg lustigen und furchtbar dummen Ausspruch Hans Weigels über Doderer. Zum Ausgleich schreibt Weidermann 4½ Seiten über Max Frisch, der nun wirklich beinahe jedem Leser ganz früh in die Finger fällt, und beinahe 5 über Friedrich Dürrenmatt; aber dabei sehr treffsicher im Urteil.

Schauen wir mal weiter: Robert Walser ist drin und wird sehr gelobt – das ist gut! Dafür fehlen Paul Wühr und Peter Bichsel gänzlich – das ist schlecht! Über Thomas Bernhard gibt es mehr als 10 Seiten – das ist sehr gut! Über Peter Handke beinahe 8 – das ist schlecht! Jens, Kunze und Kunert fehlen – das ist gut! Aber auch Libuše Moníková, Raoul Schrott und Marcus Braun fehlen – das ist ganz schlecht! Dafür ist der Schulbuch-Autor Plenzdorf drin – na ja, muss wohl, ist aber trotzdem schlecht!

So könnte ich noch seitenlang weitermachen! Sicherlich ist das subjektiv, aber Weidermann läuft mir zu selten ein Risiko, bleibt zu oft auf den Hauptwegen der Literatur hängen, nimmt zu selten die Seitenwege und Sackgassen mit, die oft viel spannender, intimer und schöner sind. Guten Gewissens mag ich diesen Wegweiser durch den Irr-Garten der Literatur daher am Ende doch nicht empfehlen.

Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Kiepenheuer & Witsch, 2006. 19,90 €.