Armin Eich: Die römische Kaiserzeit

Auch Becks „Geschichte der Antike“ folgt der klassischen Dreiteilung der Geschichte des römischen Imperiums in die Epoche der Republik, die Kaiserzeit und die Spätantike. Während sich die Grenze zwischen Republik und Kaiserreich mehr oder weniger von selbst versteht, kann von einem Ende der römischen Kaiserzeit nur in einem metaphorischen Sinn die Rede sein, da in der Zeit der Spätantike mehr Kaiser das römische Reich beherrscht haben als je zuvor.

Armin Eichs „Die römische Kaiserzeit“ schließt daher nahezu nahtlos an den Vorgängerband an und endet mit der Regierungszeit Kaiser Carus (282–283), also vor der Reform der Institution des Kaisertums unter Diocletian (284–305), umfasst also eine Spanne von etwa 310 Jahren. Eichs Darstellung besticht in allen Stufen der Entwicklung des Reiches in dieser Zeit durch Klarheit und Strukturiertheit, wobei die Kapitel der chronologischen Abfolge der Ereignisse durch solche der systematischen Analyse der politischen und soziologischen Verhältnisse ergänzt werden. Auch inhaltlich erscheint Eichs Geschichte der Kaiserzeit tadellos, wenn auch wahrscheinlich Kleopatra etwas gegen die Behauptung einzuwenden gehabt hätte, Gaius Iulius Caesar habe keine „direkten männlichen Nachkommen“ gehabt.

Erstaunlich und letztlich nur ansatzweise zu erklären bleibt aber immer die Stabilität des römischen Imperiums trotz massiver innen- und außerpolitischer Verwerfungen. Besonders im dritten Jahrhundert bewähert sich das Reich als Reich auch gegen massive Angriffe durch Germannengruppen im Westen und das Sasanidenreich im Osten und der schnellen Abfolge von Kaisern, die oft nach nur kurzer Regierungszeit ermordert und ersetzt werden. Auch wenn man aus heutiger Sicht die Krise bzw. Krisen des 3. Jahrhunderts als Anfang vom Ende der römischen Herrschaft über den Mittelmerraum und Westeuropa deuten kann, so ist dies für die Zeitgenossen alles andere als klar. Im Gegenteil beginnt der oben schon erwähnte Kaiser Carus, nachdem sich die Lage im Westen wieder einigermaßen beruhigt hat, umgehend einen neuen Krieg im Osten, offenbar in der Überzeugung, dass sich auch dort die Verhältnisse der Blütezeit römischer Herrschaft wieder würden etablieren lassen. Wie sehr er damit das Kräfteverhältnis zwischen Rom und seinen Nachbarn untzerschätzt haben sollte, werden aber erst die kommenden Jahrhunderte erweisen.

Armin Eich: Die römische Kaiserzeit. Die Legionen und das Imperium. C. H. Beck Paperback 6155. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Wolfgang Blösel: Die römische Republik

Es bleibt immer interessant genug, wie sich da im wilden Westen, in Rom wieder einmal so ein Wolfsstaat (wie damals Sparta) brutal groß frißt.

Arno Schmidt

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Der Titel des chronologisch vierten Bandes von Becks „Geschichte der Antike“ bezeichnet ebenfalls den Inhalt bloß pars pro toto, da der Band mit der Frühzeit Roms und der mythischen Königszeit beginnt. Er überschneidet sich natürlich zum Teil mit dem Band zum Hellenismus, was aber aufgrund der auf Rom zentrierten Perspektive nicht weiter stört. Dargestellt wird die Geschichte des römischen Stadtstaates und des aus ihm erwachsenden Reichs von 9. Jahrhundert v.u.Z. bis zur Begründung des monarchischen Prinzipats durch Octavian Anfang 27 v.u.Z.

Dabei setzt Blösel den eigentlichen Untergang der Republik auf das Jahr 43 an, als das 2. sogenannte Triumvirat 300 Senatoren und 2.000 Ritter umbringen lässt, um die eigenen Machtbasis zu stabilisieren. Die verbleibende Oberschicht Roms stellt politisch keine Gefahr für die Triumvirn mehr dar, die wohl alle drei das Bündnis eingegangen sind, um auf diesem Weg letztlich zur Alleinherrschaft nach caesarischem Vorbild gelangen zu können.

Die erste Hälfte des Buches gerät etwas zäh, was sich nicht nur aus der vergleichsweise dünnen Quellenlage ergibt, sondern auch daraus, dass der Autor nicht unbedingt zu den begnadetsten Schriftstellern gehört – „Seine Kontrastierung findet ihre Bestätigung in den Befürchtungen“ lässt sich auf Deutsch auch ein wenig eleganter ausdrücken. Spannender wird es erst mit der Zeit der Gracchen, in der dann auch substanziell über politische Motivationen der Protagonisten spekulieren werden kann. Die Darstellung der Karriere Cäsars, des 1. Triumvirats und seiner Folgen ist untadelig, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn Blösels Urteil über Cäsar vielleicht ein wenig negativer ausfällt, als es sein müsste.

Für alle, die sich für die Entstehung des römischen Reichs interessieren, eine knappe und durchweg empfehlenswerte Lektüre, die an den historischen Laien aber – wie auch die Bände zuvor – einige Ansprüche stellt. So werden zum Beispiel die Genese, die Aufgaben- und Machtbereiche der römischen Magistrate (Quästoren, Ädilen, Prätoren und Konsulen) eher beiläufig abgehandelt, so dass sich ein unvorbereiteter Leser über diese Strukturen des römischen Staates wird anderswo systematisch kundig machen wollen.

Was mich bei diesem erneuten Durchgang durch die römische Geschichte vor der Zeitwende mehr als je zuvor erstaunt hat, ist, dass sich das politische System Roms trotz aller Willkür und allen Gewalttaten seiner Mitspieler solange als einigermaßen stabil und – im Sinne der Akteure – funktional erhalten hat. Natürlich erklärt sich das aus einem zufälligen Zusammenspiel von individuellen Eigenschaften der Akteure und unvorhersehbaren Umständen, aber die Idee, dass eine Staatsform ihre Stabilität aus dem Gegeneinander intrinsischer Motivationen Einzelner und der gesellschaftlichen Gruppierungen beziehen kann, solange sich die Gegenspieler wenigstens im Großen und Ganzen an einen bestimmten Satz politischer Regeln halten, ist faszinierend. Das bedeutet nicht, dass das System nicht doch am Ende in ein anderes umschlagen wird, aber was die römische Republik alles aushalten konnte, ohne zu kollabieren, ist und bleibt erstaunlich.

Wolfgang Blösel: Die römische Republik. Forum und Expansion. C. H. Beck Paperback 6154. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Peter Scholz: Der Hellenismus

Niemand hat das Recht zu tun, was er will, doch alles ist zum Besten geordnet.

Ptolemäischer Rechtsgrundsatz

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Der chronologisch dritte Band von Becks „Geschichte der Antike“ – der Band zur Griechischen Klassik soll im kommenden Jahr erscheinen – ist nach dem originellen Band zum archaischen Griechenland eine kleine Enttäuschung. Es ist dem Autor zugutezuhalten, dass es eine undankbare Aufgabe ist, die Geschichte des Hellenismus nachzuzeichnen, da ein Großteil des historischen Stoffs von den Haupt- und Staatsaktionen der Diadochenreiche gebildet wird. In seinem Resümee schreibt Peter Scholz:

Die von Alexander gleichsam begründete, mit seinem Tod einsetzende Epoche des Hellenismus bietet, was die Lektüre der vorangehenden Seiten vermitteln wollte, eine schwer überschaubare Fülle von Herrschern und ihren Familien, von großen Protagonisten und kleinen Akteuren, eine ermüdende Vielzahl kleiner Konflikte und großer Kriege, von Morden an Herrschern und Mitgliedern der jeweiligen Herrscherfamilien, von schwierigen Herrscherwechseln und damit im Zusammenhang stehenden höfischen Intrigen. Aus den zahllosen Einzelereignissen, die kaum Anspruch erheben können, im allgemeinen historischen Gedächtnis zu verbleiben, lassen sich jedoch im Überblick einige besonders charakteristische Merkmale und Errungenschaften des hellenistischen Zeitalters herausarbeiten, die es verdienen, als Merkmale der hellenistischen Geschichte erinnert zu werden. (S. 302 f.)

Leider liegt das Hauptgewicht des Textes nicht auf den „charakteristischen Merkmalen“, die nur zwischendurch auf wenigen Seiten zusammengefasst werden, sondern auf der Auflistung und Nacherzählung eben der „ermüdenden Vielzahl“ jener Daten, die sich in ähnlicher Zusammenstellung auch in jeder anderen Darstellung der Epoche finden lässt.

Scholz beginnt seine Darstellung mit einer ausführlichen Schilderung der Karriere Alexanders III. als Gewaltmensch, wobei das Bild dieses historischen Protagonisten letztlich widersprüchlich bleibt. Während Scholz einerseits bei jeder sich bietenden Gelegenheit Alexanders Egozentrismus betont, kann er es andererseits nicht umgehen, seine innovativen, wenn auch vielleicht ungelenken Versuche zur Vereinigung der griechisch-makedonischen und persischen Kultur zu schildern, die dem Bild des ausschließlich an der Selbststilisierung zum Heros Egomanen widersprechen. Auch Scholz’ These, Alexander habe auf nichtmilitärische Probleme ausschließlich ad hoc und ohne genügendes Gesamtkonzept reagiert, überzeugt nur, wenn man moderne Maßstäbe der Soziologie bzw. politischen Theorie anlegt. Alexanders Gesamtentwurf für sein Reich mag uns unzureichend erscheinen, aber zum einen war etwas ähnliches nie zuvor unternommen worden und zum anderen hatte kein Zeitgenosse jemals auch nur ansatzweise über politische Probleme dieser Größenordnung nachgedacht. Betrachtet man etwa versuchsweise Platons Analyse der Staatsformen als Anhalt für den theoretischen Horizont der Zeit, so kann von Alexander fairerweise kein substantielles Konzept für eine Durchstrukturierung seines Reichs erwartet werden. Reflektiert man gar die Reaktionen von Alexanders Mitstreitern auf seine Annäherung an persische Sitten und Rituale, so kommt man kaum umhin, ihn bei aller Egozentrik immerhin für einen originellen Kopf halten zu müssen, was immer man von seiner allgemeinen Tendenz zu Massenschlächtereien auch sonst halten mag.

Nach Alexanders Tod folgt Scholz all den oben angedeuteten Wirren und Verwicklungen der Geschichte des östlichen Mittelmeerraumes bis zum Aufstieg der Römer als neue Ordnungsmacht. Warum es den Römern gelingt, eine zwar weiterhin fragile, im Vergleich zur Epoche des Hellenismus aber immerhin kontinuierliche Herrschaft im östlichen Mittelmeerraum zu errichten, wird von Scholz nicht mehr im Detail thematisiert. Bei ihm bleibt es bei einer Kritik des wesentlich auf die Person des Königs bezogene Staatsform der hellenistischen Reiche, in der jeder Herrscherwechsel, ja, sogar jeder militärische Erfolg letztlich zu einer immer erneuten Destabilisierung des gesamten internationalen Systems führen. Der Eindruck, der dem Leser bleibt, ist, dass es keinem der Nachfolger Alexanders gelungen ist, auch nur in Ansätzen die Idee zu einer Staatsform zu finden, die nicht wesentlich von dem Individuum an der Spitze und seiner Individualität abhängig ist. Im Primat der staatlichen Struktur über den Herrscher scheint eine der Pointen der Überlegenheit und des Erfolgs der Römer zu bestehen. Mag sein, dass dies die historische Lehre aus dem Chaos des Hellenismus ist.

Peter Scholz: Der Hellenismus. Der Hof und die Welt. C. H. Beck Paperback 6153. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 352 Seiten. 16,95 €.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele

Der Optimist glaubt, daß die Menschheit eines Tages den Tod besiegen wird. Und der Pessimist befürchtet, daß ihr dies tatsächlich gelingen könnte.

Duerr Dunkle NachtNach seinem Ausflug in die griechische Antike wendet sich Hans Peter Duerr wieder einem eher ethnologischen Thema zu: Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen, wobei er an keiner Stelle einen Zweifel daran lässt, dass er beides für innerpsychische Phänomene hält, denen keine wie auch immer geartete transzendente oder metaphysische Bedeutung oder gar Wirklichkeit entspricht. Daher taucht der Terminus Nahtod-Erfahrung – außer im Untertitel des Buches – auch stets in Anführungsstrichen bei ihm auf. Anlass der Beschäftigung mit diesem Thema sind zwei „Nahtod-Erfahrungen“ Duerrs (die erste davon hatte er bereits 1982), die sich so stark von den von Duerr zuvor gemachten Erlebnissen mit Drogen und Halluzinationen unterschieden, dass sein Interesse an dem Phänomen geweckt wurde.

Wie schon bei seinen früheren Büchern überwiegt bei Duerr die Dokumentation der überlieferten Erfahrungen bei weitem jeden Versuch, eine wie auch immer geartete theoretische Erklärung für die geschilderten Erlebnisse zu liefern. Duerr analysiert zuerst mit unzähligen Belegen die zentralen, „Nahtod-Erfahrungen“ weitgehend gemeinsamen Elemente, wobei sich bei einigen zeigt, dass ihre jeweilige Ausprägung stark durch die Kultur- und Glaubenszugehörigkeit der „Jenseitsreisenden“ geprägt ist. Anschließend nimmt er eine ebenso umfangreich belegte Abgrenzung der „Nahtod-Erfahrungen“ von anderen sogenannten psychischen Grenzerfahrungen vor: Schamanen-Reisen, Ekstasen, Halluzinationen, Träumen, Drogenerfahrungen, Entführungsphantasien, Teufels-Bessenheiten und zuletzt auch den Zuständen bei Herzstillstand. Eine kleine, nicht ganz vollständige Zusammenfassung der möglichen Bedingungen von „Nahtod-Erfahrungen“ liest sich so:

Ein solcher Zustand kann nicht nur bei Entspannung, extremer sensorischer Deprivation, Unfällen, Todesangst oder bei einer Überdosis gewisser pflanzlicher Drogen wie Iboga oder Stechapfel eintreten, sondern ebenfalls, wenn man vom Blitz getroffen wird oder möglicherweise auch, wenn man von einem hohen Felsen in die Tiefe springt. (S. 335)

Zu Ende des Buches findet sich dann doch noch ein eher theoretisches Kapitel, in dem – im umgangssprachlichen Sinne – esoterische Deutungen der „Nahtod-Erfahrungen“ unter Rekurs auf Wittgenstein und einen handfesten Realitätssinn (um es nicht Realismus zu nennen) abgewiesen werden.

Ich kann es nur abschätzen, aber ich vermute, das Buch stellt die umfangreichste Dokumentation von „Nahtod-Erfahrungen“ dar, die je erstellt wurde. Duerrs Belege reichen von der Antike bis in die Gegenwart und entstammen Berichten von sechs der sieben Kontinente. Duerr unterscheidet nicht systematisch zwischen religiös und profan überschriebenen Erlebnissen; überhaupt ist seine Darstellung von einer erfrischenden, vorurteilslosen Distanz gegenüber den meisten gerade gängigen ideologischen Positionen.

Die eine oder den anderen wird das Buch wegen seines nahezu ausschließlich dokumentarischen Ansatzes enttäuschen; selbst dort, wo Duerr bereit ist, sich auf eine eher abstrakte Diskussion des Themas einzulassen, geschieht dies in rein falsifikatorischer Absicht. So werden manche Leser nach der Lektüre zwar mit einem unvergleichbar reicheren Wissen über das Phänomen, aber – soweit sie sich auf Duerrs Argumente einlassen – mit keiner zufriedenstellenden Erklärung zurückbleiben. Und erfahrungsgemäß ist das etwas, was die wenigstens auszuhalten verstehen.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen. Berlin: Insel, 2015. Pappband, 688 Seiten. 29,95 €.

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland

Zur Ergänzung von Clives „1177 v. Chr.“ habe ich im Anschluss diesen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum archaischen Griechenland, also der Zeit zwischen dem Ende der sogenannten Dunklen Jahrhunderte bis zum Beginn der Klassischen Zeit (ca. 800–500 v.u.Z.) gelesen. Die Autorin liefert bewusst keine geschlossene historische Erzählung der Epoche, sondern behandelt sie unter verschiedenen thematischen Aspekten, bei denen sie jeweils die schriftlichen und archäologischen Quellen nebeneinanderstellt und abgleicht.

Es beginnt mit einer kurzen Darstellung der Dunklen Jahrhunderte, deren Umfang in den letzten Jahrzehnten nicht nur bedeutend zusammengeschmolzen ist, sondern die sich inzwischen auch als bei weitem nicht so einheitliches Phänomen präsentieren, wie das noch zu meiner Studienzeit der Fall war. Zwar bleibt der allgemeine Niedergang der sogenannten mykenischen Palastkultur festzustellen, doch das übrige Griechenland bietet in dieser Zeit durchaus kein einheitliches Bild von Kulturverfall oder Isolation von der übrigen Welt des östlichen Mittelmeeres.

Es folgt eine knappe Behandlung der Frage, inwieweit sich in Homers Epen die Darstellung der fiktiven, heldischen Vorzeit und der rezenten Kultur zur Zeit der schriftlichen Fixierung der Epen mischen. Auch wird die Frage kritisch erörtert, wie wahrscheinlich es ist, dass für „Ilias“ und „Odyssee“ eine längere orale Tradierung existierte, bevor sie niedergeschrieben wurden. Anschließend wird die Lebenswelt des archaischen Griechenland anhand der Themenkomplexe Kolonisation, Polis, Bauern, Aristokraten, Tyrannis und Bürgerschaft aufgefächert. Im Zentrum jedes Abschnitts stehen konkrete Fallstudien, in denen für konkrete Orte das Bild der schriftlichen Überlieferung mit den archäologischen Befunden abgeglichen wird. Es entsteht auf diese Weise ein differenzierter Überblick der archaischen Griechen Kultur, Politik und Gesellschaftsstruktur. Der einzige Aspekt, der stets nur am Rande behandelt wird, ist der Krieg als zentrale Form der außenpolitischen Auseinandersetzung. Bis auf diesen einzigen Mangel fand ich die gesamte Darstellung exzellent und jeweils auf den Punkt. Es ist erfreulich zu sehen, dass inzwischen die eher märchenhaft gehaltenen Einführungen, die noch zu meiner Studienzeit durchaus gängig waren und die die Komplexität der antiken Welt prinzipiell verflachten, durch differenzierte und durchweg anspruchsvolle Darstellungen abgelöst wurden.

Das Buch ist in einer leicht akademischen Diktion geschrieben und zielt daher wohl eher auf Leser mit einer historischen oder archäologischen Vorbildung oder einem akademischen Hintergrund. Zahlreiche historische oder archäologische Begriffe werden schlicht als bekannt vorausgesetzt, so dass dem echten Laien das eine oder andere  Nachschlagen während der Lektüre nicht erspart bleiben dürfte. Der Band ist Auftakt einer insgesamt sechsteiligen „Geschichte der Antike“ (von der bis dato fünf Bände erschienen sind); es ist nicht unwahrscheinlich, dass der ein oder andere Band dieser Reihe hier noch besprochen werden wird.

Elke Stein-Hölkeskamp: Das archaische Griechenland. Die Stadt und das Meer. C. H. Beck Paperback 6151. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 302 Seiten. 16,95 €.

Byung-Chul Han: Was ist Macht?

„Wissen ist Macht.“ – Francis Bacon
„Nix wissen macht nix.“ – Volksmund

Han-MachtKürzlich ist mir ein mir noch unbekannter Philosoph über den Weg gelaufen, wie es so schön heißt. Da ich selbst dem Fach vor vielen Jahren einmal leidenschaftlich zugetan war und es auch einige Jahre fleißig studiert habe, kehre ich von Zeit zu Zeit gern in die alten Gefilde zurück und schaue mich ein wenig um. So nun auch bei Byung-Chul Han, einem Koreaner, der laut Wikipedia „in Freiburg im Breisgau und München Philosophie, deutschsprachige Literatur und katholische Theologie“ studiert hat. Nun gab es zu meiner Studienzeit kein Fach „deutschsprachige Literatur“, das man hätte studieren können, aber wie dem auch sei, jedenfalls hat Han über Heidegger promoviert und darf also mit Fug und Recht als Fach-Philosoph bezeichnet werden. (Nur so am Rande: Seine Einführung zu Heidegger bei UTB ist vergriffen und wird bei Amazon zu einem aberwitzigen Preis angeboten.)

Unter den lieferbaren Büchern fiel mir gleich ein Reclam-Bändchen auf: „Was ist Macht?“ ist eine interessante Frage für einen Philosophen; also habe ich das Büchlein gestern bei meinem Buchhändler abgeholt und heute Vormittag ein wenig darin gestöbert. Und gleich auf den Seiten 17 f. darf ich folgendes lesen:

Max Weber definiert Macht wie folgt: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« Dann bemerkt er, daß der Begriff »Macht« soziologisch »amorph« sei. Der soziologische Begriff der »Herrschaft«, die garantiert, »für einen Befehl Fügsamkeit zu finden«, sei dagegen ein »präziserer«. Diese Einschätzung ist nicht unproblematisch. »Amorph« ist die Macht in soziologischer Hinsicht gewiß nicht. Dieser Eindruck entspringt nur einer beschränkten Wahrnehmungsweise. Eine ausdifferenzierte Welt produziert indirekte, still wirkende, weniger offensichtliche Machtgrundlagen. Auf deren Komplexität und Indirektheit geht der Eindruck zurück , die Macht wirke »amorph«. Im Gegensatz zur Herrschaft des Befehls tritt die Macht nicht offen in Erscheinung. Die Macht der Macht besteht ja gerade darin, daß sie auch ohne den ausdrücklichen »Befehl« Entscheidungen und Handlungen bewegen kann.

Diese Interpretation Webers ist nicht unproblematisch; sie entspringt einer beschränkten Wahrnehmungsweise. Was Weber sagt, ist, dass der Begriff der Macht soziologisch amorph sei; weder behauptet er, die Macht selbst sei soziologisch amorph, noch gar, dass die Macht amorph »wirke« (was auch immer das Wort ‚wirke‘ hier bedeuten soll: ‚einen amorphen Eindruck mache‘ oder ‚auf amorphe Art und Weise ihre Wirkung entfalte‘). Warum der Begriff der Macht soziologisch amorph sei, begründet Weber an der herangezogenen Stelle („Wirtschaft und Gesellschaft“ § 16) so:

Der Begriff »Macht« ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.

Der Begriff erscheint Weber also in etwa aus den Gründen amorph, die Han gegen Webers Einschätzung ins Feld führt. Auch sagt Weber an derselben Stelle nicht, dass der Begriff der Herrschaft ein präziserer sei, sondern sein müsse:

Der soziologische Begriff der »Herrschaft« muß daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden.

Was auch immer der Grund für Hans Lesart sein mag: So etwas ist keine Philosophie, es ist Geschwätz.

Byung-Chul Han: Was ist Macht? RUB 18356. Stuttgart: Reclam, 2005. Broschur, 149 Seiten. 5,– €.

Carl Einstein: Die schlimme Botschaft

Das Dichterische wirkt meist wie der Hintern der „Wirklichkeit“.
Carl Einstein

Einstein-Schlimme-BotschaftCarl Einstein (nicht verwandt oder verschwägert) ist einer von einer ganzen Anzahl deutscher Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die nach der Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus nur noch am Rande wahrgenommen wurden und heute an der Grenze zum Vergessenwerden stehen. Sein einziger sogenannter Roman „Bebuquin“ (1912) – der Text umfasst nur etwa 13.000 Wörter und trägt die Gattungsbezeichnung ausschließlich, um klarzustellen, welche literarische Form hier konterkariert werden soll – war bis vor einiger Zeit noch bei Reclam lieferbar, wurde dort aber mittlerweile durch eine der kunsthistorischen Schriften Einsteins ersetzt.

Jetzt hat der junge homunculus verlag Einsteins „Die schlimme Botschaft“ (1921) wieder aufgelegt. Der Titel ist eine bewusste Umkehrung des Evangeliums und das schmale Büchlein enthält 20 Szenen, in denen Jesus von Nazareth sich mit seinen Jüngern, Bürgern, Soldaten, einem Schriftsteller, zwei Juden, Pilatus und anderen mehr unterhält, wobei die Zeit, zu der diese Szenen spielen zwischen dem 1. und dem 20. Jahrhundert verschwimmt. Am Ende wird er natürlich wieder ans Kreuz geschlagen, wobei diesmal ein Manager seinem letzten Atem noch die Rechte an seinen Memoiren abgewinnen möchte, sich aber angesichts der geforderten 100 % vom Ladenpreis nur mit dem Wort „Blöd geworden“ von ihm abwenden kann. Einsteins Jesus kritisiert scharf die sogenannten Christen des 20. Jahrhunderts, sowohl die Religionsverwerter als auch die Taufchristen, deren Lebens- und Geschäftsgebaren mit der Lehre des Mannes, nach dem sie sich immerhin Christen nennen, nichts mehr zu tun hat. Der ethische Gehalt der Szenen ist dabei nicht leicht auf den Punkt zu bringen: Einsteins Jesus ist ein Leidender unter den Leidenden, ein Armer auf Seiten der Armen, ein Geschlagener und Rechtloser in einer Welt von Rechthabern, Beutelschneidern und Besserwissern.

Bekannt wurde „Die schlimme Botschaft“ aber nicht durch die 200 bis zu ihrem Verbot verkauften Exemplare, sondern durch den Gotteslästerungsprozess, der 1922 gegen den Autor und seinen Verleger Ernst Rowohlt geführt wurde und der mit der Verurteilung beider zu einer Gesamtgeldstrafe von 15.000 Mark (immerhin als Ersatz für eine eigentlich fällige Gefängnisstrafe) endete. Anzeige erstattet hatten ein schwäbischer Fabrikant und ein Thüringer Superintendent; die Staatsanwaltschaft Berlin erhob daraufhin Anklage, und obwohl die Verteidigung einiges Vernünftige dagegen vorbringen konnte, dass  „Die schlimme Botschaft“ den Tatbestand der Gotteslästerung erfülle, folgte das Gericht den sogenannten Sachverständigen der Staatsanwaltschaft und verurteilte Buch, Autor und Verleger.

Der Prozess und sein Urteil wurden in der deutschen Presse durchaus kontrovers diskutiert; auch bildete er den Anlass für eine Umfrage unter Künstlern und Gelehrten, ob denn einerseits Einsteins Buch gotteslästerlich und andererseits der Gotteslästerungsparagraph im Strafgesetzbuch überhaupt noch zeitgemäß sei. All das ist ganz wundervoll vollständig dokumentiert in dem Artikel „Einstein, Carl“ im ersten Band von Heinrich Hubert Houbens – der wahrscheinlich noch ein Stück näher der Grenze zum Vergessen west als Einstein – „Verbotene Literatur“, der 1923 (vordatiert auf 1924) ebenfalls bei Rowohlt erschienen ist und sich also zur Zeit des Prozesses gerade im Entstehen befand. Houben konnte das im Archiv von Rowohlt gesammelte Material benutzen und so ein umfassendes Bild des Prozesses und der Reaktionen auf ihn liefern.

Für Einstein bedeutete dieser Prozess aber natürlich zuerst  einmal einen schriftstellerischen Maulkorb, auf lange Sicht Exil in Frankreich (ab 1928) und in letzter Instanz den Freitod vor den heranrückenden Nationalsozialisten. Der ein oder andere versprengte Kunsthistoriker denkt heute noch an ihn, und eine kleine Schar von Germanisten versucht sein Werk im Bewusstsein der Lebenden zu halten. Das Bändchen im homunculus verlag liefert neben dem Text der „Schlimmen Botschaft“ auch den – soweit ich sehe kompletten – Artikel Houbens. Das kurze Vorwort ist leider anonym; auch erfährt der Leser nicht, welche Textgrundlage dieser Neudruck hat, was das Buch für die germanistische Arbeit ein wenig entwertet. Wollen wir hoffen, dass es wenigstens diesmal diejenigen in größerer Menge erreicht, die es 1921 schon hätte erreichen sollen: die Leser.

Carl Einstein: Die schlimme Botschaft. 20 Szenen. Erlangen: homunculus, 2015. Broschur, 167 Seiten. 17,90 €.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora

«Dann muss Deutschland eben zugrunde gehen!»
Erich Ludendorff
«Das wird unser böses Erbe sein, oder unser gutes Erbe, auf jeden Fall unser unwiderrufliches Erbe – und wir werden für immer an unsere Erinnerungen gekettet sein.»
Paolo Monelli

Leonhard-BuechseMit „Die Büchse der Pandora“ legt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard die wohl umfassendste Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs vor, die bislang verfasst wurde. Dies nicht nur im Sinne der 1014 Seiten, die seine Schilderung füllt, sondern besonders auch was deren Breite angeht. Während Herfried Münkler in seinem Buch „Der Große Krieg“ einen Schwerpunkt auf die militärischen Operationen und die deutsche politische Perspektive des Krieges legt, bezieht Leonhard auch die Entwicklungen an der sogenannten Heimatfront aller großen Kriegsteilnehmer kontinuierlich mit ein. Münklers und Leonhards Bücher liefern daher zusammen so etwas wie eine nahezu ideale Geschichte des Ersten Weltkriegs, wenn man sich der Mühe unterzieht, beide umfangreichen Bücher zur Kenntnis zu nehmen. Zusammen mit Christopher Clarks minutiöser Vorgeschichte „Die Schlafwandler“ ergibt sich ein Gesamtbild des Geschehens von bislang wohl nicht erreichter Genauigkeit sowohl im Detail, als auch, was die großen Zusammenhänge angeht.

Der Titel von Leonhards Buch geht auf die nette Anekdote zurück, dass die Kinder von Thomas Mann (der nach meinem gänzlich unmaßgeblichen Geschmack mit seinen Meinungen im Buch etwas zu präsent ist) Ende Juli 1914 zusammen mit Nachbarskindern die Aufführung eines mythologischen Stücks „Die Büchse der Pandora“ nach Gustav Schwabs „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ planten, die Generalprobe am 1. August aber vom Kindermädchen der Familie Mann mit der Mitteilung abgebrochen wurde, dass der Krieg ausgebrochen und deshalb an eine Aufführung nicht mehr zu denken sei; die Büchse der Pandora war bereits an anderer Stelle geöffnet worden.

Leonhard nimmt, wie oben bereits gesagt, die nicht unerhebliche Mühe auf sich, neben der militärischen und politischen Entwicklung auch immer die gesellschaftlichen Veränderungen der großen, kriegsteilnehmenden Gesellschaften zu schildern. Die Haltungen und Handlungen der Kleinbürger und Arbeiter sowie der Gewerkschaften, das Schicksal von Minderheiten und feindlichen Ausländern, die Dynamik in multiethnischen Gesellschaften – nicht nur der Österreich-Ungarns und denen des Balkans, sondern auch der USA – nehmen einen erheblichen Teil der Darstellung ein. Leonhard wählt dabei allerdings mit den Kalenderjahren der Kriegszeit ein chronologisch so großschrittiges Ordnungsprinzip, dass dem Leser an vielen Stellen ein erhebliches Erinnerungsvermögen abgefordert wird, wenn er alle geschilderten Ereignisse und Zustände in eine korrekte chronologische Ordnung zueinander bringen will. Es ist Leonhard dabei allerdings zugute zu halten, dass jede andere Anordnung der Fülle an historischem Material, die er präsentiert, wahrscheinlich zu nicht geringeren Problemen geführt haben würde.

Leser, die zuvor Münklers Buch gelesen haben, könnten sich im Vergleich auch an dem deutlich akademischeren Stil Leonhards stören, der dem historischen Laien sicherlich ein wenig Gewöhnung abverlangt. Auch setzt Leonhard deutlich mehr historisches Vorwissen voraus als Münkler oder Clark; die Zielgruppe von Leonhards Buch ist eindeutig eine andere. So mühsam es auch scheint, kann daher dem historischen Laien oder demjenigen, der sich in diese Zeit überhaupt erst einarbeiten will, nur die Lektüre aller drei Bücher angeraten werden: Clark, Münkler, Leonhard, und wohl am besten in dieser Reihenfolge (zusammen knapp 3.000 Seiten!).

Leonhard führt im Gegensatz zu Münkler seine Geschichte des Ersten Weltkriegs zudem über den 11. November 1918 fort, mit dem wichtigen Hinweis, dass dieses Datum nur das Ende der Kampfhandlungen im Westen markiert, während sich im Osten Europas und im Nahen Osten an den Großen Krieg nahtlos andere Kriege und Bürgerkriege anschlossen, die bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts und darüber hinaus reichen, ja, dass einige der heutigen sogenannten Krisenregionen erst durch die Entscheidungen der Großmächte während des Ersten Weltkriegs konstituiert wurden. Auch weist Leonhard immer wieder darauf hin, dass zahlreiche Kolonialgebiete mit ihrer Teilnahme am Großen Krieg die Hoffnung auf nationale Souveränität oder zumindest größere politische Einflussnahme verbunden hatten, Erwartungen, die nach dem Ende des Krieges in Westeuropa nicht erfüllt wurden und so als internationales Konfliktpotenzial mit dem Krieg erst geschaffen wurden und nach ihm in oft zunehmend brisanter Weise fortbestanden. Auch wird in Leonhards Darstellung klar, wie der Erste Weltkrieg bereits die komplexen Grundlagen für den Zweiten liefert, ohne dass der Autor der bei einigen Historikern zuletzt beliebten Lesart von einem zweiten 30-jährigen Krieg (1914–1945) beitreten würde.

Wer nur die Zeit für eine große Darstellung des Ersten Weltkriegs aufbringen kann oder möchte, dem sei Leonhards Buch als die umfassendste empfohlen, allerdings eben mit dem Hinweis, dass seine an einigen Stellen recht kompakte Darstellung einiges an historischem Vorwissen fordert.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München: Beck, 2014. Leinen, Lesebändchen, 1157 Seiten. 38,– €.

Zweimal Buschkowsky

Es wird wohl so sein, dass es klügere Menschen als mich gibt.

Buschkowsky-Neukoelln„Wer ein Buch schreiben will,“ heißt es bei Arno Schmidt, „muß viel zu sagen haben : meistens mehr, als er hat.“ Das gilt umso mehr, wenn einer zwei Bücher schreiben will. Heinz Buschkowsky hat im Nachgang der Aufgeregtheiten um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) mit großem Erfolg ein Buch verfasst, in dem er als Bürgermeister des Berliner Stadtteils Neukölln seine Erfahrungen mit Migranten und der Integration thematisierte: „Neukölln ist überall“ (2012). Angetrieben vom Erfolg dieses Buches und sicherlich auch vom Verlag, der weitere fette Beute witterte, hat er zwei Jahre später einen weiteren Band unter dem Titel Buschkowsky-Gesellschaft„Die andere Gesellschaft“ folgen lassen. Es ist mehr als angemessen diese beiden Bücher in einer Rezension zu besprechen, denn im Wesentlichen sagt das zweite Buch nichts anderes als das erste, es sagt es bloß ein wenig anders und mit anderen Beispielen illustriert. Da sich bereits das Original in Wiederholungen erging, ist man gut beraten, sich das Geld für das zweite Buch (wenn nicht überhaupt für beide) zu sparen, so wie man sich ja auch nicht die zweite Nummer derselben Tageszeitung vom selben Tag kauft. Normalerweise lese ich solche auf ein eher breites Publikum zugeschnittenen, politischen Sachbücher nicht, aber in diesem Fall gab es einen sehr äußerlichen Anlass, mich mit den Büchern zu befassen.

Buschkowsky hat die angenehme Eigenschaft, dass er nicht gegen Einwanderung ist, sie im Gegenteil angesichts der mangelnden Reproduktionsbereitschaft der Deutschen für eine Notwendigkeit hält, um auch zukünftig in Deutschland den Lebensstandard und die Sozialsysteme wenigstens einigermaßen aufrecht zu erhalten. Die Probleme, die Buschkowsky in seinen Büchern schildert, sind also Probleme, die – so sie denn tatsächlich in bedeutendem Umfang bestehen sollten – notwendig durch einen Prozess der Integration gelöst werden müssen, da sie nicht durch eine Isolation Deutschlands gegenüber den Problemgruppen und ihren Herkunftsländern gelöst werden können. Integration oder vielleicht auch nur ein schlichtes Auskommen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen – Buschkowsky möchte gern von Parallelgesellschaften sprechen, weil das die Sache dramatischer klingen lässt – miteinander ist also eine wichtige Voraussetzung für das zukünftige Funktionieren Deutschlands.

Buschkowsky ist auch alles andere als ein Panikmacher: Er kennt und benennt Beispiele gelungener Integration, bestreitet auch nicht, dass diese gar nicht so selten sind wie Xenophobe das gern hätten, sondern meint eben nur, so solle es immer gehen. Als Bürgermeister von Neukölln aber hatte er in der Hauptsache mit den eher schwierigen oder auch nicht gelingenden Fällen von Integration zu tun. Dabei liegt das Hauptgewicht seiner Darstellung auf Konflikten mit muslimischen Zuwanderern, einerseits türkischer, andererseits arabischer Herkunft. An dieser Stelle beginnen für den intelligenteren Leser nun die Schwierigkeiten: Buschkowskys Denken neigt sehr zur Vereinfachung komplexer Sachverhalte, zu pauschalisierenden Schwarzweiß-Malereien und geradlinigen Schuldzuweisungen. Verantwortlich für den Großteil der Schwierigkeiten, die die deutsche, bürgerliche Gesellschaft mit den muslimischen Migranten hat, ist eine Gruppe, die bei Buschkowsky Unterschicht heißt. Diese muslimische Unterschicht (ob es auch eine christliche Unterschicht gibt, erfahren wir nicht explizit, es wird aber auch nicht ausgeschlossen) zeichnet sich im Wesentlichen durch folgende Eigenschaften aus: Hartz-IV-Bezug (deshalb auch immer kinderreich), trotzdem in umfangreichem Besitz teurer Konsumgüter (Autos, Unterhaltungselektronik), bildungsfern, unzureichend Deutsch sprechend, desinteressiert an der Schulkarriere der eigenen Kinder, patriarchalisch organisiert, Frauen und Kinder schlagend, friedliche, besonders ältere Bürger verschreckend, die Polizei missachtend und einer archaischen Religion (Islam) und barbarischen Traditionen (Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Kriminalität und Bezug von Sozialleistungen) anhängend, um nur die schlimmsten zu nennen. Buschkowsky gibt sofort zu, dass nicht alle Muslime so sind, auch dass es „biodeutsche“ (das ist inklusive der Anführungszeichen der von ihm verwendete Terminus) Mitglieder der Unterschicht gibt, auf die einiges aus dem oben angeführten Katalog zutrifft, aber im Großen und Ganzen stimmt es eben doch.

Zum Glück gibt es ein Rezept gegen diese Unterschicht: verpflichtenden Ganztagesunterricht ab dem Kindergartenalter! Zwar sind die Schulen bereits jetzt mit den Kindern der Unterschicht überfordert, aber wenn man nur den Einfluss der religiösen, mittelalterlichen und gewalttätigen Unterschicht-Väter, die zwar ihre Kinder gern schlagen, sich aber sonst nicht weiter um sie kümmern, reduzieren kann, wird bald alles gut werden. Für die, bei denen das dennoch nicht klappt, verschärft man das Jugendstrafrecht, um Schulschwänzern und Serientätern konsequent zu zeigen, was sie sich in einer freiheitlichen Gesellschaft einhandeln, wenn sie nicht so wollen, wie es ihnen die Erfinder und Bewahrer der herrlichen Freiheit vorschreiben.

An zwei Stellen steht Buschkowsky gefährlich nah vor einer wirklichen Einsicht, kann aber den letzten Schritt glücklich vermeiden: Zum einen stellt er verwundert fest, dass in Glasgow Muslime und Nicht-muslime ganz entspannt nebeneinander leben; auch erwähnt er den Umstand, dass es dort eine sehr lange Tradition des Zusammenlebens gibt, zieht aber keine weiteren Schlüsse daraus. Noch einmal begegnet ihm das Phänomen in gewandelter Form, als er über die Italiener in Deutschland nachdenkt:

Ein Phänomen sind die Italiener. Sie gelten in der soziologischen Forschung und Integrationsbetrachtung als eine recht schlecht integrierte Volksgruppe. Auch italienischen Eltern sagt man nach, dass sie über die gleichen erzieherischen Unarten verfügen wie problembeladene türkisch- oder arabischstämmige Eltern. Sie kümmern sich nur nachlässig um ihre Kinder, insbesondere wenn es um die Schule geht. Sie gelten als bildungsfern und haben auch Probleme mit der Berufsqualifikation. Trotzdem ist die italienische Bevölkerung [er meint den italienischstämmigen Teil der deutschen Bevölkerung], pauschal betrachtet, durchaus beliebt. Man sieht ihnen fast alles nach, denn »Italiener sind halt so«.

Dies ist die Stelle, wo man den Kopf einschalten müsste, und sich zum Beispiel zu fragen, ob das immer schon so war. (Als Kind aus einer italienisch-deutschen Partnerschaft kann ich versichern, dass das nicht immer so war.) Und man könnte versuchen herauszufinden, wie sich das Bild der Italiener in Deutschland seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gewandelt hat und wie und wann ihre Stellung als gesellschaftliche Parias auf die Türken übergegangen ist. Stattdessen liefert Buschkowsky folgende Erklärung:

Irgendwie [sic!] muss die Schönheit des Heimatlandes und die Urlaubstradition ein Höchstmaß an Empathie bewirken. So betrachtet, macht das für die Türkischstämmigen Hoffnung.

Wenn nur die Türkei ein bisserl schöner wäre …

Ich will es dabei belassen – es ist ohnehin schon zu lang geworden – und nicht noch die Begrifflichkeit Buschkowskys im einzelnen betrachten und fragen, was denn zum Beispiel „bildungsfern“ genau bedeuten soll. Ist einer schon bildungsfern, der einen Satz wie diesen schreibt:

Die Chinesen sagen nicht umsonst: »Du kannst nicht Diener zweier Herren sein.«

Aus meiner Sicht ist das ziemlich bildungsfern, aber wer bin ich, so etwas zu beurteilen.

Zwei sehr redundante Bücher voller oberflächlicher Urteile, Schwarzweiß-Zeichnungen, harscher Rhetorik, schiefer Analysen und mangelnder Selbstreflexion. Heinz Buschkowsky ist mit seinen Büchern nicht auf dem Weg zu einer Lösung, er ist selbst ein Teil der Integrationsproblematik dieses Landes.

Heinz Buschkowsky: Neukölln ist überall. Berlin: Ullstein, 92012. Pappband, 399 Seiten. 19,99 €.

Ders.: Die andere Gesellschaft. Berlin: Ullstein, 2014. Pappband, 302 Seiten. 19,99 €.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹

Zunächst war die sittliche Libertinage also eine Erfindung der Propaganda gegen heterodoxe Denker. Im 17. Jahrhundert untermauerten englische Sittenstrolche in der Tat ihre sexuellen Freizügigkeiten mit einer Verachtung herkömmlicher Religion, die sie als heuchlerisch und sinnenfeindlich anprangerten.

Wilson-Goethes-Erotica

W. Daniel Wilson gibt gern das Enfant terrible der Goethe-Forschung. Im Jahr 1999 gelang ihm mit „Das Goethe-Tabu“ der erste größere Erfolg in dieser Rolle, als er nachwies, dass es sich bei Goethe – einem Mann der immerhin ein knappes Jahrzehnt Minister und den Großteil seines Lebens Geheimer Rat in einem deutschen Kleinstaat gewesen war – nicht um das Vorbild eines liberalen Demokraten gehandelt hatte, sondern um einen ziemlich konservativen, staatserhaltenden und restriktiven politischen Kleingeist, der vor der Zensur freiheitlichen Gedankengutes auch nicht einen Augenblick zurückschreckte. Die meisten Goethe-Kenner gähnten angesichts dieser tiefen Einsicht, die ihnen schon vor etwa hundert Jahren einmal irgendwo über den Weg gelaufen war, aber immerhin ließ sich dadurch eine Ikone der akademischen Goethe-Verkennung wie Katharina Mommsen zu Dummheiten im Goethe-Jahrbuch hinreißen. In London poppten die Sektkorken!

Seitdem liefert Wilson mit schöner Regelmäßigkeit weitere schockierende Erkenntnisse über Goethe: Der habe – wenn auch vielleicht nicht selbst homosexuell – über Homosexualität nicht nur Bescheid gewusst (wer mag es ihm verraten haben?), sondern diese Kenntnisse sogar hier und da in seinen Schriften aufscheinen lassen. Ei, der Doppeldaus!

Und heuer: Goethes Erotica! Nun wäre das Sexuelle bei Goethe durchaus ein reizvolles Thema, galt der Weimarer Meister doch zahlreichen seiner Zeitgenossen als zu freizügig und seine Schriften als nicht unbedingt geeignet, um in die Hände eines unverheirateten Mädchens – schon damals die bedeutendsten und dankbarsten Rezipienten deutscher Klassik – gelegt zu werden. Dazu müsste man sich etwa mit dem „Faust“ beschäftigen, in dem die Sexualität als Mittel zur Lebensfreude eine bedeutende Rolle spielt:

Faust.
Ich bin ihr nah’, und wär’ ich noch so fern,
Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren;
Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn,
Wenn ihre Lippen ihn indeß berühren.

Mephistopheles.
Gar wohl, mein Freund! Ich hab’ euch oft beneidet
Um’s Zwillingspaar, das unter Rosen weidet.

Faust.
Entfliehe, Kuppler!

Mephistopheles.
Schön! Ihr schimpft, und ich muß lachen.
Der Gott, der Bub’ und Mädchen schuf,
Erkannte gleich den edelsten Beruf,
Auch selbst Gelegenheit zu machen.
Nur fort, es ist ein großer Jammer!
Ihr sollt in eures Liebchens Kammer,
Nicht etwa in den Tod.

Im „Faust“ ist es immer wieder eher erstaunlich, was verlegerische und staatliche Zensur im Buch haben stehen lassen als die wenigen Zensurstriche, die dann doch erzwungen wurden.

Faust mit der jungen tanzend.
Einst hatt’ ich einen schönen Traum;
Da sah ich einen Apfelbaum,
Zwey schöne Aepfel glänzten dran,
Sie reizten mich, ich steig hinan.

Die Schöne.
Der Aepfelchen begehrt ihr sehr
Und schon vom Paradiese her.
Wie freudig fühl’ ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche trägt.

Mephistopheles mit der Alten.
Einst hatt’ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum ,
Der hatt’ ein — — —;
So — es war, gefiel mir’s doch.

Die Alte.
Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt’ er einen — — bereit,
Wenn er — — — nicht scheut.

Auch hier passierten die weiblichen Brüste (wieder biblisch verbrämt) unbehelligt die Zensur, doch das ,ungeheure Loch‘, das aus dem Reimwort ,doch‘ und der für den Versrhythmus erforderlichen Silbenzahl eventuell erraten werden konnte, ist dann zuviel. Zusätzlich wird auch das Adjektiv ,groß‘ in der darauffolgenden Zeile gestrichen, um das korrekte Verständnis noch weiter zu erschweren. (Wer wissen will, was die Zensurstriche der letzten Strophe verbergen, soll ruhig einmal eine Goethe-Ausgabe zur Hand nehmen oder zumindest googlen).

Noch interessanter aber scheint mir, dass nur wenige Verse später eine geni(t)ale Anspielung dem wachsamen Auge der Zensoren entgangen ist:

Mephistopheles […] zu Faust der aus dem Tanz getreten ist.
Was lässest du das schöne Mädchen fahren?
Das dir zum Tanz so lieblich sang.

Faust.
Ach! mitten im Gesange sprang
Ein rothes Mäuschen ihr aus dem Munde.

Mephistopheles.
Das ist was rechts! Das nimmt man nicht genau.
Genug die Maus war doch nicht grau.
Wer fragt darnach in einer Schäferstunde?

Auch im Zweiten Teil der Tragödie fanden sich entsprechend schlimme, die Zeitgenossen erregende Stellen, so etwa der von den Ärschlein der Faust in den Himmel entführenden Engel sexuell erregte Mephistopheles (erstaunlich, dass wenigstens einer der Leser der Erstausgabe überhaupt bis zu dieser Stelle vorgedrungen ist). Weit süffigere aber hatte Goethe so gut versteckt, dass sie nicht einmal von den Herausgebern bemerkt worden waren:

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Auch das darf mit Fug ein Schäferstündchen heißen!

Dann könnte man etwa über jenen ehelichen Geschlechtsverkehr und doppelten Ehebruch nachdenken, den Goethe in „Die Wahlverwandtschaften“ mit einer für seine Zeit außerordentlichen Deutlichkeit schildert und der ihm viel Kritik aus den Kreisen ordentlicher Bürger einbrachte. Denn merke:

Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.

Um den erotischen oder sexuellen Anteil an Goethes Werken richtig einschätzen zu können, wäre allerdings einiges an Vorarbeit zu leisten: So wäre zu sichten, was es an erotischer und pornographischer Literatur im 18. Jahrhundert gab, wie sie reproduziert und gehandelt wurde, wer mit wem darüber wie kommuniziert hat, ob und wie sich die Grenzbezeichnungen ,Unsittliches‘, ,Erotisches (Erotica)‘ und ,Pornographie‘ im allgemeinen Gebrauch der Zeit voneinander unterschieden (anstatt wie Wilson im aktuellen Duden (!) nachzuschauen, wie der Pornographie definiert), wie unterschiedlich antike und neuzeitliche Erotica bewertet und behandelt wurden, wie mit offen unsittlichen Autoren wie Shakespeare verfahren wurde, welche überaus differenzierten Unterschiede die Zeitgenossen Goethes zwischen privater und öffentlicher Rezeption und zwischen privatem und öffentlichem Urteil machten usw. usf. Das alles ist ein sehr weites Feld, auf dem nicht nur literarhistorische, sondern auch wichtige soziologische und hygienische Erkenntnisse über das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu heben wären.

Aber keine Sorge, Wilson macht nichts von alledem. Stattdessen konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei Gedichtzyklen Goethes nach antiken Vorbildern – die „Römischen Elegien“ und die „Venezianischen Epigramme“ – und deren Publikationsgeschichte; ganz am Ende kommt noch ein bisschen „West-östlicher Divan“ dazu, weil ihm wohl wer gesteckt hat, dass es auch da verborgene Sauereien gibt. Dabei konstruiert sich der Skandal in zwei Tatbeständen: Zum einen, dass beide Zyklen zu Goethes Lebzeiten (und auch später noch) nicht vollständig abgedruckt wurden, was Wilson gerne unter Zensur, nein, Entschuldigung: ,Zensur‘ bzw. ,Selbstzensur‘ verbucht haben möchte. Zum anderen, dass in den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ Stellen abgeschabt und ausradiert und später sogar ausgeschnitten wurden. Schauen wir uns die Teilskandale nacheinander an:

Schon bei der Niederschrift beider Gedichtzyklen war Goethe bewusst, dass an eine vollständige Veröffentlichung dieser Gedichte in ihrer ursprünglichen Form kaum zu denken war. Die „Römischen Elegien“ waren für Schillers Zeitschrift „Die Horen“ vorgesehen, eine Auswahl der „Venezianischen Epigramme“ für einen von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach. In beiden Fällen nahm Schiller also seine Pflichten als Herausgeber wahr, las die Texte, besprach mit Goethe, was im Druck mitteilbar wäre, was man seiner Meinung nach streichen müsste bzw. welche der Epigramme für den Almanach überhaupt nicht in Frage kämen (das waren die explizit sexuellen und die antiklerikalen bzw. antichristlichen). Außerdem hatte Goethe die Elegien dem Herzog Karl August und Herdern vorgelesen, bei denen er damit rechnen konnte, dass sie die antikisierende Form goutieren und den dazu passenden Inhalt wie erwachsene Männer wahrnehmen konnten. Beide lobten die Gedichte, rieten von einer Veröffentlichung dennoch gänzlich ab, was Goethe aber nicht daran hinderte, die Elegien mit Ausnahme von vieren in den „Horen“ erscheinen zu lassen. Auf Schillers Vorschläge zur Einkürzung zweier Elegien reagierte er, in dem er diese komplett zurückzog; er wollte sie also lieber gar nicht als verstümmelt drucken lassen. Nichts von all dem ist skandalös, nichts hat mit Zensur oder Selbstzensur zu tun, ob nun in Anführungsstrichen oder nicht, sondern es stellt einen für fast alle Zeiten ganz normalen Publikationsprozess dar. Wilson dagegen möchte aus dem Vorgang um die Elegien eine große Enttäuschung Goethes konstruieren, die im Nachklapp fast noch zu einer Staatsaffäre geworden wäre, wenn man nur wüsste, ob und weshalb der Herzog ein späteres Gedicht Goethes im Geheimen Consilium hat besprechen lassen wollen. Doch: Dem Skandaliseur ist nix zu schwör: Mit Hilfe der Wörtchen ,wahrscheinlich‘, , sicherlich‘ und ,offenbar‘ (dies besonders gern an Stellen verwendet, an denen nun wirklich nichts, aber auch gar nichts offenbar ist) kann man immer einen Skandal dort erzeugen, wo nichts ist.

Beim zweiten Teilskandal handelt es sich um die Frage, wer für die Abschabungen bzw. das Ausschneiden aus den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ verantwortlich war. Hier ist hervorzuheben, dass sich Wilson wenigstens dafür stark macht, die Großherzogin Sophie vom Verdacht auszunehmen, aber ansonsten kann er auch hier nur ausführlich herumraten und vermuten, wer es nicht gewesen ist. Schließlich legt er sich im Ausschluss-Verfahren beim Abschaben auf Walther von Goethe und beim Ausschneiden auf Bernhard Suphan oder Carl August Hugo Burkhardt, ja, nun gerade nicht fest.

All das ließe sich auch auf 8 statt auf 180 Seiten sagen, macht aber dann kein rechtes Skandalon. Folgen noch einige gehaltlose Anwürfe gegen die Hamburger Ausgabe und ihren Herausgeber sowie ein wenig oberflächlich Angelesenes über den ,Libertin‘ (siehe oben das Motto über die „englischen Sittenstrolche“!) und ob Goethe einer war (eigentlich nicht, aber in einigen Zügen dann doch vielleicht eher oder auch naja soso). Um noch ein letztes Mal den Dichter selbst zu bemühen:

Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.

Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹. Hannover: Wehrhahn, 2015. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 256 Seiten. 19,80 €.