Virginia Woolf: Orlando

Nicht Orlando sprach, sondern der Geist der Epoche. Doch wer es auch war, niemand antwortete.

Es muss in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, als ich unter großen Vorbehalten zwei oder drei Bücher von Virginia Woolf gelesen habe; „Orlando“ war darunter und „Die Wellen“ und wahrscheinlich noch ein weiterer Roman, wobei ich mich weder an Titel noch Inhalt irgendwie erinnern kann. Meine Vorurteile Woolf gegenüber entstammten in der Hauptsache zwei Quellen: ihrer Rezeption des Joyceschen „Ulysses“ und einer Gruppe von ideologischen Leserinnen Woolfs, die mir damals, während des Studiums, unschwer auf die Nerven gingen.

Nun hat Melanie Walz im Insel Verlag vor einigen Jahren die inzwischen vierte deutschsprachige Übersetzung des „Orlando“ vorgelegt und allein aufgrund der Übersetzerin war ich geneigt, das Buch noch einmal zu lesen. Walz’ Übersetzung ist die erste, die auch das formale Spiel Woolfs mit dem Genre der Biographie im Deutschen wiedergibt. Im englischen Sprachraum folgt die akademische Biographie oft einem festen formalen Schema: Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Text und Register. Da aber deutschen Lesern dieses Schema weitgehend unbekannt sein dürfte, haben alle früheren Ausgaben auf dessen Reproduktion verzichtet, so dass Walz’ Übersetzung als die erste tatsächlich vollständige bezeichnet werden kann. Und auch wenn es das fatale Marketinglabel „Roman“ wieder auf den Umschlag des Buches geschafft hat, so steht doch wenigstens auf seinem Titelblatt korrekt die irreführende Gattungsbezeichnung: „Eine Biographie“.

Selbstverständlich handelt es sich bei „Orlando“ nur um ein Spiel mit der Form und den Gepflogenheiten biographischen Schreibens. Der Protagonist bzw. die Protagonistin Orlando wird um 1580 geboren und ist im Jahr des Erscheinens ihrer Biographie noch immer am Leben; wahrscheinlich hat sie vor lauter Beschäftigung einfach vergessen zu sterben. Kurz zusammengefasst findet sich Orlandos Lebenslauf im Register des Buches:

Orlando – als Knabe 14; verfasst sein erstes Schauspiel 15; besucht die Königin in Whitehall 20; wird zum Schatzmeister und Großhofmeister ernannt 23; seine Liebschaften 26; und die russische Fürstin 34–39; seine erste Trance 59; zieht sich in die Einsamkeit zurück 63; seine Liebe zur Lektüre 65; seine romantischen Dramen 15 [sic!]; seine literarischen Ambitionen 67, 68, 152; und Greene 74–90; seine Urgroßmutter Moll 76; erwirbt Elchhunde 84; und sein Poem Die Eiche 99, 129, 152, 272; und sein Haus 93–96; und die Erzherzogin Harriet 101–193; als Gesandter in Konstantinopel 106–117; wird zum Herzog ernannt 113; zweite Trance 117; Heirat mit der Zigeunerin Rosina Pepita 118; wird zur Frau 122; bei den Zigeunern 125–134; kehrt nach England zurück 135; Gerichtsverfahren 148; und Erzherzog Harry 158; in der Londoner Gesellschaft 169; bewirtet die Esprits 191 [sic!]; und Mr. Pope 179; und Nell 191; mit ihrem Cousin verwechselt 193; kehrt in ihr Haus auf dem Land zurück 203; bricht sich den Knöchel 217; wird zur Frau erklärt 220; Verlobung 291; Heirat 228; Geburt des ersten Sohnes 259

Wie man sieht, ein durchaus erfülltes Leben, für das eben 350 und einige Jahre erforderlich sind. Orlando durchläuft nicht nur alle Epochen der englischen Geschichte seit der Elizabethanischen, sondern sie durchleidet auch deren stilistische und soziale Moden. All dies wird mit leichter und ironischer Souveränität betrieben und ist – bis auf wenige Längen – sehr vergnüglich zu lesen. Sicherlich kann man darin auch tiefere Bedeutungen vermuten, aber ich würde davon abraten; das Spiel als Spiel ist vollständig ausreichend, alles weitere verdirbt nur diesen wirklichen Wurf.

Die Neuübersetzung von Melanie Walz ist jener früheren, die ich las – leider kann ich nicht rekonstruieren, welche der beiden frühen Übersetzungen ich damals in der Hand hatte, ich befürchte aber, es war die von Karl Lerbs – um Welten überlegen. Der spielerische und ironische Charakter des Buches ist mir erst mit dieser Lektüre vollständig deutlich geworden. Eine genüssliche Lektüre setzt beim Leser allerdings ein gerüttelt Maß an historischer und literarischer Bildung voraus.

Virginia Woolf: Orlando. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. it 4238. Berlin: Insel, 2015. Broschur, 304 Seiten. 8,– €.

James Shapiro: A Year in the Life of William Shakespeare: 1599

Shapiro-1599

Alle biographischen Bücher über William Shakespeare haben mit einer großen Schwierigkeit zu kämpfen: Wir wissen so gut wie nichts über den Mann. Das ist für Menschen der Elizabethanischen Epoche durchaus nichts ungewöhnliches; auch über viele andere Autoren, Künstler, Wissenschaftler etc. der Zeit wissen wir vergleichsweise wenig. Da unsere Zeit aber dem Aberglauben an die Ausnahmepersönlichkeit huldigt, verlangt sie nach Biographien. Shakespeares Biographen helfen sich aus dieser Notlage normalerweise mit einem (oder mehreren) der folgenden Tricks heraus: Entweder sie spekulieren sich ein Leben Shakespeares einfach zusammen (bzw. sie schreiben die Spekulationen anderer ab) oder sie schreiben stattdessen über England, seine allgemeine Kultur oder spezieller über das Theaterwesen der Epoche. Oder sie schreiben die Biographie eines ganz anderen Menschen und behaupten, dieser habe Shakespeares Theaterstücke geschrieben.

James Shapiros Bestseller (dem er mit “1606” inzwischen auch noch ein weiteres Jahresbuch hat folgen lassen) geht grundsätzlich den zweiten Weg: Es konzentriert sich auf die historischen Ereignisse des Jahres 1599, das Shapiro als ein Wendejahr in der Entwicklung Shakespeares begreifen möchte. In diesem Jahr wurde das Globe-Theater errichtet, und Shapiro argumentiert dafür, dass Shakespeare in diesem Jahr einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung zum Ausnahmeschriftsteller seiner Zeit getan habe. Shapiro betont außerdem, dass eine angemessene Rezeption Shakespeares ohne die Kenntnis der Kultur und Geschichte seiner Zeit nicht möglich ist, ein Grundsatz, der in dieser Allgemeinheit natürlich einerseits eine Banalität darstellt, dem andererseits aber bis heute in der Phrase von der Zeitlosigkeit Shakespeares eine weitere Banalität entgegensteht.

Der Leser sollte von Shapiros Buch nun nicht alle jene Einsichten in das Leben Shakespeares erwarten, die er aus anderen Biographen über den Schwan vom Avon nicht hat erhalten können. Shapiro erzählt die tagespolitischen und kulturellen Ereignisse des Jahres 1599 nach, soweit wir sie noch kennen: den Feldzug Essex’ gegen Irland und den Anfang vom Ende dieses Machtpolitikers, die gegenstandslose Armada-Hysterie des Jahres 1599, die Gründung der East India Company, den Tod und die Beisetzung Edmund Spensers, den Neubau des Globe, den Weggang des Clowns William Kemp von den Chamberlain’s Men und einige Kleinigkeiten mehr. Außerdem setzt er sich mit vier von Shakespeares Stücken auseinander, deren Entstehung wahrscheinlich in das Jahr 1599 fällt: „König Heinrich V.“, „Julius Cäsar“, „Wie es Euch gefällt“ und „Hamlet“. Shapiro gelingt dabei keine sehr enge Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und den Theaterstücken. Einsichten wie die folgende sind das äußerste, was man erwarten darf:

Born into a world in which the old religion had been replaced by the new, and like everybody else, living in nervous anticipation of the imminent end of Elizabeth’s reign and the Tudor dynasty, Shakespeare’s sensitivity to moments of epochal change was both extraordinary and understandable. In Hamlet he perfectly captures such a moment, conveying what it means to live in the bewildering space between familiar past and murky future. [S. 279]

Es ließe sich hier nun zu Recht einwenden, dass beinahe jeder Schriftsteller zu jeder Zeit “in the bewildering space between familiar past and murky future” gelebt habe oder sich wenigstens einbilden durfte, das zu tun, dass aber kein anderer einen „Hamlet“ daraus zustande gebracht hat. Doch Shapiro würde sich gegen diesen Einwand kaum zur Wehr setzen. Es geht ihm überhaupt nicht darum, Shakespeare Stücke konsequent aus ihrer Zeit heraus zu entwickeln, sondern er glaubt nur, dass sich beliebte Missverständnisse vermeiden lassen, wenn man sie aus ihrer Zeit heraus zu verstehen versucht.

Hat man die im Großen und Ganzen eher lockere Parallelität zwischen Epochenerzählung und Interpretation der Stücke akzeptiert, ist Shapiros Buch eine anregende und sehr informative Lektüre. Es ist daher kein Wunder, dass das Buch auch nach mehr als 10 Jahren noch nicht auf Deutsch vorliegt.

James Shapiro: A Year in the Life of William Shakespeare: 1599. New York, London u.a.: HarperCollins, 62010. Broschur, 410 Seiten. Ca. 13,– €.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt

MacGregor-Shakespeares-WeltNeil MacGregor ist der Direktor des Britischen Museums und hat im Jahr 2011 mit seiner Kulturgeschichte „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ einen internationalen Bestseller geschrieben, die die Entwicklung der Zivilisation anhand ausgesuchter Artefakte aus dem Bestand des Museums nacherzählte. In ähnlicher Weise aufgebaut folgt nun ein Buch zur Zeit und der Welt Shakespeares, also der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Der Band ist reich illustriert und zeichnet in 20 Kapiteln anhand von Alltagsgegenständen und Druckwerken der Zeit ein durchaus weit gespanntes Panorama der englischen Kultur, Gesellschaft und Politik der Elisabethanischen und ersten Jahre der Jakobinischen Ära. Das ein oder andere Thema spielt bei Shakespeare nur indirekt eine Rolle, wobei MacGregor es versteht, auch die Blindstellen in Shakespeares Widerspiegelung seiner Lebenswelt in den Stücken interessant zu machen.

Das Buch versucht nicht, eine Shakespeare-Biographie zu liefern oder Shakespeares Stücke in irgendeinem erschöpfenden Sinne zu interpretieren (Interpretationen zitiert MacGregor klugerweise von Experten), es will nur die reichhaltige Verwebung der Stücke Shakespeares und der ihre Zuschauer (und ihren Autor) umgebenden Kultur an prominenten Einzelbeispielen aufscheinen lassen. Dies gelingt ihm ausgezeichnet. Das Buch ist als Einführung in die Welt Shakespeares und den Reichtum und die Offenheit seines Theaters bestens geeignet. Es macht Lust, sich mit der spannungsreichen und widersprüchlichen Kultur und Geschichte dieser Zeit, zu der Shakespeares Stücke nur ein Segment einer ganzen Reihe liefern, intensiver auseinanderzusetzen.

Erwähnt werden sollte auch, dass der Band nicht nur in sehr guter Qualität auf schwerem Papier gedruckt wurde, sondern bei einem Preis von knapp 30,– Euro auch mit einer Fadenheftung glänzt. Hätte man auch noch einige Druckfehler ausgemerzt (einer macht – in einer Bildunterschrift – aus dem gerade wieder einmal populären Gun-Powder-Plotter Guy Fawkes einen Guy Hawkes), wäre der Band ein Musterstück geworden.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Zeit. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: C.H. Beck, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 29,95 €.