Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg

Im Vergleich zu dem emsigen Herzog Maximilian von Bayern, war der „Bierjörge“ ein fauler Gesell, der die eine Hälfte seiner Zeit mit Jagen und Saufen verbrachte und die andere mit Saufen und Jagen (zwischen 1611 und 1653 soll der Kurfürst sage und schreibe 113 629 Stück Wild erlegt haben).

Vorausschauend aufs nächste Jahr bringt der Theiss Verlag, mithin die Wissenschaftliche Buchgesellschaft die Übersetzung eines englischen Buches aus dem Jahr 2009 auf den Markt. Wilsons Darstellung des Krieges sowie seiner Vorgeschichte und seinen Nachwirkungen umfasst beinahe 1000 Seiten, mit dem Anhang 1144. Es handelt sich um ein de­tail­lier­tes, eng an den historischen Daten geführtes und weitgehend ideologiefreies Bild der Kriege zwischen 1555 und 1648, ihrer Vorgeschichte, den Zusammenhängen zwischen ihnen und ihrem jeweiligen Einfluss auf das weitere Geschehen.

Allein auf die Vorgeschichte der Serie von Auseinandersetzungen, die wir gemeinhin den Dreißigjährigen Krieg nennen, verwendet Wilson etwa 340 Seiten, auf denen er eine europäische Umschau über die Interessen der einzelnen internationalen Mitspieler (die beiden Zweige Habsburgs, das Heilige Römische Reich, die niederländischen Generalstaaten, Dänemark, Schweden und Polen sowie Frankreich, England, Ungarn und nicht zuletzt die Türkei) hält. Aufgrund dieser Bestandsaufnahme sieht sich Wilson gerechtfertigt, seine Darstellung des Kriegsgeschehens, das mit dem Böhmischen Auf­stand beginnt und dem Westfälischen Frieden endet, wesentlich unter drei Voraussetzungen zu schreiben, die in dieser Kombination nicht von allen anderen Historikern geteilt werden:

  1. Es hilft nicht, den Krieg sowohl in seinem Anfang als auch in seinem Verlauf auf eine oder wenige Ursachen zu reduzieren. Stattdessen muss versucht werden, der außerordentlichen Komplexität des Geschehens gerecht zu werden.
  2. Der Dreißigjährige Krieg war nicht in erster Linie ein Religionskrieg:

Der Dreißigjährige Krieg war nur insofern ein Religionskrieg, als der Glaube in der frühen Neuzeit das leitende Prinzip in allen Bereichen öffentlichen oder privaten Handelns lieferte. Um den tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem militärischen Konflikt und den theo­lo­gi­schen Streitigkeiten innerhalb des Christentums zu verstehen, müssen wir zwischen militanten und gemäßigten Gläubigen unterscheiden.

  1. Der Dreißigjährige Krieg war nicht unvermeidlich.

Entlang dieser Grundthesen entwickelt Wilson dann auf über 500 Seiten ein Panorama des Krieges, das an Faktenreichtum seinesgleichen sucht: Niemals ist ein Heer einfach nur ein Heer, sondern immer erfahren wir seine Stärke, seine Zusammensetzung und wer es wann angeworben und wieviel er dafür bezahlt hat bzw. hätte bezahlen müssen. Einfache ö­ko­no­mi­sche Zwänge der Kriegsführung wie etwa die Tatsache, dass man ein Heer bei seiner Auflösung auszahlen muss, weshalb man es lieber in den näch­sten Konflikt entsendet, in der berechtigten Hoffnung, dass sich zahl­rei­che der Soldforderungen im Laufe der Zeit von selbst erledigen werden, werden von Wilson auf derselben Ebene diskutiert wie territoriale, genealogische, hierarchische oder religiöse Ziele der handelnden Parteien.

Doch Wilsons Darstellung ist nicht nur minutiös, sie ist auch weitgehend frei von übergeordneten ideologischen Konzepten, die versuchen, den Krieg in einen großen Zusammenhang einzubinden, in dem das immer mehr oder weniger zufällige Nacheinander sich zu einem sinnfälligen Prozess gestaltet. Dies geht soweit, dass Leser sich eventuell zuerst andernorts einen Überblick über den Kriegsverlauf im Großen verschaffen sollten, bevor sie versuchen, Wilson zu folgen. Wilsons Erzählung ist oft dem konkreten Geschehen so nah, dass der Leser sich in die Perspektive des Zeitgenossen versetzt fühlt, der den Abläufen nur mehr beobachtend, nicht verstehend folgen kann. Nach einer ebenso exakten wie um­fas­sen­den Darstellung des Krieges und Friedensschlusses klingt das Buch mit 100 Seiten über seine Nachwirkungen aus: Politische, ökonomische, demographische, soziale und kulturelle Folgen werden thematisiert.

Ich muss unmittelbar nach der Lektüre zugeben, dass es mir schwerfällt, einen kritischen Standpunkt gegenüber Wilsons überwältigender Kriegs­ge­schich­te zu entwickeln. Beinahe war ich erleichtert darüber, dass jedes einzelne Urteil Wilsons (so sehr viele sind es nicht) über Friedrich Schiller und dessen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dreißigjährigen Krieg mit Fehlern behaftet ist – was für eine Erleichterung!

Ein sehr gründliches und überzeugendes Geschichtsbuch. Es stellt wahr­schein­lich für die meisten Leser eine Zumutung dar, da es das historische Geschehen nicht in einer einzigen überlegenen und sou­ve­ränen Ein­ord­nung handhabbar und verständlich macht, sondern es als einen le­ben­di­gen, sich aus sich selbst fortzeugenden Prozess behandelt, der nur aus seinen direkten und immer konkreten Voraussetzungen heraus ver­ständ­lich wird. Wahrscheinlich sollte alle Geschichte so oder so ähnlich ge­schrie­ben werden; durchsetzen wird es sich nicht, allein schon wegen der Mühsal, die der Autor damit gehabt haben muss, sich die Grund­la­gen für eine solche Erzählung zu erarbeiten. Ein Buch für alle, die sich entweder für die komplexe und faszinierende Welt des 17. Jahrhunderts oder für historisches Erzählen überhaupt interessieren.

Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg. Eine europäische Tragödie. Aus dem Englischen von Thomas Bertram, Tobias Gabel und Michael Haupt. Stuttgart: Theiss, 2017. Pappband, Lesebändchen, 1144 Seiten. 49,95 €.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Die schiere Existenz dieser Idee war ein unwiderlegbarer Beweis, dass sie den Tatsachen entsprach.

Frankensteins Monster, das so häufig direkt mit dem Namen seines Schöpfers identifiziert wird, ist eine der Ikonen des Schauders der wissenschaftlichen Laien angesichts der Errungenschaften der modernen Wissenschaft. Sein Schöpfer, Victor Frankenstein (kein „Baron“, kein „von“, kein „Dr.“!), steht stellvertretend für die Hybris der modernen Wissenschaft, die sich von ihren eigenen Schöpfungen verfolgt sieht, nachdem sie sie in die Welt entlassen hat. Natürlich ist das alles nur in den Köpfen der wissenschaftlichen Laien und der Naiven, Idealisten und Gutmenschen so, während die Wissenschaftler ihre objektive Distanz bewahren und die Dinge auch weiterhin so sehen, wie sie wirklich sind.

Nachdem wir auf diese Weise sowohl die metaphysisch als auch die wissenschaftstheoretisch relevanten Zugriffe auf den Stoff erledigt haben, wenden wir uns dem Buch zu: Manesse legt in einer überarbeiteten Übersetzung die Urfassung von Mary Shelleys berühmtem Roman Frankenstein aus dem Jahr 1818 vor. Die Unterschiede zur späteren Überarbeitung von 1831 sind nicht besonders gewichtig, nehmen dem Buch aber die eine oder andere autobiographische, satirische oder kritische Spitze. Dem Interessierten werden die wichtigsten Differenzen zwischen den beiden Versionen in den Anmerkungen zum Text ausreichend erläutert.

Mary Shelley selbst betont in ihrem Vorwort, dass der Roman aus einer Laune heraus entstanden ist: Sie verbrachte zusammen mit ihrem Mann, Lord Byron und Dr. Polidori einige regnerische Tage in der Gegend um Genf. Zur Unterhaltung las man gemeinsam eine Sammlung deutscher Schauergeschichten, die ins Französische übersetzt worden war. Man unterhielt sich mit den und über die Erzählungen und beschloss, jede und jeder einen Beitrag zum Genre zu liefern. Ganz und gar abgeschlossen wurde wohl nur der Roman von Mary Shelley, der spielerisch und um der schauerlichen Wirkung willen einige Themen der zeitgenössischen Wissenschaft aufnimmt und zur Gothic Novel umdichtet.

Der Roman beginnt mit einer Rahmenerzählung um den englischen Abenteurer Robert Walton, der sich auf einer Expedition zum Nordpol befindet, als er eines Tages den abgemagerten und kranken Victor Frankenstein von einer Eisscholle aufliest. Nach einigem Zögern erzählt Frankenstein seinem Retter seine Lebensgeschichte, die dieser aufzeichnet und seiner Schwester in England zusendet. Im Zentrum dieser ersten Binnenerzählung steht, wie schon angedeutet, ein übergeschnappter Wissenschaftler, der aus der Hybris seiner jugendlichen Genialität heraus den Entschluss fasst, das Unmögliche möglich zu machen und Leben aus leblosem Stoff zu erschaffen. Angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten der mikroskopischen Chirurgie fällt sein erstes und einziges Musterstück etwas grob aus, so dass selbst sein Schöpfer sich der spontanen Bezeichnung Monster nicht enthalten kann. Das namenlose Monster entflieht, nachdem es einmal zum Leben erwacht ist, dem Labor seines Schöpfers, der sich angesichts des eigenen Grauens vor seiner Kreatur ins Bett zurückgezogen hat. Als er wieder erwacht und das Monster entflohen findet, versucht er zur Tagesordnung überzugehen.

Von seiner um ihn besorgten Familie ins heimatliche Genf zurückgerufen, findet er bei seiner Rückkehr seinen jüngsten Bruder William ermordet und ein Hausmädchen der Familie des Verbrechens angeklagt. Da er aber in der Nacht seiner Ankunft das Monster in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben glaubt, steht für ihn fest, dass er sich selbst die Schuld am Tod seines Bruders und der Verurteilung und Hinrichtung des unschuldig verdächtigten Mädchens zuschreiben muss. Um der Depression, die sich aus diesem Schuldgefühl ergibt, gegenzusteuern, unternimmt die Familie Frankenstein einen Ausflug nach Chamonix. Dort wird Victor bei einer Gletscherwanderung von seiner Kreatur gestellt, die ihm in einer weiteren ausführlichen und seitenschindenden Binnenerzählung ihr Leben nach der Flucht aus dem Laboratorium erzählt. Nach einigem Umherirren wird er zum versteckten Beobachter einer Familie, deren Schicksale nun in einer dritten Binnenerzählung eingeholt werden, die aber gänzlich unerheblich für den Roman ist und nur als eine schlecht erfundene Ausrede dafür herhalten muss, wie das Monster zu seiner intellektuellen und ethischen Erziehung kommt, die es nun befähigt, seinem Schöpfer mit einer Forderung entgegenzutreten: Er will eine Gefährtin erschaffen haben, ein Objekt und Subjekt der Liebe, die er in sich fühlt, aber nicht leben kann, da alle Menschen nur mit Entsetzen auf seine Erscheinung reagieren.

Bedroht von seiner Kreatur, die er zugleich bemitleidet, und beeinflusst von seiner Sorge um seine Familie, die das Monster mit Mord und Totschlag bedroht, stimmt Frankenstein zu, dem Monster eine solche Gefährtin an die Seite zu stellen. Er reist zu diesem Zweck mit seinem Jugendfreund Henry Clerval zuerst nach London und von dort weiter nach Schottland. Dort zieht er sich auf eine der Orkneyinseln zurück, um die zweite Kreatur zu erschaffen. Doch dann besinnt er sich eines anderen gerade in dem Moment, als ihn das Monster auf der Insel aufsucht. Frankenstein verweigert sich nun der Forderung seiner Kreatur, die ihm daraufhin droht, ihn in seiner Hochzeitsnacht wieder aufzusuchen. Das Monster flieht, ermordet unterwegs noch rasch Henry Clerval, ein Mord, der diesmal Victor Frankenstein zur Last gelegt wird, der aber auf wundersame und gänzlich unglaubhafte Weise von dem Verdacht rein gewaschen wird. Es lohnt nicht, die Geschichte noch weiter nachzuerzählen; es endet jedenfalls damit, dass Frankenstein sich selbst zur Jagd auf seine Kreatur verpflichtet und auf diesem Wege im Nordmeer endet, wo er von Robert Walton aufgelesen wird, der seine Lebensgeschichte aufzeichnet und wohl auch für ihre Publikation nach dem Tod des Monsterschöpfers Sorge getragen haben wird.

Sieht man von seiner ungeheuerlichen Berühmtheit und Ungelesenheit ab, so muss der Roman wohl leider als ziemlich miserabel bezeichnet werden. Nahezu alle seine Aspekte sind schlecht konstruiert und unglaubwürdig, an viel zu vielen Stellen merkt man, dass sich die Autorin nur etwas zusammenreimt, ohne auch nur eine geringe Ahnung davon zu haben, wie das, was sie beschreibt, ins Werk gesetzt werden oder auch schlicht nur geschehen sollte. Je tiefer die Binnenerzählungen geschachtelt sind, desto einfältiger und schematischer werden sie. Die Gespräche zwischen der Kreatur und ihrem Schöpfer sind so voller Plattitüden, dass es nur als unfreiwillige Ironie aufgefasst werden kann, dass gerade sie von Victor Frankenstein selbst „korrigiert und verbessert“ worden sein sollen, „hauptsächlich um die Gespräche zwischen ihm und seinem Widersacher lebhafter und geistreicher zu gestalten“. Und was soll man zu einem Buch sagen, das ernsthaft Sätze wie die folgenden enthält:

Landwirte führen ein über aus gesundes Leben, und es ist der am wenigsten schädliche oder eher der zuträglichste aller Berufe.

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass noch nicht alles überstanden war und dass es abermals ein abnormes Verbrechen verüben würde, dessen Ungeheuerlichkeit die Erinnerungen an das vorherige womöglich gar in den Schatten stellte.

Ach! Victor, wenn Lüge der Wahrheit doch so ähnlich ist, wer kann sich dann noch seines Glücks sicher sein? Mir ist, als ginge ich am Rand eines Abgrunds entlang, an dem sich Tausende versammeln und mich in die Tiefe zu stoßen versuchen.

Auch ich begriff zum ersten Mal, welche Pflichten ein Schöpfer gegenüber seinem Geschöpf hat und dass ich für sein Glück sorgen sollte, bevor ich seine Bosheit beklagte.

Verzagen sie nicht. Keine Freunde zu haben ist wirklich ein großes Unglück. Doch die Herzen der Menschen sind voll brüderlicher Liebe und Güte, wenn sie nicht gerade wegen ihrer eigenen naheliegenden Interessen Vorurteile hegen.

Solche Lebensweisheiten und -einsichten sind leider omnipräsent im gesamten Text. Und das hat sich auch mit der späteren Fassung nicht geändert.

Wer das Genre schätzt, findet hier natürlich einen der ganz großen Klassiker, der die Quelle noch zahlloser Romane des 19. und 20. Jahrhunderts werden sollte. Wer das Genre historisch liest, nimmt das Buch achselzuckend zur Kenntnis als ein Beispiel für einen schwachen Text einer mäßig begabten Autorin, die aufgrund der Tatsache, dass sie zufällig und mehr schlecht als recht eine der mythologischen Unterströmungen unserer Kultur getroffen hat, einen Bestseller und Klassiker landen konnte. Manchmal hilft die Nutzung einer Wünschelrute eben doch.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Urfassung von 1818. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. München: Manesse, 2017. Geprägter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 464 Seiten. 22,– €.

Jane Austen: Vernunft und Gefühl

Heute vor 200 Jahren verstarb Jane Austen nach einer kurzen, aber durchaus erfolgreichen Karriere als Schriftstellerin im Alter von nur 41 Jahren. In diesem Gedenkjahr legt Manesse eine Neuübersetzung ihres ersten veröffentlichten Romans “Sense and Sensibility” (1811) vor. Zu Inhalt und literarhistorischer Einordnung des Buches ist hier an anderer Stelle schon etwas gesagt worden, das nicht wiederholt zu werden braucht.

Die Neuübersetzung von Andrea Ott liefert einen eingängigen Text für den heutigen Markt, der sich grundsätzlich durch eine geschmeidige, glatte Sprache auszeichnet. Insofern wird sie den meisten der nicht­phi­lo­lo­gischen Leserinnen Jane Austens entgegenkommen. Ott nimmt sich aber zu diesem Zweck große Freiheiten in Wortstellung und Ausdruck heraus, die ihren Text ein deutliches Stück vom Original weiter entfernen als die von mir wegen ihrer hohen Präzision geschätzte Übersetzung von Ursula und Christian Grawe. So bezeichnet Austen zum Beispiel gleich auf der ersten Seite die zweite Ehefrau Henry Dashwoods mit den Worten “by his present lady”, also gerade nicht als “his second wife”. Nun ist es sachlich natürlich nicht falsch, das mit „von seiner jetzigen Frau“ zu übersetzen, aber es trifft den Ton des Originals nicht; besser ist das von den Grawes verwendete Wort „Gemahlin“, das zwar altertümelnd daherkommen mag, der Stillage Austens aber eindeutig näher steht.

Dieses kleine Beispiel soll pars pro toto meine grundsätzliche Ein­schät­zung der Übersetzung Otts illustrieren und keine Kritik an deren Arbeit darstellen. Es gilt für alle Übersetzungen, dass sie immer nur in der Lage sind, höchstens auf einen oder zwei Aspekte des Originals scharf zu stellen. Wer einen inhaltlich korrekten und zugleich eingängigen Text lesen möchte, ist mit dieser Neuausgabe gut bedient; wer allerdings einen Text sucht, der ihm eine Vorstellung vom Stil und auch der Kantigkeit Jane Austens liefert, wird auch weiterhin zu der Ausgabe bei Reclam greifen.

Jane Austen: Vernunft und Gefühl. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Zürich: Manesse, 2017. Pappband, Lesebändchen, 412 Seiten. 26,95 €.

Francis Spufford: Neu-York

«Sagen Sie», erwiderte Smith, «halten Sie auch heute noch so wenig von Romanen?»
«Das war meine Meinung ja erst gestern, und heute ist nicht so viel geschehen, dass ich Anlass gehabt hätte, sie zu ändern. Also ja. Schmant für kleine Geister, Sir. Nahrung für all jene, denen alles schmeckt.»

Inzwischen dreifach preisgekrönter Erstlingsroman eines bereits als Sachbuch-Autor etablierten englischen Schriftstellers. Das Buch spielt vor der Kulisse des noch holländisch geprägten, aber von England beherrschten New Yorks der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hier kommt am 1. November 1746 ein geheimnisvoller Engländer an, Richard Smith mit Namen, und begibt sich au­gen­blick­lich zu einem der reichen Kaufleute der Stadt, um ihm einen Wechsel über 1.000 englische Pfund zu über­rei­chen. Seiner Forderung wird mit Misstrauen begegnet, und man einigt sich darauf, auf weitere Bestätigungen der Forderung aus England zu warten und, nach deren Eintreffen, den Wechsel zu Ende Dezember 1746 einzulösen.

Die zwei Monate bis dahin werden mit einigen wilden Abenteuern Smith’ gefüllt, darunter auch erotischen, mehreren Verfolgungsjagden, Ge­fäng­nis­auf­ent­ha­lten, einem Duell und was der knalligen Episoden mehr sind. Erst ganz am Ende erfährt der Leser, was der eigentliche Auftrag ist, den Smith in Neu-York zu erledigen hat, und noch am Ender, das eines der jungen Mädchen des Romans, die Smith bis beinahe zur letzten Seite umwirbt, die vorgebliche Erzählerin des Buches sein soll. Diese letzte Wendung der Erzählform geht leider nicht auf, nicht nur weil es auch für eine unkonventionelle Frau des frühen 19. Jahrhunderts unmögliche wäre, bestimmte Passagen des Buches zu verfassen, sondern auch weil sie trotz ihrer Behauptung, Smith’ Geschichte nacherzählen zu wollen, auf weiten Strecken Stoff verarbeitet, der ihr auf keine Weise zur Kenntnis gekommen sein kann. Dies scheint daher ein Nachgedanke des Autors gewesen zu sein, nicht die ursprüngliche Konstruktion der Erzählung.

Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Übersetzung im Detail zu prüfen; von der am Original gelobten Nähe zur Sprache des 18. Jahrhunderts ist in der deutschen Fassung nur hier und da eine altertümelnde Schreibweise festzustellen, die aber kaum irritieren dürfte. Im Großen und Ganzen reden die Figuren wie Kunstfiguren des 20. Jahrhunderts und nicht wie Personen des 18. Jahrhunderts miteinander; ganz und gar unmöglich sowohl im Ton als auch im Stoff ist der angebliche Brief, den Smith aus dem Gefängnis an seinen Vater schreibt, der nicht nur die Briefform selbst massiv sprengt, sondern der sich auch auf keine erdenkliche Weise im Besitz der Erzählerin befinden kann.

All das macht deutlich, dass es sich um einen zwar flott erzählten, sonst aber  weitgehend gewöhnlichen Text der rezenten Unterhaltungsliteratur handelt, dessen humanitäre Pointe ebenso aufgesetzt ist wie alles andere. Zudem weist er die üblichen Schlampereien des Genres auf: Der 5. November 1746 war kein Sonntag, sondern ein Samstag (nach dem julianischen Kalender wohlgemerkt, der bis 1752 in England und den englischen Kolonien noch galt; merkwürdigerweise stimmt im letzten Drittel des Buchs die Zuordnung von Daten und Wochentagen), der Geburtstag des Königs George II wird zwei Tage zu spät gefeiert (sein Thronjubiläum fiele zwar auf einen 11., aber einen Monat früher), Smith kennt bereits 1746 Laurence Sterne als Erzähler und was der Kleinigkeiten mehr sind. Natürlich muss einen das nicht stören, aber es macht eben die Sorgfalt deutlich, die der Autor, der Übersetzer und zwei Lektorate dem Text gewidmet haben. Natürlich hat der Autor die Ausflucht, dass alle diese Fehler seiner Erzählerin zuzuschreiben sind; sinnvoller werden sie dadurch aber nicht.

Alles im allem kein schlechter Schmöker, der aber in Bezug auf den von der Kritik gezogenen Vergleich zu Fielding und Sterne erheblich zu kurz springt.

Francis Spufford: Neu-York. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Reinbek: Rowohlt, 2017. Pappband, Lesebändchen, 396 Seiten. 19,95 €.

Paul Scott: Der Skorpion

Nun ja, die Wahrheit ist immer eine Sache, aber in gewisser Weise zählt nur das andere, der Klatsch.

Der zweite Band des Raj Quartets, der mit seiner Handlung unmittelbar an die Ereignisse in „Das Juwel in der Krone“ anschließt. Im Mittelpunkt steht diesmal die Familie Layton oder genauer Sarah Layton, die zusammen mit ihrer jüngerern Schwester Susan als Tochter eines englischen Militärs in Nordindien aufgewachsen ist. Bei einer eher beiläufigen Gelegenheit lernt Sarah Lady Manners kennen, die Tante jenes Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fers aus dem vorangegangenen Band; außerdem befindet sich unter den Freunden des Verlobten ihrer Schwester jener Ronald Merrick wieder, der als Polizeichef die Ermittlungen im Fall der Vergewaltigung geleitet hatte. Im Mittelpunkt von Sarahs Aufmerksamkeit aber steht die Hochzeit Susans mit Teddie Bingham, einem englischen Captain.

Zu Beginn des Romans aber wird die Verhaftung Mohammed Ali Kasims im August 1942 geschildert. Kasim ist ein führender moslemischer Funktionär der Kongresspartei und ehemaliger Ministerpräsident der Provinz Ranpur. Er wird wie viele andere Führer der Kongresspartei von den Engländern verhaftet in der Hoffnung, man könne auf diese Weise den befürchteten Aufständen ihre Anführer nehmen und sie auf diese Weise schon vor ihrem Ausbruch verhindern. Kasim wird von britischen Gouverneur der Provinz das Angebot gemacht, aus der Kongresspartei aus- und in sein Kabinett einzutreten, um sich auf diese Weise die drohende Haft zu ersparen. Kasim lehnt es aber ab, sich auf diese Weise instrumentalisieren zu lassen, und geht mit zumindest äußerlich stoischer Haltung in die luxuriöse Einzelhaft, die man ihm zugesteht. Dieser Abschnitt der Erzählung, der über einen der Söhne Kasims, Achmed, eher locker mit der Geschichte der Laytons verknüpft ist, dient Scott dazu, in dem langen Gespräch zwischen Kasim und dem Gouverneur die im ersten Band eher am Rande vorkommenden politischen Hintergründe ausführlicher vorführen zu können.

In einem zweiten Nebenstrang des Romans liefert Scott Material zu dem Fall der Vergewaltigung Daphne Manners nach: Sowohl der ehemalige Polizeichef Merrick als auch der Geliebte Daphnes, Hari Kumar, kommen ausführlich zu Wort und schildern den Fall und seine Umstände aus ihrer jeweiligen Sicht. Hierbei handelt es sich um Material, das eigentlich in den ersten Band gehört, dort aber den Rahmen des Buches gesprengt hätte, ohne etwas Wesentliches zu der Darstellung des Falles beizutragen. Dies bleibt leider auch in diesem zweiten Roman der zentrale Mangel dieses Stoffs: Die erneute Durcharbeitung der Vorgeschichte der Vergewaltigung und die ausführlicher Motivierung der beiden Akteure Merrick und Kumar, die sich beide um die Liebe Daphnes bemüht hatten, bringt nichts Neues: Merrick erweist sich als genau der britische Holzkopf, den man im ersten Band schon in ihm erkennen konnte, und Kumar schafft es nicht, auch nur ein einziges Detail beizusteuern, das einen aufmerksamen Leser des ersten Bandes überraschen würde. Hier wird breitgetreten, was im ersten Band so vorteilhaft auf sich beruhen durfte.

Leider muss ich feststellen, dass sich meine Enttäuschung über „Das Juwel in der Krone“ bei der jetzigen Lektüre nur fortgesetzt hat: Scott ist es nicht gelungen, mich für seine Figuren mehr als beiläufig zu interessieren. Das liegt hauptsächlich daran, dass keine seiner Figuren mehrdimensional oder offen für Entwicklung erscheint. Selbst die beiden differenziertesten Figuren, Ali Kasim und Sarah Layton, ragen nicht über ihre Funktion in der Konstruktion des Textes hinaus. Alles an ihnen ist brav und klug erfunden und dient den Absicht des Autors, aber ihnen wird kein Überschuss mitgegeben, der aus ihnen Personen anstatt nur Figuren werden lässt. Am enttäuschendsten sind dabei Merrick und Kumar, die im ersten Band so etwas wie verhinderte Rivalen waren: Ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung und das Missverhältnis der Macht, die Merrick über Kumar auszuüben in der Lage ist, verhindern eine tatsächliche Rivalität. Daphne Manners verliebt sich in Kumar und weist Merrick ab (Kumar gewinnt), Merrick verhaftet Kumar und wirft ihn nach einer in der Sache gänzlich nutzlosen Nacht der Folter ins Gefängnis (Merrick gewinnt). Dieses Missverhältnis kann nirgends und für nichts erzählerisch fruchtbar gemacht werden, was dazu führt, dass sich im zweiten Band diese beiden Figuren auch nicht für einen einzigen Augenblick begegnen können. Ihre beiden Binnenerzählungen müssen unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Das soll nicht als Vorwurf an den Autor verstanden werden, sondern ist nur die Einsicht in die Konsequenzen aus den soziologischen und politischen Bedingungen des Erzählten. Durch die Einsicht in diese Bedingtheit werden aber leider weder die Figuren noch das Erzählte besser.

Ich werde daher die Lektüre des Raj Quartets mit diesem Band abbrechen, da ich nicht die Hoffnung hege, dass die weiteren Bände, die einen ähnlichen Umfang haben, eine Besserung der Lage bringen werden. Die Reihe ist für jemanden, dem die sozialen und politischen Verhältnisse in Indien in den 40-er Jahren nicht oder nur wenig geläufig sind, vielleicht von einigem Interesse; literarisch aber springt sie leider um ein Weniges zu kurz.

Paul Scott: Der Skorpion. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72128. München: Goldmann, 1997. Broschur, 608 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Paul Scott: Das Juwel in der Krone

Paul Scott (1920–1978) darf in Deutschland als unbekannter Autor gelten und das, obwohl gleich acht seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden: In den 60-er Jahren des vorigen Jahrhunderts zwei bei Kiepenheuer & Witsch sowie einer bei Blanvalet; dann von 1985 an sein Raj-Quartet, das zwischen 1965 und 1975 entstanden ist, und zusätzlich den Nachzügler zu dieser Tetralogie, der 1977 sogar den Booker-Preis gewann, den der schon sehr kranke Autor aber leider nicht mehr entgegennehmen konnte. Die fünf zuletzt genannten Bände legte 1997/1998 Goldmann noch einmal im Taschenbuch vor, um Scott damit in die erneute Vergessenheit zu verabschieden.

Ich habe „Das Juwel in der Krone“, den ersten Band des Raj-Quartets, vor 20 Jahren auf eine Empfehlung hin gelesen, und seitdem immer vorgehabt, die Reihe komplett zur Kenntnis zu nehmen. Nun habe ich mich innerlich verpflichtet gefühlt, dem doch noch nachzukommen, bevor ich die Bände wegen des eklatanten Platzmangels in der Bibliothek aussortiere, und habe daher erneut mit diesem Auftaktband begonnen.

Die Handlung spielt im Wesentlichen im Jahr 1942 in der erfundenen nordindischen Stadt Majapur. Den Kern bilden einige wenige Tage im August, nachdem die Cripp’s Mission gescheitert ist und Gandhi den Konflikt mit der britischen Obrigkeit bewusst verschärft. Auch in Majapur und Umgebung kommt es zu Unruhen: Die Leiterin einer Missionsschule wird auf einer Inspektionsfahrt zu einer ihrer Schulen von einer Gruppe Aufständiger überfallen, und dabei wird ein indischer Lehrer getötet. Und es kommt unter anderem in Majapur zur Vergewaltigung einer Engländerin in einem Park durch eine Gruppe von Indern; besonders dieser Vorfall ist in seinen Umständen sehr komplex, und es benötigt das gesamte Buch, bis dem Leser die tatsächlichen Abläufe und ihre Folgen klar sind.

Neben den in diese Ereignisse direkt verwickelten Figuren weist der Roman eine ganze Reihe weiterer Hauotpersonen auf, die dem Geschehen mehr oder weniger nahestehen: der örtlichen Polizeichef, der der später vergewaltigten Engländerin einen Heiratsantrag macht, aber abgewiesen wird, eine reiche Inderin, bei der die junge Engländerin wohnt, und die stellvertretend das aus Sicht der Engländer gesellschaftsfähige Indien repräsentiert, eine russische Emigantin, die ein Hospiz für diejenigen betreibt, die sonst auf der Straße sterben würden, einen jungen Inder, der in England aufgewachsen ist und nach Bankrott und Suizid seines Vaters nach Indien zurückgekehren musste, nur um sich dort als doppelter Außenseiter wiederzufinden, der militärische Anführer und der Chef der zivilen Verwaltung und noch einige mehr.

Scott hat für seine komplexe Schilderung der sozialen Verhältnisse, die den eigentlichen Gehalt des Buches darstellen, und der Ereignisse während der Tage des Aufstandes eine sich langsam fortentwickelnde Erzählform erfunden, die als auktoriale Erzählung zu beginnen scheint, sich aber zunehmend in den Bericht eines namenlosen Erzählers verwandelt, der versucht, die Umstände der Vergewaltigung zu rekonstruieren. So liefert das Buch in der zweiten Hälfte nicht nur Briefe der Figuren, sondern auch Auszüge aus biografischen Erinnerungen, die Niederschrift eines Interviews, Auszüge aus dem Tagebuch des Opfers etc. pp.

Insgesamt muss ich leider sagen, dass dem Roman die Zweitlektüre nicht unbedingt gut getan hat: Wenn der Leser einmal um die Umstände der Vergewaltigung weiß, ist ein wichtiges Spannungselement des Romans verschwunden, so dass mir besonders die ersten zwei Drittel diesmal einige Mühe gemacht haben. Ich schreibe das aber komplett der erneuten Lektüre zu, so dass man sich von einer ersten dadurch nicht abhalten lassen sollte. Ich hoffe, es gelingt mir in der nächsten Zeit einigermaßen zügig die anderen Bände folgen zu lassen.

Paul Scott: Das Juwel in der Krone. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72102. München: Goldmann, 1997. Broschur, 669 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Ian Kershaw: To Hell and Back

Churchill had proposed shooting major criminals as soon as they were caught. Stalin preferred them to be tried first and then shot.

Dass Ian Kershaw einer der hervorragenden Historiker des Zweiten Weltkriegs ist, wurde hier an andere Stelle schon einmal festgestellt. Dem breiteren Publikum ist er durch seine Hitler-Biographie (1998/2000) bekannt geworden; seitdem liefert er mit schöner Re­gel­mä­ßig­keit umfangreiche Bücher zum Zweiten Weltkrieg. Der vorliegende Band behandelt die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (genauer 1914–1949). Es handelt sich um den ursprünglich als Abschluss geplanten 8. Band von Penguins History of Europe, der ursprünglich das gesamte 20. Jahrhundert umfassen sollte. Kershaw hat sich dann aber zwei Bände für den Zeitraum ausgebeten, so dass eine Fortsetzung bis an die Gegenwart heran noch aussteht.

Auch Kershaw folgt dem Konzept des sogenannten kurzen 20. Jahrhunderts (das, wenn ich es richtig sehe, von Eric Hobsbawm populär gemacht wurde), zumindest was den Beginn seiner Darstellung angeht. Es besteht derzeit ein weitgehender Konsens, dass mit dem Ersten Weltkrieg ein radikaler Umbruch stattfand, der so zahlreiche gesellschaftliche und kulturelle Konventionen des 19. Jahrhunderts in Frage stellte, dass mit ihm eine neue Epoche begann. Die Wahl für das Jahr 1949 als Abschluss des ersten Bandes ist darin begründet, dass Kershaw damit die Nachwehen sowie die politischen und sozialen Folgen des Zweiten Weltkrieges noch in den Band aufnehmen kann. So schließt der Band mit den Entwicklungen, die zum Wiederaufstieg Deutschlands im Westen und der Entstehung des Kalten Krieges führen.

Bei aller Kürze (der Band behandelt 35 Jahre der Geschichte aller europäischer Nationen inklusive Russlands bzw. der Sowjetunion auf 520 Seiten) ist die Darstellung ausgezeichnet gewichtet und umfasst nicht nur die großen Linien der politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch soziale und kulturelle Entwicklungen. So ist das Buch wohl auch für diejenigen mit Gewinn zu lesen, die bereits über gute Kenntnisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts verfügen; ich habe etwa die Beschreibung der politischen Rolle der katholischen Kirche in dieser Präzision und Kürze bislang nirgendwo anders gefunden.

Kershaw gelingt einmal mehr eine gut strukturierte und exakte Analyse des komplexen historischen Materials ohne Zuhilfenahme eines groben ideologischen Schemas. Aufgrund von Kershaws klarem Stil ist das Buch sowohl als anspruchsvolle Einführung für historische Laien als auch als auffrischender Überblick für Kenner der Materie zu empfehlen. Man darf auf den zweiten Teil des Buches gespannt sein.

Ian Kershaw: To Hell and Back. Europe, 1914–1949. London: Allen Lane, 2015. Kindle-Edition, 574 Seiten. 10,99 €.

Zur Besprechung des zweiten Bandes Roller-Coaster

Arthur Conan Doyle: The Complete Sherlock Holmes

Wer was versteckt, der findets auch wieder.

James Joyce

Ich habe für die zweite vollständige Lektüre der Doyleschen Sherlock-Holmes-Romane und -Erzählungen wohl gute sechs Jahre gebraucht. Es war eines der ersten Bücher, die ich mir für den Kindle gekauft habe, und es war in dieser Zeit mein Vademecum, das immer herhalten musste, wenn unterwegs gerade kein anderes Buch zur Hand war oder ich keine Lust auf anstrengendere Lektüre hatte. Den ersten Durchgang habe ich zu Studienzeiten mit der damals aktuellen Neuausgabe des seligen Haffmans Verlages erledigt, den zweiten nun im englischen Original. Dabei soll betont werden, dass dieser Complete Sherlock Holmes so wie die meisten anderen sogenannten Gesamtausgaben natürlich nicht komplett ist, sondern nur jene Texte enthält, denen die Ehre zuteil wurde, von Doyle selbst in Buchform veröffentlicht zu werden. Für mich und mein Interesse genügte das immer.

Nun ist Sherlock Holmes im Verlauf des 20. Jahrhunderts deutlich über den Status einer literarischen Figur hinausgewachsen und zu so etwas wie einer kulturellen Ikone geworden. Natürlich ist dieser Prozess nicht ohne Verwerfungen abgelaufen, aber die unzähligen Verwandlungen, Ironisierungen und Neuerfindungen der Figur im Laufe ihrer mehr als hundertjährigen Existenz sind so vielgestaltig, dass sich zwangsläufig die Frage aufdrängt, warum gerade mit ihr eine solche Erfolgsgeschichte geschrieben wurde. An der literarischen Qualität der Texte kann es kaum liegen, denn das immer in ihnen wieder variierte Grundmuster ist sehr eng, die Texte sind sehr offensichtlich von ihrer Auflösung her konstruiert und Holmes’ Scharfsinn daher immer eine Täuschung, auf die nur die naivsten Leser dankbar hereinfallen dürften.

Holmes verkörpert zuerst einmal einen reizvollen und komplexen gesellschaftlichen Außenseiter: Seine unhöfliche Direktheit, seine Arroganz, sein Drogenkonsum bilden die (tolerable) dunkle Seite seines vorgeblichen Genies. Zu seiner intellektuellen Überlegenheit, die sich nicht nur aus seinem ungewöhnlichen Vermögen zum deduktiven Denken, sondern auch aus seiner extrem verfeinerten Beobachtungsgabe besteht,  treten seine emotionale Selbstbeherrschung, seine sportliche Fitness, seine Verachtung gesellschaftlicher Konventionen und sein aus all dem resultierendes Einzelgängertum hinzu. Alle diese Aspekte machen die Figur zu einem menschlichen Superhelden, ebenso souverän und überlegen wie verletzlich und leidend – immer eine gute Mischung.

Entscheidend für die Faszination der Figur und ihren Erfolg scheint mir aber noch etwas anderes zu sein: Holmes verkörpert wie kein Zweiter die Illusion, dass sich eine für den alltäglichen Blick undurchschaubar chaotische Welt rational durchdringen und erklären lässt. Holmes weist immer aufs Neue nach, dass sich das irrational oder gar unmöglich erscheinende Material der Welt am Ende doch einer rationalen Ordnung fügt. Insofern ist Holmes der Herakles des aufklärerischen Mythos von der prinzipiellen rationalen Erklärbarkeit der Welt. Und vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass dieser Mythos von den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts so erfolgreich durch sich selbst dekonstruiert worden ist, die Holmes zu einer Sehnsuchtsfigur nach den guten alten Zeiten des Rationalismus gemacht hat.

Arthur Conan Doyle: The Complete Sherlock Holmes. O.O.: Middleton Classics, 2010. Kindle-Edition, ca. 1560 Seiten. 1,02 €.

Jane Austen: Überredung

Annes Absicht war es, niemandem im Weg zu sein …

austen-ueberredung„Überredung“ ist der letzte Roman Jane Austens, den sie wenige Monate vor ihrem Tod fertiggestellt hat und der von ihrem Bruder zusammen mit dem üb­er­ar­bei­te­ten, älteren „Northanger Abtei“ postum her­aus­ge­ge­ben wurde. „Überredung“ hat nur etwa den halben Umfang seiner beiden Vorläufer „Mansfield Park“ und „Emma“, was dem Buch erzählerisch sehr zugute kommt. Es ist unklar, ob diese Entscheidung zugunsten der kürzeren Form eine ästhetische war oder Austen durch ihre Erkrankung aufgenötigt wurde.

Auch in diesem Fall variiert Austen wieder Charakter und sozialen Stand ihrer Protagonistin: Anne Elliot ist die zweite von drei Töchtern des Barons Walter Elliot, der nach dem Tod seiner Frau für einige Jahre deutlich über seine Verhältnisse gelebt hat und sich nun beträchtlich einschränken muss, um seine Schulden begleichen zu können. Seine jüngste Tochter Mary ist verheiratet mit einem Mann, der sich zuerst um Anne beworben hatte, von dieser aber abgewiesen worden war. Anne hatte vor dem Antrag ihres späteren Schwagers bereits einen Heiratsantrag von dem damals mittellosen Marine-Offizier Frederick Wentworth erhalten, diesen aber entgegen ihrer Neigung auf Zureden ihrer mütterlichen Freundin Lady Russell abgelehnt. Aufgrund dieser Situation hat man sie im väterlichen Haushalt quasi aufgegeben; die wenige Aufmerksamkeit, die der eitle und egozentrische Baron überhaupt aufbringen kann, gilt nun ihrer älteren, ebenfalls noch unverheirateten Schwester Elizabeth.

Der Roman beginnt mit der Auflösung des Haushaltes auf dem Herrensitz der Elliots: Walter Elliot ist gezwungen, sein Haus zu vermieten und in bescheidenere Verhältnisse nach Bath zu übersiedeln. Ins Haus zieht ein Admiral ein, der mit einer Schwester Frederick Wentworth’ verheiratet ist. Wentworth hat in den napoleonischen Kriegen sein Glück gemacht, ist nun ein wohlhabender Kapitän und – entsprechend dem ersten Satz von „Stolz und Vorurteil“ – auf der Suche nach einer Frau. Durch die Verbindung mit dem Haushalt seiner Schwester kommt es natürlich zur Wiederbegegnung mit Anne …

Auch in diesem Fall ist es nicht nacherzählenswert, wie Austen die letztliche Wiedervereingung der füreinander bestimmten Liebesleute bewerkstelligt. Interessant ist dagegen die Gestaltung der Protagonistin: Anne Elliot ist einmal mehr ein Gegenentwurf zu einer von Austens früheren Figuren: Wo Emma Woodhouse das Zentrum der sie umgebenden Gesellschaft bildet, ist Anne Elliot so etwas wie eine graue Maus. Von ihrer Schwester Mary wie eine bessere Bedienstete behandelt, von ihrer Familie als schwieriger Fall abgeschrieben, mit ihrer einzigen Liebe zu Wentworth gescheitert, hat sich Anne resignierend mit ihrer Rolle abgefunden. Sie hat keine realistischere Aussicht auf eine Zukunft als als alte Jungfer im Haushalt ihres Vaters oder einer ihrer Schwestern ihr Leben zuzubringen, als ihre zukünftigen Neffen und Nichten umsorgende, geliebte Tante und guter Geist des Haushalts. Austen stellt diesem Leben am Rande einer Familie des niederen Adels ganz bewusst den weit menschlicheren Umgang in der bürgerlichen Sphäre der anderen Marine-Offiziere um Kapitän Wentworth entgegen, in der allein Anne unabhängig von ihrem familiären und ehelichen Status wahrgenommen wird. Wenn bei Austen irgendwo eine gesellschaftliche Utopie zu finden ist, dann hier.

Es kann nur als sehr bedauerlich angesehen werden, dass Austen nur eine so kurze Karriere als Schriftstellerin beschieden gewesen ist. „Überredung“ zeigt, dass sie in der Lage war, sich von den literarischen Klischees ihrer Zeit weitgehend zu befreien und zu erzählerischen Konzepten vorzustoßen, die wir normalerweise erst Autoren des bürgerlichen Realismus zuschreiben. Von dieser Autorin wäre noch viel zu erwarten gewesen.

Jane Austen: Überredung. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. RUB 7972. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 320 Seiten. In dieser Ausgabe nicht mehr lieferbar. Lieferbare Ausgabe.

Jane Austen: Emma

Die Zeit verging.

austen-emmaBei „Emma“ handelt es sich um Austens längsten und – gemessen an ihrem eigenen Gesamtwerk – zugleich langweiligsten Roman. Für ihn spricht zwar der anspruchsvolle Versuch, beim Publikum mit einer negativen Heldin durchzukommen, aber Emmas Wandlung zur idealen Gattin im zweiten Teil des Romans verdirbt das ohnehin nur halbherzig unternommenen Experiment. Der Roman erschien 1815 und war die letzte Veröffentlichung Austens zu Lebzeiten; ihre letzten beiden Romane gab ihr Bruder Henry aus dem Nachlass heraus.

Erzählt werden einige Monate aus dem Leben von Emma Woodhouse. Emma unterscheidet sich von allen bisherigen Heldinnen Austens darin, dass sie zum einen wohlhabend ist – sie lebt in einem wohlversorgten Haushalt und ist die einzige Erbin ihres Vaters – und zum anderen keinerlei Ambitionen zu haben scheint zu heiraten. Damit Austen sich aber nicht zu weit von ihrem einzigen und zentralen Thema entfernt, pflegt Emma als Hobby die Eheanbahnung für andere, eine Tätigkeit, für die sie sich besonders begabt glaubt, in deren Verlauf sich ihr Mangel an Menschenkenntnis, Selbsterkenntnis und Bescheidenheit aber nur zu deutlich erweist. Doch unter dem Einfluss des unbestechlichen Mr. Knightley, der sie bereits seit ihren Kindertagen kennt, wandelt sich Emma zu einer hehren Lichtgestalt, bemerkt, dass sie – wie jede andere Frau – natürlich auch nichts anderes zum Lebensglück braucht als einen Ehemann und heiratet den unerträglich moralisierenden, zum Hintüberfallen aufrechten Mr. Knightley; sie hat auch nicht anderes verdient.

Es mag sein, dass Jane Austen selbst von dem Abziehbild, das ihre Fanny Price im Wesentlichen darstellt, so gelangweilt war, dass sie auf den Gedanken verfiel, ob es nicht möglich sei, einen Roman mit einer negativen Heldin zu schreiben. Emma wird also als absolutes Gegenteil gestaltet: reich, verwöhnt, eingebildet und zu selbstverliebt, um heiraten zu wollen. Woran Austen letztlich scheitert, ist, für diese neue Art von Heldin ein Schicksal zu erfinden, das sich ebenso radikal von der Schablone der zeitgenössischen Romane unterscheidet wie die Grundkonzeption der Protagonistin. Stattdessen liefert Austen einmal mehr eine vollständig geradlinige, vorhersehbare und kaum über ihre Konstruktion hinausreichende Fabel. Auch von ihrem Humor ist in diesem Roman wenig zu spüren, so dass es kein Wunder ist, dass dieser Roman mit großem Erfolg und Gwyneth Paltrow zu einer Seifenoper verarbeitet worden ist.

Jane Austen: Emma. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. RUB 7633. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 560 Seiten. In dieser Ausgabe nicht mehr lieferbar. Lieferbare Ausgabe.