William Shakespeare: Die Fremden

Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß der Gegensatz von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint.

Gottfried Benn

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Ein sehr dünnes Buch aus dem man sehr viel lernen kann, weniger über Shakespeare oder Mitgefühl oder Ethik, aber übers Marketing. Auch braucht man sich keine Sorgen um seine Allgemeinbildung zu machen, weil man nie zuvor von einem Stück Shakespeares mit dem Titel „Die Fremden“ gehört hat; das gibt es nicht und es ist auch nicht neuerdings entdeckt worden. Es handelt sich bei dem Büchlein vielmehr um den Versuch, aus dem bestehenden Mitgefühl vieler Deutscher Profit zu schlagen – die knapp 70 Seiten kosten immerhin 6,– € –und das lose Geld aus der Spendenbereitschaft vieler Deutscher dem notleidenden Verlag dtv zufließen zu lassen.

Was man im Kern erwirbt, wenn man das Büchlein kauft, sind 8 – in Worten: acht! – Seiten Shakespeare, allerdings sowohl im englischen Original als auch in der Übersetzung Frank Günthers, und zudem eine Menge von Ratschlägen, wie man denn den Text am besten zu verstehen habe. Das beginnt beim Untertitel „Für mehr Mitgefühl“, der in anderen Zeiten ebensogut „Für mehr staatsbürgerlichen Gehorsam“ hätte lauten können. Damit auch der letzte Depp noch in der Buchhandlung begreifen kann, von welch zentraler Bedeutung der Erwerb des Buches ist, prangt auf dem Umschlag ein roter Aufkleber mit den aufrüttelnden Worten:

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Das Buch beginnt dann mit einem erschütternden Vorwort von Heribert Prantl, der wie kein anderer prädestiniert ist, festzustellen, dass das Land einen neuen Thomas Morus braucht; zum Glück erwähnt er nicht, dass nicht nur die Rede, die Shakespeare Morus in den Mund gelegt hat, vollständig fiktiv ist, sondern er kümmert sich ebensowenig darum, dass Morus’ Auftreten beim Aufstand 1517 vollständig unwirksam war und die Krone die fremdenfeindlichen Ausschreitungen damals mit militärischer Gewalt unterdrücken musste.

Nachdem man von Prantl darauf vorbereitet worden ist, wie man den nachfolgenden Text zu verstehen habe, wird man eingeführt, nicht etwa in das Fragment des Theaterstücks über Thomas Morus, das ein Kollektiv von Autoren, die heute kaum einer mehr kennt, um das Jahr 1600 zu verfassen versuchte, aber am Widerstand der elisabethanischen Zensur scheiterte, sondern in ein Fragment dieses Fragments, nämlich der einzigen Szene dieses Stücks, bei der sich die Shakespeare-Forschung inzwischen darauf geeinigt hat, dass sie direkt aus der Hand des Stratforder Meisters stammt: (vielleicht) das einzige literarische Manuskript, das von Shakespeare erhalten geblieben ist.

Wir erfahren nun, was zuvor geschah: nämlich, dass die Fremden –es handelt sich um religiöse, politische und wirtschaftliche Flüchtlinge aus Frankreich und Flandern – gegenüber den einheimischen Londoner Händlern und Handwerkern übergriffig geworden sind, ihnen also nicht nur wirtschaftliche Konkurrenz gemacht, sondern sich auch so benommen haben, wie es Gästen nicht zusteht. Dies wird im Stück nicht als Gerücht oder üble Nachrede behandelt, sondern als tatsächliches Geschehen auf der Bühne vorgeführt. Schon das könnte einen Schatten auf die Interpretation werfen, die das Buch versucht, seinen Lesern zu verkaufen.

Doch nun kommen endlich die knapp acht Seiten Shakespeare: Die aufgebrachte Londoner Bevölkerung hat sich zusammengerottet und will sich auch nicht von den herbeigeeilten Adeligen beruhigen lassen. Allerdings sind die Bürger bereit, Thomas Morus, seines Amtes Sheriff, anzuhören. Morus beruhigt die Bürger im Wesentlichen mit zwei Argumenten: Ihr Aufstand sei ein Akt des Ungehorsams gegen den König und damit zugleich gegen Gott; und außerdem sei ihr Ziel unmoralisch, denn sie verstießen gegen den Grundsatz, dass man andere so zu behandeln habe, wie man selbst behandelt werden wolle. Er verspricht den Aufständigen sich für ihre Begnadigung einzusetzen, und diese antworten, wie es vernünftige Aufständige zu jeder Zeit getan haben: Wenn nur Thomas Morus ihnen nicht böse sein wolle und sich für sie verwende, so gingen sie liebend gern ins Gefängnis. Daraufhin lassen sie sich willig abführen. Wenn nur der braune Mob so nachgiebig wäre.

Auch im weiteren Stück geht es nicht um die Fremden im Lande, sondern um das Schicksal der Aufständigen: Diese werden allesamt nach gutem Recht zum Tode verurteilt, einer auch aus Versehen und um der dramatischen Wirkung willen schon einmal gehängt, als die Nachricht eintrifft, dass Morus sich beim König kniefällig für sie verwandt und ihre Begnadigung erlangt hat. Große Freude im Lande: Pegida ist doch gar nicht so schlimm!

Man muss Übersetzer Frank Günther zugute halten, dass er im Anhang zu diesem Nichts von einem Text zugesteht, dass es sich bei der humanitären Rede Morus’ um eine rein rhetorische Übung Shakespeares handelt. Auch wird dem Leser – wenn er denn bis dahin vordringt – mitgeteilt, dass die historischen Ereignisse des Jahres 1517 mit der Darstellung im Theaterstück von 1600 nicht so sehr viel gemein haben (bis vielleicht auf die Kleinigkeit, dass hier wie da die Fremden selbst Schuld sind an dem Zorn, der ihnen entgegenschlägt), ja sogar, dass der kurze Text kaum zu dem Zweck taugt, zu dem er hier instrumentalisiert wird. Aber was soll’s: Er ist von Shakespeare, und es ist ja immerhin gut gemeint! Und Geld bringt’s auch.

Ein Buch VON ERSCHÜTTERNDER AKTUALITÄT.

William Shakespeare: Die Fremden. Für mehr Mitgefühl. Aus dem Englischen von Frank Günther. dtv 14555. München: dtv, 2016.  Broschur, 69 Seiten. 6,– €.

Jane Austen: Mansfield Park

Ich kenne so viele, die in der festen Erwartung und im Vertrauen auf einen ganz besonderen Vorteil bei der Verbindung oder ein Talent oder eine gute Eigenschaft bei ihrem Partner geheiratet haben, sich dabei völlig getäuscht sahen und gezwungen waren, sich mit dem genauen Gegenteil abzufinden. Was ist das anderes als ein Reinfall?

austen-mansfield-park-reclamDer dritte Roman Jane Austens, wenn man nach der Reihenfolge der Veröffentlichung geht, erschienen 1814. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern hat er nicht mehrere Stufen der Überarbeitung durchlaufen, was ihm auch deutlich anzumerken ist: Ihm fehlt sowohl die erzählerische Dichte als auch in weiten Teilen jene durchgängig ironisch distanzierte Erzählhaltung, die die beiden Romane zuvor auszeichnet. Statt dessen wirken lange Passagen der Erzählung ausschließlich impressionistisch; sie schildern zwar präzise die Verhältnisse und Beschäftigungen der Bewohner von Mansfield Park, sie tragen aber kaum etwas zur Entwicklung der Protagonistin oder der Handlung bei.

Erzählt wird die Geschichte der etwa 18-jährigen Fanny Price. Fanny entstammt einer kinderreichen, bürgerlichen Familie, die in bescheidenen Verhältnissen in Portsmouth lebt. Im Alter von neun Jahren wird Fanny auf Anregung einer ihrer Tanten – der durchweg als egozentrisch und missgünstig geschilderten Witwe Mrs. Norris – in den Haushalt ihres sehr wohlhabenden Onkels Sir Thomas Bertram aufgenommen. Die Bertrams haben bereits vier ältere Kinder: Tom, der den Besitz der Bertrams einmal erben wird, Edmund, für den die für einen jüngeren Sohn eines Adeligen durchaus typische Karriere eines Geistlichen vorgesehen ist, und Maria und Julia, die natürlich gut verheiratet werden sollen. Es entwickelt sich früh schon eine besondere Freundschaft zwischen Fanny und Edmund, die sich zum Zeitpunkt der Haupthandlung zumindest bei Fanny zu einer handfesten, insgeheimen Liebe gemausert hat, ohne dass Fanny sich Hoffnungen machen dürfte, dass Edmund sie heiratet. Aber natürlich geht es aus, wie es ausgehen muss.

Im Gegensatz zu den beiden früheren Romanen ist die Fabel des Romans sehr geradlinig erzählt; ihr fehlt jede überraschende Wendung, jede verdeckte Motivation, jedes Geheimnis. Alle Absichten der Figuren werden stets sofort ausgeplaudert, der Leser verfügt zu jeder Zeit über alle zum vollständigen Verstehen der Handlung benötigten Informationen. Weder ist er überrascht, als sich der Bösewicht als Bösewicht herausstellt, noch ist es überraschend, wie sich dies erweist. Auch wird der Bösewicht nur zu dem einen Zweck entlarvt, die Protagonistin auf einfache Weise von der Bedrohung durch seine Heiratsabsichten zu befreien. Austen gelingt es nur an ganz wenigen Stellen, sich erzählerisch über das Niveau jedes beliebigen Romans ihrer Zeit zu erheben.

All das dürfte zum einen der vergleichsweise raschen Entstehung des Romans geschuldet sein: Austen hatte mit den beiden Veröffentlichungen zuvor (die beide mehrfache Überarbeitungen deutlich älterer Entwürfe waren) außergewöhnliche Erfolge gefeiert und sah sich gedrängt, möglichst rasch den nächsten Roman nachzuliefern. Zum anderen kann man Austen zugestehen, dass sie in „Mansfield Park“ den Versuch macht, eine für sie gänzlich neue Art von Protagonistin zu entwickeln: Im Gegensatz zu Elinor Dashwood oder Elizabeth Bennet, die beide durch Selbstbewusstsein und sicheres Urteil charakterisiert sind, befindet sich Fanny Price nicht nur in einer gedrückten und abhängigen äußeren Lage, sondern sie hat zudem einen von Bescheidenheit, Zurückhaltung und Selbstzweifeln geprägten Charakter. Ihr wird von ihrer Tante Mrs. Norris keine Chance gegeben, ihre Position als arme Verwandte im Hause Bertram zu vergessen; dass sie sich in diese Position klaglos einfindet, dass sie Vernachlässigung und Zurücksetzung als ihrer Position im Haus angemessen empfindet, dass sie sich schließlich lesend selbst ausbildet, macht sie zu einer Heroin des Tugendkults ihrer Zeit, und genau das ist es, was Austen in der Masse des Textes daran hindert, ihren früheren ironischen Ton fortzusetzen: Fanny ist am Ende in jedem Detail eine positive Protagonistin – oder ist wenigsten so beabsichtigt –, mit der Austen durch und durch einverstanden ist und deren Tugend sich auf das Herrlichste bewähren muss. Genau das ist der Kern der Langeweile, die der Roman über weite Strecken verbreitet.

Jane Austen: Mansfield Park. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. RUB 8007. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 572 Seiten. In dieser Ausgabe nicht mehr lieferbar. Lieferbare Ausgabe.

Christian Grawe: Jane Austen. 100 Seiten

grawe-austen-100-seitenDas Bändchen ist Teil einer neuen Reihe bei Reclam. Es handelt sich dabei weniger um eine Biographie im eigentlichen Sinne als vielmehr um eine lockere Annäherung an das literarische Phänomen Jane Austen. Christian Grawe zeichnete zusammen mit seiner Frau Ursula für die erste vollständige Austen-Übersetzung aus einer Hand verantwortlich und darf als einer der besten deutschen Kenner Austens gelten. Er hat auch die erste umfangreiche deutschsprachige Biographie Austens verfasst, beinahe zehn Jahre bevor das Buch von Elsemarie Maletzke zum Bestseller wurde.

Natürlich enthält das schmale Bändchen auch einige biographische Skizzen, aber es werden auch die wichtigsten Verfilmungen der Romane besprochen, einige Austen-Hasser kommen zu Wort, der Austen-Kult und seine Gedenkstätten im Süden Englands werden vorgestellt, es gibt Lesevorschläge für Austen-Neulinge, Auszüge aus Briefen und Romanen usw. usf. Natürlich ist das ganze eine Art Gemischtwarenladen, aber es ist gut geschrieben und wirbt für seine Sache: Wer von Austen nur wenig oder nichts weiß, bekommt ein lebendiges und interessantes Bild von ihr gezeichnet, das Lust auf mehr macht. Das einzige, was mich ein wenig hat zusammenzucken lassen, ist der Preis von 10 € für solch ein Bändchen; da kann man nur hoffen, dass der Autor ein ordentliches Garantiehonorar bekommen hat.

Christian Grawe: Jane Austen. 100 Seiten. Reclam Tb. 20417. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 100 Seiten. 10,– €.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil

Zwar war Mr. Collins nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet; seine Gesellschaft war ermüdend und seine Liebe zu ihr war wohl nur Einbildung. Aber immerhin war er bald ihr Ehemann. Von Männern und Ehe hatte sie nie viel gehalten; alles was sie wollte, war verheiratet sein.

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Dieser der Veröffentlichung nach zweite Roman Jane Austens gilt im englischen Sprachraum zu Recht als ihr Meisterwerk. Auch dieses Buch war in einer frühen Fassung bereits lange vor seiner Veröffentlichung 1813 entstanden; erst der Erfolg von „Verstand und Gefühl“ (1811) führte zum Druck, obwohl das Buch bereits 16 Jahre zuvor einem Verleger angeboten worden war. Die Handlung ist deutlich komplexer gebaut als in den anderen Romanen Austens, ohne dass dies zu einem Ausufern des Personals geführt hätte.

Im Mittelpunkt der etwas mehr als ein Jahr umfassenden Fabel steht die Familie Bennet, die auf dem Landsitz Longbourn lebt. Das Ehepaar Bennet hat fünf Töchter, aber keinen Sohn, was zu der damals durchaus üblichen, für die Familie aber unangenehmen Lage führt, dass der Land- und Geldbesitz der Familie bis auf 5.000 £ nach dem Tod des Vaters einem Sohn seines Bruders – Mr. Collins – zufällt. Die 5.000 £ müssen zur Versorgung von Mutter und Töchtern und für die Aussteuer der fünf Mädchen genügen. Die Töchter der Familie Bennet sind also keine gute Partien, und können nur darauf hoffen, dass sich jemand in sie verliebt, der auf eine hohe Mitgift keinen Wert legt oder legen muss.

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Die Aufregung unter den weiblichen Angehörigen der Familie Bennet ist daher groß, als in der Nachbarschaft ein reicher Junggeselle für den Sommer einen Landsitz mietet. Mr. Bingley kommt zudem nicht allein, sondern bringt seinen noch wohlhabenderen, ebenfalls noch unverheirateten Freund Fitzwilliam Darcy mit. Außerdem begleiten ihn seine beiden Schwestern, deren jüngste auf eine Ehe mit Darcy spekuliert, und sein Schwager. Aus dieser Grundkonstellation entsteht unvermeidlich die bei Austen stets vorhandene Eheanbahnungshandlung: Bingley und Jane, die älteste Bennet-Schwester, verlieben sich ineinander, doch bevor die Affäre ernst werden kann, verschwindet Bingley wieder nach London. Jane reist, von Onkel und Tante eingeladen, ihm dorthin nach, wird aber von Bingleys Schwester geschnitten und trifft Bingley vorerst nicht wieder.

Elizabeth Bennet, die zweitälteste Schwester und eigentliches Zentrum des Romans, entwickelt derweil eine starke Abneigung gegen Mr. Darcy und eine Vorliebe für den Miliz-Offizier Mr. Wickham, dem von Darcy angeblich vor einigen Jahren übel mitgespielt wurde. Im Wesentlichen dient der Roman dazu, diese beiden Verwerfungen zu überwinden und am Ende dem lesenden Publikum zwei glückliche Ehepaare zu liefern. Den ironischen Gegensatz zu dem an sich schon nicht ganz lupenreinen Happy End des Romans liefert bereits sein erstes Kapitel, in dem uns das glückliche Ehepaar Bennet vorgeführt wird: ein stoischer Philosoph, der nur an einer Stelle des Romans überhaupt in wirkliche Aufregung gerät, als er sich seinem Schwager gegenüber in Schulden wähnt, und seine stets überschwängliche, grunddumme Gattin, deren einziges und wenig subtil betriebenes Geschäft es ist, ihre Töchter unter die Haube zu bringen. Und sie sind nicht das einzige Beispiel glücklicher Ehepaare im Roman.

Es ist die die Romane bestimmende souverän-ironische Grundhaltung der Erzählerin, die ihren anhaltenden Erfolg begründet: Einerseits hat Austen nicht mehr zu erzählen als die empfindsamen Romane ihrer Zeit, andererseits verfügt sie über einen weit realistischeren und zugleich humorvolleren Blick auf die Gesellschaft ihrer Lebenssphäre, die englische Gentry. Wo man heute Richardson nur noch aus historischer oder sentimentaler Perspektive heraus goutieren kann, leben Austens Figuren immer noch mit den Lesern mit.

Wenn man sonst nichts von Austen kennt, sollte man wenigstens diesen einen Roman lesen! Er ist eines der wichtigen Vorbilder für die großen Romane des 19. Jahrhunderts.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20408. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 478 Seiten. 7,95 €.

Charlotte Brontë: Jane Eyre

»Oh, da habe ich keine große Wahl! In der Regel geht es um ein und dasselbe Thema – das Freien; und mit der Aussicht auf die eine Katastrophe – die Ehe.«

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Die Brontë-Schwestern sind in Deutschland nicht zuletzt durch Arno Schmidts Essay „Angria & Gondal“ (entstanden 1959/60, Erstdruck 1969) bekannt geworden. Schmidt hatte den damals in Deutschland wohl nur einigen Fachleuten geläufigen Korpus der jugendlichen Erzählungen der vier Geschwister Brontë um zwei nach Afrika hineinerfundene Phantasiereiche ins Zentrum gestellt und von dort aus Linien in die bekannteren Romane der drei Brontë-Schwestern gezogen. Es folgte dann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts eine kleine Welle von Publikationen, zu denen nicht nur erste Übersetzungen aus den Angria-&-Gondal-Erzählungen, sondern auch eine weithin beachtete Biografie der drei Schwestern aus der Feder von Elsemarie Maletzke gehörte.

Im vergangenen Jahr nun hat der Insel Verlag eine Neuübersetzung von „Jane Eyre“, dem wohl bekanntesten Roman Charlotte Brontës, durch die sehr sorgfältig arbeitende Übersetzerin Melanie Walz (hier wurde zuletzt ihre „Orlando“-Neuübersetzung besprochen) vorgelegt. Der Roman ist 1847 unter dem männlichen Pseudonym Currer Bell als erster Roman der Autorin erschienen und war so erfolgreich, dass bereits ein Jahr später eine erste deutsche Übersetzung vorlag. Erzählt wird das Schicksal des Waisenkindes Jane Eyre aus ihrer eigenen Erinnerung heraus. Die Erzählung beginnt um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: Jane Eyre lebt als ungeliebtes, zehnjähriges Kind im Haushalt ihrer angeheirateten Tante zusammen mit deren verwöhnten drei leiblichen Kindern. Jane ist nach dem frühen Tod der Eltern vom Bruder ihrer Mutter in sein Haus aufgenommen worden, der allerdings auch bald darauf verstarb. Sie ist ein widerspenstiges Kind, das sich gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Pflegefamilie mehr und mehr aufzulehnen beginnt und deshalb von ihrer Tante in ein Internat abgeschoben wird. Hier erhält Jane eine zwar von Ärmlichkeit geprägte, aber dennoch gute Ausbildung; sie ist eine so gute Schülerin, dass sie nach dem Ende der Schulzeit sogar noch zwei Jahre als Lehrerin in dem Institut verbleibt.

Mit etwa 18 Jahren sucht sich Jane eine Stelle als Gouvernante und wird in einen etwas entlegenen Haushalt aufgenommen, wo sie eine junge Französin, das Pflegekind des Hausherrn – möglicherweise eine von ihm unehelich gezeugte Tochter –, zu unterrichten hat. Es kommt, wie es in Frauenromanen des 19. Jahrhunderts kommen muss: Der Hausherr verliebt sich in sie und will sie trotz ihrer Mittellosigkeit (die sich am Ende als so mittellos gar nicht herausstellt) ehelichen. Aber natürlich hat er ein dunkles Geheimnis, das erst am Altar enthüllt wird und zu einem weiteren Umweg im Leben der Protagonistin führt. Wie es weiter und zu Ende geht, muss hier nicht erzählt werden, der Leser sollte aber nichts zu Ausgefallenes erwarten.

Für den heutigen Geschmack ist der Roman deutlich zu lang geraten. Insbesondere die Dialoge sind von einer lästigen und sich wiederholenden formelhaften Umständlichkeit; auch die immer wiederkehrenden längeren moralisierenden Einschübe, die einerseits weit über den Horizont der Erzählerin hinausgehen und andererseits die tatsächliche moralische Komplexität der Erzählung grandios unterlaufen, sind von Mal zu Mal schwerer auszuhalten. Hinzukommt eine je länger je penetranter werdende christliche Frömmelei des Romans, die die Sache nicht wirklich besser macht.

Zugutehalten muss man der Autorin, dass sie die vollständige Erfüllung der literarischen Klischees der trivialen Liebes- und Eheromane des 19. Jahrhunderts immer gerade so zu vermeiden vermag. Sie gerät an einigen Stellen gefährlich nahe an den literarischen Kitsch ihrer Zeit heran, kann aber immer noch das Schlimmste verhindern. Eine wirklich genüssliche Lektüre ist wahrscheinlich nur aus einer historisierenden Perspektive heraus möglich; den Längen und Umständlichkeiten des Romans kann leider auch diese sorgfältige Neuübersetzung nicht aufhelfen.

Charlotte Brontë: Jane Eyre. Eine Autobiographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2015. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 653 Seiten. 25,– €.

William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung

Heiraten oder Hängen bleibt sich gleich.

Shakespeare-Guenther-13Auch eines der Stücke Shakespeares, mit denen sich die moderne Kritik schwer tut, endet es doch ausnahmsweise mit einer so unübersehbaren, platten und chauvinistischen Moral, dass es für den kritischen Menschen von heute das ganze Stück ruiniert. Da ist es doch einmal besser, kein Intellektueller zu sein und es so zu machen, wie das Publikum, das sich an der gut gemachten Komödie erfreut und Kätchens das Stück beschließende Predigt schlicht achselzuckend auf sich beruhen lässt. Denn gut gemacht ist das Stück:

Shakespeare exzelliert hier in der Parallelführung zweier Handlungsstränge. Zum einen geht es um das Liebeswerben Lucentios um Bianca, zum anderen um die Erziehung ihrer eigensinnigen Schwester Katharina durch den ihr frisch angetrauten Petruchio. Lucentio ist ein junger Mann aus Pisa, der nach Padua zum Studium kommt. Gleich und auf Anhieb verliebt er sich aber in Bianca, die Tochter Baptistas, und um sie umschmeicheln zu können, lügt er sich als Lehrer verkleidet in Baptistas Haus. Baptista allerdings hat ein dringenderes Problem, als die liebliche Bianca an den Mann zu bringen: Biancas ältere Schwester Katharina ist als unverträgliche Zanknudel verschrieen. Um sie aus dem Haus zu bekommen, verhängt Baptista das Gebot, dass Bianca erst nach der Vermählung Katharinas an die Reihe komme.

Da trifft es sich gut, dass bei einem der Bewerber um Biancas Hand ein alter Freund eintrifft: Petruchio, gerade Erbe des väterlichen Reichtums geworden, sucht eine Frau zur Ergänzung seines Vermögens und Haushalts. Ihm ist nicht bange vor Katharina und ihren Launen und der Überzeugung, schon Schlimmeres durchgestanden zu haben als ein bisschen Zank. So wirbt er um Katharina bei ihrem Vater, teilt dann seiner Braut in spe in einem kurzen Wortgefecht seine Absichten mit und verabschiedet sich in Geschäften nach Venedig. Am nächsten Sonntag taucht er erst kurz vor der Trauung in einem unmöglichen Aufzug auf, lässt sich unter unmöglichem Benehmen trauen und verschwindet mit seiner Frau umgehend aus Padua.

Während nun in Padua für die Bewerber Biancas der Weg frei ist, wird uns im Hause Petruchios Katharinas Erziehung vorgeführt: Der Ehemann benimmt sich ärger als seine Frau es je könnte und traktiert sie gleichzeitig durch Essens- und Schlafentzug. Dies Spielchen treibt er solange, bis Katharina sich in die Machtverhältnisse fügt, zu allem Ja und Amen sagt und als die Klügere ihrem Ehemann, dem sie nun einmal ausgeliefert wurde, endlich nachgibt. Die letzte Probe liefert dann ein Fest, das zugleich drei Hochzeiten feiert: Die Katharinas und Petruchios, die Biancas und Lucentios und eine weitere, die der Symmetrie wegen benötigt wird. Hier führt Petruchio seinen Sieg über Katharina öffentlich vor, indem er – im Gegensatz zu den anderen Ehemännern – in der Lage ist, seiner Ehefrau geradewegs Befehle zu erteilen, ohne irgendeinen Widerstand bei ihr zu erregen. Das ganze gipfelt in eben jener schon erwähnten Moralpredigt Katahrinas über die Rolle der Ehefrau als gehorsame Untertanin und Dienerin ihres Ehemannes.

Man kann nun versuchen, mit diesem Schluss auf ganz verschiedene Weise fertig zu werden: Man kann ihn ironisieren – was nicht das Schlimmste ist, was die Tradition mit Shakespeares Stücken so getrieben hat –, man kann ihn kritisieren – was etwa auch der Übersetzer Frank Günther tut –, man kann ihn als dramaturgische Notwendigkeit begreifen – schließlich ist es die Aufgabe des Dramas, die Harmonie der Bühnengesellschaft wiederherzustellen – oder man kann ihn schlicht auf sich beruhen lassen – was klugerweise die meisten Zuschauer tun. Und doch ist es bemerkenswert, dass Shakespeare, dessen Stücke in den meisten Fällen von platten moralischen Belehrungen so angenehm frei sind, gerade dort, wo er einmal auf gut einer Seite die offizielle Moral seiner Zeit unverstellt zu Wort kommen lässt, uns gleich ganz und gar unmodern erscheint. Ob er überhaupt berühmt wäre, wenn er geschrieben hätte, was er wirklich dachte?

William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 13. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 304 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: Wie es euch gefällt

Ich bin Verstandesmensch so gut wie er, aber ich schau dankbar auf zum Himmel und trag’s nicht vor mir her.

Shakespeare Guenther 12Eine weitere leichte Komödie Shakespeares. Den dramatischen Anlass bildet ein doppelter Bruderzwist: Orlando wird ungerecht behandelt von seinem Bruder Oliver, der ihn als billige Arbeitskraft auf dem ererbten Hof verschleißt anstatt ihm eine höhere Ausbildung angedeihen zu lassen, wie der Vater es gewollt hatte, und der ältere Herzog ist von seinem Bruder Frederick aus Amt und Würden vertrieben worden und lebt nun fröhlich „wie Robin Hood“ mit einem Teil seines Hofstaats im Wald von Arden. Zu ihm gesellen sich nun auch Orlando und – in etwas größerer Distanz  – Rosalinde und Celia, die Töchter des alten und des neuen Herzogs, wobei sich Rosalinde als Mann verkleidet hat, um die Sicherheit der beiden Damen zu erhöhen. Bevor man in den Wald verschwindet, wird kurz noch Gelegenheit gemacht, dass Rosalinde und Orlando sich ineinander verlieben können: Orlando gewinnt einen Catch-Wettbewerb am Hofe Fredericks und kann so seine Männlichkeit strahlen lassen.

Im Wald leben alle fröhlich und harmonisch, nur die Liebe bringt Verwicklungen mit sich, die weidlich ausgekostet werden: Rosalinde, jetzt als Ganymed in Hosen, überredet Orlando an ihr/ihm sein Liebeswerben um Rosalinde zu üben (eine Posse, die in Shakespeares Theater noch dadurch zugespitzt wurde, dass alle Frauenrollen ohnehin von Männern gespielt wurden), eine Schäferin namens Phoebe verliebt sich in Ganymed/Rosalinde und wird wiederum vom Schäfer Silvius begehrt. Probstein, der Narr des alten Herzogs, verliebt sich sterblich in Käte, eine hässliche Ziegenhirtin, die ihm auch gern zu Willen ist, und schließlich werden sich auch Celia und der seinen Bruder suchende Oliver in rasender Geschwindigkeit einig. Am Ende hagelt es Hochzeiten, der junge Herzog bekehrt sich urplötzlich zum Besseren und wird Eremit, und alle laufen fort zum Fest und lassen das Publikum nach Hause gehen.

Höhepunkte des Stücks sind einerseits Lord Jaques selbst aus dem Hofstaat des alten Herzogs, ein melancholischer Philosoph –

Gut, gut, wenn ich jemals jemand danke schön sage, sag ich’s Ihnen; aber was Höflichkeiten tauschen heißt, kommt mir vor, als wenn sich zwei Nasenaffen am Hintern riechen.

– und andererseits seine vielzitierte “All the world’s a stage”-Metapher, die beide dem Stück gelegentlich ein wenig Tiefgang verpassen, ohne dass der ansonsten getriebene allgemeine Unfug groß gestört wird – der blankste Realismus, wie man sieht!

Dies ist eines jener Stücke, an denen man gut erkennen kann, dass Shakespeare Teil eines kommerziellen Unterhaltungsbetriebs war, in dem es darum ging, einem möglichst bunten und breiten Teil des vorhandenen Publikums Vergnügen zu bereiten und ihm damit das Geld aus der Tasche zu ziehen. Man wird diese Art des gehobenen Klamauks dann viel später etwa bei Nestroy wiederfinden, der in einer ganz ähnlichen Lage schrieb wie der Stratforder Meister.

William Shakespeare: Wie es euch gefällt. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 12. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 282 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: König Richard III.

Ich fürcht, ich fürcht, ’s wird rundgehn mit der Welt.

Shakespeare Guenther 11König Richard III. ist bekanntlich jener dialektische Tyrann, den es brauchte, um den englischen Sturz aus der politischen Unschuld in den Rosenkrieg so auf die Spitze zu treiben, dass er überwunden werden konnte. Nach ihm erschien jede Herrschaft annehmbarer und sei es die eines Heinrich VII. Und so sind Richards Tyrannei, seine moralische wie körperliche Verwachsenheit zentrale Elemente jenes Tudor-Mythos, der zur Rechtfertigung und Sicherung der Herrschaft seiner Nachfolger diente. Und Shakespeares Stück ist nur eine theatralische Verlängerung und dramaturgische Verwertung jenes Mythos.

Selbstverständlich ist eine durch und durch böse Figur von besonderem Reiz, zeigt sie doch die Vorzüge der Macht einmal unverstellt und beflügelt so die Phantasie derer, die selbst heimlich oder unheimlich von ihr träumen. Und so gerät Richard denn auch: Beredt, charmant, beliebt bei Kindern, erfolgreich selbst bei Frauen, deren Ehemänner er kurz zuvor noch ermordet hat, öffentlich fromm, privat gottlos, Solidaritäten einfordernd, selbst aber verweigernd – und alle, die ihm widersprechen, werden einfach hingerichtet. Was für ein angenehmes Leben!

Natürlich kann man solche unverstellte Selbstherrlichkeit nicht auf sich beruhen lassen, und das Schicksal schreitet rasch: Einige entkommen dem Zugriff des Tyrannen und wollen selbst Kalif sein anstelle des Kalifen. Was macht man unter Männern, wenn man sich über den Zugang zur Macht nicht einig wird? Man führt Krieg. Und in dem hat Richard das Pech, erschlagen zu werden und so sein historisches Porträt von den Siegern geschrieben zu bekommen. Wahrscheinlich war er in Wirklichkeit nicht bucklig, nur halb so bös und kaum viertels so beredt.

Shakespeare hat in „König Richard III.“ hauptsächlich mit einem Mangel an echter Handlung und Entwicklung zu kämpfen. Die Handlung setzt kurz vor dem Tod Edward IV. ein: Richard beseitigt seinen Bruder George, der ein möglicher Konkurrent bei der Thronfolge wäre, aber leider gelingt dies ohne viel Aufwand. Edward stirbt kurz darauf von selbst und anschließend muss nur der Thronerbe in den Tower gesperrt werden, damit die eigene Thronfolge mit geringem Aufwand inszeniert werden kann. Richards Streben nach der Macht wird zwar oft und wortreich beklagt, aber niemand leistet effektiven Widerstand. Der letzte Akt liefert dann endlich eine Schlacht, aber bis dahin ist nur wenig zu tun.

Auch kann von keiner Entwicklung des Protagonisten gesprochen werden: Seine Intentionen sind von der ersten Szene an so eindeutig und langweilig offenbar, dass von daher kaum irgendeine dramaturgische Bewegung erhofft werden kann. Shakespeare hilft sich heraus, indem er zahlreiche Szenen einbaut, in denen andere über Richard und die fatalen Folgen seines Strebens zur Macht klagen. Es ist ihm dabei zugute zu halten, dass es unter all denen, die Richard beschuldigen, keinen gibt, die oder der selbst frei von Schuld wäre; hier sitzt ein jeder, der Steine wirft, im eigenen Glashaus. So geht’s halt zu bei Königs daheim.

Ein Stück, das nahezu ausschließlich von der Faszination am unverstellten Bösen und dem Charakter des Protagonisten lebt. Wer Tyrannen, ihr Wirken, Meinen und Leiden eher nebensächlich oder weniger interessant findet, mag sich langweilen. Für alle, die glauben, die Macht könne sie oder gar uns erretten, eine Art Lehrstück. Am wirkungsvollsten in Diktaturen aufzuführen.

William Shakespeare: König Richard III. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 11. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 376 Seiten. 33,– €.

Virginia Woolf: Orlando

Nicht Orlando sprach, sondern der Geist der Epoche. Doch wer es auch war, niemand antwortete.

Es muss in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, als ich unter großen Vorbehalten zwei oder drei Bücher von Virginia Woolf gelesen habe; „Orlando“ war darunter und „Die Wellen“ und wahrscheinlich noch ein weiterer Roman, wobei ich mich weder an Titel noch Inhalt irgendwie erinnern kann. Meine Vorurteile Woolf gegenüber entstammten in der Hauptsache zwei Quellen: ihrer Rezeption des Joyceschen „Ulysses“ und einer Gruppe von ideologischen Leserinnen Woolfs, die mir damals, während des Studiums, unschwer auf die Nerven gingen.

Nun hat Melanie Walz im Insel Verlag vor einigen Jahren die inzwischen vierte deutschsprachige Übersetzung des „Orlando“ vorgelegt und allein aufgrund der Übersetzerin war ich geneigt, das Buch noch einmal zu lesen. Walz’ Übersetzung ist die erste, die auch das formale Spiel Woolfs mit dem Genre der Biographie im Deutschen wiedergibt. Im englischen Sprachraum folgt die akademische Biographie oft einem festen formalen Schema: Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Text und Register. Da aber deutschen Lesern dieses Schema weitgehend unbekannt sein dürfte, haben alle früheren Ausgaben auf dessen Reproduktion verzichtet, so dass Walz’ Übersetzung als die erste tatsächlich vollständige bezeichnet werden kann. Und auch wenn es das fatale Marketinglabel „Roman“ wieder auf den Umschlag des Buches geschafft hat, so steht doch wenigstens auf seinem Titelblatt korrekt die irreführende Gattungsbezeichnung: „Eine Biographie“.

Selbstverständlich handelt es sich bei „Orlando“ nur um ein Spiel mit der Form und den Gepflogenheiten biographischen Schreibens. Der Protagonist bzw. die Protagonistin Orlando wird um 1580 geboren und ist im Jahr des Erscheinens ihrer Biographie noch immer am Leben; wahrscheinlich hat sie vor lauter Beschäftigung einfach vergessen zu sterben. Kurz zusammengefasst findet sich Orlandos Lebenslauf im Register des Buches:

Orlando – als Knabe 14; verfasst sein erstes Schauspiel 15; besucht die Königin in Whitehall 20; wird zum Schatzmeister und Großhofmeister ernannt 23; seine Liebschaften 26; und die russische Fürstin 34–39; seine erste Trance 59; zieht sich in die Einsamkeit zurück 63; seine Liebe zur Lektüre 65; seine romantischen Dramen 15 [sic!]; seine literarischen Ambitionen 67, 68, 152; und Greene 74–90; seine Urgroßmutter Moll 76; erwirbt Elchhunde 84; und sein Poem Die Eiche 99, 129, 152, 272; und sein Haus 93–96; und die Erzherzogin Harriet 101–193; als Gesandter in Konstantinopel 106–117; wird zum Herzog ernannt 113; zweite Trance 117; Heirat mit der Zigeunerin Rosina Pepita 118; wird zur Frau 122; bei den Zigeunern 125–134; kehrt nach England zurück 135; Gerichtsverfahren 148; und Erzherzog Harry 158; in der Londoner Gesellschaft 169; bewirtet die Esprits 191 [sic!]; und Mr. Pope 179; und Nell 191; mit ihrem Cousin verwechselt 193; kehrt in ihr Haus auf dem Land zurück 203; bricht sich den Knöchel 217; wird zur Frau erklärt 220; Verlobung 291; Heirat 228; Geburt des ersten Sohnes 259

Wie man sieht, ein durchaus erfülltes Leben, für das eben 350 und einige Jahre erforderlich sind. Orlando durchläuft nicht nur alle Epochen der englischen Geschichte seit der Elizabethanischen, sondern sie durchleidet auch deren stilistische und soziale Moden. All dies wird mit leichter und ironischer Souveränität betrieben und ist – bis auf wenige Längen – sehr vergnüglich zu lesen. Sicherlich kann man darin auch tiefere Bedeutungen vermuten, aber ich würde davon abraten; das Spiel als Spiel ist vollständig ausreichend, alles weitere verdirbt nur diesen wirklichen Wurf.

Die Neuübersetzung von Melanie Walz ist jener früheren, die ich las – leider kann ich nicht rekonstruieren, welche der beiden frühen Übersetzungen ich damals in der Hand hatte, ich befürchte aber, es war die von Karl Lerbs – um Welten überlegen. Der spielerische und ironische Charakter des Buches ist mir erst mit dieser Lektüre vollständig deutlich geworden. Eine genüssliche Lektüre setzt beim Leser allerdings ein gerüttelt Maß an historischer und literarischer Bildung voraus.

Virginia Woolf: Orlando. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. it 4238. Berlin: Insel, 2015. Broschur, 304 Seiten. 8,– €.

Samuel Schoenbaum: William Shakespeare

This is mere speculation.

Schoenbaum-ShakespeareDiese beinahe dreißig Jahre alte, vergleichweise kurze Biographie Shakespeares führt den Untertitel “A Compact Documentary Life”, der den Charakter des Buches vollständig beschreibt. Schoenbaum hält sich streng daran, nur das für bare Münze zu nehmen, was durch ein aus Shakespeares Zeit stammendes Dokument belegt ist. Er referiert zwar auch die ältesten und beliebtesten Shakespeare-Legenden, macht ihre Fragwürdigkeit aber stets deutlich und widerlegt auch nebenbei mit präzisen historischen Fakten und scharfer Argumentation das eine oder andere dieser Märchen. Wer wenigstens einmal die biographischen Fakten zum Leben Shakespeares von den Phantasien seiner Biographen trennen möchte, hat dazu mit Schoenbaums Biographie das richtige Werkzeug in der Hand.

Ansonsten ist es aber auch mit dieser Shakespeare-Biographie wie mit allen anderen: Man liest sie nicht, um wirklich etwas Neues über Shakespeares Leben zu erfahren, sondern um weitere Details zur Elizabethanischen Epoche, ihrer Kultur im Allgemeinen und ihrem Theater im Besonderen kennenzulernen. Dabei müsste in diesem Fall das eine oder andere Detail zu den Texten Shakespeare und ihrer Entstehung revidiert werden, so dass das Buch dem heutigen Leser nur zur fundierenden Ergänzung der neueren Forschung oder als biographisches Purgativ empfohlen werden kann.

Samuel Schoenbaum: William Shakespeare. A Compact Documentary Life. New York / Oxford: Oxford University Press, 1987. Nachdruck durch Amazon Fullfilment. Broschur, 384 Seiten. 23,– €.