Ernst Robert Curtius: Marcel Proust

Nur aus der sorgsamen Sammlung und Vergleichung solcher Einzelzüge kann in immer erneuter und ausgeweiteter Betrachtung und Besinnung das Gesamtbild erarbeitet, kann die Intuition geklärt werden.

Es ist immer gut, wenn ein Text von Ernst Robert Curtius neu gedruckt wird. Das vor allem muss man im Gedächtnis halten!

Ernst Robert Curtius (1886–1956) war ein bedeutender deutscher Romanist und akademischer Lehrer. Er hat mit seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) einen Neuansatz der philologischen Beschäftigung mit den Traditionslinien der Literaturvermittlung zwischen Antike und Neuzeit geschaffen. Was aber viel wichtiger ist: Er war einer der wenigen außergewöhnlichen Leser der Literatur der Moderen. Curtius war nicht nur in der Lage, den Joyceschen Ulysses unmittelbar nach dem Erscheinen angemessen zu rezipieren, sondern er hat auch einen Essay über das Buch geschrieben, der für Jahrzehnte alles überragte, was von Deutschen über dieses Buch geschrieben wurde. Ebenso ist es mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, über das bereits 1925 ein umfangreicher Essay von Curtius erschienen ist, also noch bevor die beiden letzten Bände aus dem Proustschen Nachlass herausgegeben wurden. Zu diesem Zeitpunkt war Proust in Deutschland noch nahezu unbekannt. Diesen Text – oder beinahe diesen Text – drucken Schöffling & Co. nun wieder nach.

Curtius beschäftigt sich nur en passant inhaltlich mit den Romanen; stattdessen nähert er sich unter verschiedenen Schlagwörtern immer weiter der schriftstellerischen Arbeit und der Weltsicht Prousts an. Man sollte also weder eine Einführung noch eine biografische Studie erwarten, sondern hier schreibt ein Literaturwissenschaftler für akademische Leser über die Bedeutung des Proustschen Werks für die moderne Literatur und unsere Verständnis von Kunst überhaupt. Es ist eines von den Büchern, die man, selbst wenn man einzelnen Gedanken nicht zustimmen mag oder sich Details als obsolet erweisen, dennoch mit großem Gewinn und Vergnügen liest; das gilt auch für jemanden wie mich, der einen kompletten Durchgang durch den Romanzyklus trotz mehrerer Anläufe bisher nicht geschafft hat.1

Der philologische Leser sollte allerdings wissen, dass Schöffling & Co. sich dazu entschlossen haben, in den Text insoweit einzugreifen, als die Passagen aus den Schriften Prousts, die bei Curtius selbstverständlich in der Originalsprache zitiert wurden, im laufenden Text durch Übersetzungen von Michael Kleeberg ersetzt werden; die Original-Zitate werden im Anhang mitgeliefert, so dass nichts wirklich verloren geht außer dem Text, den Curtius verfasst hat. Das wird die meisten Leser des Bandes nicht stören und wahrscheinlich auch die Anzahl der Käufer des Bandes deutlich erhöhen. Aber es ist eben auch die Art von Entscheidung, die vor dem imaginierten Publikum und den sogenannten Gesetzen des Marktes kapituliert, noch bevor es zur eigentlichen Auseinandersetzung gekommen ist. Und über das Nachwort Kleebergs möchte ich lieber ganz schweigen.

Wer Curtius noch nicht kennt, findet hier die Gelegenheit, einen der ganz großen Leser des 20. Jahrhunderts zu entdecken. Es ist ein Einstieg in eine ganz eigene, originelle Lesewelt.

Ernst Robert Curtius: Marcel Proust. Frankfurt/M.: Schöffling & Co., 2021. Pappband, Lesebändchen, 200 Seiten. 24,– €.


1 Ich hoffe immer noch darauf, dass mein zentrales Problem durch die Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer behoben wurde, da für mich das Deutsch von Eva Rechel-Mertens auch in der überarbeiteten Neufassung gänzlich unverdaulich ist.

Marguerite Duras: Der Liebhaber

Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür.

Als Duras Un barrage contre le Pacifique schrieb, war sie 35 Jahre alt; Der Liebhaber entsteht 35 Jahre später. Diese Erzählung überschreibt teilweise den Text des früheren Romans, setzt andererseits seine Kenntnis voraus, um die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Familie der Erzählerin vollständig verstehen zu können. Auch im Alter von 70 Jahren beschäftigt sich die Autorin noch mit den Jahren ihrer Pubertät, ihrer ersten Erfahrung der Sexualität, den Jahren, als sie ihrer zerrütteten Familie – der psychisch labilen Mutter und dem drogen- und spielsüchtigen Bruder – noch ausgeliefert war. Sie erinnert sich zurück an den frühen Tod ihres geliebten anderen Bruders, an ihre Trennung von dieser Familie, die natürlich nie eine endgültige sein konnte.

Der unglückliche Liebhaber Herr Jo aus Un barrage … wird hier zu einem chinesischen Liebhaber, der die Erzählerin auf ihrem Weg ins Internat bei einer Querung des Mekong auf einer Fähre anspricht. Er kennt ihre Mutter, die eine Schule in der Provinz leitet, und lädt die 15½-Jährige in seinen Wagen ein, um sie nach Saigon zum Internat zu bringen. Die Erzählerin lässt sich im Folgenden ohne jeglichen Widerstand auf eine sexuelle Affäre mit dem Chinesen ein. Beide führen sie anderthalb Jahre mit großer Leidenschaft fort, bis die Erzählerin nach Frankreich geschickt wird, um dort das Abitur zu machen.

Neben diesem zentralen Motiv schildert der Text eine neue Fassung der Familiengeschichte, diesmal mit beiden Brüdern der Autorin, mit einer Mutter, die als Lehrerin etabliert ist, die sich für ihre Tochter einsetzt und deren Freizügigkeit gegen die Institution des Internats verteidigt, wenn sie auch die Beziehung ihrer Tochter zum dem älteren und noch dazu von ihr rassistisch verachteten Mann nicht billigt.

Es kann nicht verwundern, dass sich der Stil der Autorin nach 35 Jahren deutlich verändert hat. Die Unmittelbarkeit der früheren Erzählung wurde abgelöst von einer reflektierten, von zahlreichen Erinnerungen aus verschiedenen Zeit ihres Lebens überschriebenen Erzählweise, die es am Ende aber auch nicht vermeidet, die autobiographische Erinnerung erneut literarisch zu überschreiben.

Eine für ihre Länge (der Text dürfte wohl knapp 100 normale Buchseiten füllen, wird aber vom Verlag in Großdruck-Manier auf das Doppelte aufgeblasen) erstaunlich inhaltsreiche und komplexe Erzählung, die die lebenslange Obsession der Autorin mit den Erfahrungen und Traumata ihrer Pubertätsjahre dokumentiert. Allerdings ist auch hiermit nicht ihr letztes Wort in dieser Sache gesprochen: Unter dem Eindruck der Verfilmung ihrer Erzählung überschreibt sie auch diesen Text sieben Jahre später unter dem Titel Der Liebhaber aus Nordchina. Ich werde auch diese Fassung bei Gelegenheit hier besprechen.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. st 1629. Berlin: Suhrkamp, 212018. Broschur, 194 Seiten. 8,– €.

Marguerite Duras: Heiße Küste

Seit dem Einsturz der Dämme und seit sie Joseph nicht mehr schlug, schlug die Mutter Suzanne viel öfter als vorher. »Wenn sie niemand mehr hat, dem sie Prügel austeilen kann«, sagte Joseph, »wird sie sich selbst in die Fresse hauen.«

Ich muss gestehen, dass ich erst durch eine ARTE-Dokumentation auf Marguerite Duras gestoßen wurde. Sicherlich war sie mir dem Namen nach bekannt, aber ich hatte kaum eine Vorstellung von ihrer Literatur. Wahr­schein­lich hat auch der deutsche Titel ihres be­rühm­tes­ten Werks, das im Original Un barrage contre le Pacifique (Ein Damm gegen den Pazifik) heißt, dazu beigetragen, der mit Heiße Küste denkbar nichtssagend daherkommt. Erst die Do­ku­men­ta­tion machte mir die Bedeutung dieses Bu­ches in der Diskussion des Kolonialismus in Frankreich deutlich. Duras, so darf man wohl sagen, war allein dafür verantwortlich, dass sich ein bedeutender Teil der französischen Be­völ­ke­rung im Jahr 1950 erstmals kritisch mit den Zuständen in den Kolonien, insbesondere in Französisch-Indochina auseinandergesetzt hat.

Duras wurde 1914 in der Nähe von Saigon geboren; ihr Roman spielt wohl Anfang der 30er-Jahre an der Pazifikküste Kambodschas. Im Zentrum steht eine Familie, die aus einer namenlosen Mutter, dem 20-jährigen Sohn Joseph und der 17-jährigen Tochter Suzanne besteht. Die Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und als junge Lehrerin zusammen mit ihrem Mann in die Kolonie ausgewandert. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihre Familie mit Klavierspielen und -unterricht über Wasser gehalten; sie war sogar in der Lage, soviel zu sparen, dass sie eine Konzession auf eine Farm erwerben konnte, auf der die Familie nun lebt. Leider erweist sich der Großteil des erworbenen Landes als unbebaubar, da es jährlich vom Pazifik überflutet wird. Nachdem sich die Mutter vergeblich beim zuständigen Katasteramt beschwert hat, organisiert sie zusammen mit einheimischen Bauern den Bau eines Dammes gegen den Pazifik, der aber schon im ersten Jahr unterspült wird und zusammenbricht. Seitdem lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen auf der mit Hypotheken belasteten Farm. Die Hoffnung darauf, noch einmal einen kräftigeren Damm errichten und damit doch noch über die überwältigende Natur siegen zu können, ist es, was die offenbar herzkranke Mutter am Leben hält.

Den eigentlichen Erzählanlass bildet eine in diese Verhältnisse einschneidende Änderung: Beim Besuch im nächsten Dorf fällt Suzanne dem Sohn eines reichen Kaufmanns und Kautschuk-Farmers aus dem Norden des Landes auf, dessen Ziel es über die nächsten 100 Seiten ist, mit Suzanne zu schlafen, was nicht nur durch Suzannes Gleichgültigkeit ihm gegenüber verhindert wird, sondern auch durch die Mutter, die ihre Tochter mit diesem Herrn Jo zu verheiraten und damit ihre Familie aus der Krise zu retten gedenkt. Herr Jo ist sich aber darüber im Klaren, dass sein Vater einer Hochzeit mit Suzanne niemals zustimmen würde, doch kann er sich von seiner Begierde nach dem Mädchen nicht losmachen und ist am Ende so von seiner Leidenschaft regiert, dass er Suzanne einen Diamantring seiner Mutter schenkt, der – wenigstens seiner Aussage nach – 20.000 Francs wert sein soll. Kurz nachdem sie diesen Ring geschenkt bekommen hat, teilt Suzanne Herrn Jo denkbar trocken mit, dass seine Besuche nicht weiter erwünscht seien.

Der Anfang des zweiten Teils des Romans spielt in der nächstgelegenen Provinzstadt – vielleicht Kampot –, wo die Mutter versucht, den Ring für den ihr genannten Preis zu verkaufen. Der Diamant weist allerdings einen Einschluss auf, so dass die Händler nur etwa die Hälfte des Preises zu zahlen bereit sind. Für die Mutter aber liegt in den 20.000 Franc die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Damm-Projektes, so dass sie zu keinem niedrigeren Preis verkaufen will. Während sie von Händler zu Händler läuft, beginnt Joseph eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, während Suzanne durch die Oberstadt streift und das Kino besucht. Am Ende gelingt es Joseph nicht nur, den Ring zum Wunschpreis an seine Geliebte zu verkaufen, er findet ihn zu seiner eigenen Überraschung auch in seiner Jackentasche wieder, als er mit Mutter und Schwester zur Farm zurückkehrt. Die Mutter hat das gerade erworbene Geld zur Tilgung eines Teils ihrer Schulden zur Bank getragen, muss dort aber feststellen, dass ein Großteil des Geldes von den aufgelaufenen Zinsen aufgefressen wird und sie von der Bank keinerlei neuerlichen Kredit erwarten darf. Mit der Rückkehr zur Farm beginnt der letzte und destruktivste Teil des Buches; aber das soll jede und jeder selbst lesen.

Das Buch ist tief getränkt von den persönlichen Erfahrungen der Autorin, erschöpft sich aber durchaus nicht in dieser autobiographischen Ebene. Im Gegenteil erweist sich das Projekt der Mutter als zentrale Allegorie des Textes, sie selbst als die eigentlich bestimmenden Figur, wenn auch nahezu gleichgewichtig die Coming-of-age-Geschichte Suzannes erzählt wird. Selbst an den Stellen, an denen die Fiktion nicht wirklich trägt – so etwa wenn Joseph Suzanne von seiner Affäre erzählt – ist der Stoff des Romans immer überzeugend und ursprünglich. Er lebt nicht nur von den zerrütteten Verhältnissen der Familie, sondern auch von der Schilderung der gesellschaftlichen Strukturen der Kolonie sowie der Armut und des Elends der einheimischen Bevölkerung. Ein in hohem Grad authentisches und zugleich literarisches Buch, wie man es nur selten findet.

Marguerite Duras: Heiße Küste. Aus dem Französischen von Georg Goyert. st 1581. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 62009. Broschur, 281 Seiten. 4,95 €.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Die Tochter des Vercingetorix

Asterix lebt! Mit diesem Band beweist das neue Autorenteam und auch der deutsche Übersetzer Klaus Jöken, dass sie durchaus in der Lage sind, an alte Höhen anzuknüpfen. Der Band hat nicht nur eine akzeptable Geschichte zu erzählen, sondern auch die Wortspiele und Anspielungen funktionieren diesmal und das übergeordnete Thema der Jugendkultur ist einigermaßen überzeugend durchgehalten, wenn auch hier sicherlich die Einschränkung zu machen ist, dass es sich einmal mehr um eine Jugendkultur handelt, wie sie sich jene vorstellen, die an ihr nicht teilhaben.

Die Geschichte knüpft sehr locker an den Vorläufer Asterix und der Avernerschild an und vermeidet zugleich, Asterix und die Normannen zu kopieren: Adrenaline, die Tochter des Häuptlings Vercingetorix, der bei Alesia vor Cäsar kapitulieren musste und als Gefangener nach Rom geführt wurde, wird von den Römern verfolgt, da sie im Besitz des Wendelrings ihres Vaters ist; mit diesem Symbol väterlicher Macht könnte das Mädchen zum Kristallisationspunkt eines neue gallischen Aufstands werden. Um das Mädchen vor den Römern zu schützen, wird sie in das berühmte kleine gallische Dorf gebracht, wo selbstverständlich Asterix und Obelix mit ihrer Bewachung beauftragt werden. Ebenso selbstverständlich kann Adrenaline entkommen, läuft den Piraten in die Hände, die wiederum von Asterix und Obelix verfolgt und erreicht werden, als deren Schiff von einer römischen Galeere aufgebracht wird. Nach der unvermeidlichen Schlägerei wird auch diesmal alles gut, und Adrenaline erfüllt den Auftrag ihres Vaters „Widerstand zu leisten und frei zu bleiben“ auf ihre ganz eigene Weise.

Alles in allem nach langer Zeit wieder einmal ein runder Asterix-Band, der weitgehend funktioniert. Wie schon beim letzten Band gesagt: „Wir heißen Euch hoffen“.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Die Tochter des Vercingetorix. Asterix Bd. 38. Berlin: Egmont Ehapa, 2019. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Raymond Queneau: Zazie in der Metro

»Was für ein Krampf, das Dahrsein«

Nach langwierigen Vorarbeiten erschien dieser Roman 1959 und war praktisch über Nacht ein Erfolg, wurde bereits in darauf folgenden Jahr verfilmt und auch ins Deutsche übersetzt. Mit diesem Roman wurden die deutschen Leserinnen und Leser zum ersten Mal mit der Avantgarde der französischen Literatur bekannt, die Eugene Helmlé wenigstens für eine Weile praktisch im Alleingang ins Deutsche übersetzte. Nach Queneaus Stilübungen hat Frank Heibert nun auch dessen bekanntesten Roman neu übertragen.

Zazie in der Metro erzählt von einem Wochenende in Paris, an dem Jeanne Grossestittes – ihr Namen ist auch im Original ein so grobes Wortspiel – ihre Tochter Zazie bei ihrem Onkel Gabriel abgibt, da sie sich ungestört mit einem Liebhaber vergnügen möchte. Zazie kommt aus der Provinz und ihr wichtigstes Ziel bei diesem ersten Besuch der Großstadt ist eine Fahrt in der Metro. Zu Zazies Pech wird die Metro an dem Wochenende bestreikt, so dass ihr erst ganz am Ende die ersehnte Fahrt vergönnt ist, die sie aber wohl aufgrund einer zuvor durchgefeierten Nacht verschläft.

Zazie ist wahrscheinlich so um die 13 Jahre alt, ziemlich vorlaut – „Leck mich!“ ist ihre Lieblingsphrase – und hat, wenn man ihr glauben darf, schon einiges durchgemacht: einen Alkoholiker als Vater, der sie missbraucht hat, die Ermordung dieses Vaters durch die Mutter und deren Liebhaber, den Gerichtsprozess, in dem sie aussagen musste. Es ist also nicht verwunderlich, dass Zazie etwas frühreif geraten ist. Und auch die Menschen, die sie durch ihren Onkel nun kennenlernt, sind hauptsächlich bestimmt durch ihr Verhältnis zu Sex, Alkohol und die Polizei. Aber das hindert sie nicht daran, in dem sich immer weiter steigernden Chaos des Wochenendes ihr Vergnügen zu finden.

Insgesamt ist das Buch episodisch und erzählt eine Alltagsgeschichte, deren Fiktion immer wieder durch Figurenverwandlungen, Wortspiele, Leseransprache etc. durchbrochen wird. Queneau mischt die unterschiedlichsten Sprachstile von der hohen Literatursprache bis zum Straßenargot, das in bester avantgardistischer Manier phonetisch wiedergegeben wird. Die Neuübersetzung ist in Tempo und Sprachwitz auf der Höhe des Originals und ermöglicht die vergnüglich Wiederentdeckung eines Klassikers der französischen Moderne.

Raymond Queneau: Zazie in der Metro. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Berlin: Suhrkamp,22019. Pappband, Lesebändchen, 239 Seiten. 22,– €.

Raymond Queneau: Stilübungen

Raymond Queneau gehört zu einer Gruppe französischer Schriftsteller, die sich in Deutschland einen kleinen, aber treuen Kreis von Lesern erobern konnte, was in der Hauptsache der unermüdlichen Übersetzungsarbeit Eugen Helmlés zu verdanken sein dürfte. Queneaus bekanntester Text dürfte der kleine Roman Zazie in der Metro (1959) sein, auch wegen der Verfilmung durch Louis Malle.

Die Stilübungen sind eine Sammlung kurzer Variationen auf eine vollständig nichtssagende Anekdote von einem jungen Mann, der sich in einem Bus mit einem anderen Passagier streitet, weil dieser ihn mehrfach angerempelt hat und sich dann auf einen freien Platz setzt; zwei Stunden später entdeckt der anonyme Erzähler den jungen Mann erneut, als der von einem Bekannten über einen fehlenden Knopf an seinem Mantel belehrt wird. Diese kurze Erzählung wird nun durch allerlei stilistische Varianten gejagt, sowohl in Prosa als auch in Versform. So kommen insgesamt mehr als Hundert Kurztexte zusammen, die auf immer andere Weise um dasselbe Nichts tanzen.

Interessanterweise sind eine bedeutende Anzahl dieser Stilübungen noch während des Zweiten Weltkriegs unter der deutschen Okkupation Frankreichs entstanden und veröffentlicht worden. 1947 erschien dann ein Buch mit 99 Stilübungen, die aber mit der Zeit immer noch erweitert wurden. Eugen Helmlé übersetze dann 1961 zusammen mit Ludwig Harig 100 dieser Kurztexte ins Deutsche und eröffnete damit überhaupt erst die Rezeption Queneaus in Deutschland. Jetzt arbeitet Frank Heibert diesen Übersetzungen noch einmal nach, indem er vor drei Jahren zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel eine stark erweiterte Ausgabe der Stilübungen neu übersetzte und in diesem Jahr auch Zazie in der Metro folgen ließ. Die Neuübersetzung ist frisch und macht Spaß holt damit die besten Qualitäten Quenaus wieder zurück ins Bewusstsein der jüngeren deutschen Leserschaft.

Für alle, die Vergnügen an Sprachspielen und -variationen haben, eine sehr gute Gelegenheit, sich Queneaus wirklich bedeutendem literarischen Werk zu nähern.

Raymond Queneau: Stilübungen. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. bibliothek suhrkamp 1495. Berlin: Suhrkamp,22017. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 215 Seiten. 22,– €.

Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne

Gott der Gerechte! Was macht man nicht alles dem Volke weis in Eurer Welt!

Eine Lektüre aus nostalgischem Grund: Zu Beginn meines Studiums habe ich eine ganze Reihe Utopien und phantastischer Reisen der frühen Neuzeit gelesen. Allerdings war damals Cyrano de Bergerac noch nicht im Schwange, da die Verfilmung des Theaterstücks von Edmond Rostand, die ihn wieder in die aktive Erinnerung der Kultur schwemmen sollte, noch ausstand. Die beiden Reisen sind die einzigen Romane, die Cyrano geschrieben hat, wobei die zur Sonne Fragment geblieben ist. Beide wurde mit wesentlichen Kürzungen, die in der Hauptsache die religions- und kirchenkritischen Passagen betrafen, aus dem Nachlass herausgegeben. Zum Glück sind die Manuskripte des Autors erhalten geblieben, so dass moderne Ausgaben die vollständigen Texte präsentieren.

Ich bin nun eher zufällig auf die hier vorgestellten Ausgabe gestoßen, die auch schon wieder nicht mehr lieferbar ist. Sie wurde 2005 erstmalig veröffentlicht und 2009 dann bei dtv, wenn ich es richtig sehe, in nur einer einzigen Auflage nachgedruckt. Das Buch ist liebevoll gemacht, gut übersetzt und ausgezeichnet historisch kommentiert, also eigentlich so, wie solche Bücher sein sollen. Es ist sehr schade, wenn Bücher wie dieses einfach sang- und klanglos wieder verschwinden.

Erzählt wird das, was bereits der Titel besagt: Der Ich-Erzähler – zweifellos ein Alter ego des Autors – unternimmt auf wunderliche, aber durchaus technische Art und Weise zwei Reisen: Die zum Mond bringt ihn ins biblische Paradies, wo er auf einige Propheten des Alten Testaments trifft, die allerdings theologisch recht unkonventionelle Meinungen vertreten. Außerdem führt der Erzähler dort eine breite Diskussion zeitgenössischer physikalische Theorien. Bei der Reise zur Sonne ist in der ersten Hälfte der phantastische Anteil stärker ausgeprägt; so gerät der Erzähler etwa in eine Gesellschaft sprechender Vögeln, die ihn als Unmenschen anklagen und wegen der auf Erden praktizierten Grausamkeit der Menschen den Vögeln gegenüber zum Tode verurteilen, vor dem er nur errettet wird, weil er früher einmal nett zum Papagei seiner Tante war. Auch findet sich die Darstellung einer Gesellschaft von Bäumen, die vor dem Feuertier (das ist der Salamander) zittern, aber von einem Eistier beschützt werden, und was der Dinge mehr sind. Übrigens leben alle verstorbenen Philosophen auf der Sonne weiter, doch bevor der Erzähler mit dem großen Campanella als Führer so recht in dieses Reich vordringen kann, bricht das Fragment ab.

Die Lektüre ist aufgrund der großen zeitlichen Distanz nur zusammen mit dem Kommentar wirklich fruchtbar: Der Übersetzer und Herausgeber Wolfgang Tschöke hat sich die Mühe gemacht, die Parallelen zu und Übernahmen aus Cyranos literarischen Vorlagen und die von ihm diskutierten wissenschaftlichen Theorien im Anhang ausführlich darzulegen. Wer es darauf anlegte, könnte von diesem Kommentar aus einen Weg durch alle empirischen Wissenschaften des 17. Jahrhundert finden. So ist das Buch nicht nur jenen zu empfehlen, die sich für frühe Utopien der Neuzeit interessieren, sondern auch jenen, die einen Einblick in den Stand der naturwissenschaftlichen Diskussion Mitte des 17. Jahrhundert gewinnen wollen. Eine sehr anregende, wenn auch nicht ganz einfach Lektüre.

Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne. Aus dem Französischen von Wolfgang Tschöke. München: dtv, 2009. Broschur, 360 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix in Italien

obs/Egmont Ehapa Media GmbH„Naja, so lala“, hätte mein Vater gesagt. Der neue Asterix gehört zu den akzeptablen Stücken; dass er derzeit über den grünen Klee gelobt wird, liegt wohl daran, dass sich die Rezensenten nicht mehr an die wirklich guten Asterix-Abenteuer erinnern können.

Die Fabel ist ebenso dünn wie rasch erzählt: Ein korrupter römischer Politiker, der für den Straßenbau in Italien zuständig ist, erfindet ein internationales Auto Wagenrennen, um vom schlechten Zustand der Straßen abzulenken. Wie das funktionieren soll, bleibt unklar. Cäsar besteht darauf, dass ein römischer Wagen gewinnen muss, koste es, was es wolle. In Obelix erwacht durch eine Reihe schicksalhafter Zufälle der Wille, Wagenlenker zu werden. Die Gallier fahren beim Rennen durch Italien mit. Wer gewinnt, verrate ich nicht!

Insgesamt ist der Band ein zweiter Aufguss aus Tour de France mit dem Internationalismus aus Obelix auf Kreuzfahrt aufgekocht und mit einigen übrig gebliebenen Tourismus-Witzen aus Asterix in Spanien abgeschmeckt. Was den Lesern auffallen darf, ist, dass es sich bei Italien wie bei allen europäischen Staaten um einen Vielvölkerstaat handelt, dessen einzelne Völker ihre nationale Eigenständigkeit zwar aufgegeben, ihre Identität aber nicht vergessen haben. Sollte das ankommen, wäre es einen mittelmäßigen Asterix wert. „Wir heißen Euch hoffen“.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix in Italien. Asterix Bd. 37. Berlin: Egmont Ehapa, 2017. Bedruckter Pappband, 47 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

 

100 Jahre Dada

Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.
Theo van Doesburg

In diesem Jahr wäre Dada 100 Jahre alt geworden, wenn es nicht bereits unmittelbar vor seiner Zeugung verstorben wäre:

Dada ist tot, bevor es überhaupt angefangen hat. Zum ersten Mal stirbt Dada, als Tzara aus einer Laune eine Kunstrichtung machen will. Dada stirbt seinen Heldentod, als Ball im Juni 1916 Zürich verlässt. Dada dreht sich im Grabe um, als Huelsenbeck, Tzara und Arp versuchen, es in anderen Städten zu etablieren. In der Auseinandersetzung zwischen Picabia, Breton, Tzara und ihren Gesellen stirbt Dada tausend Tode. Aber so darf Dada nicht vertröpfeln, es muss auch einmal ordentlich symbolisch zu Grabe getragen werden.

Banalerweise leben Totgesagte immer länger, besonders dann, wenn zu bezweifeln ist, dass sie überhaupt jemals von selbst geatmet haben. Das alles stört aber Dada und die meisten seiner Vorkämpfer überhaupt nicht. Sich um solch offenbare Widersprüche zu kümmern, hieße die Macht des Paradoxen zu verschwenden. Dada setzt tiefer an, nämlich dort wo sich Vernunft und Unvernunft gute Nacht sagen – an der kargen Oberfläche der bürgerlichen Kultur.

dada-almanachNatürlich ist der Manesse Verlag mit Sitz in Zürich prädestiniert, Dada zum Jubiläum mit einer Anthologie zu würdigen. Die Textauswahl ist beeindruckend umfassend; sogar Clément Pansaers (1885–1922) und Paul von Ostaijen (1896–1928), zwei belgische Dadaisten, von denen ich bis dato noch nie gehört oder gelesen hatte, sind vertreten. Ansonsten ist alles anwesend, was noch keinen Rang hatte und sich einen Namen machte: Tristan Tzara, Hans Arp, Georg Grosz, Walter Serner, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Walter Mehring (den ich besonders schätze), Raoul Hausmann, Francis Picabia, André Breton, Paul Éluard und und und. Die Auswahl der Texte ist ebenso gelungen: Weder fehlen die bekannten Klassiker (etwa Balls „Karawane“ oder Schwitters „An Anna Blume“), noch die Überraschungen, wegen derer man einen solchen Almanach kaufen sollte. Auch die Auswahl aus der unendlichen Flut dadaistischer Manifeste, die bekanntlich nichts sagen, dass aber in einer Ausführlichkeit, mit der sich nur politische Reden messen können, ist exzellent. Begleitet werden die Texte durch einen Anhang, der die wichtigsten Dadaisten in biographischen Kurzporträts vorstellt und die wichtigsten Orte der Aufführung präsentiert. Das zusätzliche Spiel mit Schwarz und Rot im Druckbild rundet den Band perfekt ab. Das einzige, was man vermissen könnte, ist, dass Dada nicht ausschließlich eine textbasierte Strömung war, sondern insbesondere auch Graphik, Collage und Musik mit einbezog.

mittelmeier-dadaWer darüber mehr erfahren  und Dada im allgemeineren Kontext der Moderne dargestellt haben möchte, kann zu Martin Mittelmeiers Buch greifen (aus dem auch das längere Zitat oben stammt). Mittelmeier versucht, einen Weg zu finden, dem chronologischen, persönlichen, formalen und inhaltlichen Chaos Dadas gerecht zu werden. Wer sich nicht schon ein wenig in der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auskennt, könnte im Stakkato einiger Passagen des Buches verlorengehen. Alles in allem und im Großen und Ganzen muss man Mittelmeier zugestehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigt, sind doch zahllose biographische Details, parallele Entwicklungen, Verwerfungen, Verfeindungen und Zweckbündnisse, Widersprüche und Gegensätze darzustellen, deren Anlässe für einen, der nicht tief in den Verwicklungen dieser Zeit steckt, nur schwer nachzuvollziehen sind.

Sehr loben muss man Mittelmeier dafür, dass er den bequemen Ansatz, Dada sei die Reaktion einiger Intellektueller auf den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, als unzureichend begreift und Dada stattdessen in die künstlerischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellt: Das Aufgeben der Zentralperspektive in der Malerei, der Harmonik in der Musik – wenn auch seine Rede davon, Schönberg befreie „den einzelnen Ton aus dem Korsett der klassischen Tonalität“ (S. 51) dummes Geschwätz ist –, die Faszination der Geschwindigkeit und die Empfindung der Simultanität sind andere Aspekte desselben grundsätzlichen Zweifels an den tradierten Formsprachen, der sich auch in Dada manifestiert. Auch lässt Mittelmeier keinen Zweifel daran, dass Mangel an konkretem Inhalt, Wiederholung und der Dada notwendig innewohnende Selbstwiderspruch zu nichts anderem als zur baldigen Auflösung von Dada führen konnten, und jede neue Stadt, in die Dada getragen wird, die Agonie nur überdeckt und herauszögert. Ergänzt wird diese sehr klarsichtige Darstellung durch einige dadaistische Zwischenspiele, auf die man sich – wie auf Dada überhaupt – schlicht einlassen sollte.

Ob Mittelmeier aber tatsächlich der Auffassung ist, der Eiffelturm sei 1000 Meter hoch (S. 48), Erich Mühsam habe den Vornamen Ernst geführt (S. 66), moderne Kunst verfüge über „Autonomie“ (S. 102) oder Schwitters Bilder seien „funktional gesehen gotische Dome“ (S. 184), kann man angesichts dessen, was hier gelungen ist, auf sich beruhen lassen.

Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Kontradiktion. Hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon. Zürich: Manesse, 2016. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 176 Seiten. 39,95 €.

Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler, 2016. Pappband, 272 Seiten. 22,99 €.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Der Papyrus des Cäsar

Asterix-36Zwei Jahre nach „Asterix bei den Pikten“ legt das neue Texter/Zeichner-Duo Ferri und Conrad ihren zweiten Asterix-Band (den 36. der Reihe nach der offiziellen Zählung) vor. Erfreulich ist, dass sie versuchen, sich der alten Qualitäten der Reihe zu erinnern: Historisches und Aktuelles finden sich in gegenseitiger Bespiegelung und sogar an die ehemals so virtuos beherrschte Kunst des Wortspiels („Ich bin, mein lieber Freund, sehr glücklich Euch zu sehen.“ „Das ist ein Alexandriner.“) nähert man sich wieder an, wenn auch hier noch viel Platz nach oben bleibt.

Kern der Geschichte ist, dass Cäsar seinen „Gallischen Krieg“ erscheinen lässt, ihm sein Verleger aber davon abrät, die Niederlage gegen die unbeugsamen Gallier zu erwähnen. Es sollen daher alle bereits erstellten Exemplare, die das entsprechende Kapitel enthalten, zerstört werden; über die ohnehin stummen Schreiber, die das Buch zu vervielfältigen haben, macht man sich weniger Sorgen. Doch einer dieser Schreiber schmuggelt ein vollständiges Exemplar von Cäsars Buch(rolle) aus der Villa des Verlegers und spielt sie einem gallischen Kolporteur zu, der mit dem Buch zu den Unbeugsamen flieht, damit die wahre Geschichte des Gallischen Krieges nicht verloren geht. Der Rest der Geschichte ist mehr oder minder gut angestückelt, aber da wir in den letzten Bänden ohnehin nicht sehr gut bedient wurden, ist man schon ganz zufrieden. Ausgehen tut es wie immer: Am Ende wird ein Fest im Dorf gefeiert mit ganz viel Wildschwein, nur diesmal mit einem schnarchenden Druiden statt einem gefesselten Barden.

Natürlich bietet die Geschichte zahlreiche Gelegenheiten, sich über die schöne, neue Kommunikationswelt lustig zu machen: Es finden sich zahlreiche Netz-Witze, und die Brieftaube ist gerade bei der Armee als ultramodernes und hyperschnelles Kommunikationsmedium eingeführt. So richtig auf den Punkt ist das alles nicht, aber es ist sehr viel besser als Außerirdische im Kakerlakenkostüm.

Mit diesem Band hat Asterix wieder den richtigen Weg eingeschlagen. Ob man an die goldenen Zeiten dieses Comics noch einmal wird anknüpfen können, bleibt weiterhin ungewiss.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Der Papyrus des Cäsar. Asterix Bd. 36. Berlin: Egmont Ehapa, 2015. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.