100 Jahre Dada

Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.
Theo van Doesburg

In diesem Jahr wäre Dada 100 Jahre alt geworden, wenn es nicht bereits unmittelbar vor seiner Zeugung verstorben wäre:

Dada ist tot, bevor es überhaupt angefangen hat. Zum ersten Mal stirbt Dada, als Tzara aus einer Laune eine Kunstrichtung machen will. Dada stirbt seinen Heldentod, als Ball im Juni 1916 Zürich verlässt. Dada dreht sich im Grabe um, als Huelsenbeck, Tzara und Arp versuchen, es in anderen Städten zu etablieren. In der Auseinandersetzung zwischen Picabia, Breton, Tzara und ihren Gesellen stirbt Dada tausend Tode. Aber so darf Dada nicht vertröpfeln, es muss auch einmal ordentlich symbolisch zu Grabe getragen werden.

Banalerweise leben Totgesagte immer länger, besonders dann, wenn zu bezweifeln ist, dass sie überhaupt jemals von selbst geatmet haben. Das alles stört aber Dada und die meisten seiner Vorkämpfer überhaupt nicht. Sich um solch offenbare Widersprüche zu kümmern, hieße die Macht des Paradoxen zu verschwenden. Dada setzt tiefer an, nämlich dort wo sich Vernunft und Unvernunft gute Nacht sagen – an der kargen Oberfläche der bürgerlichen Kultur.

dada-almanachNatürlich ist der Manesse Verlag mit Sitz in Zürich prädestiniert, Dada zum Jubiläum mit einer Anthologie zu würdigen. Die Textauswahl ist beeindruckend umfassend; sogar Clément Pansaers (1885–1922) und Paul von Ostaijen (1896–1928), zwei belgische Dadaisten, von denen ich bis dato noch nie gehört oder gelesen hatte, sind vertreten. Ansonsten ist alles anwesend, was noch keinen Rang hatte und sich einen Namen machte: Tristan Tzara, Hans Arp, Georg Grosz, Walter Serner, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Walter Mehring (den ich besonders schätze), Raoul Hausmann, Francis Picabia, André Breton, Paul Éluard und und und. Die Auswahl der Texte ist ebenso gelungen: Weder fehlen die bekannten Klassiker (etwa Balls „Karawane“ oder Schwitters „An Anna Blume“), noch die Überraschungen, wegen derer man einen solchen Almanach kaufen sollte. Auch die Auswahl aus der unendlichen Flut dadaistischer Manifeste, die bekanntlich nichts sagen, dass aber in einer Ausführlichkeit, mit der sich nur politische Reden messen können, ist exzellent. Begleitet werden die Texte durch einen Anhang, der die wichtigsten Dadaisten in biographischen Kurzporträts vorstellt und die wichtigsten Orte der Aufführung präsentiert. Das zusätzliche Spiel mit Schwarz und Rot im Druckbild rundet den Band perfekt ab. Das einzige, was man vermissen könnte, ist, dass Dada nicht ausschließlich eine textbasierte Strömung war, sondern insbesondere auch Graphik, Collage und Musik mit einbezog.

mittelmeier-dadaWer darüber mehr erfahren  und Dada im allgemeineren Kontext der Moderne dargestellt haben möchte, kann zu Martin Mittelmeiers Buch greifen (aus dem auch das längere Zitat oben stammt). Mittelmeier versucht, einen Weg zu finden, dem chronologischen, persönlichen, formalen und inhaltlichen Chaos Dadas gerecht zu werden. Wer sich nicht schon ein wenig in der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auskennt, könnte im Stakkato einiger Passagen des Buches verlorengehen. Alles in allem und im Großen und Ganzen muss man Mittelmeier zugestehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigt, sind doch zahllose biographische Details, parallele Entwicklungen, Verwerfungen, Verfeindungen und Zweckbündnisse, Widersprüche und Gegensätze darzustellen, deren Anlässe für einen, der nicht tief in den Verwicklungen dieser Zeit steckt, nur schwer nachzuvollziehen sind.

Sehr loben muss man Mittelmeier dafür, dass er den bequemen Ansatz, Dada sei die Reaktion einiger Intellektueller auf den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, als unzureichend begreift und Dada stattdessen in die künstlerischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellt: Das Aufgeben der Zentralperspektive in der Malerei, der Harmonik in der Musik – wenn auch seine Rede davon, Schönberg befreie „den einzelnen Ton aus dem Korsett der klassischen Tonalität“ (S. 51) dummes Geschwätz ist –, die Faszination der Geschwindigkeit und die Empfindung der Simultanität sind andere Aspekte desselben grundsätzlichen Zweifels an den tradierten Formsprachen, der sich auch in Dada manifestiert. Auch lässt Mittelmeier keinen Zweifel daran, dass Mangel an konkretem Inhalt, Wiederholung und der Dada notwendig innewohnende Selbstwiderspruch zu nichts anderem als zur baldigen Auflösung von Dada führen konnten, und jede neue Stadt, in die Dada getragen wird, die Agonie nur überdeckt und herauszögert. Ergänzt wird diese sehr klarsichtige Darstellung durch einige dadaistische Zwischenspiele, auf die man sich – wie auf Dada überhaupt – schlicht einlassen sollte.

Ob Mittelmeier aber tatsächlich der Auffassung ist, der Eiffelturm sei 1000 Meter hoch (S. 48), Erich Mühsam habe den Vornamen Ernst geführt (S. 66), moderne Kunst verfüge über „Autonomie“ (S. 102) oder Schwitters Bilder seien „funktional gesehen gotische Dome“ (S. 184), kann man angesichts dessen, was hier gelungen ist, auf sich beruhen lassen.

Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Kontradiktion. Hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon. Zürich: Manesse, 2016. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 176 Seiten. 39,95 €.

Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler, 2016. Pappband, 272 Seiten. 22,99 €.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Der Papyrus des Cäsar

Asterix-36Zwei Jahre nach „Asterix bei den Pikten“ legt das neue Texter/Zeichner-Duo Ferri und Conrad ihren zweiten Asterix-Band (den 36. der Reihe nach der offiziellen Zählung) vor. Erfreulich ist, dass sie versuchen, sich der alten Qualitäten der Reihe zu erinnern: Historisches und Aktuelles finden sich in gegenseitiger Bespiegelung und sogar an die ehemals so virtuos beherrschte Kunst des Wortspiels („Ich bin, mein lieber Freund, sehr glücklich Euch zu sehen.“ „Das ist ein Alexandriner.“) nähert man sich wieder an, wenn auch hier noch viel Platz nach oben bleibt.

Kern der Geschichte ist, dass Cäsar seinen „Gallischen Krieg“ erscheinen lässt, ihm sein Verleger aber davon abrät, die Niederlage gegen die unbeugsamen Gallier zu erwähnen. Es sollen daher alle bereits erstellten Exemplare, die das entsprechende Kapitel enthalten, zerstört werden; über die ohnehin stummen Schreiber, die das Buch zu vervielfältigen haben, macht man sich weniger Sorgen. Doch einer dieser Schreiber schmuggelt ein vollständiges Exemplar von Cäsars Buch(rolle) aus der Villa des Verlegers und spielt sie einem gallischen Kolporteur zu, der mit dem Buch zu den Unbeugsamen flieht, damit die wahre Geschichte des Gallischen Krieges nicht verloren geht. Der Rest der Geschichte ist mehr oder minder gut angestückelt, aber da wir in den letzten Bänden ohnehin nicht sehr gut bedient wurden, ist man schon ganz zufrieden. Ausgehen tut es wie immer: Am Ende wird ein Fest im Dorf gefeiert mit ganz viel Wildschwein, nur diesmal mit einem schnarchenden Druiden statt einem gefesselten Barden.

Natürlich bietet die Geschichte zahlreiche Gelegenheiten, sich über die schöne, neue Kommunikationswelt lustig zu machen: Es finden sich zahlreiche Netz-Witze, und die Brieftaube ist gerade bei der Armee als ultramodernes und hyperschnelles Kommunikationsmedium eingeführt. So richtig auf den Punkt ist das alles nicht, aber es ist sehr viel besser als Außerirdische im Kakerlakenkostüm.

Mit diesem Band hat Asterix wieder den richtigen Weg eingeschlagen. Ob man an die goldenen Zeiten dieses Comics noch einmal wird anknüpfen können, bleibt weiterhin ungewiss.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Der Papyrus des Cäsar. Asterix Bd. 36. Berlin: Egmont Ehapa, 2015. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Sade

Sade verdient also besondere Beachtung weder als Schriftsteller noch als sexuell Pervertierter.

Simone de Beauvoir

Sade-Rezeption

Die Person und das Werk des Marquis de Sade sorgen seit über 200 Jahren für intellektuelle Nervosität und moralische Aufregung. Von den einen als eine durchtriebene Zuspitzung der Ideologie der Aufklärung ins Absurde, von den anderen als eine Blütenlese von Obszönitäten gelesen, ist es Sade gelungen, kontinuierlich im Gedächtnis einer Moderne zu verbleiben, deren Wahnsinn er am Horizont seines eigenen Dilettantismus nicht einmal erahnen konnte.

Das vorliegende Buch sammelt theoretische Dokumente der Sade-Rezeption von 1789 bis 2014, wenn man das Nachwort der Herausgeberin mit hinzunimmt. Das Haupt- und Schmuckstück ist Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Aufsatz „Juliette oder Aufklärung und Moral“ von 1944, der allerdings Sade gleich so maßlos überschätzt, dass an ihm – Sade, nicht dem Aufsatz – bereits das gesamte Projekt der Aufklärung nahtlos in das Morden der Nationalsozialisten übergeht. Das ist ideologisch hübsch gemacht, findet auch auf einem argumentativen Niveau statt, an das keiner der anderen Essays auch nur annähernd heranreicht, ist aber, tritt man einen Schritt zurück und wendet sich einem der Romane zu, die die Grundlage für solch einen Gedankengang bilden sollen, von erhabener Albernheit. Wenigstens muss man den beiden Autoren zugute halten, dass sie die einzigen sind, die den für Sades Phantasien zentralen Zusammenhang zwischen Macht und Sexualität ernst nehmen, der in beinahe allen anderen Texten höchstens am Rande eine Rolle spielt.

Herauszuheben ist ansonsten noch Thomas de Quinceys Vortrag „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“, der für sich genommen ein sehr witziger Text, allerdings mit der Sade-Rezeption nur im atmosphärischen Sinne verbunden ist. Von allem anderen war ich eher enttäuscht, wenn ich auch hier und da Schlimmeres erwartet hatte. So war mir beispielsweise das etwas selbstgefällige Geschwätz einer Susan Sontag bei weitem nicht so widerständig wie früher – wahrscheinlich werde auch ich altersmilde. Aber zu oft regieren Sätze wie:

Das Frankreich des 18. Jahrhunderts ist für seine Frivolität bekannt. Die Ausschweifungen der reichen Müßiggänger und Müßiggängerinnen [sic!] kannten keine Grenzen. (Viktor Jerofejew)

So etwas beschleunigt die Lektüre natürlich ungemein. Was der Band aber deutlich werden lässt, ist, dass Sades Dilettantismus den eigentlichen Kern seines Werks bildet: Seine zusammengelesenen Philosopheme, die eklektizistischen, flüchtigen und oft krummen Gedankengänge seiner Philosophie der Folterkammer sind der ideale Nährboden, auf dem jedermann (und auch jede Frau, wenn’s beliebt) seine ganz eigenen Pflänzchen anbauen kann. So ist denn vieles, was über Sade geschrieben wurde, wie Sades Werk selbst: letztlich gänzlich belanglos.

Sade. Stationen einer Rezeption. Hg. v. Ursula Pia Jauch. stw 2115. Berlin: Suhrkamp, 2014. Broschur, 469 Seiten. 20,– €.

Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hg.): Der Erste Weltkrieg

Cabanes-Dumenil-Der_Erste_WDieser auf Französisch bereits 2007 erschienene großformatige Bildband (28,5 cm × 23 cm) liegt nach seiner deutschen Publikation im vergangenen Jahr nun auch für kurze Zeit in einer unschlagbar preiswerten Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung vor. Der reich illustrierte Band versammelt knapp 70 relativ kurze, von verschiedenen Historikern verfasste Kapitel, die jeweils einem einzelnen Ereignis des Krieges oder einem kulturhistorischen Aspekt der am Krieg beteiligten Nationen gewidmet sind. Beginnend mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges in den Balkankriegen und bis hinein in die Nachkriegswelt, deren massive Umwälzungen bereits die Grundlagen bilden für den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, entsteht ein gut gewichtetes musivisches Bild der europäischen Welt der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts.

Wahrscheinlich genügt die Lektüre dieses Bildbandes allein nicht, um sich ein einigermaßen abgerundetes Bild von den Kriegsjahren zu machen, sondern sie sollte von einer geschlossenen Darstellung der politischen und militärischen Geschichte des Krieges begleitet werden, etwa Wolfgang J. Mommsens „Der Erste Weltkrieg“. Gerade für eine solch kurze Überblicksdarstellung liefert der Bildband die ideale Ergänzung, da hier viele Details zur Sprache kommen, die dort notwendig fehlen müssen: Der Osteraufstand in Dublin, die Geschichte der beiden englischen Schriftsteller Wilfred Owen und Siegfried Sasoon (wozu hier en passant auch auf die Regeneration-Trilogie Pat Barkers hingewiesen sei), die Geschichte Mata Haris, die Entstehung Dadas und vieles andere mehr. Für jeden an der Geschichte des 20. Jahrhunderts Interessierten ein Muss.

Bruno Cabanes / Anne Duménil (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, Fadenheftung, 480 Seiten Kunstdruckpapier, üppig illustriert. 7,– €.

Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten

Asterix-bei-den-PiktenSpätestens seit der Aufnahme von „Asterix“ in die erste Auflage von „Kindlers Literatur Lexikon“ (1965 ff., nur echt ohne Bindestrich!) gehören die Geschichten um den kleinen Gallier und seinen vollschlanken Freund auch in Deutschland in den Kanon der Weltliteratur. Dies ist unbestreitbar ein Verdienst René Goscinnys gewesen, der mit „Asterix“ einen der wenigen Comics geschaffen hat, der in allen Altersgruppen und Leserschichten Freunde gefunden hat. Wie sehr „Asterix“ von der Originalität und dem Witz Goscinnys gelebt hat, mussten alle seine Leser schmerzlich erfahren, als Albert Uderzo die Reihe nach Goscinnys überraschendem Tod 1977 allein fortsetzte. Es gab zwar immer noch den ein oder anderen Band, der an die früheren erinnerte, wirkliche Höhepunkte aber fehlten, und die Erfolgsgeschichte schien mit dem Band „Gallien in Gefahr“ (2005) ihren absoluten Tief- und Endpunkt erreicht zu haben.

Natürlich ist es nicht einfach, einen solchen jahrzehntelangen Erfolg einfach auf sich beruhen zu lassen und zu akzeptieren, dass gewisse Dinge ihre Zeit haben und nun einmal zu einem Ende kommen, insbesondere wenn der Verdacht besteht, man könne noch Geld aus dem verbliebenen Ruhm schlagen. Da die Ikone Asterix nun einmal existiert, warum sie nicht in die kommerzielle Unsterblichkeit überführen? Gesagt, getan: Einen neuen Zeichner angeworben, der es perfekt versteht, Uderzos Stil zu imitieren, und einen neuen Autor, denn was immer der schreibt, es kann nicht schlimmer sein als das, was Uderzo zuletzt abgeliefert hat. Und mit der richtigen Werbekampagne läuft das auch: Ein weiterer mittelmäßiger Asterix-Band, der sich am bewährten Muster der Reise-Abenteuer entlangwurschtelt, einige der alten ikonographischen Muster aufgreift (Asterix und Obelix schreien sich mehrfach schlecht motiviert an, Majestix kämpft mit Schild-Problemen, Obelix wird rot, wenn ihn eine hübsche, junge Frau umarmt), dafür andere schlicht ignoriert (keine Massenschlägerei mehr im Gallierdorf, stattdessen viel gänzlich beliebiger Tratsch und Klatsch, keine Wildschwein-Jagd (wahrscheinlich nicht mehr politisch korrekt), Idefix bleibt daheim (eine gänzlich unverständliche Entscheidung, die viel Potenzial zu rein illustrativem Humor verschenkt) usw usf.). Das alles ist brav, aber ohne wirklichen Elan, ohne Originalität und ohne Witz.

Nicht einer der schlechtesten Bände, aber auch keiner von den wirklich guten. Ob unter dem neuen Team noch einmal die Höhe von Abenteuern wie „Streit um Asterix“ oder „Asterix auf Korsika“ erreicht werden wird, bleibt abzuwarten. Der Tiefpunkt jedenfalls ist vorerst einmal überwunden. Dauerhaft überleben wird die Reihe nur, falls es ihr gelingt, sich neu zu erfinden; danach sieht es derzeit aber nicht aus.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix bei den Pikten. Asterix Bd. 35. Berlin: Egmont Ehapa, 2013. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

David Merveille: Hallo Monsieur Hulot

Merveille_HulotIch bin mir nicht sicher, wie bekannt in Deutschland Monsieur Hulot heute noch ist. In der Generation meiner Eltern gehörten Jacques Tatis Filme »Die Ferien des Monsieur Hulot« und »Mein Onkel« (der nach dem Gewinn des Sonderpreises der Jury in Cannes 1958 und des Oscars für den besten fremdsprachigen Film im Jahr 1959 immerhin als der am höchsten premierte Film aller Zeiten beworben wurde) zum allgemeinen kulturellen Unterfutter, so dass die meisten aus meiner Genration diese Filme noch kennen und schätzen gelernt haben. Wenn ich allerdings jungen Leuten von M. Hulot erzähle, ernte ich oft nicht mehr als verwunderte Blicke, dass es zu den Zeiten, als ich jung gewesen bin, überhaupt schon bunte Filme gegeben haben soll. Ich nehme an, das liegt daran, dass Tatis Filme vom Fernsehen nicht mehr wiederholt werden oder wenn, dann auf Arte oder wo.

In Frankreich scheint die Lage noch etwas günstiger zu sein, denn David Merveille legte 2010 mit Erfolg ein Bilderbuch vor, dessen ganzer Zauber sich nur dem eröffnet, der Tatis Filme und ihren Humor kennt, der in beinahe allen  Fällen übrigens ganz ohne Sprache auskommt und deshalb für ein reines Bilderbuch ideal geeignet ist. Der NordSüd Verlag hat nun eine Ausgabe für den deutschsprachigen Markt herausgebracht, die allen, die M. Hulot bereits kennen, ans Herz gelegt sei (jeder braucht mindestens zwei Exemplare: eins für sich selbst und eines zum Verschenken), und allen anderen ein Anlass sein soll, die ganz und gar wundervolle Welt Jacques Tatis zu entdecken!

David Merveille: Hallo Monsieur Hulot. Zürich: NordSüd, 2013. Bedruckter Pappband (28,5 cm × 22 cm), Fadenheftung, 50 Seiten (unpaginiert). 14,95 €.

Gustave Flaubert: Madame Bovary

Heute wäre es keinem von uns mehr möglich, sich auch nur im geringsten an ihn zu erinnern.

Flaubert_Bovary_EdlIn der verdienstvollen Reihe von Kassiker-Neuübersetzungen, die in schöner Folge und hervorragender Ausstattung bei Hanser erscheinen, ist im letzten Jahr auch Flauberts »Madame Bovary« einmal mehr vorgelegt worden. Die Übersetzerin Elisabeth Edl, die zu Recht mit Ihren Übersetzungen Stendhals bekannt geworden ist, legt nach ihrer eigenen Zählung immerhin schon die 28. Übersetzung des Textes ins Deutsche vor. Dabei geht sie mit den Vorläufern hart ins Gericht:

Selbstverständlich finden sich unter diesen 27 Versionen auch solche, die den Roman flüssig und in geläufiger deutscher Sprache wiedergeben; es gibt allerdings auch erstaunlich viele Stellen, die allein sachlich noch niemals richtig übersetzt wurden. Aber auch die besten unter ihnen verfehlen die spezifische Qualität ganz und gar; gerade auch die berühmte und oft gelobte Übersetzung von René Schickele ist eher eine schöne, freie Nacherzählung als eine Übersetzung Flauberts.

Edl kritisiert die mangelnde Sorgfalt bei der Übersetzung von grammatikalischer Struktur und Wortstellung, die Flaubert in mühevollster Arbeit herauskristallisiert habe. Auch an der Wiedergabe der von Flaubert jeweils gewählten sprachlichen Stilebene würden alle bisherigen deutschen Ausgaben wesentlich scheitern. Am verzeihlichsten ist wohl, wenn Doppeldeutigkeiten und Wortspiele unübersetzt bleiben, da sich ein Übersetzer hier immer zwischen der Skylla der wörtlichen Übersetzung und der Charybdis der Ersetzung durch ein zielsprachliches Pendant durchlavieren muss, die sich in den meisten Fällen beide als nur mäßig witziger Ersatz für das Original erweisen.

Nun reicht mein fragmentarisches Französisch, das sich hauptsächlich aus meinem Latein speist, nicht hin, um die Übersetzung Edls daraufhin abzuklopfen, ob sie den theoretischen Ansprüchen der Übersetzerin tatsächlich genügt. Alles, was ich vermag, ist es, einige auffällig Stellen herauszupicken und mit dem Original und der zufälligen Auswahl von Übersetzungen zu vergleichen, die mir vorliegt.

Beginnen wir mit einer der offenbar hässlichen Stellen, an der eine anstößige Wiederholung ein und derselben Formulierung aufstößt:

Madame Bovary nahm die Schüssel. Um sie unter den Tisch zu stellen, bückte sie sich und machte eine Bewegung, bei der ihr Kleid (es war ein Sommerkleid mit vier Volants, gelb, lange Taille, weiter Rock), bei der ihr Kleid sich auf den Fliesen der Stube glockig um sie rundete; … (Edl, S. 173)

Schauen wir zuerst einmal, was die anderen Übersetzer schreiben:

  • Frau Bovary nahm die Schüssel und stellte sie unter den Tisch; bei dieser Bewegung bauschte sich ihr Kleid (es war mit vier Volants besetzt, gelb, mit langer Taille und weit geschnittenem Rock), breitete sich rings um sie auf dem Fußboden aus. (René Schickele (1907), hier zitiert nach einer Ausgabe bei Manesse von 1952, S. 209 f.)
  • Frau Bovary ergriff die Schüssel und setzte sie unter den Tisch. Bei diesem Bücken bauschte sich ihr Rock (ein weiter gelber Rock mit vier Falbeln) um sie herum und stand wie steif auf der Diele, … (Arthur Schurig (1911), hier zitiert nach einer Ausgabe im Insel Verlag von 1952, S. 161.)
  • Madame Bovary nahm die Schüssel und wollte sie unter den Tisch stellen. Als sie sich bückte, breitete sich ihr Kleid – ein gelbes Sommerkleid mit vier Volants, langer Taille und weitem Rock – rings um sie auf den Fliesen aus. (Walter Widmer (1959), hier zitiert nach einer Ausgabe bei Artemis & Winkler von 1993, S. 170.)
  • Madame Bovary nahm das Becken, um es unter den Tisch zu stellen. Als sie sich dabei hinunterbeugte, breitete sich ihr Kleid (es war ein Sommerkleid mit vier Volants, von gelber Farbe, mit langer Taille und weitgeschnittetem Rock) um sie herum auf den Fliesen des Wohnzimmers aus; … (Caroline Vollmann, Haffmans, 2001, S. 182.)

Wie man auf den ersten Blick sieht, findet sich in keiner der vorherigen Übersetzungen die Wiederholung der Phrase bei der ihr Kleid, so dass der Verdacht eines Übersetzungsfehler nahe liegt. Schauen wir also ins Original:

Madame Bovary prit la cuvette. Pour la mettre sous la table, dans le mouvement qu’elle fit en s’inclinant, sa robe (c’était une robe d’été à quatre volants, de couleur jaune, longue de taille, large de jupe), sa robe s’évasa autour d’elle sur les carreaux de la salle; …

Tatsächlich findet sich die stilistisch harte Wiederaufnahme des Satzes durch die Wiederholung des sa robe bei Flaubert, und Edls Übersetzung scheint die erste zu sein, die dieser Härte nicht ausweicht und versucht, dem Autor stilistisch aufzuhelfen, sondern sich an Struktur und Wortwahl des Originals hält.

Schauen wir eine andere Stelle an, bei der das Original der Übersetzung einigen Widerstand entgegensetzt: Der Apotheker Homais, eine der wichtigsten Nebenfiguren des Romans, wird mit einer seiner besserwisserischen Tiraden in den Roman eingeführt. Opfer seiner Belehrung ist die Wirtin des Lion d’or, die über die Notwendigkeit unterrichtet wird, sich einen neuen Billardtisch zuzulegen:

Puisque celui-là ne tient plus, madame Lefrançois, je vous le répète, vous vous faites tort! vous vous faites grand tort! Et puis les amateurs, à présent, veulent des blouses étroites et des queues lourdes. On ne joue plus la bille; tout est changé! Il faut marcher avec son siècle!

Hier ist die Bedeutung des kurzen Satzes On ne joue plus la bille durchaus nicht auf Anhieb klar. Dementsprechend unterschiedlich fallen die Übersetzungen aus:

  • … man spielt jetzt eben anders! (Schickele, S. 125)
  • Mit solchen Bällchen spielt man nicht mehr. (Schurig, S. 97)
  • Man spielt nicht mehr so gemütlich mit Murmeln, … (Widmer, S. 101)
  • … man spielt die Kugeln nicht mehr direkt; … (Vollmann, S. 109)

Während René Schickele nicht den Satz, sondern sein Unverständnis ins Deutsche übersetzt, reimen sich Schurig und Widmer (dieser auch noch unter Hinzufügung eines nicht im Original zu findenden Adjektivs) etwas zusammen, was der Satz durchaus bedeuten könnte, was er aber eben nicht eindeutig bedeutet. Caroline Vollmann versteht wenigstens die Funktion des Satzes, nämlich dass sich Homais hier mit einer fachmännisch klingenden Phrase gegenüber der Wirtin als Kenner ausweisen möchte, doch gerät ihre Lösung leider zu konkret und sinnvoll. Elisabeth Edl wählt dagegen eine Wendung, die ebenso undeutlich ist wie das Original: Man bespielt die Kugeln nicht mehr; (S. 103) – auch hier weiß der Leser nicht, was eigentlich mit dem Satz gemeint sein soll, denkt aber, besonders wenn er vom Billard so wenig versteht wie die Wirtin, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.

Man verzeihe mir ein letztes, kurzes Beispiel: Auf S. 212 der hier besprochenen Übersetzung ragt das Wort Lassreidel aus dem Text heraus:

Sie kamen zu einer breiteren Stelle, wo man Lassreidel gefällt hatte. Sie setzten sich auf einen umgelegten Baumstamm und Rodolphe sprach nun von seiner Liebe.

Für das Wort Lassreidel findet sich im Original der Ausdruck baliveaux. Beides sind Fachwörter aus der Forstwirtschaft und bezeichnen Bäume eines sogenannten Mittelwalds, die bei einer Fällung vorerst stehen geblieben sind, um erst ein oder mehrere Jahre später gefällt zu werden. Das Wort Lassreidel auch nur zu finden, dürfte keine kleine Mühe gewesen sein. Schauen wir noch einmal, wie es die anderen machen:

  • Sie kamen auf eine Lichtung. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und Rodolphe begann von seiner Liebe zu sprechen. (Schickele, S. 258)
  • Sie standen in einer Lichtung, in der gefällte Baumstämme lagen. Sie setzten sich beide auf einen.
    Von neuem begann Rudolf, von seiner Liebe zu reden. (Schurig, S. 197)
  • Sie gelangten auf eine kleine Lichtung, wo man junge Stämme gefällt hatte. Sie setzten sich auf einen der umgelegten Bäume, und Rodolphe fing an von seiner Liebe zu reden. (Widmer, S. 208)
  • Sie kamen auf eine Lichtung, auf der Jungholz geschlagen worden war. Sie setzten sich auf einen gefällten Baumstamm, und Rodolphe begann, von seiner Liebe zu ihr zu sprechen. (Vollmann, S. 223)

Und zum Abgleichen das Original:

Ils arrivèrent à un endroit plus large, où l’on avait abattu des baliveaux. Ils s’assirent sur un tronc d’arbre renversé, et Rodolphe se mit à lui parler de son amour.

Gerade dieses Beispiel ist hübsch, weil keiner der oben zitierten Übersetzer der Falle entgangen ist, un endroit plus large mit Lichtung zu übersetzen. Flauberts Text aber weiß gar nichts von einer Lichtung, sondern nur von einem etwas weiteren Platz, auf dem einige wenige Bäume gefällt worden sind. Während sich Schickele und Schurig (dessen Sie setzten sich beide auf einen das Zeug hat, in der ewigen Bestenliste übersetzerischer Stilblüten einen der vorderen Plätze einzunehmen) um das Problem herumdrücken, baliveaux zu übersetzen, wählt Vollmann mit Jungholz wenigstens einen forstwirtschaftlich klingenden Begriff, nur leider handelt es sich eben gerade nicht um Jungholz, das da gefällt worden ist.

Natürlich ist eine solch zufällige Stichprobe nicht wirklich aussagekräftig, und es gibt Berufenere, ein Urteil über die Qualität dieser Neuübersetzung zu fällen, aber dort, wo ich sie geprüft habe, bewährt sich Edls Übersetzung als präzise und eng am Original geführt.

Abgesehen von der Frage nach der Qualität der Übersetzung, ist dies die erste vollständige deutsche Ausgabe des Romans in dem Sinne, dass sie dem Vorbild der letzten, von Flaubert selbst zum Druck beförderten französischen von 1873 folgt und im Anschluss an den Roman den Prozess von 1857 dokumentiert. Unmittelbar an den Text des Romans angehängt finden sich das Plädoyer des Staatsanwaltes, die Verteidigung von Flauberts Anwalt und der Freispruch des Gerichts, der Flaubert zu einem der erfolgreichsten Sensationsautoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte. Mit der kommentarlosen Wiedergabe dieser Dokumente zelebriert Flaubert natürlich seinen Sieg über die zeitgenössischen Spießer, die seinen Roman aus mehr als einem Grund gerne verboten gesehen hätten.

Zum Inhalt dieser Mutter aller modernen Romane etwas zu sagen oder gar zur Bedeutung des Buches, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Vielleicht nur soviel, dass dies wahrscheinlich meine zehnte Lektüre dieses Buches in mehr als dreißig Jahren war und ich den Roman immer noch als ein Wunderwerk anzustaunen vermag. Es ist ein Buch von erstaunlicher künstlerischer Integrität und von einer solch gelassenen erzählerischen Kühle, wie man sie nur sehr selten in der Literatur findet. Wenn die 29. Übersetzung erscheinen wird, werde ich es sicherlich wieder lesen.

Gustave Flaubert: Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 759 Seiten. 34,90 €.

Émile Zola: Doktor Pascal

Der Augenblick der heroischen Lüge war gekommen.

zola_rougonDer zwanzigste, abschließende Roman des Zyklus der Rougon-Macquart, der 1893, also 22 Jahre nach dem ersten Band »Das Glück der Familie Rougon« erschienen ist. Wie bereits früher erwähnt, hatte schon der zuvor erschienene Band »Der Zusammenbruch« einen ersten Abschluss geliefert, indem er das Ende des Zweiten Kaiserreichs thematisierte. In »Doktor Pascal« versucht Zola nun, den wissenschaftlichen Gehalt des Zyklus zu sichern: Der Titelheld hat einen Gutteil seines Lebens in Plassans damit zugebracht, die Geschichte der Familie Rougon-Macquart zu dokumentieren. Witzigerweise müssen ihm dabei die Romane Zolas als Hauptquelle gedient haben, denn der kursorische Überblick über den Bestand der Akten Doktor Pascals liefert nichts anderes als eine sehr reduzierte Nacherzählung der vorangegangenen Bücher.

Da sich aus dem wissenschaftlichen Gehalt allein kein Roman zimmern ließ, benutzte Zola eine recht triviale Liebesgeschichte als erzählerisches Rückgrat: In Doktor Pascals Haushalt lebt auch eine junge Nichte von ihm. Clotilde ist eine Tochter Saccards (»Die Beute«»Das Geld«), die ihrem Onkel bei seiner wissenschaftlichen Arbeit assistiert. Nach einer Glaubenskrise des Mädchens, die Zola Gelegenheit gibt, den Konflikt zwischen Wissenschaft und Christentum zu thematisieren, bekennt sie Pascal ihre Liebe, woraufhin die beiden eine Liebesaffäre beginnen. Natürlich kann die Geschichte nicht gut ausgehen: Clotilde wird von Pascal zu ihrem Bruder nach Paris geschickt, um diesen zu pflegen. Dort stellt sie fest, dass sie von Pascal schwanger ist, doch bevor sie nach Plassans zurückkehren kann, stirbt Pascal an einer Herzschwäche. Diese Liebesgeschichte ist vollkommen banal und vorhersehbar und neigt, besonders bei den Beschreibungen Clotildes, stark zum Kitsch. Zola ist hier zwar grundsätzlich eine parodistische Absicht zuzutrauen, aber ohne Kenntnis des Originals und der französischen Trivialliteratur des späten 19. Jahrhundert lässt sich nicht entscheiden, ob hier Absicht oder einfach schlechter Geschmack vorliegt.

Außer dieser enttäuschenden Hauptfabel kann auch der wissenschaftliche Gehalt nur als mäßig überzeugend bezeichnet werden. Natürlich gelingt es Zola nicht, eine strenge Ableitung aller Hauptcharaktere des Zyklus aus den ursprünglichen Erbanlagen der Familie (Neigung zum Wahnsinn und zur Trunksucht) zu zeigen, sondern alles bleibt nur eine Illustration seiner Überzeugung, dass es eine solche starke Theorie der Vererbung in Zukunft einmal geben werde.

Alles in allem ein schwacher Abschluss des sozial-biologischen Strangs des Zyklus, der im ideologischen Glaubensbekenntnis zur Überlegenheit der wissenschaftlichen Methode und zur Macht alles Lebendigen stecken bleibt. Für uns nachgeborene Leser sind die historischen, gesellschafts- und sozialkritischen Aspekte des Zyklus sicherlich die wichtigeren; wirklich grandios sind natürlich auch die satirischen, antibürgerlichen Passagen, die bis heute kaum etwas von ihrer Schärfe eingebüßt haben.

Ich werde bei Gelegenheit hier noch eine Übersichtsseite erstellen, auf der man sich einen raschen Überblick über den gesamten Romanzyklus wird verschaffen können.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Der Zusammenbruch

Wehe dem, der stehenbleibt im fortwährenden Streben der Nationen! Der Sieg gehört denen, die in der Vorhut marschieren, den weisesten, den gesündesten, der stärksten!

zola_rougonDer vorletzte Band der Rougon-Macquart ist, wie schon der Titel anzeigt, dem Ende des Zweiten Kaiserreichs gewidmet, mit dessen Beginn der Zyklus in »Das Glück der Familie Rougon« zugleich einsetzte. »Der Zusammenbruch« knüpft direkt an »Die Erde« an, an dessen Ende Jean Macquart seine gescheiterte bäuerliche Existenz hinter sich ließ und sich angesichts des bevorstehenden Kriegs gegen Preußen wieder zum Militär meldete. Auch das Ende von »Nana«, die unter den Rufen »Nach Berlin! Nach Berlin« das Zeitliche segnete, wird unmittelbar wieder aufgenommen. So liefert »Der Zusammenbruch« die Abrundung der gesellschaftspolitischen und historischen Ebene des Zyklus, während der letzte Band »Doktor Pascal« die soziologisch-biologische Ebene abschließen wird. Dabei ist Jean Macquart aber nur eine von zwei Hauptfiguren des Buches, die den Zusammenhang des Romans mit der Familiengeschichte der Rougon-Macquarts sichert, während als gleichwertige Gegenfigur Maurice Levasseur eingeführt wird. Zola braucht eine zweite Hauptfigur, um in den beiden die Zerissenheit des französischen Volks in der Zeit des Umbruchs von Zweiten Kaiserreichs zur Dritten Republik personifizieren zu können.

Der Roman ist klar in drei Teile gegliedert: Teil 1 schildert die Desorganisation der französischen Truppen im August 1870, die dazu führt, dass im Gegensatz zum geplanten Einmarsch der Franzosen in Deutschland es die alliierten deutschen Truppen sind, die erfolgreich nach Frankreich eindringen. Teil 2 ist vollständig der Schlacht um Sedan in den ersten Tagen des September 1870 gewidmet, und Teil 3 schildert die nachfolgende Gefangenschaft und verlängert die Erzählung bis zum Ende der Pariser Commune. Jean Macquarts dient als Korporal in der französischen Infanterie; Maurice Levasseur ist einer seiner Untergebenen, der zuerst massive Vorurteile gegen den bäuerlichen Jean hegt, ihn dann aber als kompetenten und um seine Soldaten besorgten Vorgesetzten schätzen lernt und spätestens während der gemeinsamen Gefangenschaft nach der Schlacht bei Sedan eine echte Freundschaft zu ihm entwickelt. Die beiden fliehen gemeinsam aus der Gefangenschaft, wobei Jean durch einen Schuss ins Bein verletzt wird. Während Jean in der Pflege der Schwester Maurices zurückbleibt, begibt sich Maurice nach Paris, um die Stadt gegen die Preußen zu verteidigen. Dort schlägt er sich auf die Seite der Pariser Commune, während Jean nach seiner Genesung zu den regierungstreuen Truppen stößt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Bei der Erstürmung der Barrikaden verletzt sich Jean Maurice tödlich, und mit dem Ende der Commune endet auch Maurices Leben.

Das Buch versucht nach dem offensichtlichen Vorbild von Tolstois »Krieg und Frieden« eine Parallelführung privater Schicksale mit dem Verlauf des Deutsch-Französischen Kriegs. Beides gelingt nicht wirklich zufriedenstellend: Die Schilderung der militärhistorischen Abläufe bleibt für den Nichtfachmann oft verwirrend – dies mögen die Zeitgenossen Zolas noch anders wahrgenommen haben –, und die private Ebene erscheint oft zu konstruiert, um zu überzeugen. Insbesondere die symbolistische Überfrachtung der Freundschaft zwischen Jean und Maurice, der, um die Tragik der Geschehnisse noch zu erhöhen, auch noch eine verhinderte Liebesgeschichte zwischen Jean und Maurices Schwester Henriette hinzugefügt wird, wirkt aufgesetzt und einzig um der sentimentalen Wirkung Willen inszeniert. »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«

Wichtig aber dürfte sein, dass Zola mit der militärischen und politischen Führung des Zweiten Kaiserreichs scharf ins Gericht geht: Während der Kaiser selbst zu einer kränklichen, machtlosen Figur verblasst, erweisen sich die Generäle entweder als selbstsüchtige und -gefällige Stümper oder auch als schlicht unfähig, mit den organisatorischen und militärischen Anforderungen der Lage zurechtzukommen. Für Zola erfüllt sich in der Niederlage gegen die Preußen eine notwendige Entwicklung, die ein korruptes und intrigantes Regime zu seinem natürlichen Ende bringt. Frankreich hatte aus der Sicht Zolas spätestens durch das Zweite Kaiserreich seine Führungsrolle in Europa, die es durch die Revolution von 1789 erworben hatte, verspielt. Der Roman endet daher ganz bewusst mit dem Appell, es gelte jetzt, »ein ganzes Frankreich neu zu erschaffen.«

Der Roman gehört sicherlich aufgrund der ideologischen Belastung seiner Konstruktion zu den schwächeren des Zyklus und zu denen, die rapide gealtert sind. Und er gehört ebenso sicher zu denen, die ein eher national gesinnter Franzose gänzlich anders lesen wird als ein eher philosophisch orientierter Deutscher.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Gustave Flaubert: Bücherwahn

Ja, er war trunken von dem, was er empfunden hatte; er war erschöpft von seinen Tagen; er war besoffen vom Leben.

Flaubert_Bücherwahn

Jedes Jahr bringt der Hanser Verlag zur Weihnachtszeit ein kleines Büchlein heraus, das als Präsent der Buchhändler an ihre liebsten Kunden gedacht ist oder an solche, die es werden sollen. In diesem Jahr ist es eine Neuübersetzung von Gustave Flauberts erster Veröffentlichung geworden: »Bücherwahn« wurde 1836 vom erst Fünfzehnjährigen geschrieben und erschien bereits im Jahr darauf im Kulturblättchen »Le Colibri«. Natürlich will Hanser damit nicht nur Lesern eine Freude, sondern auch auf seine Neuübersetzung der »Madame Bovary« aufmerksam machen, die hier bei Gelegenheit auch besprochen werden soll.

Erzählt wird in »Bücherwahn« die tief romantisch gefärbte Geschichte des ehemaligen Mönchs Giacomo, der als Buchhändler und Büchernarr ein ärmliches Leben in Barcelona fristet, weil er nur Buchhändler geworden ist, um eine große Bibliothek sein Eigen nennen zu können. Als ihm jedoch ein konkurrierender Kollege bei einer Auktion ein Unikat (das scheinbar einzige erhaltene Exemplar der ersten in Spanien gedruckten Bibel) vor der Nase wegschnappt, verliert Giacomo anscheinend die Kontrolle über seine Leidenschaft: Er zündet dem Kollegen den Laden an, stürzt sich selbst ins Feuer und rettet das obskure Objekt seiner Begierde. Als die Polizei in Giacomos Besitz das vermeintliche Unikat findet, wird er nicht nur der Brandstiftung angeklagt, sondern auch einer Serie ungeklärter Morde, die das Land in Aufruhr versetzen. Den höchst merkwürdigen Ausgang des Prozesses will ich um der lieben Spannung willen hier nicht verraten.

Die Erzählung weist viele Schwächen auf, wie man sie vom Text eines fünfzehnjährigen Autors erwarten darf: Angefangene Erzählstränge laufen einfach ins Nichts, zwei Bücher werden miteinander verwechselt, wobei unklar bleibt, ob die Verwirrung beim Autor oder bei der Figur liegt, die Mordserie taucht gänzlich unvorbereitet und schlecht motiviert in der Handlung auf und was der Kleinigkeiten mehr sind. Allerdings spürt man schon den späteren Meister: Die romantische Atmosphäre ist gut getroffen, die Ausführung ist dicht und ohne Geschwätzigkeit, und der Leser wird am Ende mit einem hübschen psychologischen Rätsel allein gelassen.

Wer Flaubert und/oder die Übersetzerin Elisabeth Edl schätzt, sollte sich das hübsche Bändchen noch rasch von seinem Buchhändler erbitten.

Gustave Flaubert: Bücherwahn. Deutsch von Elisabeth Edl. Mit Vignetten von Wolf Erlbruch. München: Hanser, 2012. Broschur, 32 Seiten.