Émile Zola: Ein Blatt Liebe

zola_rougonDer bislang schwächste Band im Zyklus der Rougon-Macquart. Erzählt wird eine sehr konventionelle Ehebruchsgeschichte aus der Sicht der Geliebten: Hélène Grandjean – Tochter Ursule Mourets und Enkelin Adelaïde Fouques – ist als verwitwete Mutter einer 11-jährigen, kränklichen Tochter von Marseilles nach Passy, einem Pariser Vorort, gezogen. Hier baut sie sich nach dem Ende ihrer Trauerzeit langsam einen neuen Bekanntenkreis auf, zu dem auch der in unmittelbarer Nachbarschaft lebende Arzt Henri Deberle und dessen Frau gehören, in deren Garten Hélène mit ihrer Tochter Jeanne viel Zeit verbringt. Zwischen Hélène und Henri entwickelt sich ein unausgesprochenes Liebesverhältnis, um dessentwillen Hélène auch den Heiratsantrag eines anderen Bekannten, Rambaud, vorerst ablehnt. Erst als Hélène erfährt, dass auch Henris Frau eine Affäre hat oder wenigstens kurz davor ist, eine zu beginnen, gibt sie ihrer Leidenschaft nach und beginnt mit Henri ein Verhältnis. Naturgemäß muss aber gerade an diesem Abend ein heftiges Gewitter über Passy niedergehen, das die kleine Jeanne am offenen Fenster überrascht und so durchnässt und schwächt, dass sie binnen Kurzem an der Schwindsucht dahinsicht. Der Tod ihrer Tochter, dem auch Henri nur hilflos zusehen kann, beendet das Verhältnis zwischen den Liebenden. Am Ende zeigt uns der Roman Hélène als um ihre Tochter trauernde Gattin des braven und biederen Rambaud, mit dem zusammen sie inzwischen wieder in Marseilles lebt.

Nahezu alles an diesem Roman ist voraussehbar und banal. Zolas Beschreibungskunst exzelliert einzig in fünf breit angelegten Darstellungen des Pariser Panoramas zu unterschiedlichen Tageszeiten und bei unterschiedlicher Witterung. Zola selbst war mit dem Roman nicht sonderlich zufrieden, hielt die Behandlung dieses Allerweltsthemas aber wohl für unverzichtbar für ein vollständiges Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Der Totschläger

zola_rougonDer siebte Band der Rougon-Macquart. Nachdem Zola in Seine Exzellenz Eugène Rougon die Kreise der Pariser Hochpolitik dargestellt hat, wendet er sich im Nachfolgeband dem Arbeitermilieu zu. Im Zentrum des Romans steht Gervaise Macquart, eine der beiden Töchter Antoine Macquarts, die bereits als junges Mädchen Plassans zusammen mit Jacques Lantier verlassen hatte. Der Roman beginnt, als Gervais von Lantier, von dem sie zwei Kinder hat und mit einem dritten schwanger ist, verlassen wird. Lantier ist ein Säufer und Schmarotzer, und als Gervais und ihm die Mittel auszugehen drohen, orientiert er sich anderweitig. Gervais nimmt sich diese Trennung nicht zu sehr zu Herzen, obwohl sie Lantier noch liebt, sondern fängt an, sich und ihre Kinder durch harte Arbeit zu ernähren. Sehr bald bekommt sie einen Heiratsantrag ihres Nachbarn Coupeau, den sie nach einigem Zögern annimmt.

Coupeau erscheint zuerst als Mustergatte: Im Gegensatz zu Lantier trinkt er nicht, er bringt seinen Lohn brav nach Hause, ist genau wie seine Frau spar- und strebsam, so dass die beiden, die auch eine gemeinsame Tochter – Nana – bekommen, bald daran denken können, dass sich Gervais mit einer Wäscherei selbstständig macht. Doch Coupeau erleidet einen Arbeitsunfall, der ihn monatelang arbeitsunfähig macht. Der Verdienstausfall und die Arztkosten verzehren das angesparte Kapital, so dass Gervais den Plan mit der Wäscherei schon verloren gibt, als sich die Goujets, Nachbarn und ein Muster an Wohlanständigkeit, deren Sohn zudem auch noch in Gervais verliebt ist, bereit erklären, ihr das nötige Startkapital zu leihen.

Gervais’ Traum von einer kleinbürgerlichen Zukunft scheint damit gerettet. Es macht ihr auch nichts aus, dass ihr Ehemann nach seiner Gesundung nicht nach Arbeit sucht, sondern sich an das süße Nichtstun gewöhnt zu haben scheint. Im Gegensatz zu früher beginnt er nun auch, regelmäßig zu trinken, zwar erst nur Wein, mit der Zeit aber auch immer stärker Sachen. Die Lage spitzt sich weiter zu, als auch Lantier wieder auftaucht: Entgegen anfänglicher Befürchtungen von Gervais, ihr eifersüchtiger Ehemann könne einen Skandal heraufbeschwören, verstehen sich die beiden Männer beinahe auf Anhieb, und Lantier mietet sich bei den Coupeaus ein, versteht sich mit dem Ehemann aufs Beste und wird ein Schmarotzer mehr im Haushalt, ja schließlich sogar wieder Gervais’ Liebhaber.

Natürlich hält der Verdienst der kleinen Wäscherei Gervais’ zwei solche Schmarotzer schlecht aus, und da auch Gervais dazu neigt, es sich gut gehen zu lassen, leidet die Familie unter ständiger Geldnot. Der soziale Abstieg ist unvermeidlich; Gervais muss, als sie die Miete nicht mehr zahlen kann, den Laden aufgeben, Lantier wechselt gleich mit zu den neuen Ladenbesitzern, und Gervais und ihr Ehemann geraten in eine Spirale der Verarmung, aus dem sie sich nicht zu befreien verstehen. Als schließlich auch Gervais anfängt zu trinken, ist es mit der Familie endgültig aus: Nana wird Prostituierte, Coupeau verendet im Delirium und schließlich geht Gervais an Hunger und Kälte zugrunde.

Der Totschläger hat seinen Titel von einer Bezeichnung billiger Kneipen, die im Pariser Argot des 19. Jahrhunderts »Assommoir« genannt wurden; Totschläger ist als Übersetzung vielleicht etwas drastisch, trifft aber die Intention Zolas bei der Titelgebung. Der Totschläger ist der erste Roman der Rougon-Macquart, bei dem sich Zola genötigt sah, ihn durch ein Vorwort in Schutz zu nehmen. Schon auf den Zeitungs-Vorabdruck hatte die Kritik mit Vorwürfen reagiert, der Roman verwende eine zu drastische Sprache und schildere Szenen, die so nicht literarturfähig seien. Zola wendet dagegen ein, dass er sorgfältig die Sprache des Volkes gesammelt habe und dass das von ihm geschilderte Elend so tatsächlich vorhanden sei. Bereits die zeitgenössische Kritik hat aber festgestellt, dass Der Totschläger bei allem Realismus doch weit entfernt von sozialer Kritik bleibt. Sicherlich schildert Zola unmenschliche soziale Verhältnisse, aber seine Figuren bleiben im Wesentlichen Opfer ihrer selbst. Es sind nicht gesellschaftliche Verhältnisse, die sie scheitern lassen, sondern Zufälle und die Unzulänglichkeiten ihrer Charaktere. Diese Einschränkung der Perspektive wird erst in Zolas späteren Romanen aufgehoben werden.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen

Ausgelöst durch die Lektüre von Yann Martels Beatrice and Virgil habe ich mir noch einmal Flauberts Drei Erzählungen aus dem Schrank genommen, diesmal in der relativ neuen Übersetzung des Haffmans-Verlages, Gott habe ihn selig. Die drei Erzählungen repräsentieren jeweils einen Aspekt von Flauberts Romanschaffen: Ein schlichtes Gemüt seine realistischen Romane, in Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen spiegelt sich Die Versuchung des heiligen Antonius wider und Herodias schließlich ist ein Gegenstück zu Salambo, das ich auch wieder einmal lesen müsste.

Ein schlichtes Gemüt ist eine meisterhafte Erzählung, die auf weniger als 50 Seiten ein ganzes Leben umfasst: Félicité wird Hausangestellte bei der verwitweten Madame Aubain, nachdem sie wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte von daheim fortgelaufen ist. Sie geht ganz und gar im Dienst für die Familie ihrer Herrin auf; einzig ihr Neffe Victor liegt ihr noch am Herzen, aber der stirbt jung als Seemann auf einer Fahrt nach Amerika. Tiefer jedoch trifft sie der Tod von Virginie, der Tochter des Hauses, die als Klosterschülerin an einer Lungenentzündung stirbt; Félicité beginnt einen heimlichen Totenkult um die Verstorbene. Doch ihre Liebe erfüllt sich schließlich, als sie von ihrer Herrin einen Papagei geschenkt bekommt, den diese von einer Nachbarin erhalten hatte. Loulou bleibt Félicité auch nach seinem Tod treu, nachdem sie ihn  hat ausstopfen lassen. Mehr und mehr gerät er ihr zu einer Personifizierung des Heiligen Geistes, ja es gelingt ihr schließlich, ihn auf einem von ihr geschmückten Fronleichnamsaltar zu platzieren und ihn auf diese Weise mit Zustimmung des Pfarrers ganz und gar zu einer religiösen Ikone zu machen.

Es ist erstaunlich, mit welcher Ruhe und erzählerischen Ökonomie Flaubert auf den wenigen Seiten der Erzählung ein ganzes Leben umspannt. Jegliche Sentimentalität ist dem Erzähler fremd; er bleibt auch hier ein Gott hinter den Kulissen:

Der Künstler muß in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.

an Mlle Leroyer de Chantepie, 18.3.1857

Die Legende von Saint Julien dem Gastfreundlichen ist inhaltlich eine traditionelle Heiligenlegende, die angeblich durch die Darstellung der Legende in einem Kirchenfenster von Rouen inspiriert wurde. Julien wird unter Prophezeiungen geboren: Während der Schwangerschaft wird seiner Mutter seine Bestimmung zum Heiligen vorausgesagt, dem Vater am Tag der Geburt seine Karriere als großer Kriegsmann und Angehöriger einer kaiserlichen Familie. Julien wächst auf als ein grausames Kind, das aus Lust Tiere tötet, bald der Leidenschaft der Jagd verfällt und von dieser Besessenheit schließlich durch ein Wunder erlöst wird: Es stellen sich ihm im Wald eine unermessliche Anzahl von Tieren, die er alle tötet, um am Ende vom letzten Hirschen verflucht zu werden, er werde seine beiden Eltern ermorden. Von dieser Prophezeiung verschreckt und im Glauben tatsächlich seine Mutter aus Versehen getötet zu haben, flieht Julien, wird wie vorausgesagt ein gesuchter Krieger und heiratet schließlich in eine kaiserliche Familie ein. Natürlich muss sich auch noch die andere Prophezeiung erfüllen, und Julien tötet in einem Anfall von Eifersucht seine Eltern, die er für seine Frau und einen Liebhaber hält. Wie zu erwarten wendet er sich nun ab vom weltlichen Wohlleben und wird Fährmann an einem Fluss, lebt in Armut und im Dienst an seinem Mitmenschen. Erlöst wird er am Ende durch Jesus selbst, der ihm in Gestalt eines Aussätzigen erscheint und von ihm nicht nur Gastfreundschaft, sondern Dienst und Demut weit darüber hinaus erbittet. Bei der Geschichte handelt es sich offenbar um eine erzählerische Handübung; Flaubert spricht selbst davon, er habe die Drei Erzählungen als »Buch des Ausruhens« geschrieben.

Herodias erzählt in einiger Ausführlichkeit die Fabel vom Tod Johannes des Täufers, wie sie ihn  den Evangelien des Matthäus und des Markus zu finden ist. Die Perspektive ist dabei die des Herodes Antipas, der sich eingezwängt sieht zwischen den Machtansprüchen der Römer, den Drohungen des Araber, den Vorurteilen der Juden und dem Versuch, die Liebe seiner Frau Herodias zurückzugewinnen. Höhepunkte der Erzählung ist sicherlich die große Strafpredigt des Johannes, die unmittelbarer Auslöser seiner Hinrichtung wird, da er in ihr öffentlich sowohl Herodes als auch Herodias bloßstellt, und die Hinrichtung des Johannes, die zwar hinter den Kulissen bleibt, deren Umstände aber ein letztes Mal die Bedeutung Johannes des Täufers bestätigen. Auch in diesem Fall sollte man nur ein artistisches Interesse Flauberts am Stoff voraussetzen und nicht annehmen, dass es ihm um die eine oder andere Botschaft gegangen sei.

Die Drei Erzählungen waren ein bedeutender Erfolg bei Kollegen und Kritikern, brachten aber nicht die von Flaubert erhofften Einkünfte. Zwar hatte er die Erzählungen vorab zu sehr guten Zeilenhonoraren zwei Zeitungen verkaufen können, aber die Buchausgabe blieb hinter seinen Erwartungen zurück. So war das Buch, das eine kleine artistische Werkschau ist, in Flauberts Einschätzung ein Misserfolg.

Gustave Flaubert: Drei Erzählungen. Aus dem Französischen von Claus Sprick und Cornelia Hasting. Zürich: Haffmans, 2000. Leinenrücken, Dünndruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 140 Seiten.

Jules Verne: Die Eissphinx

Verne-Eissphinx Gleich im Anschluss an den »Arthur Gordon Pym« Edgar Allan Poes habe ich auch Jules Vernes sogenannte Fortsetzung, »Die Eissphinx«, noch einmal gelesen und das, obwohl ich an die erste Lektüre alles andere als gute Erinnerungen hatte. Das hat sich denn auch bestätigt. Es handelt sich um einen zweibändigen, über weite Strecken überaus langweiligen Roman. Erzählt wird von einer Antarktis-Expedition, die der Bruder des Kapitäns der Jane aus Poes »Pym« unternimmt, um eben den verschollenen Bruder und mögliche weitere Überlebende zu retten. Erzähler ist ein amerikanischer Geologe namens Jeorling, den es eher zufällig auf das Schiff des Kapitäns Len Guy verschlägt und der diesen zuerst für verrückt hält, da der den »Pym« als einen Tatsachenbericht und nicht als einen Roman liest.

Es ist unnötig die überaus ausführlichen Umstände der Reise nach Tsalal, zum Pol und darüber hinaus nachzuerzählen. Über viele Seiten geschieht spannenderweise gar nichts, was dann aber sicherlich nochmal irgendwo wiederholt wird, um auch ja nichts auszulassen. Die titelgebende Eissphinx kommt zwar am Ende doch noch vor, ist aber ein kompletter McGuffin, dessen Geheimnisse spätere Expeditionen werden lüften müssen.

Das Buch ist ein typisches Produkt des Schnell- und Vielschreibers Verne, der die Niederschrift mit vagen und halbfertigen Ideen beginnt, und, wenn ihm dann im Prozess der Niederschrift die Einfälle ausbleiben, das Geschriebene solange wiederholt und variiert, bis ihm dann doch schließlich ein neuer Gedanke in den Schoß fällt. Das Ergebnis ist ein planloses, redundantes und seitenschindendes Hin- und Herfahren seines Helden, das schließlich darin gipfelt, dass er ankommt, wo er ankommen muss, und dort gar nichts Interessantes vorfindet, was aber auch wieder ausführlich beschrieben wird.

Die anonyme Übersetzung, die 1898 bei Hartleben erschienen ist, ist höchst mäßig und offensichtlich ohne jegliche Ambitionen erstellt worden. Hinzukommt, dass die von mir benutzte elektronische Ausgabe des Textes zahlreiche schwere Scannfehler aufweist, die die Lektüre hier und da doch deutlich stören.

Jules Verne: Die Eissphinx. Wien, Pest, Leipzig: Hartleben, 1898. In: Ders.: Bekannte und unbekannte Welten. Das erzählerische Werk. Hg. v. Wolfgang Thadewald. Digitale Bibliothek Bd. 105. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2004. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.2; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Seine Exzellenz Eugène Rougon

zola_rougonNach dem Experiment mit symbolistischen Elementen in »Die Sünde des Abbé Mouret« kehrt der nächste Roman der Rougon-Macquart zum gesellschaftlichen und politischen Hauptthema des Zyklus zurück: Wie der Titel schon anzeigt, steht in »Seine Exzellenz Eugène Rougon« jener Sohn Pierre Rougons und seiner Frau Félicité im Zentrum, der sowohl in »Das Glück der Familie Rougon« als auch in »Die Beute« als einflussreiche Figur im Hintergrund agierte und wohl auch in »Die Eroberung von Plassans« zu den fernen, geheimen Drahtziehern des Geschehens gehörte.

Eugène Rougon ist einer jener politischen Abenteurer, die beim Staatsstreich Napoleon III. mit nach oben gespült wurden. Wir finden ihn am Anfang des Romans, im Jahr 1856, bei seinem vorläufigen Abgang von der politischen Bühne: Er tritt als Präsident des Staatsrates wegen einer eher unerheblich erscheinenden Konfrontation mit der Kaiserin zurück. Rougon ist umgeben von einer Clique politischer Schmarotzer, die von ihm zahlreiche Gefälligkeiten erwarten, die nun durch seinen zeitweiligen Sturz gefährdet erscheinen. Darunter befindet sich auch die italienische Gräfin Balbi, deren Tochter Clorinde offensichtlich auf der Suche nach einem passenden Ehemann ist.

Zwischen Rougon und Clorinde entwickelt sich eine spannungsreiche Beziehung, die allerdings nicht zu einer Affäre gerät, da Rougon dies dadurch verhindert, dass er Clorinde mit einem seiner politischen Vasallen verkuppelt. Dennoch bleibt Clorinde auch weiterhin die einzige Leidenschaft Rougons außer der Macht.

Nach dem Orsini-Attentat am 14. Januar 1858 wird Rougon vom Kaiser zum zweiten Mal in das Amt des Innenministers berufen, in dem er seine Machtbesessenheit weitgehend rücksichtslos auslebt. Sein Programm besteht in der möglichst vollständigen Unterdrückung politischer Freiheiten und der Bekämpfung der Republikaner. Aber auch seine alten Freunde vergisst er nicht, wobei es gerade diese Vetternwirtschaft ist, die letztlich als Vorwand für seinen erneuten politischen Sturz dient. Nach nur fünf Monaten muss Rougon – in der Hauptsache aufgrund einer Intrige Clorindes – erneut die politische Bühne verlassen, aber auch diesmal ist sein Abgang nur vorläufig. Das letzte Kapitel des Romans zeigt uns Rougon 1861, also drei Jahre später, als er als frisch berufener Minister ohne Portefeuille im Corps législatif in einer großen Rede die kaiserliche Politik verteidigt.

Zola porträtiert in Eugène Rougon einen neuen, bürgerlichen Typus von Politiker, wie er ihn für das Zweite Kaiserreich für exemplarisch hielt: Einen Mann mit großen Machtinstinkt, aber geringer Bildung – Rougon bezeichnet sich mehrfach als einfachen Bauern, dessen Ideal eine absolute Herrschaft über Hof und Vieh darstellt –, der von Napoleon III. als fügsames, nützliches Instrument seiner Herrschaft eingesetzt wird. Rougon ist ein Mann ohne Geist oder Bildung und – abgesehen von seiner Leidenschaft für Clorinde, der er selbst versucht, die Spitze zu nehmen – mit nur einem einzigen Begehren, dem nach Macht. Den Mangel an Geist und Bildung ersetzt ein sicherer Instinkt für Menschenführung. Rougon betreibt keine Politik der Ziele, verfolgt kein anderes Programm als das der Herrschaft über andere, kennt kein politisches oder moralisches Ideal als das einer hündischen Loyalität zu seinem Herrscher, die aber auch nur als Mittel erscheint, selbst Herrschaft über andere zu erlangen. Rougon hat keine Freunde und keine familiären Bindungen, die ihn berühren; beinahe macht es den Eindruck, dass sein politischer Widersacher de Marsy die einzige Person ist, mit der ihn eine Emotion, Respekt, verbindet. Er ist ein Primitiver, eine kultureller Barbar, der in der Lust an seiner Funktion vollständig aufgeht.

»Seine Exzellenz Eugène Rougon« war einer der erfolglosesten Romane des Zyklus, vielleicht auch deshalb, weil sein Protagonist notwendig ein eindimensionaler, abstoßender und letztendlich langweiliger Charakter werden musste. Es gehört zu Zolas Qualitäten, sich in diesem Punkt nicht nach dem Geschmack der Mehrheit der Leser gerichtet zu haben.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Die Sünde des Abbé Mouret

zola_rougonDer fünfte Roman der Rougon-Macquart schließt nahezu unmittelbar an den vierten, »Die Eroberung von Plassans«, an. Im Mittelpunkt steht Serge, der Sohn von François und Marthe Mouret, der im vorangegangenen Buch bereits das Priesterseminar besucht hatte und nun in dem winzigen Ort Les Artaud Priester ist. Bei ihm lebt auch seine Schwester Désirée, die zwar geistig etwas zurückgeblieben zu sein scheint, nichtsdestotrotz aber der wohl glücklichste Mensch im ganzen Roman ist. Serge Mouret scheint zuerst nur ein etwas schüchterner, den Ansprüchen seiner bäuerlich-robusten Gemeinde nicht ganz gewachsener Geistlicher zu sein, doch erweist er sich rasch als Opfer eines tiefen religiösen Wahns, der sich in einem privaten Kult der Marienverehrung manifestiert.

Überfordert von seinen seelsorgerischen Pflichten und überspannt durch seinen Wahn bricht er eines Nachts zusammen und wird von seinem Onkel, dem Doktor Pascal aus Plassans, zur Pflege in ein nahe gelegenes Refugium gebracht: das Paradou, einen ehemaligen herrschaftlichen Garten, der inzwischen verwildert ist. Dort lebt Albine, ein kaum 16-jähriges Mädchen, mit ihrem Onkel Jeanbernat, einem eingefleischten Atheisten, der das Mädchen ebenso hat verwildern lassen wie den Garten. Serge ist durch seinen Zusammenbruch seines Gedächtnisses beraubt worden und so in einen Zustand der Unschuld zurückversetzt worden. Der Prozess seiner Genesung ist eng verknüpft mit der Erforschung des riesigen Gartens und dem Wachsen der Liebe zwischen Albine und ihm. Dieser Prozess gipfelt darin, dass Albine eine geheimnisvolle Lichtung im Park entdeckt, in deren Zentrum ein uralter Baum steht. Dort lieben sich Albine und Serge zum ersten Mal, und Serge, auf diese Weise wieder vollständig gesundet, findet sein Gedächtnis wieder und muss in die Welt zurück.

Der dritte Teil des Romans resümiert den angerichteten Schaden: Serge hat sowohl seinen religiösen Glauben des ersten, als auch den unreflektierten Zugang zur Natur des zweiten Teiles verloren. Zwar erfüllt er auch weiterhin die Pflichten als Pfarrer, doch hat er seinen Marienkult zugunsten eines Kreuzkultes aufgegeben. Doch die scheinbar wiedererlangte Normalität seines Lebens wird durchbrochen, als Albine ihn in der Kirche aufsucht. Diese Begegnung löst in Serge eine massive Vision aus, in der das Kirchengebäude von der Natur angegriffen und vollständig zerstört wird. Serge ist daraufhin bereit, zu Albine ins Paradou zurückzukehren, doch erweist sich natürlich die einmal verlorene Unschuld als unwiederbringlich. Albine bereitet sich ein Sterbelager aus Blumen und vergeht zwischen ihnen. Serge nimmt zu seine Pflichten als Pfarrer wieder auf und mit der Beisetzung Albines endet der Roman.

Vielleicht macht diese Inhaltsangabe schon deutlich, dass es sich bei »Die Sünde des Abbé Mouret« um einen ungewöhnlichen Roman Zolas handelt. Neben seiner grundlegenden naturalistischen Tendenz weist er zusätzlich klar symbolistische Strukturen auf. Besonders im zweiten, mittleren Teil des Romans geraten der zur Natur verwilderte Garten und die zur Unschuld zurückgekehrten Kinder zu einer Allegorie des Paradieses. Die reine Liebe zwischen Albine und Serge verkommt aber im Laufe von Serges Gesundung, bis sich die Natur ihr Recht verschafft. In Zolas Paradies gibt es keinen personifizierten Verführer, sondern die Natur selbst ist es, die die Unschuldigen zur Sünde verführt. Wie wichtig Zola diese Allegorie war, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass er aus dem in der Dorfschule unterrichtenden Klosterbruder zugleich einen Erzengel – Bruder Archangias – macht, der denn auch pünktlich am Ausgang des Paradou steht, um in Serge Adam zum zweiten Mal aus dem Paradies hinauszuweisen. Auch Désirée ist in diese allegorische Ebene des Romans eingebunden: Sie betreibt bei der Pfarre selbstständig einen kleinen Wirtschaftshof und steht mit ihrem pragmatischen Umgang mit der nützlichen Natur in der Mitte zwischen  Serges Naturphobie und Albines romantisierender Unschuld. In Désirées Welt sind Geburt und Tod notwendige Elemente im Prozess alles Lebendigen.

Es wäre aber verfehlt, »Die Sünde des Abbé Mouret« aufgrund dieser symbolistischen Tendenzen für einen nicht-naturalistischen Ausrutscher Zolas zu halten. Gerade im zentralen allegorischen Teil des Buches frönt Zola ausgiebig einem überschwänglichen Realismus: Weite Passagen der Beschreibung des Paradou lesen sich wie ein umgestülptes botanisches Bestimmungsbuch; ebenso herrscht bei der Darstellung des Gottesdienstes und der dafür nötigen Zurüstungen und Gerätschaften eine minutiöse Detailversessenheit, die nahtlos an »Die Beute« und »Der Bauch von Paris« anschließt. Und auch bei der Schilderung des Dorfes Les Artaud und seiner Bewohner lässt Zola seinen präzisen Blick nicht vermissen: Ehen sind auch hier in erster Linie eine Frage des Geldes und erst in zweiter oder dritter eine der Moral, heidnische Rituale und christlicher Glaube existieren fröhlich Seite an Seite, und in der Kirche bewundern die Bauern mehr die Eloquenz des Priesters oder die frisch gestrichenen Möbel als die gepredigten Glaubensinhalte. Und nicht zuletzt dürfte die handfeste Schlägerei zwischen Bruder Archangias und dem Atheisten Jeanbernat ein Bild von der Lage der katholischen Kirche in Frankreich zeichnen, das weder dem Bürgertum noch der Geistlichkeit gefallen haben dürfte.

»Die Sünde des Abbé Mouret« erweist sich als eine überraschende Mischung zeitgenössischer Stile und liefert trotz aller Allegorie mit der innerlich und äußerlich kleinen Welt, die er präsentiert, einen weiteren wesentlichen Mosaikstein zum umfassenden soziologischen Porträt des Zweiten Kaiserreichs.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Die Eroberung von Plassans

zola_rougonDer vierte Roman der Rougon-Macquart: Nachdem die Teile 2 und 3 des Zyklus in Paris spielen, kehrt der 4., wie bereits der Titel anzeigt, in die französische Provinz zurück. Die Romanhandlung umfasst die Jahre 1857 bis 1863 und erzählt im Wesentlichen die Geschichte des Abbé Faujas, der offensichtlich mit einer politischen Agenda nach Plassans kommt. Er wird Mieter bei François und Marthe Mouret, Cousin und Cousine aus der Familie Rougon-Macquart, die miteinander verheiratet sind und drei Kinder haben. Ihre beiden Söhne Octave und Serge gehen zu Anfang des Romans noch zur Schule, die Tochter Désirée ist geistig etwas zurückgeblieben und verbringt ihre Zeit hauptsächlich zusammen mit ihrer Mutter im Haus. Vater Mouret hat sich als Kaufmann zur Ruhe gesetzt, lebt im Wesentlichen von seinem Vermögen, das er hier und da durch ein lukratives Geschäft aufbessert.

In dieses bürgerlich ruhige, wenn auch etwas enge Familienleben kommt durch die Ankunft des Abbés und seiner Mutter Bewegung. Während diese beiden Mieter sich zu Anfang sehr zurückhaltend und diskret verhalten, beginnt im Laufe der Zeit das, was der Titel des Romans bereits besagt: Abbé Faujas, der zuerst als etwas obskure Gestalt in fadenscheiniger Kleidung auftritt, gewinnt langsam aber sicher mehr und mehr Sympathien in Plassans. Damit einher geht, dass er und seine Mutter in immer familiäreren Umgang mit der Familie Mouret kommen, was zu dramatischen Veränderungen in deren Familienleben führt. Vater Mouret, bislang ein unangefochtener Patriarch, wird durch den Einfluss des Priesters auf Marthe und die Köchin zur Randfigur im eigenen Haus. Marthe entschlüpft der atheistischen und antiklerikalen Indoktrination ihres Ehemannes und entwickelt als Ausdruck ihrer Verliebtheit in den Abbé eine schwärmerische Religiosität, der Sohn Serge geht sogar ins Priesterseminar, Tochter Désirée kommt in Pflege zu ihrer Amme, kurz gesagt: Der Haushalt Mouret löst sich peu à peu auf.

Was die gute Gesellschaft Plassans angeht, so vermeidet es Abbé Faujas sorgfältig, sich einer der politischen Parteien anzuschließen. Er hat das Haus der Mourets überhaupt nur als Wohnung ausgewählt, weil der Garten der Mourets genau zwischen zwei anderen Gärten liegt, in denen regelmäßig die beiden politisch führenden Gruppen Plassans zusammenkommen. Der eigentliche Grund für Faujas Anwesenheit in Plassans ist, wie schon gesagt, ein politischer, der aber von Zola bemerkenswert zurückhaltend dargestellt wird. Der Abbé ist offenbar ein Agent von Eugène Rougon, der es in Paris zum Innenminister gebracht hat und dem daran gelegen ist, den derzeitigen Abgeordneten von Plassans in der Nationalversammlung, einen Marquis de Lagrifoul, der im Roman sonst keine Rolle spielt, durch eine politisch unbedeutende Figur ersetzen zu lassen. Es genügt zu sagen, dass es dem Abbé gelingt, seinen Stellung in  Plassans soweit auszubauen, dass es ihm ein Leichtes ist, die nächste Wahl entsprechend zu beeinflussen. Allerdings endet der Roman in einer unvorhersehbaren Katastrophe.

Der Roman gewinnt seinen Reiz im Wesentlichen daraus, dass Zola drei soziale Modelle parallel beschreibt: Die Familie Mouret, deren Haushalt durch ihre Mieter komplett zerstört wird, die Kleriker von Plassans und ihre Intrigen um Anerkennung und Macht und schließlich die Oberen 50 von Plassans mit ihren Eitelkeiten und ihrem kleinkarierten Geschwätz. Dass der Roman zu den eher unbekannten Zolas gehört, mag daran liegen, dass der Leser längere Zeit nicht genau weiß, wohin sich die Handlung entwickeln wird und warum er diesen Figuren folgt. Weder der Abbé noch die Familie Mouret sind für sich genommen interessant genug, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Man muss dem Roman also gutwillig eine Weile lang folgen, bis sich die Motive zu einem Gesamtbild runden.

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Johannes Willms: Stendhal

978-3-446-23419-2Wie schon bei seiner Balzac-Biografie liefert Johannes Willms auch für Stendhal in der Hauptsache die biografischen Daten und nur wenig zum Werk. Das ist in diesem Fall um so bedauerlicher, weil ein Großteil des Lebens von Stendhal ein sich wiederholendes Muster aufweist, das mit geringer Variationsbreite immer erneut abgearbeitet wird: Stendhal verliebt sich unglücklich, belagert das »obskure Objekt der Begierde« eine längere Weile, kommt mehr oder weniger zum Erfolg und wechselt dann das Objekt, kaum aber sein Empfinden oder seine Methoden. Natürlich kann man seinem Biografen nicht vorwerfen, dass dies auch weite Teile der Lebensbeschreibung ziemlich eintönig macht.

Erst relativ spät tauchen in Stendhals Leben einige andere interessante Leute auf, und wir erfahren etwas über die literarische Kultur und die Salons in Paris im frühen 19. Jahrhundert. Aber schon muss Stendhal wieder fort nach Italien, um im provinziellen Civitavecchia den Posten eines Konsuls zu bekleiden. Nach der Lektüre des Buches musste wenigstens ich feststellen, dass die Romane Stendhals unvergleichlich viel interessanter sind als sein Leben. Von daher ist es ein wenig Schade, dass sich Johannes Willms nur vergleichsweise knapp mit der literarischen Produktion Stendhals auseinandersetzt, zum Ausgleich aber sehr ausführlich mit dessen narzisstischer Veranlagung.

Johannes Willms: Stendhal. München: Hanser, 2010. Pappband, 333 Seiten. 24,90 €.

Émile Zola: Der Bauch von Paris

zola_rougonDer dritte Roman des Zyklus, offensichtlich als direktes Pendant zu Die Beute entworfen. Im Fokus steht mit Florent ein angeheirateter Verwandter der Familie Rougon-Macquart; sein Halb-Bruder Quenu hat Lisa Macquart, eine Kusine Aristide Rougon-Saccards geheiratet, mit der zusammen er eine Metzgerei an den Pariser Markthallen betreibt. Florent ist Ende 1852 während der Unruhen in Paris verhaftet und auf die Teufelsinsel verbannt worden. Ihm gelingt es aber, von dort zu fliehen und nach Frankreich zurückzukehren. Mit seiner Rückkehr nach Paris setzt die Handlung ein.

Florent findet seinen Bruder rasch wieder und zieht bei ihm und seiner Schwägerin ein. Das ihm von Lisa angebotene Erbteil schlägt er vorerst aus und nimmt nach einigen Wochen auf Drängen Lisas die stelle eines Aufsehers in der Fischhalle an. Mit der Zeit kommt er in Kontakt mit einer Gruppe von Stammtisch-Revolutionären, was letzten Endes dazu führt, dass er erneut verhaftet und deportiert wird. Lisa sorgt damit, dass sie ihren Schwager bei der Polizei anzeigt, dafür, dass sie und ihr Mann unbeschadet aus der Affäre hervorgehen.

Wie oben bereits gesagt, wird hier das kleinbürgerliche Gegenstück zur großbürgerlichen Welt der Saccards geliefert. Die nahezu gänzlich auf das Gebiet der Markthallen konzentrierte Handlung präsentiert eine Welt aus kleinlichem Neid und verleumderischem Tratsch. Parallel dazu zeichnet Zola ein enzyklopädisches Porträt der Markthallen und ihres Angebots an Nahrungsmitteln: Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch und Käse werden in erstaunlicher Breite vorgeführt; zahlreiche Nebengestalten erzeugen die Atmosphäre einer Kleinstadt in der Stadt. Die zugehörige impressionistisch-realistische Theorie wird durch die Gestalt des Malers Claude Lantier eingebracht, der Florent und den Leser in die visuelle Welt der Markthallen einführt.

Bei Zola kommt – im Gegensatz etwa zu den Tendenzen bei Fontane – das Kleinbürgertum durchaus nicht besser weg als das geldgierige Großbürgertum: Auch hier gibt es im Wesentlichen zwei Grundtypen: manipulative Intriganten und naive Opfer; hier und da existieren einzelne Ausnahmen, die aber den gesellschaftlichen Grundton nicht mitprägen, sondern als Außenseiter charakterisiert werden. Sowohl Lisa als auch ihrer Feindin Normande geht es am Ende nur um die egoistische Sicherung ihrer geschäftlichen Existenz, ganz gleich unter welcher Regierung oder in welchem politischen System. Der Slogan, Ruhe sei erste Bürgerpflicht, gilt für sie ebenso wie für ihre preußischen Klassengenossen. Die juristische Ungerechtigkeit und politische Unfreiheit, die das Schicksal Florents repräsentiert, interessieren sie nur, insoweit es ihre Geschäfte zu stören droht. Sowohl verwandtschaftliche Beziehung als auch die Liebe werden diesen privatökonomischen Interessen untergeordnet. Daher kann das den Roman beschließende Resümee Lantiers durchaus als Urteil Zolas gelesen werden:

»Was für Schurken, diese ehrbaren Leute!«

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Albert Camus: Die Pest

978-3-499-22500-0Der zweite Roman Camus’, der seit 1947 seinen Ruhm zuerst in Frankreich und dann auch rasch europaweit begründete. Erzählt wird von einer fiktiven Pestepidemie in Oran während der 1940er-Jahre. Die Mischung aus der weitgehend realistischen Handlung und den mitgelieferten philosophischen Deutungsangeboten macht sicherlich auch heute noch die Attraktivität des Buches aus. Camus versucht seine philosophische Auffassung nicht zu beweisen, sondern durch Illustration zu verdeutlichen.

Im Gegensatz zu Der Fremde steht diesmal ein sozialer Charakter im Zentrum des Romans: Dr. Rieux, der zugleich als Figur und als Erzähler agiert. Umgeben hat Camus seinen Protagonisten mit einem Ensemble unterschiedlicher Typen, die weniger Personen als vielmehr ethische bzw. soziale Positionen repräsentieren: Der Individualist Rambert, der Christ Paneloux, der politisch Engagierte Tarrou, der Schriftsteller Grand etc. Camus konfrontiert diesmal nicht den Vereinzelten mit seinem gewissen Tod, sondern eine differenzierte Gruppe mit einer Lotterie des Todes, die für die meisten einen negativen Ausgang bereit hält.

Diese existenzielle Grundstruktur des Romans wird offensichtlich von Beginn an unterwandert durch eine Allegorisierung der französischen Gesellschaft unter deutscher Besatzung; nicht nur der zeitliche Rahmen, sondern auch das Defoe entnommene Motto weisen deutlich darauf hin. Nun nützt Ambiguität Romanen oft mehr als sie schadet, und so auch in diesem Fall. Während im Fremden die ideologische Konstruktion den Roman bis auf einige wenige Passagen beherrscht und letztlich alles von der Auflösung der letzten Seiten abhängt, atmet in Die Pest eine deutlich größere Freiheit. Wie entspannend sind etwa die Entwicklung der Freundschaft zwischen Rieux und Tarrou oder die Suche Grands nach dem perfekten ersten Satz für seinen Roman. Insgesamt zeigt das Buch ein deutlich größeres Vertrauen des Autors in das Erzählen selbst als sein Vorgänger.

Albert Camus: Die Pest. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22500. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 752008. 350 Seiten. 8,95 €.