Émile Zola: Die Beute

zola_rougonDer zweite Band der Rougon-Macquart erzählt vom gesellschaftlichen Aufstieg Aristide Rougons, der in Das Glück der Familie Rougon nur eine Nebenrolle gespielt hatte. Dort war er als leidenschaftlicher Republikaner und Sohn von Félicité und Pierre Rougon am Ende als einer der Verlierer des Umsturzes erschienen, als jemand, der nicht rechtzeitig die Fahne nach dem Wind gehängt hatte. In Die Beute finden wir ihn unter dem angenommenen Namen Saccard in Paris wieder. Er ist mit seiner ersten Frau dorthin geeilt, weil er sich von seinem Bruder Eugène Unterstützung und Protektion erhofft, der beim Staatsstreich eine entscheidende Rolle gespielt und es bis zum Minister gebracht hat. Eugène bleibt allerdings vorerst distanziert und verschafft seinem Bruder nur eine kleine Anstellung im Bauamt von Paris, die sich aber als Sprungbrett für Aristides ambitioniertes Streben nach Reichtum und Einfluss erweist.

Da seine erste Frau gerade zur rechten Zeit stirbt, gelingt es Aristide durch eine einträgliche Neuheirat das Startkapital für eine Reihe schwindelerregender Spekulationen zu erhalten: Durch ebenso riskante wie illegale Immobiliengeschäfte im Zusammenhang mit dem großangelegten Umbau von Paris unter Napoleon III. erwirtschaftet sich Aristide ein Vermögen. Seine junge Frau Renée schwelgt derweil im Wohlleben und beginnt eines Tages eine Affäre mit Maxime, dem Sohn Aristides aus dessen erster Ehe. Dieses leidenschaftliche Verhältnis führt beinahe, aber eben auch nur beinahe zu einer häuslichen Tragödie. Zola verweigert am Ende selbst der unglücklichen Renée jegliche Tragik: Der letzte Satz des Romans nennt die Höhe der von ihr hinterlassenen Schneiderrechnung.

Der Roman ist gleich zweifach eine Dokumentation der gesellschaftlichen Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs: Zum einen demonstriert es in der Karriere Aristides die schamlose Bereicherung der Bauspekulanten am Staatsvermögen, zum anderen führt es den sittlichen Verfall und die innerliche Leere des Großbürgertums vor. Dabei gelingt Zola bei der Beschreibung des Verhältnisses von Renée und Maxime ein beeindruckendes Bild vom sinnlichen Reiz, den diese inzestuöse Beziehung auf Renée ausübt. Der Freibeuter-Stimmung der Spekulanten stellt Zola so die sinnliche Atmosphäre eines Tropen-Treibhauses an die Seite und erschafft auf diese Weise ein erstaunlich einprägsames Bild der Pariser Gesellschaft zwischen 1855 und 1860.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Das Glück der Familie Rougon

zola_rougon Beginn eines Langzeit-Projekts: Nach der begeisternden Lektüre von Germinal hatte ich mir vorgenommen, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen. Leider ist derzeit keine geschlossene Ausgabe des Zyklus im Druck; allerdings ist die Ausgabe des Verlages Rütten & Loening, die zwischen 1952 und 1976 in der DDR gedruckt worden ist und die auch in der BRD mehrere Nachdrucke erfahren hat, im Jahr 2005 als digitale Ausgabe innerhalb der Digitalen Bibliothek erschienen. Diese Ausgabe kann auch heute noch für sage und schreibe 10,– €  erworben werden. Nach der jüngsten Anschaffung eines eBook-Readers wird diese digitale Ausgabe nun peu à peu gelesen werden.

Der Zyklus beginnt mit Das Glück der Familie Rougon, dessen Handlung in der Hauptsache im Jahr 1851 spielt, in dem der französische Staatspräsident Louis Napoleon durch einen Staatsstreich den Weg zum Zweiten Kaiserreich ebnet, das genau in dem Jahr enden sollte, in dem Zola diesen ersten Band seines Zyklus herausgeben wird. In seinem Zentrum steht die Familie Pierre Rougons, der als Sohn aus der Ehe zwischen Adélaïde Fouque und einem Gärtner hervorgeht. Nach dem frühen Tod des Gärtners wählt Adélaïde den Schmuggler Macquart zu ihrem Geliebten, mit dem sie zwei Kinder hat: Antoine und Ursule.

Der heranwachsende Pierre betrügt seine beiden Halbgeschwister um ihren Anteil am Erbe der Mutter, noch bevor diese gestorben ist, und verschafft sich durch das Geld eine Chance zum sozialen Aufstieg: Er heiratet die Tochter eines Kaufmanns, ist aber nur eher schlecht als recht in der Lage, das ererbte Geschäft über Wasser zu halten. Daher versucht er, seine Stellung auf politischem Wege zu verbessern. Die große Chance bietet sich ihm während der Unruhen, die durch den Staatsstreich Louis Napoleons ausgelöst werden, in denen es dem intriganten und im Grunde feigen Pierre schließlich gelingt, sich als Retter seiner Heimatstadt zu inszenieren.

Der Roman ist für den heutigen  Geschmack sicherlich in einigen Passagen zu langatmig, zeigt in seinen Kernpassagen aber schon die erzählerische Präzision und boshafte Beobachtungsgabe, die Germinal zu einem Meisterstück machen werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Albert Camus: Der Fremde

978-3-499-22189-7Eine weitere Lektüre, die nach beinahe 30 Jahren wiederholt wurde. Die äußerliche Geschichte Meursaults dürfte so bekannt sein, dass ich sie hier nicht noch einmal nacherzählen brauche. Mir sind diesmal besonders zwei Dinge aufgefallen: Die Positionen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung während des Prozesses und die allgemeine Belanglosigkeit, mit der der ermordete Araber behandelt wird. Weder treten im Prozess Zeugen von Seiten des Ermordeten auf, noch verschwendet Meursault, der in seiner Zelle mit großer Sorgfalt und Geduld immer wieder die Ausstattung seiner Wohnung in Gedanken rekapituliert, viel Zeit mit Grübeln über seine Tat, geschweige denn über sein Opfer. Von da aus ergibt sich mir die Frage, welche der Figuren dieses Buch überhaupt Menschen repräsentieren.

Wenn der Fall Meursault mehr sein soll als eine Obskurität, wenn er denn tatsächlich etwas besagen soll, was über die Behauptung zufälliger Ereignisse hinaus geht – und so wird das Buch doch gemeinhin gelesen –, so habe ich den Verdacht, dass es sich am Ende um Banalitäten handelt. Die Justiz sucht weder dem Angeklagten noch dem Fall gerecht zu werden, sondern bestätigt im Akt der Verurteilung die öffentliche Moral. Deshalb stempelt sie Meursault zum »moralischen Ungeheuer«. Selbst die Verteidigung spielt nur eine Rolle in diesem Spiel, um den Anschein der Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten.

Andererseits kann Camus nichts weniger gebrauchen als Gerechtigkeit für seinen Protagonisten: Ein wegen Totschlags zu Zuchthaus verurteilter Meursault ist gänzlich unnütz für die existentialistische Zuspitzung des Textes. Nur der zum Tode Verurteilte kann sich heroisch vom transzendenten Trost des Anstaltgeistlichen abwenden, nur er kann seine Erfüllung im Hass der Menge gegen ihn finden, nur er kann die Gewissheit des Todes als Befreiung empfinden usw. usf.

Meursault bleibt bis zum Ende des Buchs ein Einzelner, kein »Mensch mit Menschen«. Selbst die Freundschaft Célestes oder die Liebe Maries berühren ihn nur für einen Moment, bevor er wieder in seine Egozentrik versinkt. Meursault ist letztlich nicht viel mehr als ein Soziopath, der nach der Intention des Autors als Exemplum des Menschen schlechthin dienen soll. Tut er aber nicht.

Albert Camus: Der Fremde. Deutsch v. Uli Aumüller. rororo 22189. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 612008. 159 Seiten. 6,95 €.

Albert Camus: Der Mythos vom Sisyphos

3-499-55090-3Camus heroischer Existenzialismus ist nach beinahe 30 Jahren zu einer blassen Enttäuschung geschrumpft. Ich hatte ohnehin nicht viel erwartet, aber dass es so wenig sein würde, hätte ich nicht gedacht. Ein bedeutender Teil des ohnehin dünnen Büchleins besteht in flachen Auseinandersetzungen mit Positionen anderer, die weitgehend unnötig erscheinen, da sie keinerlei Beweiskraft haben und nur als negative Folie für den einzig dünnen Gedanken des Buches tragen: das Trotzdem. Camus weist natürlich alle traditionellen Angebote der transzendenten oder immanenten Sinngebung zurück. Der Mensch stehe daher dem Absurden seiner Existenz gegenüber. Er antworte auf das Absurde seiner Existenz, indem es ihm nichts ausmache. Obwohl es ihm natürlich etwas ausmacht, denn ansonsten wäre ja auch der Begriff des Absurden überflüssig. Also macht es ihm nichts aus, dass es ihm etwas ausmacht. Welch tiefer Gang zu den Müttern!

Der einzige wirkliche Gedanke des Buches ist, dass Sisyphos in den Momenten am interessantesten ist, wo er bergab dem Stein nachgeht. Dass Sisyphos aber der bewusste »Prolet der Götter« sei, ist schon wieder eine Albernheit mehr.

Erinnernswert scheint, dass dieses Buch noch in den 80-ern des vergangenen Jahrhunderts von uns Jugendlichen emphatisch diskutiert worden ist, also von Menschen, denen die Realität ihrer Sisyphos-Existenz noch gar nicht gegenwärtig war. Als wir anfingen, den Stein zu rollen, war das Buch in uns bereits verblasst.

Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die neue Übersetzung von Vincent von Wroblewsky anzuschauen, sondern habe meine alte Ausgabe von Januar 1980 benutzt. Vielleicht liegt es auch daran …

Albert Camus: Der Mythos vom Sisyphos. Übertragen v. Hans Georg Brenner u. Wolfdietrich Rasch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 226.–235. Tausend, 1980. 151 Seiten.

Brigitte Sändig: Albert Camus

978-3-499-50635-2Aus didaktischem Anlass arbeite ich mich gerade noch einmal in den frühen Camus ein. Die rororo-Monographie von Brigitte Sändig ist eine kurze und präzise Darstellung von Leben und Werk. Die des Lebens folgt dabei weitgehend den autobiographischen Notizen Camus’, wobei die Autorin  zu deren Sentimentalität nur wenig Distanz entwickelt. Die Zusammenfassung und Einordnung der Werke ist angesichts der erforderlichen Kürze einwandfrei. Ich hätte mir eine etwas breitere Behandlung der Rezeption Camus gewünscht, besonders da die gut ausgewählten »Zeugnisse« (ab S. 146) Lust auf mehr machen. Dafür hätte ich gern etwas weniger Wüsten-Sentimentalität in Kauf genommen.

Insgesamt eine gelungene Kurzbiographie.

Brigitte Sändig: Albert Camus. Rowohlt Monographie 50635. Reinbek: Rowohlt, 2000. 159 Seiten. 7,90 €.

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Stendhal: Rot und Schwarz

stendhal-rot Die Neuübersetzung von Elisabeth Edl präsentiert den Roman in weiten Teilen in einer nüchternen, manchmal sogar lakonischen Sprache und hebt sich damit von allen früheren Übersetzungen ab. Vertraut man der Übersetzungskritik im Anhang (S. 724–726), so liegt mit dieser Neuübersetzung erstmals eine dem Original adäquate deutsche Ausgabe vor. Ob dies – unabhängig von der Frage der früheren Übersetzungen – tatsächlich der Fall ist, müssen andere beurteilen, da mir die dafür notwendigen Sprachkenntnisse fehlen. Allerdings macht die Übersetzung insgesamt einen sorgfältigen und ausgewogenen Eindruck. Sie liegt inzwischen auch schon im Taschenbuch bei dtv vor.

Der schon erwähnte Anhang enthält sowohl einen klugen und zur historischen Einordnung des Buches hilfreichen Essay als auch umfangreiche Anmerkungen zu Einzelstellen, die nicht nur sachliche Erläuterungen liefern, sondern in Auszügen auch Stendhals spätere Selbstkritik des Romans dokumentieren. Ich hätte es für die Erst-Lektüre wohl hilfreicher gefunden, wenn man diese beiden Ebenen getrennt hätte; aber das ist eine Kleinigkeit.

Insgesamt kann die Ausgabe zur Erst- oder erneuten Lektüre des Romans unbedingt empfohlen werden. Überhaupt ist er nicht nur an sich ein Lesevergnügen, sondern stellt auch eine wichtige Stufe in der Entwicklung des modernen Romans dar. Julien Sorel ist fraglos ein Vorläufer Frédéric Moreaus, wenn Flaubert auch auf äußerere Dramatik weitgehend verzichtet. Dabei ist Stendhal sowohl gesellschaftlich als auch politisch deutlich reicher als Flaubert, ohne dabei die Psychologie und innere Dynamik seiner Figuren zu vernachlässigen. Um Julien Sorel entsteht ein erstaunlich reiches und detailliertes Bild der französischen Gesellschaft der Restauration am Fuße der Juli-Revolution 1830.

Für alle, die den Roman noch nicht kennen, eine echte Empfehlung, wenn man an der Literatur und/oder an der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert ist.

Stendhal: Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2004. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 872 Seiten. 29,90 € (nur für Mitglieder der BG).

Johannes Willms: Balzac

willms_balzacJohannes Willms legt eine sehr lesbare, detaillierte und kenntnisreiche Biographie dieses in Deutschland immer noch als zweitrangig betrachteten Autors vor. Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerbiographien akademischen Ursprungs handelt es sich tatsächlich um eine Lebensbeschreibung, nicht um eine Einführung ins Werk. Auch im Gegensatz zu den akademischen Gepflogenheiten verzichtet Willms auf Fußoder Endnoten oder ein ausführliches Verzeichnis der benutzten Sekundärliteratur, was ihm die meisten Leser wahrscheinlich danken werden. Was allerdings schmerzlich fehlt sind Abbildungen; besonders Reproduktionen der an einigen Stellen erwähnten zahlreichen Karikaturen Balzacs habe ich vermisst.

Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Klatsch und Tratsch auf hohem Niveau. Balzac hat Zeit seines Lebens mit seinen ständig wachsenden Schulden und seinen Gläubigern gerungen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, seinen luxuriösen Lebensstil fortzuführen, ja den Luxus entgegen besserer finanzieller Einsicht immer noch weiter zu steigern. Rettung erhoffte sich Balzac stets durch irgendwelche wundersamen Geschäftsgewinne – alle Versuche in dieser Richtung endeten bereits nach kurzer Zeit im nächsten finanziellen Desaster – oder durch eine vorteilhafte reiche Heirat, die ihn auf einen Schlag aller Sorgen entledigen sollte. Mehr der Not gehorchend als der Neigung sah er sich gezwungen, sich auf sein einziges wirkliches Talent, das Schreiben, zu stützen, um wenigstens den dringendsten Luxus finanzieren zu können. So erwähnt Willms häufiger strohgelbe Glacéhandschuhe, von denen Balzac scheint’s immer ein oder zwei Dutzend Paar zur Verfügung haben musste, um sich wohl zu fühlen.

Willms Biographie zeichnet sich durch ihren Stil und ihre Aufrichtigkeit aus. Wie schon für seinen »Napoleon« wertet Willms umfangreich Briefzeugnisse aus, um ein möglichst genaues und persönliches Bild zu erreichen. Dabei weicht er den unangenehmen Seitens Balzacs nicht aus: nicht dem gespannten und oft wahnverpflichteten Verhältnis zur Mutter, nicht seiner rücksichtslosen Ausnutzung von Menschen, die ihn offensichtlich schätzen oder gar lieben, nicht seiner Verlogenheit sich und anderen gegenüber, nicht seiner Neigung, die Verantwortung für seine Misere auf andere zu übertragen, nicht der gänzlich blauäugigen Naivität in Geld- und Geschäftsangelegenheiten. All dies wird von Willms mit der nötigen Neutralität dargestellt, ohne ein moralisches Urteil zu fällen, ohne aber auch zu behaupten, dies alles sei notwendig so geschehen, wie es geschehen ist. Willms bewahrt eine objektive, aber zugleich empathische Distanz, die man sich in der biographischen Literatur häufiger wünschen würde. Hinzukommt, dass Willms über eine eingängige und sehr gut lesbare Sprache verfügt, die das Buch zu einem wirklichen Lektürevergnügen macht. – Allen »guten Lesern« ans Herz gelegt!

Johannes Willms: Balzac. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 367 Seiten. 24,90 €.

François-René de Chateaubriand: Erinnerungen …

chateaubriand Ein Band aus der kleinen und feinen Bibliotheca Anna Amalia, die die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Wiedereröffnung der Anna-Amalien-Bibliothek zu Weimar am 24. Oktober 2007 herausgibt. Die Reihe umfasst ein Dutzend historische Ausgaben und ist – im Gegensatz zu den zurzeit gängigen Buchreihen von Zeitungen und Zeitschriften – gut ausgestattet: Schuber, geprägter Leineneinband, Fadenheftung und Lesebändchen sind Grundausstattung; hinzukommen eine großzügige Typographie und zwei Nachworte: eines, das Autor und Text in den kulturhistorischen Kontext einstellt und eines, das die reproduzierte Ausgabe und ihre Geschichte dokumentiert. All das schlägt sich natürlich auch im Preis nieder: Im Abonnement kostet die komplette Reihe immerhin 248 €; allerdings geht von jedem Buch 1 € als Spende an die Anna-Amalien- Bibliothek.

Zudem soll lobend erwähnt werden, dass die Reihe auf die sogenannte behutsame Modernisierung der Rechtschreibung unter Wahrung des Lautstandes verzichtet, sondern die Texte so darbietet, wie sie in ihrer Zeit gedruckt wurden. Von einheitlicher Orthographie – dieser Wahnvorstellung des 20. Jahrhunderts, von der wir uns zum Glück inzwischen unfreiwillig wieder entfernen – kann also keine Rede sein. Das stört beim Lesen auch gar nicht, ganz im Gegensatz zu dem, was manche immer wieder behaupten mögen.

Der hier besprochene Band enthält Auszüge aus den Memoiren Chateaubriands, die 1816, dem Zeitpunkt des Erscheinens dieser Auswahl, noch lange nicht abgeschlossen waren. Chateaubriand war ein für seine Zeit weitgereister Mann, so dass ein Großteil seiner Erinnerungen zugleich Reisebeschreibungen waren – ein Genre, das sich in der zweiten Hälfte des 18. und im ganzen 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Grundlage der deutschen Ausgabe war eine 1815 in London erschienene zweibändige Auswahl, von der der Leipziger Verleger Brockhaus in seiner französischen Dependance den ersten Band nachdrucken ließ. Noch im selben Jahr erschien dann bei Hilscher in Dresden die deutsche Übersetzung durch Wilhelm Adolf Lindau, der sich als Übersetzer etwa Walter Scotts einen Namen gemacht hatte. Dies blieb bis 1829 die einzige deutsche Ausgabe aus den Memoiren Chateaubriands. (Diese Informationen stammen im Wesentlichen alle aus dem Nachwort von Jan Volker Röhnert.)

Wie schon der Titel »Erinnerungen aus Italien, England und Amerika« besagt, hat der Band drei lokale Schwerpunkt: Im Italien- Teil geht es hauptsächlich um Rom – das sehr belehrt beschrieben wird – und Neapel, wobei hier eine Besteigung des Vesuv inklusive einem Einstieg in der Krater den Höhepunkt bildet. Abschließend werden anlässlich des Mont Blanc einige nicht unwitzige Beobachtungen über die Alpen vorgebracht, von denen hier bei nächster Gelegenheit eine Probe zu lesen sein wird.

England kommt weit weniger lokalisiert vor als vielmehr in einem allgemeinen kulturellen Vergleich mit Frankreich. Hier ist ohne Zweifel die Polemik gegen Shakespeare ein Glanzlicht, da auch Chateaubriands polemisches Unverständnis aufscheinen lässt, wie bedeutend das Ansehen Shakespeares zu seiner Zeit auch in Frankreich gewesen sein muss. Die nachfolgenden Betrachtungen über Young langweilen dagegen heute wohl eher und sind höchstens wegen der verwendeten Kategorien des Literaturgeschmacks noch von einiger Relevanz.

Der Amerika-Teil ist eher anekdotisch und – wenn man nicht sentimentalische Landschaftsschilderungen schätzt – unerheblich. Er schließt mit einem ausführlichen Referat aus Mackenzies Reiseberichten, das für die französischen Leser damals interessant gewesen sein mag, heutige Leser aber eher ermüdet.

Insgesamt ein hübsch gemachtes Buch, sowohl als leichte Nebenbei- Lektüre als auch als Geschenk durchaus zu empfehlen.

François-René de Chateaubriand: Erinnerungen aus Italien, England und Amerika. Aus dem Französischen von Wilhelm Adolf Lindau. Nachdruck der Ausgabe Dresden: Hilscher, 1816. Bibliotheca Anna Amalia. München: Süddeutsche Zeitung, 2007. Leinen, Fadenheftung, 164 Seiten, Lesebändchen. 19,90 €.

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P. S.: Vielleicht ist es sinnvoll, hier auch auf eine vollständigere Ausgabe der Chateaubriandschen Erinnerungen hinzuweisen: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und als Reisender 1768-1800. Neubearb., hrsg. u. Nachw. v. Brigitte Sändig. Neuried: ars una, 1994. Kartoniert, 376 Seiten. 43,50 €. – Auch dies ist, soweit ich sehe, nur eine Auswahl, aber zurzeit die einzige lieferbare deutschsprachige Alternative zum zuvor besprochenen Band.

Émile Zola: Germinal

germinalNachdem ich bislang von Zola nur »Nana« kannte, war ich schon von den ersten Seiten dieses umfangreichen Romans zugleich überrascht und fasziniert. Hatte »Nana« in weiten Teilen den Eindruck auf mich gemacht, hier versuche einer wie Flaubert zu schreiben, reiche aber nicht ganz an das Vorbild heran, besticht »Germinal« von Anfang an mit einem sehr eigenen, präzisen Blick auf soziale und technischen Voraussetzungen des Erzählten. Zolas Schilderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einem nordfranzösischen Kohlerevier in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entspringt offensichtlich einer genauen Kenntniss und sorgfältigen Beobachtung vor Ort. Ich hatte eine solche Exaktheit der Beschreibungen und der evozierten Bilder nicht erwartet.

Erzählt wird die Geschichte Etienne Lantiers und der Familie Maheu. Über die Figur Etiennes stellt Zola die recht lockere Verbindung dieses Romans mit dem Zyklus der Rougon-Macquart her: Etienne ist Sohn von Gervaise Macquart und Auguste Lantier und erbt – nach Zolas Vererbungstheorie sozialer Charaktere – die durch den Alkoholismus seiner Eltern verursachte Neigung zur Gewalttätigkeit, die besonders in der zweiten Hälfte des Buches eine Rolle spielt. Etienne ist gelernter Maschinist, und ihn verschlägt es auf der Suche nach Arbeit in eine Bergwerksgegend, wo er durch einen Zufall im Bergwerk Le Voreux angeheuert wird. Er kommt zur Gruppe, in der auch Vater Maheu mit seiner Tochter Catherine arbeiten. Catherine und Etienne sind sich von Anfang an sympathisch und ihre nicht ausgelebte Beziehung ist einer der wesentlichen Spannungsbögen des Romans.

Die Familie Maheu, die in weiten Teilen des Buches im Zentrum des Interesses steht, besteht aus den beiden Eltern, sieben Kindern – von denen die Ältesten natürlich auch im Bergwerk arbeiten – und dem Großvater. Die Familie lebt am Rande des Existenzminimums, geplagt von Geldsorgen, gedrückt von Schulden, mit ihrer kärglichen Versorgung kaum dem Hunger trotzend. Zola benutzt das erste Drittel des Romans zu einer sorgfältigen und detaillierten Schilderungen der sozialen Verhältnisse im »Dorf der 240«, das schon über diesen Namen als reine Funktionssiedlung gekennzeichnet ist, von der Bergwerksgesellschaft aus dem Boden gestampft, um die für ihr Geschäft notwendigen Arbeiter irgendwo unterbringen zu können. Er erspart seinen wohl zumeist gutbürgerlichen Leserinnen weder eine ausführliche Beschreibung des alltäglichen Elends noch die Vorführung des Gegensatzes zu den Haushalten der Bergwerksbesitzer und -verwalter, weder die gesundheits- und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen noch die soziale und sittliche Verrohung der Arbeiter, die er klar als Folge der herrschenden Armut und Perspektivlosigkeit herausstellt. Einige seiner Beschreibung düften noch heute für »empfindsame Seelen« an die Grenze des Zumutbaren gehen; wieviel heftiger müssen sie auf Leserinnen gewirkt haben, die die bigotte Doppelmoral des ausgehenden 19. Jahrhunderts verinnerlicht hatten.

Der Hauptstrang der Fabel erzählt von einem Streik der Arbeiter des Bergwerks Le Voreux. Anlass des Streiks ist die Einführung eines neuen Lohnabrechnungssystems, mit dem die Gesellschaft des Bergwerks eine nochmalige Reduktion der Entlohnung durchsetzen will. Etienne, der schon zuvor Kontakt zu Sozialisten hatte, wird rasch zu einem Wortführer für den Streik. Zwar verfügen die Arbeiter über eine kleine Streikkasse, die aber nur für wenige Tage die Versorgung sicheren kann. Danach verschärft die Arbeitsniederlegung das sowieso schon vorhandene Elend kontinuierlich weiter. Obwohl auch die Bergwerksgesellschaft wirtschaftlich durch den Streik heftige Einbußen zu verzeichnen hat, weigert sie sich prinzipiell, den offenbar gerechten Forderungen der Arbeiter nachzugeben.

Nach Wochen spitzt sich die Lage soweit zu, dass die streikenden Arbeiter auch die Kollegen der benachbarten Bergwerke zwingen wollen, in den Streik einzutreten. Dabei verursachen sie in diversen Minen umfangreiche Zerstörungen, die die Minenbesitzer veranlassen, ihren Besitz durch das Militär schützen zu lassen. Nach einer weiteren Phase der Ruhe kommt es zu der unvermeidlichen Konfrontation zwischen den immer verzweifelteren Arbeitern und den Soldaten, an deren Ende zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen sind. Zwar sind nach dieser katastrophalen Wendung beide Seiten nur allzu bereit, den Streik zu beenden, und für den Augenblick sieht es danach aus, als hätte die Bergwerksgesellschaft sich einmal mehr durchsetzen können. Aber Zola ist damit noch nicht am Ende seiner Erzählung angekommen, die noch eine weitere dramatische Wendung nehmen muss …

Ohne Frage handelt es sich bei »Germinal« um eines der Meisterwerke der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Zola erobert dem Roman hier quasi im Handstreich ein gänzlich neues Gebiet und führt zugleich mustergültig dessen Behandlung vor: Arbeits- und Lebenswelt der (Industrie-)Arbeiter, die drängenden sozialen Fragen, die sich aus deren Lebensbedingungen ergeben, die Macht des Kapitals und die Ohnmacht der Armut, die zugrunde liegende Menschenverachtung, die leichthin und wie nebenbei von den Besitzenden geduldet wird, und deren Folgen für sie gänzlich überraschend und unverständlich sind. Wie nebenbei wird die Rolle der sozialistischen Berufsagitatoren beleuchtet, ebenso die der christlichen Moral und Kirche in diesem Spiel der sozialen Kräfte.

Mir bleibt nur, den Rat Lichtenbergs einmal mehr zu zitieren: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Émile Zola: Germinal. Unter der Verwendung der Übersetzung von Armin Schwarz mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Koeppen. Reclam UB 4928. 622 Seiten. 10,80 €.

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P. S.: Siehe auch Miniaturen (1) in diesem Blog.