Wolfgang Will: Der Zug der 10 000

Wer die Welt als Spiel versteht, das nach den Regeln der Götter geführt wird, braucht keine Analyse des Geschehens mehr […].

Drei Jahre nach seinem Buch über Thukydides und den Peloponnesischen Krieg veröffentlichte Wolfgang Will den sich natürlich ergebenen Nachfolger: eine kritische Nacherzählung der „Anabasis“ des Xenophon aus der Sicht des heutigen Historikers. Ergänzt wird diese Nacherzählung um zwei Anhänge: einen über das Leben Xenophons nach dem Zug durch Kleinasien und einen Epilog, der ein sehr kompaktes komplettes Lebensbild Xenophons entwirft. Das Hintanstellen der Kurzbiographie ergibt sich logisch aus dem Bedürfnis, nichts aus dem Gang der Nacherzählung vorwegzunehmen.

Im Wesentlichen also erzählt das Buch vom Zug eines griechischen Söldnerheeres unter Kyros dem Jüngeren, einem persischen Prinzen, der mit diesem Heereszug durch Kleinasien im Jahr 401 v.u.Z. versucht, die Herrschaft seines älteren Bruders Artaxerxes II. zu stürzen und selbst persischer Großkönig zu werden. Die Expedition scheitert kurz vor Babylon in der Schlacht von Kunaxa, die die überlebenden griechischen Söldner weitgehend führerlos zurücklässt. Während Xenophon auf dem Hinmarsch (der eigentlichen Anabasis) das Heer als ziviler Beobachter begleitet, wächst ihm nach der Schlacht mehr und mehr eine Führungsrolle im Söldnerheer zu, das sich nun nach Norden wendet und gegen widrigste Umstände versucht, das Schwarze Meer zu erreichen. Xenophon hatte in der athenischen Reiterei eine militärische Ausbildung genossen, so dass ihm die Welt des Militärs alles andere als fremd war. Sein Führungstalent beweist sich an der fast unmöglich scheinenden Aufgabe, die griechischen Söldner in ihre Heimat zurückzuführen.

Sicherlich ist vieles im Buch repetitiv, aber dies ergibt sich notwendig aus dem Erzählten, das sich im Hauptteil über einen Zeitraum von 18 Monaten erstreckt, in denen die Söldner immer und immer wieder in ernste Gefahr geraten. Nichtsdestotrotz bewährt sich Will einmal mehr als historischer Erzähler, der den Gang der „Anabasis“ konzise darzustellen weiß. Auch für dieses Buch gilt aber, dass es auf Leser abzielt, die sich in der antiken Welt bereits ein wenig auskennen; den Neuling könnte es überfordern. Eine durchweg gelungene Fortsetzung der vorangegangenen Bücher.

Wolfgang Will: Der Zug der 10 000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres. München: C. H. Beck, 2022. Pappband, 314 Seiten. 28,– €.

Wolfgang Will: Athen oder Sparta

Bei Chaironeia besiegte im Jahre 338 Philipp II. ein Bündnis griechischer Staaten mit Athen und Theben an der Spitze (Sparta fehlte). Die Hand- und Schulbücher reden von einem epochalen Ereignis, vom Ende einer Ära und der griechischen Freiheit. Die Freiheit, welche die Griechen zuallererst verloren, war freilich nur die, einander sinnlos totzuschlagen.

Dieser Band schließt insofern unmittelbar an Wills vorhergehendes Buch über den Beginn der Geschichtsschreibung an, als es in der Hauptsache dem Bericht des Thukydides folgt, um den Peloponnesischen Krieg von seinen Ursachen bis zu seinen Nachwirkungen darzustellen. Der enge Anschluss an das Werk des Thukydides ergibt sich von selbst, da dessen Bücher für einen bedeutenden Teil der historischen Ereignisse die einzige Quelle sind.

Beim Peloponnesischen Krieg (431–404) handelt es sich nicht nur um den Kampf zweier Hegemonialmächte um die Vorherrschaft in Griechenland, sondern zugleich um die Frage, ob die athenische Demokratie als politisches System erhalten bleiben oder dauerhaft durch eine oligarchische Verfassung ersetzt werden wird. Interessanterweise weist es sich, dass das athenische System der Volksherrschaft sich immer wieder gegen die zum Teil sehr radikalen Versuche, sie zu unterdrücken und ihre Anhänger zu töten oder zu verbannen, durchsetzt und die Oligarchie, für deren Etablierung Sparta neben seinen hegemonialen Ansprüchen kämpft, immer wieder beseitigen kann. Am Ende zeigt die Demokratie sich, wenn sie nicht durch andauernde Kriegführung wirtschaftlich geschwächt und von nationaler Hysterie überlagert ist, als das stabilere und einen allgemeinen Wohlstand garantierende System.

Will bewährt sich einmal mehr als exzellenter Erzähler historischer Ereignisse und ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte. Dabei ist seine Darstellung keine unkritische Nacherzählung des Berichts von Thukydides, sondern Will weiß seine Vorlage nicht nur im Hinblick auf den Parteistandpunkt ihres Autors einzuschätzen, sondern erlaubt sich überhaupt eine reflektierte Distanz zu den Geschehnissen und Akteuren. Hinzukommt eine durchgehende Rückkopplung mit anderen historischen Quellen, insbesondere den Theaterstücken der Zeit. Bei der Betrachtung der Nachwirkungen des Krieges gibt es zudem ein beeindruckendes Kapitel zur politischen Einordnung des Prozesses gegen Sokrates, das zu den Schmuckstücken des Buches gehört.

Wie schon der Vorgängerband ein Buch, das einige Ansprüche an die Leser stellt. Für Geschichtsbeflissene und insbesondere für an der Antike Interessierte unbedingt zu empfehlen.

Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Eine Geschichte des Peloponnesischen Krieges. München: C. H. Beck, 2019. Pappband, 352 Seiten. 26,95 €.

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik

Die Vernunft steht über dem Gesetz, dieses über der Gewohnheit.

Abaelard

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Während die meisten Darstellungen der Scholastik ihren Schwerpunkt auf die methodische und inhaltliche Entwicklung dieser Denkbewegung und -epoche legen, behandelt Rexroth die Scholastik in der Hauptsache als soziologische Evolution des Bildungssystems im 12 Jahrhundert. Er beschreibt das Aufbrechen des eher starren Schulsystems des frühen Mittelalters in ein durch vielfältige Experimente mit neuen Formen des Zusammenlebens und Unterrichts geprägte neue Form wissenschaftlicher Existenz.

Das Buch setzt beim Leser zumindest Grundkenntnisse der Scholastik voraus, kann unter dieser Bedingung aber als eine nahezu idealtypische historisch-soziologische Ergänzung zu jeglicher Einführung in die Scholastik empfohlen werden. Zumindest bei mir hat das Buch ein intensiveres Nachdenken auch über die gesellschaftliche Bedingtheit neuzeitlicher Philosophie ausgelöst, ein Aspekt, der in der Philosophiegeschichte eher vernachlässigt wird. Für alle an Philosophie Interessierten unbedingt zu empfehlen.

Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters. München: C.H. Beck, 22019. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 505 Seiten. 29,95 €.

Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz

Geschichte von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne ohne das Neue Rom zu schreiben oder lehren zu wollen, ist […] ein aussichtsloses Unterfangen.

Es ist ein höchst seltener Fall, dass sich eine Sachbuchreihe nach ihrem vermeintlichen Abschluss nicht nur noch einmal zu Wort meldet, sondern sich zudem auch noch ins Wort fällt, wenn man so sagen darf. Der sechste Band der Beck’schen Geschichte der Antike hatte die Antike schon vergleichsweise spät mit dem Aufstieg des Islam enden lassen. Sein Nachfolger Preiser-Kapeller liefert nun einen siebten Band der Hexalogie und verlängert mit ihm die Geschichte der Antike mit einigem Recht bis ins Jahr 1453, also bis zum endgültigen Fall von Konstantinopel an die Osmanen. Er weist darauf hin, dass im Selbstverständnis, aber durchaus auch im Verständnis des sogenannten Westens Konstantinopel noch für sehr lange Zeit als zwar beschränkte, aber dennoch ungebrochene Fortsetzung des römischen Kaisertums und seines Reiches empfunden wurde.

Es ist verständlich, dass eine Darstellung von über 1.000 Jahren Historie auf etwas über 300 Seiten in weiten Teilen summarisch sein muss. Besonders die letzten 200 Jahre der Geschichte des „Neuen Rom“, wie der Autor das Byzantinische Reich bevorzugt nennt, sind eine dichte Aneinanderreihung von Haupt- und Staatsaktionen, auch wenn sich Preise-Kapeller redlich bemüht die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Menschen unter den römischen Kaisern nicht ganz zu vernachlässigen. Die Darstellung macht viele Verflechtungen zwischen Macht- und Religionspolitik deutlich, wie etwa in der Spätzeit des oströmischen Reiches die Kaiser immer erneut mit dem Pfund einer Kirchenvereinigung wuchern, um Unterstützung aus dem Westen Europas zu erlangen, sich dabei aber notwendig gegen ihre eigene Kirche und die Masse der gläubigen Untertanen wenden müssen. Auch die sowohl auf byzantinischer als auch auf slawischer, mongolischer und islamischer Seite immer erneute Selbstschwächung durch innere Konflikte beim Herrscherwechsel sind eine Konstante der Darstellung, die deutlich macht, wie wenig das Konzept des Einzelherrschers tatsächlich in der Lage ist, eine zuverlässige, stabile und erfolgreiche Ge­sell­schafts­ord­nung über Generationen hinweg zu garantieren. Nicht zuletzt folgt Preiser-Kapeller der Tugend der Gesamtreihe, die grundlegenden Quellen seiner Geschichtsschreibung nicht zur zu benennen, sondern auch immer kritisch auf deren eigene Agenda hin zu befragen.

Man würde sich 150 oder sogar 200 Seiten mehr wünschen, nicht nur um die soziale und intellektuelle Entwicklung des Neuen Rom detaillierter zu verstehen, sondern auch um mehr über die näher und weiter entfernten Feinde des Reiches zu erfahren. So wird etwa die Rolle der Mongolen und der Entwicklung ihres Reiches immer wieder thematisiert, doch bleibt das Bild dieses Volkes und der inneren Struktur seiner Herrschaft leider zwangsläufig schemenhaft. Doch solche Nachforderungen lassen sich natürlich immer und bei jedem Werk gleich welchen Umfangs formulieren.

Insgesamt ein sehr würdiger Abschluss dieser Reihe, die in ihrer Gesamtheit nur einmal mehr empfohlen werden kann.

Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters. C. H. Beck Paperback 6535. München: Beck, 2023. Klappenbroschur, 352 Seiten. 22,– €.

Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassische Griechenland

Als ich 2015 und 2016 die ersten fünf Bände der C. H. Beckschen „Geschichte der Antike“ gelesen und hier besprochen habe, war der sechste Band gerade noch nicht erschienen. Er wurde dann zwar nachgekauft, gelesen habe ich ihn aber erst jetzt, als eher überraschend noch ein siebter Band „Byzanz“ erschienen ist, der in Kürze ebenfalls hier vorgestellt werden wird. Schmidt-Hofners Band schließt die Lücke zwischen „Das archaische Griechenland“ und dem Anschlussband zur römischen Geschichte „Der Hellenismus“. Zwar liefert das Schlagwort vom klassischen Griechenland den Titel des Buches, allerdings spielt ein Konzept von Klassik bei der Darstellung keine Rolle; nur der Epilog geht auf wenigen Seiten relativierend auf dieses Klischee ein, das die allgemeine Wahrnehmung der Hochzeit der griechischen Antike immer noch weitgehend bestimmen dürfte.

Entscheidend sind für Schmidt-Hofners Auffassung dieser Zeit die beiden im Untertitel genannten Begriffe von Krieg und Freiheit. Seine Erzählung umfasst die Zeit von den sogenannten Perserkriegen über die zahlreichen innergriechischen Verwerfungen und Auseinandersetzungen bis hin zum Aufstieg Makedoniens als Führungsmacht und dem Übergang zum nächsten Perserkrieg unter Alexander III. Dabei nehmen die Schilderungen der Konflikte einen breiten Raum ein, wobei Schmidt-Hofner nicht nur stets klar macht, aus welchen Quellen er schöpft, sondern auch immer eine kritisch reflektierenden Abstand zu diesen Quellen und ihren tradierten Interpretationen einnimmt. Daraus ergibt sich notwendig, dass die griechische Lebenswelt und Kultur im engeren Sinne etwas zu kurz kommen – auf Skulptur und Malerei etwa geht das Buch nur ganz am Ende ein, um klar zu machen, dass dem Autor dieses Manko durchaus bewusst ist –, wobei allerdings Schwerpunkte gesetzt werden, die deutlich machen, dass hier noch ein weiter Hallraum zu entdecken wäre. Es sollte aber betont werden, dass sich Schmidt-Hofner in Sprache und Dichte der Darstellung deutlich an ein akademisches Publikum wendet; für den interessierten Laien ohne Vorkenntnisse dürfte der Band eine eher anspruchsvolle Lektüre bilden.

In einzelnen Details ist man als halber Fachmann immer anderer Meinung, aber alles in allem ist die Aufgabe, die hochkomplexe Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung kompakt auf 350 Seiten zu portraitieren, exzellent gelöst. Der Band reiht sich so ungebrochen in diese überaus empfehlenswerte Reihe ein.

Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassischen Griechenland. Der Krieg und die Freiheit. C. H. Beck Paperback 6152. München: Beck, 2016. Klappenbroschur, 368 Seiten. 16,95 €.

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon

Der Bestand des napoleonischen Empire zeigt die Stabilität eines Kartenhauses. Deren Ursache hat dessen Schöpfer bis zuletzt nicht verstanden.

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Johannes Willms ist in Juli 2022 im Alter von 74 Jahren verstorben. Ich habe über viele Jahre hinweg beinahe alle seine Bücher mitverfolgt und hier vorgestellt; allein bei seiner de-Gaulle-Biographie (Beck, 2019) habe ich nach einem Viertel des Buches gestreikt, nicht weil das Buch schlecht wäre, sondern weil ich einfach das Interesse für diesen machtversessenen Heini nicht weiter aufbringen konnte.

Im Jahr 2019 ist Willms wohl letztes Buch über Napoleon erschienen, der spätestens seit der großen Biographie von 2005 ein immer wiederkehrender Fixpunkt in Willms Beschäftigung mit der Geschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert war. Zumindest dem Untertitel Verheißung * Verbannung * Verklärung nach, handelt es sich bei diesem Buch um so etwas wie eine erweiterte Neufassung seines Buches Napoleon. Verbannung und Verklärung (Droemer, 2000), doch weist nichts in dem neuen Buch auf einen solchen Rückbezug hin. Da ich das frühere Buch nicht kenne, muss ich es (vorerst?) bei diesem Hinweis belassen.

Erzählt werden, wie der Untertitel es andeutet, drei Phasen der Entstehung des Napoleon-Mythos: der Beginn seines militärischen Ruhms als junger General in Italien, die letzten Jahre als französischer Kaiser und die Jahre der Verbannung und schließlich sein Nachleben im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als sein Ruhm und seine Leiche als politisches Kapital fungieren. Das Buch schließt mit einem sehr schmalen Exkurs zu den französischen Napoleon-Biographien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts; leider fehlt ein Ausblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz und eine Erörterung der Frage, warum der Mythos Napoleon bis heute immer noch wirksam ist, obwohl die mediokren Seiten dieser Figur inzwischen gut dokumentiert sind.

Willms ist natürlich ein exzellenter Kenner des Materials, und er versteht es, Napoleons Selbst- und Fremdinszenierungen stringent und einleuchtend nachzuerzählen. Dabei fehlt es nicht an kritischer Distanz, auch wenn zumindest ich mir gewünscht hätte, dass die napoleonische Selbstüberhöhung hier und da ein wenig schärfer beurteilt werden würde.

Ein sehr gut lesbares Buch, das trotz seiner Konzentration auf bestimmte Phasen eine gute Alternative zu den umfangreicheren Napoleon-Biographien liefert. Im März 2023 soll dann als Willms letztes Buch seine Biographie über Louis XIV erscheinen.

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon. Verheißung * Verbannung * Verklärung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022. Pappband, 382 Seiten. 26,– €.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember

In dieser Atmosphäre war es nicht überraschend, dass die Nachfrage nach der Reparatur von Radioapparaten, die durch ständiges Drehen an den Knöpfen auf der Suche nach einem besseren Empfang beschädigt worden waren, deutlich zunahm.

Nach dem Erfolg von Simms Hitler-Biographie liefert DVA nun auch sein neues Buch über die kurze Zeitspanne zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung an die USA nach. Zusammen mit seinem Kollegen Charlie Laderman vollzieht er in minutiöser Darstellung auf knapp 550 Seiten die Entwicklung nach, die letztendlich zum Kriegseintritt der USA auch in Europa führte. Auch Vor- und Nachgeschichte werden kurz umrissen, aber im Großen und Ganzen konzentriert sich das Buch auf das, was der deutsche Titel nahelegt (in diesem Fall ist es einmal zu begrüßen, dass der Verlag auf die Übernahme des amerikanischen Titel Hitler’s American Gamble verzichtet hat).

Bei der kleinteiligen Darstellung des Buches, die sich von den Entscheidungen und Strategien der Führungsspitzen bis hin zur Meinung der Frau und des Mannes auf der Straße erstreckt und sich, wenn auch nicht in gleichem Umfang, allen Kriegsschauplätzen und beteiligten Nationen widmet, sind Redundanzen selbstverständlich unvermeidbar. So erfahren wir zum Beispiel immer und immer wieder, dass sich neben anderen Winston Churchill, Roosevelt, Stalin, Hitler, zahlreiche Diplomaten und Beamte sowie befragte US-Amerikaner Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der Angriff der Japaner und der Krieg im Pazifik auf die Hilfslieferungen der USA für Großbritannien und die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms haben werden. Und da dies Roosevelt, Churchill und ihre Berater sowie zahlreiche andere Protagonisten über die ganzen fünf Tage hinweg kontinuierlich beschäftigt, lesen wir es auch unzählige Male. Andererseits halten sich die Autoren mit summarischen Urteilen und Zusammenfassungen eher zurück, die nur im ersten und letzten Kapitel ein größere Rolle spielen, was ein sehr an den historischen Ereignissen und ihrer unmittelbaren Einschätzung entlanggeführtes Bild ergibt.

Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einigermaßen auskennt, kann getrost auf die Lektüre der ersten beiden (der Angriff auf Pearl Harbour beginnt auf Seite 169!) und des letzten Kapitels verzichten. Für alle, die interessiert sind, mit welcher Genauigkeit sich historische Abläufe des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lassen, sicherlich eine nicht nur inhaltlich spannende Lektüre.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbour bis zur Kriegserklärung an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2021. Pappband, Lesebändchen, 638 Seiten. 32,– €.

George Orwell: Reise durch Ruinen

Die Welt wird sich in drei Lager teilen, und letztlich werden davon zwei übrig bleiben, denn Großbritannien ist nicht stark genug, um allein zu stehen, und wird deshalb Teil des amerikanischen Systems werden. Die kleineren Nationen werden sich um die Großen gruppieren – entlang von Linien, die sich heute schon recht genau abzeichnen.

Orwell war, bevor er durch seine beiden späten Bücher berühmt wurde, schon länger als zehn Jahre unter anderem auch als Journalist tätig. Da er ein politisch interessierter Beobachter der europäischen Entwicklung war – im Gegensatz zu der Mehrheit der linken Intellektuellen Westeuropas hatte er ein sehr distanziertes Verhältnis zur Sowjetunion unter Stalin entwickelt –, war es nur natürlich, dass er sich im März 1945 im Auftrag des Observers mit den britischen Truppen auf den Kontinent begab, um im Rückraum der Front Eindrücke aus erster Hand zu sammeln und den englischen Zeitungslesern zu berichten.

Der vorliegende Band versammelt elf dieser Zeitungsberichte aus dem Jahr 1945 (nur einer davon beschäftigt sich speziell mit der Lage in Österreich), ergänzt um zwei Artikel von 1940 (über Hitlers Mein Kampf) und 1943 (über einen Band mit Essays von Thomas Mann) sowie einen abschließenden Essay zur aktuellen Weltlage, der zwar kurz vor dem Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 geschrieben wurde, aber dennoch eine sehr klarsichtige Analyse der politischen Weltlage liefert.

Die zehn Artikel zur Lage in Deutschland kreisen immer wieder um einige zentrale Themen:

  • Das Schicksal der Displaced Persons, also der nach Deutschland verschleppten Fremdarbeiter, die nun in ihre Länder zurückgeführt werden sollen, was in den letzten Kriegstagen eine nicht zu unterschätzende Aufgabe darstellt.
  • Die Schwierigkeit der Versorgung der Bevölkerung im kommenden Winter 1945/46, da es den Bauern an Arbeitskräften fehlt – die meisten deutschen Männer stehen noch im Feld oder sind Kriegsgefangene; die Zwangsarbeiter sind befreit und warten entweder auf ihren Rücktransport oder machen sich bereits selbstständig auf den Weg in ihre Heimat.
  • Die politischen Ansichten der Deutschen, speziell ihr Eindruck, dass die Alliierten nicht nach einem gemeinsamen Plan agieren und sich bald untereinander verstreiten werden. Er registriert bei den Deutschen immer erneut große Sympathien für die Briten und Amerikaner und Antipathie oder sogar Furcht vor den Franzosen und Russen. Er hält diese schiefe Wahrnehmung wohl zurecht für ein Hindernis bei der politischen Neugestaltung des Landes, für die zu dieser Zeit – der Krieg ist noch nicht zu Ende – noch keine offiziellen Pläne vorzuliegen scheinen.
  • Die herkulische Aufgabe des Wiederaufbaus Europas, wobei er nicht nur die zerstörten Städte Deutschlands im Blick hat, sondern auch die von den deutschen Streitkräften in England, Frankreich und Osteuropa hinterlassenen Zerstörung. Zu diesem Themenfeld gehören auch Überlegungen, dass eine Reorganisation der Industrie – zumindest soweit sie noch existiert – zu einer Friedenswirtschaft alles andere als rasch umzusetzen sein wird.

Trotz dieser natürlich durch Orwells unmittelbares Erleben bedingten thematischen Enge entsteht ein lebendiges Bild des Westens und Südwesten Deutschlands in den Wochen unmittelbar vor Kriegsende, in denen sich die Niederlage auch für die Deutschen schon klar abzeichnete. Für die wenigen Seiten, die der Band umfasst, ist er erstaunlich inhaltsreich und liefert zugleich einiges an Material zum Verständnis besonders von 1984.

George Orwell: Reisen durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. München: Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 111 Seiten. 16,– €.

Dennis Pausch: Virtuose Niedertracht

Erklärter Witz ist nicht mehr spitz.

Volksmund

Beim großen Herbert Rosendorfer heißt es über umständliche Witze:

Auf der Fahrt erzählte er Schnurren aus dem Berufsradrennfahrer-Leben, wobei die Pointe meist allerdings darin bestand, daß irgendjemand, den zwar Onkel Jeremy gut kannte, der aber seinen Zuhörern fremd war, bei irgendeiner Gelegenheit – deren Komik, da aus dem Radrennfahrer-Leben gegriffen, ausführlicher Erläuterungen bedurfte – irgend etwas sagte, wobei Onkel Jeremy, um die Pointe verständlich zu machen, erklären mußte, was man von dem Betreffenden eigentlich gesagt erwartet hätte.
– Eines, sagte Arthur Saingral später, ist gut, wenn einer recht umständliche Witze erzählt: er kann nicht viele erzählen.

Herbert Rosendorfer: Der Ruinenbaumeister. München: Nymphenburger, 1980. S. 262.

Dennis Pausch hat ein ganzes Buch solch umständlicher Witze geschrieben. Nicht, dass es uninteressant geraten wäre. Im Gegenteil: Für jemanden, der sich in der Antike, besonders auch in der antiken Rhetorik auskennt, handelt es sich um eine sehr vergnügliche und exzellent ausgewählte Sammlung von Beispielen dafür, was besonders in römischer Zeit an gehobenen und geschliffenen Beleidigungen ausgetauscht worden ist. Nach einer kurzen begrifflichen und systematischen Einführung besteht der Großteil des Buches aus einer thematisch gegliederten Anthologie. Vorgeführt werden Majestätsbeleidigungen, Politiker beschimpfen Politiker, Schriftsteller beschimpfen Schriftsteller usw. usf. Alle Beispiel werden in den historischen Kontext eingestellt und prägnant erläutert, wobei deutlich wird, dass die Römer in Sachen öffentlicher Beleidigung weit weniger zimperlich waren als ihre christlichen Nachfahren. Eine gewisse Gewandtheit in der Kunst der Beleidigung wurde von einem öffentlichen Redner sogar erwartet, genauso wie ein dickes Fell, wenn einem die Komplimente zurückgegeben wurden. Dennoch dürfte sich der oben beschriebene Effekt bei den meisten Lesern leider notwendig einstellen.

Nur zu empfehlen für Freunde der römischen Literatur oder solche, die es werden wollen, diesen aber unbedingt.

Dennis Pausch: Virtuose Niedertracht. Die Kunst der Beleidigung in der Antike. München: Beck, 2021. Pappband, 223 Seiten. 22,– €

Helge Hesse: Die Welt neu beginnen

Valeris: Do you not recognize that a turning point has been reached in the affairs of the Federation?
Spock: History is replete with turning points, Lieutenant. You must have faith.

Eine sehr gut geschriebene Geschichte des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika, England, Frankreich und Deutschland. Den Auftakt bildet der Beginn der Amerikanischen Revolution, den Schlussstein Napoleons Erklärung, die Französische Revolution sei beendet. Zwischen diesen beiden Punkten verfolgt Hesse die Biographien von etwa drei Dutzend Personen; eine genaue Grenze zwischen diesen Haupt- und den zahlreichen Nebenfiguren lässt sich kaum ziehen. Auswahl und Gewichtung des Hauptpersonals sind recht traditionell; einzig das prominente Auftreten von Captain William Bligh überrascht vielleicht. Dabei darf betont werden, dass Bligh in erstaunlich fairer und neutraler Weise dargestellt wird; er fungiert durchaus nicht als der Bösewicht seiner eigenen Geschichte. Andererseits hat mir persönlich Johann Gottfried Seume gefehlt, dessen Biographie ein zusätzliches Licht auf die Zwangswerbungen und Verschleppung deutscher Bürger als Soldaten für Amerika hätte werfen können. Aber ein Buch kann natürlich nie alles leisten, was man sich wünscht.

Es ist keine leichte Sache, eine vergangene Epoche so interessant und lebendig zu beschreiben, als sei es die Gegenwart der Leser. Das ist hier durchweg gelungen. Es wird vermittelt, dass und wie sich in dieser Zeit moderne Menschen um die Gestaltung ihrer Welt bemühen oder der Beschreibung eben dieser Welt widmen. Dabei werden die Biographien in nach Jahren eingeteilten Kapiteln parallel erzählt und – wo es sich so ergeben hat – miteinander verflochten. Abgesehen von der sehr typischen geographischen Beschränkung entsteht so ein rundes und durchaus schlüssiges Bild einer Zeit, in der sowohl die politischen als auch die technischen Fundamente unserer heutigen Welt gelegt wurden. Sicherlich könnte man hier und da einwenden, dass der Autor den Fortschritt ein wenig zu optimistisch anschaut, die Vernunft etwas zu sehr für eine überaus tolle Sache hält, aber immerhin gibt er auch der pessimistischen Sicht Georg Forsters Raum:

Die Tyrannei der Vernunft, vielleicht die eisernste von allen, steht der Welt noch bevor. Wenn die Menschen erst die ganze Wirksamkeit dieses Instruments kennen werden, welche Hölle um sich her werden sie dann schaffen! Je edler das Ding und je vortrefflicher, desto teuflischer der Missbrauch.

S. 309 f.

Leider muss bei aller Anerkennung des Gelungenen auch festgestellt werden, dass das Buch im Detail sehr flüchtig und oberflächlich gearbeitet ist. Überall, wo ich mich ein wenig auskenne, finden sich zahlreiche Fehler, die mit etwas mehr Sorgfalt einfach zu vermeiden gewesen wären. Auch scheint die naturwissenschaftliche Bildung des Autors lückenhaft zu sein, und selbst in der Philosophie, einem Fach, dass der Autor studiert hat, finden sich grobe Fehler. In den Details sollte man dem Buch also eher nicht trauen. Mag sein, in einer nächsten Auflage lässt sich das eine oder andere verbessern.

Trotzdem eine sehr lesbare und lesenswerte Darstellung des Auftakts der modernen Welt. Besonders für jene Leser geeignet, die einen leichten, nicht akademischen Zugang zu dieser Zeit suchen und denen die Fehler ohnehin nicht auffallen.

Helge Hesse: Die Welt neu beginnen. Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 bis 1799. Stuttgart: Reclam, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 431 Seiten. 25,– €.