Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau

978-3-451-22995-4Sehr detaillierte Darstellung der Reise Konrad Adenauers nach Moskau im September 1955 einschließlich der Vorgeschichte beginnend mit der sowjetischen Einladung vom 7. Juni des Jahres bis hin zu den ersten Monaten der diplomatischen Beziehungen, die als Folge der Reise etabliert wurden. Kilian konzentriert sich nahezu vollständig auf die politische Ebene der Reise inklusive der Einschätzungen und Reaktionen der drei westlichen Siegermächte. Er macht Adenauers innen- und außenpolitische Taktik und seine Verhandlungsführung in Moskau plausibel durch die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Zielvorstellungen, die er gleichzeitig zu erfüllen suchte: Klärung der Frage der verbliebenen Kriegsgefangenen sowie der Zivilverschleppten, Demonstration der Bündnistreue dem Westen gegenüber, Demonstration einer eigenständigen deutschen, weltpolitischen Position, Durchsetzung seiner Auffassung, dass die Frage der deutschen Einheit Aufgabe der vier Siegermächte sei und letztlich Vermeidung auch nur des Anscheins der Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs der BRD.

Es wird in der Konsequenz klar, dass man Adenauers Reise je nach Perspektive durchaus als Erfolg oder Niederlage werten kann: Sicherlich war sie einerseits innenpolitisch ein unerwartet großer Erfolg, der sich markant im Wahlergebnis von 1957 niedergeschlagen hat, andererseits hatte man in Moskau nur ein einziges Verhandlungsziel überhaupt erreicht – die Gefangenenentlassung, von der wir heute wissen, dass die Sowjetführung sie ohnehin auf der Agenda stehen hatte – und musste dafür im Gegenzug der sowjetischen Seite die Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen einräumen. Damit hatten die Gegenseite ihr einziges Verhandlungsziel vollständig erreicht.

Was bei Kilian etwas zu kurz kommt, ist die gesellschaftliche Ebene, sowohl was die Voraussetzungen der Reise angeht, als auch die euphorische Reaktion der Westdeutschen auf das Eintreffen der letzten 10.000 Kriegsgefangenen. Besonders die doch sehr unterschiedliche Behandlung der Kriegsheimkehrer in West- und Ostdeutschland hätte man sich etwas ausführlicher dargestellt gewünscht. Aber man kann nicht alles haben.

Mir persönlich ist die Darstellung an einigen Stellen zu Adenauer-freundlich, insgesamt steht das Buch aber völlig konkurrenzlos da und muss derzeit als beste Informationsquelle zu diesem wichtigen Abschnitt deutscher Geschichte bezeichnet werden.

Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau. Freiburg i.B.: Herder, 2005. Broschur, 381 Seiten. 15,– €.

Aloys Winterling: Caligula

Der römischen Aristokratie müssen unter seiner Herrschaft so ungeheuerliche Dinge zugestoßen sein, daß man ihm posthum die höchste denkbare Stigmatisierung zuteil werden ließ: Er wurde als Monster und Wahnsinniger beschimpft und damit gleichsam aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen.

978-3-406-63233-4Caligula (12–41) ist einer der bekanntesten römischen Kaiser, da er spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Musterbeispiel für den größenwahnsinnigen und psychopathischen Diktator dient. Winterlings Darstellung Caligulas widerspricht diesem Bild des Kaisers diametral: Aufgrund einer differenzierten und kritischen Lesart der antiken Quellen erscheint der Kaiser bei ihm als ein rational handelnder Monarch, der nach mehreren Versuchen, ihn zu beseitigen, den stillschweigenden Konsens zwischen Herrscher und Senat, den sein Urgroßvater Augustus etabliert hatte, aufkündigte und versuchte, eine echte Alleinherrschaft zu etablieren. Offensichtlich gelang es ihm aber nicht, in kurzer Zeit ein neues Gleichgewicht und eine den angestrebten Verhältnissen angemessene Kommunikation zu begründen, sondern nutzte die Doppelbödigkeit des früheren Missverhältnisses dazu, die römischen Oberschicht zu demütigen und in Angst und Schrecken zu versetzen. Konsequenterweise führte dies nur zu weiteren Intrigen gegen ihn, von denen eine ziemlich bald durchschlug.

Caligulas kurze Herrschaft markiert somit einen Tiefpunkt in der Entwicklung der frühen, römischen Kaiserzeit. Winterling weist aber darauf hin, dass keine der zeitgenössischen Quellen von einem pathologischen Wahnsinn des Kaisers ausgeht. Dort, wo das Wort fällt – etwa bei Seneca –, wird es in dem Sinne gebraucht, wie auch wir heutzutage von Bauwahn oder ähnlichem reden. Erst Sueton scheint das Konzept vom wahnsinnigen Kaiser erfunden und die Quellen entsprechend tendenziös ausgeschlachtet zu haben. Er verfolgte damit augenscheinlich den Zweck, die Rolle der römischen Oberschicht im 1. Jahrhundert zu schönen und so sein und das Renommee seiner Standeskollegen aufzupolieren.

Winterlings Darstellung ist durchweg überzeugend, gut lesbar und auch für den historischen Laien nachvollziehbar. Ein uneingeschränkt zu empfehlendes Buch.

Aloys Winterling: Caligula. Beck’sche Reihe 6035. München: C. H. Beck, 2012. Broschur, 208 Seiten. 14,95 €.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter

Ich denke, dass der Wandel der Einstellung gegenüber dem Kaufmann der wichtigste Ausgangspunkt für diese psychische wie kulturelle Wende war.

978-3-608-94693-2Es ist immer angenehm, wenn Historiker unumwunden zugeben, dass für eine ausreichende Darstellung der verhandelten Sache keine ausreichende Quellenlage vorhanden ist, so auch für einen bedeutenden Teil des von Jacques Le Goff in diesem Buch abgedeckten Zeitraums. Zumindest während des Früh- und weiten Teilen des Hochmittelalters hat Geld – sowohl Münzgeld als auch Buchgeld – keine bedeutende Rolle gespielt, ja der exzessive Umgang mit Geld wurde mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Abscheu betrachtet. Zinsnahme galt als unchristlich und moralisch verwerflich, wobei wirtschaftlicher Gewinn im neuzeitlichen Sinne überhaupt unter dem Generalverdacht stand, nur eine Form von Wucher zu sein.

Worauf Le Goffs kurze, bis zum 14. Jahrhundert aber wohl dennoch erschöpfende Darstellung der Geschichte des Geldes im Mittelalter wesentlich abzielt, ist der Nachweis, dass sich von einem mittelalterlichen Kapitalismus nicht sprechen lässt. Dazu stellt er im letzten Teil des Buchs ausführliche den Gedanken der Caritas dar, der im Zentrum mittelalterlich-wirtschaftlichen Denkens gestanden hat. Was Le Goffs Buch sehr deutlich werden lässt, ist, dass neuzeitliche Konzeptionen von Ökonomie im Mittelalter höchstens rudimentär vorhanden waren und im gesellschaftlichen Selbstverständnis eine diametral andere Wertung erfahren haben. Vielleicht ist deshalb gerade das Paradigma des Geldes gut geeignet, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie gänzlich anders mittelalterliche Menschen sich und die Welt begriffen haben.

Ein knappes, informatives und zuverlässiges Buch, das allerdings gerade in den frühen darstellenden Passagen aufgrund der dünnen Quellenlage etwas sprunghaft wirkt. Man sollte daher etwas Geduld mit ihm haben.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Pappband, 279 Seiten. 22,95 €.

Colin Crouch: Postdemokratie

Die Demokratie hat einfach nicht mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus Schritt halten können.

978-3-518-12540-3Crouchs Schlagwort von der Postdemokratie wird gerade verstärkt genutzt, was Anlass war, mir den zugehörigen theoretischen Ansatz anzuschauen. Crouch geht von einem Lebenszyklus einer Demokratie aus, der einer nach unten offenen Parabel gleicht. Die westlichen demokratischen Gesellschaften hätten den Höhepunkt dieser Parabel bereits seit langem überschritten und näherten sich daher wieder un- bzw. vordemokratischen Verhältnissen, ohne zu diesen tatsächlich vollständig zurückzukehren. Der Durchgang durch die wahrhaft demokratische Phase hinterlasse untilgbare Spuren, die in der Phase des Verfalls scheindemokratische Strukturen erzeugen, die den Mangel an wirklicher Demokratie überdecken.

Nach Crouchs Auffassung sind die postdemokratischen Verhältnisse dadurch geprägt, dass globale Wirtschaftsunternehmen einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik gewinnen, nicht nur in dem Sinne, dass sie durch Lobbyarbeit der Politik ihre Ziele vorgeben können, sondern auch in dem, dass Politik sich Strukturen, Methoden und Arbeitsweisen des industriellen Bereichs aneignet und ursprünglich originär politische oder administrative Aufgaben in den privatwirtschaftlichen Bereich auslagert. Dies gehe einher mit einem wachsenden Desinteresse eines Großteils der Bürger an Politik, was sich in schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien niederschlage. Außerdem sei eine fortschreitende Entmachtung der Gewerkschaften festzustellen, so dass der reale Einfluss der breiten Masse der Bevölkerung auf die Politik immer weiter zurückgehe. Die Parteien wiederum unterschieden sich programmatisch immer weniger und setzten in ihren Wahlkämpfen auf eine stärkere Personalisierung. Das Beispiel der Forza Italia, die in ihren Anfängen über die Person ihres Parteiführers Berlusconi hinaus kein weiteres konkretes politisches Programm aufgewiesen und zudem eine erfolgreiche Verbindung von Medienmacht und Parteiarbeit demonstriert habe, stellt für Crouch eine typische Erscheinung postdemokratischer Verhältnisse dar. Crouch setzt an mehreren Stellen als den Umschlagspunkt zwischen demokratischen und postdemokratischen Verhältnissen die Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts an.

Ganz unabhängig davon, für wie einleuchtend oder zutreffend man Crouchs Analysen hält, ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, dass es sehr prägnant die politische Position eines Sozialisten in postkommunistischer Zeit darstellt. Da Crouch ein vertretbares gesellschaftliches Ideal abhanden gekommen ist, setzt er auf einen relativ vagen Begriff wie Demokratie und identifiziert ihn mit all dem, was er gesellschaftspolitisch für erstrebenswert hält: starke Macht der Gewerkschaften, eine von der globalen Wirtschaft unabhängige politische Ebene, den aufgeklärten, mündigen Bürger, der sich in Parteien und gesellschaftlich engagiert. Ohne nachzuweisen, dass solche Verhältnisse jemals tatsächlich irgendwo existiert haben, wird aus ihrem Nichtvorhandensein eine gesellschaftliche und politische Entwicklung konstruiert, aus der sich ein dringender Handlungsbedarf ableiten lässt. Denn natürlich hat Crouch wenn schon keine Lösung, doch zumindest einen Ausweg aus dem Desaster der Gegenwart (was allerdings sein Modell vom parabelförmigen Lebenszyklus der Demokratie etwas konterkariert): Aktive Bürgerbeteiligung auf zahlreichen politischen Ebenen (so etwa der – Entschuldigung! – schwachsinnige Vorschlag, eine Kommission zufällig ausgewählter Bürger solle einen Monat lang Gesetzentwürfe diskutieren und anschließend rechtskräftig verabschieden) und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den jetzigen demokratischen Parteien und Institutionen und den rezenten Protestbewegungen. Natürlich verrät uns Crouch nicht, wie dies angesichts des von ihm diagnostizierten postdemokratischen Desinteresses der Bürger an der Politik und der grundlegenden Verflechtung von Wirtschaft und Politik realisiert werden soll.

Als Analyse der derzeitigen politischen Verhältnisse etwas grobschlächtig, aber durchaus anregend. In seinem kritischen Potenzial letztlich naiv und nicht ernst zu nehmen.

Colin Crouch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. edition suhrkamp 2540. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Broschiert, 160 Seiten. 10,– €.

Johannes Willms: Talleyrand

Von den drei Möglichkeiten, die Talleyrand zwischen 1789 und 1814/15 aufgrund seines aristokratischen Herkommens hatte, Emigration, Passivität oder die Bereitschaft, dem Staat, sprich dem jeweiligen Regime, zu dienen, entschied er sich immer für das Letztere.

978-3-406-62145-1Johannes Willms setzt die Reihe seiner französischen Biographien fort, diesmal mit einem Seitenstück zu seiner umfangreichen Napoleon-Biographie. Talleyrand ist wohl eine der schillerndsten politischen Figuren der Wendezeit zur europäischen Moderne. Er hat es verstanden sowohl vor und während der Französischen Revolution als auch unter Napoleon und der auf ihn folgenden Restauration bedeutende politische Positionen einzunehmen. Keine seiner politischen Niederlagen hat ihn wirklich zu Fall gebracht, jeder seiner Rücktritte markiert nur eine Phase des Übergangs bis zum nächsten Aufstieg in Amt und Würden. Selbst als er sich mit guten Gründen und aus freien Stücken endgültig ins Privatleben zurückziehen wollte, erwies sich sein Drang zu Macht und Einfluss als zu stark, und er betrat binnen Kurzem wieder die politische Bühne. Dabei muss er im persönlichen Umgang ein bestrickender Gesprächspartner voller Esprit gewesen sein.

Johannes Willms zeigt sich mit diesem Buch einmal mehr als ein vorzüglicher Biograph, der nicht nur exzellent schreibt, sondern es auch versteht, den richtigen Abstand zu seinem Objekt einzunehmen: Weder verherrlicht er Talleyrand noch stimmt er in die Kritik ein, die in diesem Mann hauptsächlich einen schamlosen Opportunisten der Macht erkennen will. Sein Blick auf Talleyrand ist differenziert und von einem tiefen Verständnis für dessen Person und die gesellschaftliche, soziale und politische Situation Frankreichs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getragen. Dabei scheut er sich nicht vor starken, eigenständigen Urteilen, die zum Teil so ausfallen, dass ihm die historische Forschung kaum wird folgen wollen, was nicht heißen soll, dass diese Urteile falsch sind. Und da Willms spätestens seit seiner Napoleon-Biographie als ausgewiesener Kenner der französischen Geschichte gelten darf, hat das Buch zudem den Vorteil, dem Leser wie nebenbei eine kleine Historie der Französischen Revolution und ihrer Folgen für Frankreich und Europa zu liefern.

Nicht nur wer Willms »Napoleon« goutiert hat, sollte dieses Buch nicht an sich vorbeigehen lassen, sondern auch all jene, die sich für die Französische Revolution als einem der Keime der heutigen westlichen Welt interessieren.

Johannes Wilms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, Lesebändchen, 384 Seiten. 26,95 €.

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten

978-3-10-089434-2Sönke Neitzel hat im Jahr 2005 unter dem Titel »Abgehört« einen ersten Band mit Abhörprotokollen des britischen Militärgeheimdienstes veröffentlicht, die während des 2. Weltkrieges in der Hauptsache im Gefangenenlager Trent Park in der Nähe Londons erstellt worden waren. In Trent Park war eine handverlesene Gruppe höherer Offiziere interniert, von denen sich der Geheimdienst besonders ergiebige Erkenntnisse erwartete. Bei »Soldaten« handelt es sich um eine Erweiterung dieses ersten Bandes. Diesmal werden auch Abhörprotokolle von Mannschaftsdienstgraden ausgewertet. Im Vergleich zu »Abgehört« wurde die Gewichtung zwischen Dokumentation und Interpretation bei diesem neuen Band deutlich zu Ungunsten der Dokumentation verschoben. Die Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer führt dazu, dass der Textanteil des deutenden Zugriffs in diesem Buch den der eigentlichen Protokolle deutlich überwiegt. Das Buch ist daher offensichtlich eher für den historischen Laien gedacht.

Das leitende Interesse der Autoren ist das Phänomen der Gewalt, wobei sie von der oft diskutierten Frage ausgehen, wieso Wehrmachtsangehörige während des Krieges Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt haben und darüber hinaus aus auch an offenbar verbrecherischen Aktionen, selbst wenn sie diese Aktionen aus moralischen oder anderen Gründen innerlich abgelehnt haben. Dabei wird die Erklärung zurückgewiesen, dass durch das Kriegsgeschehen eine Verrohung der Soldaten eintritt, sondern Welzer vertritt die Auffassung, dass der militärische Bezugsrahmen bereits genügt, um ausreichende Bedingungen für Gewaltexzesse zu schaffen. Ausführlich wird dabei untersucht, wie und in welchem Umfang die Ideologie und der Rassebegriff des Nationalsozialismus Einfluss auf Selbstverständnis und Handeln der Soldaten hatten.

Die grundsätzlich vertretene These ist, dass Gewalt nicht als eine Ausnahmeerscheinung der menschlichen Existenz angesehen werden sollte:

Der Krieg und das Handeln der Arbeiter und Handwerker des Krieges sind banal, so banal, wie es das Verhalten von Menschen unter heteronomen Bedingen – also im Beteib, in einer Behörde, in der Schule oder in der Universität – immer ist. Gleichwohl entbindet diese Banalität die extremste Gewalt der Menschheitsgeschichte und hinterlässt mehr als 50 Millionen Tote und einen in vielerlei Hinsicht auf Jahrzehnte verwüsteten Kontinent. (S. 409)

Soldaten lösen ihre Aufgaben im Krieg mit Gewalt; das ist auch schon das Einzige, was ihr Tun systematisch von dem anderer Arbeiter, Angestellten und Beamten unterscheidet. Und sie Produzieren andere Ergebnisse als zivile Arbeitende: Tote und Zerstörung. (S. 439)

Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst weiter teilt. Wenn man also Gewalt in ihren unterschiedlichen Gestalten in das Inventar sozialer Handlungsmöglichkeiten menschlicher Überlebensgemeinschaften zurückordnet, sieht man, dass diese immer auch Vernichtungsgemeinschaften sind. Das Vertrauen der Moderne in ihre Gewaltferne ist illusionär. Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist. (S. 445)

Ich kann mich dieser Sicht nur schwer entziehen, muss aber kritisch feststellen, dass das im Buch vorgeführte Material diese Grundauffassung zwar überzeugend illustriert, aber letztlich nicht beweist. Was das Autorenteam zwar immer mit reflektiert, letztlich aber nicht ernsthaft bei der Bewertung der Protokolle berücksichtigen kann, ist, dass diese Gespräche zwischen Soldaten in Gefangenschaft auch immer gruppendynamischen Zwängen unterliegen:

… gewiss ist er der Kommunikationssituation geschuldet, die eine Infragestellung des militärischen Wertekanons auch und vielleicht gerade in der Gefangenschaft nicht zuließ. (S. 357)

Oder:

… möglicherweise hat er aber auch schlicht gelogen, um seinen Gesprächspartner zu beeindrucken. (S. 362)

Dieser prinzipielle Zweifel ist natürlich nicht auszuräumen, doch wie schon Aristoteles betonte, darf man von jedem Urteil nur den Grad an Genauigkeit erwarten, den der vorliegende Gegenstand erlaubt.

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt: S. Fischer, 2011. Pappband, 520 Seiten. 22,95 €.

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter

978-3-15-010807-9Eine gut lesbare Überblicksdarstellung zur Geschichte des Rittertums von seinen Anfängen bis zum Aufgehen des Standes in der Reichsritterschaft. Der Autor wertet sowohl literarische als auch historische Quellen im engeren Sinne aus, um jeweils Ideal und Wirklichkeit der einzelnen Entwicklungsphasen einander gegenüber zu stellen. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche, gut ausgewählte Abbildungen. Ich hätte mir die Darstellung des literarischen Nachlebens des Motivs umfangreicher gewünscht, aber man kann nicht alles haben. Alles in allem zur ersten Orientierung ausgezeichnet geeignet!

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 298 Seiten. 22,95 €.

Patrick Bahners: Die Panikmacher

978-3-406-61645-7Die in diesen Zeiten der religiösen Hysterie, von denen ich noch vor 15 Jahren behauptet hätte, dass sie nie wieder zurückkehren würden, notwendige Stimme der Vernunft. Bahners beschäftigt sich sachlich, manchmal zu sachlich, mit den Herr- und Frauschaften Sarrazin, Kelek, Broder, Schwarzer, Irmer und was der Gestalten mehr sind. Ein prickelndes Buch ist dabei nicht gerade herausgekommen, denn die bekämpften Dummheiten wiederholen sich rasch und die Argumentationslinien und –fronten sind relativ schnell klar. Ich selbst hätte mir gewünscht, dass Bahners ein stärkeres Gewicht auf die historische Genese der jetzigen Situation legen würde und sich nicht als letzte Ressource zumeist auf das Grundgesetz zurückzieht. Warum, frage ich mich, reden in der jetzigen Situation nur so wenige über Lessing und die deutsche Aufklärung? Und dann sind auch noch die Hälfte davon konservative Katholiken. Ist die Ringparabel und das, was sie meint, tatsächlich so spurlos an all den deutschen Abiturienten vorbeigerauscht? Überlassen wir den Anspruch, in der Tradition der Aufklärung zu stehen, tatsächlich so Nasen wie Matthias Matussek?

Es ist nur zu hoffen, dass Bahners Buch wenigstens halb so viele Leser findet, wie Sarrazins Buch Käufer hatte. Es ist aber zu befürchten, dass die Stammtisch-Schwätzer dieses Thema noch für lange Zeit besetzt halten werden.

Patrick Bahners: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, 320 Seiten. 19,95 €

Heike B. Görtemaker: Eva Braun

978-3-406-58514-2Alles in allem ein überflüssiges Buch. Wie bereits der Untertitel »Leben mit Hitler« klar macht, erhebt die Autorin nicht den Anspruch, eine Biografie Eva Brauns zu liefern. Das kann sie auch nicht, da sich das spezifisch biografische Material zu Eva Braun, das die Autorin liefert, bequem auf 25 Seiten zusammenfassen ließe, wobei sich ein nicht unerheblicher Anteil davon auch noch auf dem Niveau von Klatsch- und Tratschgeschichten bewegt. Der Rest ist einmal mehr eine allgemein gehaltene Historie des Dritten Reiches, wobei natürlich ein besonderer Schwerpunkt beim Hitlerschen Hofstaat liegt. Görtemaker bedient sich dazu der gewöhnlichen Quellen, kommt zu den gewöhnlichen Ergebnissen, angereichert um die immer wieder erneuerte Geste pseudokritischen Fragens, das aber zu keinerlei Antworten führt, weil dazu kein ausreichendes Material vorliegt:

War sich Eva Braun der geschichtlichen Bedeutung dieser Tage, die sie auf dem Berghof miterlebte und deren Dramatik sie offenkundig fotografisch einzufangen suchte, bewußt? Zeitgenössische sowie spätere Aussagen dazu gibt es nicht. [S. 231]

Rächte sich Eva Braun jetzt inmitten des Untergangs an ihren früheren Feinden für die Herabwürdigungen im Zusammenhang mit ihrer Mätressenrolle? Diese Frage muß unbeantwortet bleiben … [S. 269]

Ob sich Eva Braun vor diesem Hintergrund «bewußt» mit politischen Äußerungen zurückhielt, wie ihre Schwester Ilse nach Kriegsende vor Gericht erklärte, oder ihr Schweigen lediglich mangelndes Interesse bedeutete, ist aufgrund der Quellenlage schwer zu beantworten. Auch die Frage, ob sie vom Holocaust wußte, bleibt letztlich ungeklärt. [S. 289]

Wer einen ersten Einstieg in das Thema des Hitlerschen Hofstaates sucht, ist mit Görtemakers Buch vielleicht noch ganz gut bedient, wer aber bereits auch nur einigermaßen orientiert ist, für den ist die Lektüre wahrscheinlich nur Zeitverschwendung.

Heike B. Görtemaker: Eva Braun. Leben mit Hitler. München: Beck, 2010. Pappband, 366 Seiten. 24,95 €.

Ian Kershaw: Wendepunkte

978-3-570-55120-2 Man kommt kaum umhin, diese Studie zu den Kriegsjahren 1940 und 1941 als brillant zu bezeichnen. Kershaw, der durch seine umfangreiche Hitler-Biografie bekannt geworden ist, zeichnet ein umfassendes Bild dieser Jahre, indem er in zehn Kapiteln jeweils eine zentrale Entscheidung einer der Kriegsparteien in den Mittelpunkt stellt und zu jeder dieser Entscheidungen die personellen, strukturellen, historischen, ideologischen, politischen und individuellen Bedingungen darstellt, die zu ihr geführt haben. Besonders beeindruckt hat mich die Darstellung der Lage Japans, für die zum einen der Prozess dokumentiert wird, in dem sich Japan für den Weg in den Krieg entscheidet, zum anderen jener, der zum Angriff auf Pearl Harbor führte.

Will man unbedingt Schwächen des Buches finden, so bieten sich meiner Meinung nach höchstens zwei Punkte an: Einerseits wird die Lage in Nordafrika immer nur am Rande behandelt, zum anderen neigt Kershaw ein wenig dazu, Person und Entscheidungen Roosevelts im günstigsten Licht zu zeigen. Eine gewisse Redundanz der Darstellung, die es erlaubt, die einzelnen Kapitel auch unabhängig von den anderen zu lesen, kann dem Buch nicht als Mangel angelastet werden.

Eine der besten Gesamtdarstellungen der Weltlage in den frühen Kriegjahren, die ich kenne.

Ian Kershaw: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: Pantheon, 2010. Broschiert, 735 Seiten. 18,99 €.