Alexandre Dumas: Die drei Musketiere

»Nun«, sprach Rochefort, »das ist abermals so ein Zufall, der dem anderen die Stange halten kann. […]«

Dieser Fortsetzungsroman entstand 1844 unmittelbar vor „Der Graf von Monte Christo“, und fällt im direkten Vergleich mit diesem deutlich ab. Zwar nimmt das Buch im letzten Viertel deutlich an Fahrt auf, und seine Konstruktion wird subtiler, aber es erreicht nicht die dichte Verflechtung seines Personals in die zentrale Intrige (hier sind es am Ende gleich zwei Intrigen, die über die Strecke helfen müssen), die „Der Graf …“ auszeichnet. Es fehlt ein sich über den gesamten Text erstreckender Plan; der Mittelteil der Erzählung besteht in der Hauptmasse aus rein anekdotischem Füllstoff, der die Leser unter- und hinhalten soll, bis es Zeit ist, das durchaus furiose Ende auszupacken.

Mit „Die drei Musketiere“ liefert Dumas ein französisches Pendant zu dem in England von Walter Scott erfolgreich begründeten Historischen Roman, der eine sogenannte spannende Handlung vor einen historischen Hintergrund setzt, der den Lesern mehr oder weniger vertraut ist. Bei Dumas dient dazu die Regierungszeit Ludwig XIII., den er ganz traditionell als einen schwachen König unter der Fuchtel des intriganten Kardinals Richelieu vorführt. Der Handlungszeitraum sind die Jahre 1625 bis 1628; der zweite Teil der Handlung fällt in die Zeit der Belagerung von La Rochelle.

Im Zentrum der Handlung steht der junge Gascogner d’Artagnan, der sich aufmacht, um in Paris Musketier zu werden, und dessen hauptsächliche Charaktereigenschaft ist, sich bei jeder Gelegenheit zu duellieren. Auf diese Weise macht er auch Bekanntschaft mit dem titelgebenden Trio Athos, Porthos und Aramis, mit denen zusammen er sogleich in eine staatsumstürzende Intrige verwickelt wird. Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist zahlreich verfilmt worden; auf eine Verfilmung des zweiten, dunkleren und voraussetzungsreicheren Teils hat man in der Regel klugerweise verzichtet. Allerdings muss man Dumas einräumen, dass seine Einbeziehung der Ermordung des Herzogs von Buckingham in die Handlung, so unwahrscheinlich seine Konstruktion auch immer sein mag, ein kleines schriftstellerisches Meisterstück bildet. Ansonsten ist auch diesem Buch die Geschwindigkeit anzumerken, mit der Dumas arbeiten musste, so dass es Flüchtigkeitsfehler – so wird etwa d’Artagnan gleich zweimal zum Musketier gemacht (S. 360 und 544) – bis in die Buchausgabe geschafft haben.

Dumas hat zu diesem Erfolgsroman gleich zwei Fortsetzungen von jeweils etwa gleicher Länge geliefert – „Zwang Jahre später“ (1845) und „Der Vicomte von Bragelonne“ (1847) –, mit denen er dem Interesse des Publikums des 19. Jahrhunderts an Historischen Romanen entgegenkam. Ob ich diese Teile, die ich nicht bereits gelesen habe, ebenfalls hier besprechen werde, ist derzeit noch nicht entschieden.

Es ist in jedem Fall zu empfehlen, „Die drei Musketiere“ vor oder mit einigem Abstand zu „Der Graf von Monte Christo“ zu lesen; man kann alternativ auch die Kapitel 29 bis 42 getrost querlesen, ohne viel zu versäumen. Auch dieser Ausgabe liegt die Übersetzung von August Zoller (1845) zugrunde, die hier ebenfalls modernisiert, aber nicht gekürzt wurde.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere. Aus dem Französischen von August Zoller. Neu überarbeitet von Michaela Meßner. dtv 14765 (Neuausgabe 2020). München: dtv, 22024. Broschur, 748 Seiten. 15,– €.

James F. Cooper: Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton-Wish

Im Falle Cooper beginnt die erstaunliche Tatsache sich abzuzeichnen, daß jede Übersetzung, sie kann nicht anders, besser werden muß, als das Original!

Arno Schmidt

Auch diese Lektüre gehört in die Reihe meiner Revisionen der Übersetzungen Arno Schmidts. Cooper gehört schon früh unter die Schmidtschen literarischen Hausheiligen und seine Übersetzung von The Wept of Wish-Ton-Wish (1829) ist wohl so etwas wie ein Testballon gewesen für seine spätere Übersetzung der Littlepage-Trilogie (die ebenfalls demnächst noch einmal gelesen werden soll). Was Schmidt bewogen hat, ausgerechnet dieses sowohl inhaltlich als auch sprachlich antiquarische Buch zu übersetzen, soll etwas später erwogen werden.

Das Stück spielt in Connecticut in den Jahren zwischen etwa 1660 bis 1675. Ort der Handlung ist eine abgelegene Puritaner-Siedlung, eine Gründung des Hauptmanns Marcus Heathcote, der sich zu Anfang des Romans mit seiner Familie und seinen Bediensteten aufmacht, um in der Wildnis noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Die Handlung selbst konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Episoden in der Geschichte der Ansiedlung, die beide den kriegerischen Konflikt mit den lokalen Indianern thematisieren. In beiden spielt ein Häuptling der Narragansets, eben der bei Schmidt titelgebende Conanchet eine zentrale Rolle. Im ersten Teil wird der Häuptling als junger Mann von den Siedlern gefangengenommen und lebt für einige Monate mit ihnen zusammen, wobei er langsam aber sicher das Vertrauen der Siedler gewinnt, ohne sich tatsächlich mit ihnen einzulassen. Diese erste Episode endet mit einem die Siedlung nahezu komplett zerstörenden Überfall durch die Narragansets, den allerdings die meisten der Siedler wie durch ein Wunder überleben.

Die zweite Episode schildert die Verwicklung der wieder erblühten Siedlung in den sogenannten King Philip’s War, die erste große kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Indianer im Nordosten der späteren USA und den weißen Siedlern. Im Verlauf dieses Krieges kehrt Conanchet an den Ort seiner früheren Gefangenschaft zurück, und es stellt sich heraus, dass er ein im früheren Überfall verschwundenes und für tot gehaltenes junges Mädchen, Ruth, entführt und zu seiner Frau gemacht hat. Seine emotionale Verbindung mit den von ihm wiederum für tot gehaltenen Siedlern verhindert die nochmalige Zerstörung der Siedlung und bringt ihn in Konflikt mit seinen Verbündeten im Krieg. Die Handlung endet in einer melodramatischen Tragödie, die hier nicht im Detail geschildert werden muss.

Neben den zum Teil äußerst drastischen Schilderungen der Kampf­hand­lun­gen ist der Roman weitgehend angefüllt mit der ausführlichen Be­schrei­bung puritanischen Lebens und ebensolcher Dialoge, die bereits nach kurzer Zeit dazu geeignet sind, den Leser bis aufs Äußerste zu strapazieren. Schmidt hat als Grundlage seiner Übersetzung die erste deutsche Übertragung durch Karl Meurer (wohl ebenfalls bereits 1829 erstmals erschienen) zugrunde gelegt, wobei er sie über weite Strecken in den sprachlichen Details präzisiert und über den gesamten Text hinweg um knapp 5 % gekürzt hat.1 Wirklich überzeugen kann das Buch dennoch nicht.

Auch Schmidts Nachwort, das hauptsächlich deutsche Leser mit Cooper und der Breite seines Werks vertraut machen soll, gibt keinen echten Aufschluss darüber, warum gerade dieses Werk ausgewählt wurde, um eine Cooper-Renaissance in Deutschland anzustoßen. Schmidt selbst lässt an Coopers Fabeln und Hauptfiguren kaum ein gutes Haar und lobt dagegen im Allgemeinen dessen Landschaftsschilderungen und Nebenfiguren. Und so wird es – neben den Motiven der Zivilisationsflucht und des Lebens in der Isolation, die in Schmidts eigenen Inselphantasien eine bedeutende Rolle gespielt haben – wahrscheinlich eine der Nebenfiguren des Romans sein, die Schmidts Aufmerksamkeit gefesselt hat: Bei dem im Text nur unter dem angenommenen Namen Submissus auftretenden Einzelgänger, der die Siedler beim ersten Angriff der Indianer vor dem Untergang rettet und auch im zweiten Teil eine durchgehende Nebenrolle spielt, handelt es sich wohl um ein Porträt des sogenannten Königsmörder William Goffe, der zum unmittelbaren Umfeld Cromwells gehörte und maßgeblich am Prozess gegen Charles I beteiligt war. Er war einer jener unter Charles II Ver­ur­teil­ten, denen es gelungen war, nach Amerika zu entkommen, aber auch dort immer noch durch Agenten der englischen Regierung verfolgt wurden. Schmidt liebte solche Verflechtungen von Fiktion und Historie und hat mit seinem Das steinerne Herz selbst ein Muster für das Historische im Roman geliefert.

Alles in allem eine eher zähe Lektüre, die zwar einmal mehr den edlen amerikanischen Wilden feiert, bis auf wenige Passagen aber weder historisch interessant noch anderweitig belangreich ist.

James F. Cooper: Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton Wish. Aus dem Englischen von Arno Schmidt. Fischer Tb. 1287. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 21977. Broschur, 414 Seiten. Derzeit nicht im Druck.


1 – Günter Jürgensmeier war so freundlich, mir einen vergleichenden Text der beiden Übersetzungen zusammen mit einigen wichtigen statistischen Details zur Verfügung zu stellen.

James Fenimore Cooper: Der letzte Mohikaner

Cooper wird von den meisten deutschen Lesern als eine Art von us-amerikanischem Karl May angesehen. Das liegt natürlich daran, dass ihn viele nur als Autor des „Lederstrumpf“ kennen und das zumeist noch aus für die heranreifende Jugend bearbeiteten Ausgaben, die das fünfbändige Werk zumeist auf das irokesischste grausamste zusammenstreichen und auf den reinen Abenteuerplot reduzieren. Hanser hat nun vor knapp zehn Jahren den in Deutschland bekanntesten Roman des Zyklus als Klassiker neu herausgegeben, das heißt, neu übersetzt und philologisch ordentlich ediert und kommentiert, wie sich das für einen klassischen Text gehört. Dabei hat die Herausgeberin und Übersetzerin Karen Lauer ganze Arbeit geleistet: Sie macht die Unterschiede der drei zu Lebzeiten Coopers entstanden Ausgaben (1826, 1831 und 1850) sichtbar, nimmt den Text in all seinen Details und Tendenzen ernst und liefert ein kenntnisreiches Nachwort und ebensolche Anmerkungen zum Text.

Der Plot ist kurz erzählt und für ein Abenteuer-Buch genau richtig: Die Handlung spielt im Jahr 1757, also während des Siebenjährigen Krieges, in der Gegend um Fort William Henry am Südufer des Lake George im nördliche Teil des Staates New York. Im Zentrum steht eine kleine Gruppe von Weißen: ein Major Duncan Heyward, der versucht, die beiden Töchter, Alice und Cora, des kommandierenden Offiziers von Fort Henry, Oberst George Munro, in aller Stille zu ihm zu bringen. Dieser Gruppe schließt sich der fromme Sänger David Gamut an, der nicht nur als ebenso gottgläubiger wie vorerst unnützer Vorzeigechrist fungiert, sondern in der späteren Handlung durchaus eine Schlüsselrolle zugespielt bekommt. Geführt wird die Gruppe von einem Indianer, Magua, der sich nur allzu bald als der Hauptbösewicht des Textes erweisen soll. Die Gruppe trifft nach kurzer Reise auf Natty Bumppo, genannt Falkenauge, und seinen indianischen Freund Chingachgook und dessen Sohn Uncas. Natty Bumppo und Chingachgook verbinden den Roman mit dem 1823 erschienen Die Ansiedler, dessen Handlung allerdings deutlich später spielt und die beiden Freunde als alte Männer vorführt.

Natürlich gerät die Gruppe bald in Gefahr durch feindliche Indianer, vor denen sie sich zwar eine Weile verstecken können, von denen sie aber schließlich angegriffen und zum Teil gefangen genommen werden. Ebenso natürlich entziehen sich die drei Helden des Romans dem feindlichen Zugriff und nehmen die Verfolgung auf. Am Ende spitzt sich das Geschehen zu auf die Befreiung einer der Töchter Munros, die der Schurke des Romans unbedingt zu seiner Squaw machen will.

Eingebettet in diesen Abenteuer-Plot findet sich die Beschreibung des historischen Massakers, das 1757 an der abziehenden englischen Besatzung von Fort William Henry durch feindliche Indianer unter Duldung des französischen Militärs verübt wurde. Dieses grausame Abschlachten von Menschen, denen freies Geleit zugesichert worden war, stellt eines der Kriegsverbrechen in der Auseinandersetzung zwischen den Engländern und Franzosen in der Zeit des Siebenjährigen Krieges in Nordamerika dar. Mit der Darstellung dieses Ereignisses macht Cooper seinen Letzten Mohikaner zum ersten us-amerikanischen Beispiel für den kurz zu vorher erst erfundenen Historischen Roman.

Zudem wird der Abenteuer-Plot durch eine weitgehend un­vor­ein­ge­nom­me­ne Schilderung indianischer Bräuche und Sitten ergänzt, ja Cooper versucht tatsächlich so etwas wie ein objektives Bild vom Leben in der Wildnis der Staaten vor Gründung der USA zu liefern. Sicherlich war auch er nicht frei von Vorurteilen und das für die Spannung der Handlung erforderliche Schwarz-Weiß seiner Darstellung ist ebenfalls nicht unbedingt förderlich, aber alles in allem liefert er ein wirklichkeitsnahes und durchweg informatives Portrait der in den Krieg der Weißen verwickelten Indianerstämme.

Allen, die daran interessiert sind, warum Cooper eben nicht nur ein amerikanischer Karl May, sondern bedeutend mehr war, sei dieses sorgfältig gemachte und gut ausgestatteten Buch empfohlen.

James Fenimore Cooper: Der letzte Mohikaner. Ein Bericht aus dem Jahre 1757. Aus dem Englischen von Karen Lauer. München: Hanser, 2013. Leinen, bedruckter Vorsatz, Fadenheftung, Lesebändchen, 656 Seiten. 34,90 €.

Francis Spufford: Neu-York

«Sagen Sie», erwiderte Smith, «halten Sie auch heute noch so wenig von Romanen?»
«Das war meine Meinung ja erst gestern, und heute ist nicht so viel geschehen, dass ich Anlass gehabt hätte, sie zu ändern. Also ja. Schmant für kleine Geister, Sir. Nahrung für all jene, denen alles schmeckt.»

Inzwischen dreifach preisgekrönter Erstlingsroman eines bereits als Sachbuch-Autor etablierten englischen Schriftstellers. Das Buch spielt vor der Kulisse des noch holländisch geprägten, aber von England beherrschten New Yorks der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hier kommt am 1. November 1746 ein geheimnisvoller Engländer an, Richard Smith mit Namen, und begibt sich au­gen­blick­lich zu einem der reichen Kaufleute der Stadt, um ihm einen Wechsel über 1.000 englische Pfund zu über­rei­chen. Seiner Forderung wird mit Misstrauen begegnet, und man einigt sich darauf, auf weitere Bestätigungen der Forderung aus England zu warten und, nach deren Eintreffen, den Wechsel zu Ende Dezember 1746 einzulösen.

Die zwei Monate bis dahin werden mit einigen wilden Abenteuern Smith’ gefüllt, darunter auch erotischen, mehreren Verfolgungsjagden, Ge­fäng­nis­auf­ent­ha­lten, einem Duell und was der knalligen Episoden mehr sind. Erst ganz am Ende erfährt der Leser, was der eigentliche Auftrag ist, den Smith in Neu-York zu erledigen hat, und noch am Ender, das eines der jungen Mädchen des Romans, die Smith bis beinahe zur letzten Seite umwirbt, die vorgebliche Erzählerin des Buches sein soll. Diese letzte Wendung der Erzählform geht leider nicht auf, nicht nur weil es auch für eine unkonventionelle Frau des frühen 19. Jahrhunderts unmögliche wäre, bestimmte Passagen des Buches zu verfassen, sondern auch weil sie trotz ihrer Behauptung, Smith’ Geschichte nacherzählen zu wollen, auf weiten Strecken Stoff verarbeitet, der ihr auf keine Weise zur Kenntnis gekommen sein kann. Dies scheint daher ein Nachgedanke des Autors gewesen zu sein, nicht die ursprüngliche Konstruktion der Erzählung.

Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Übersetzung im Detail zu prüfen; von der am Original gelobten Nähe zur Sprache des 18. Jahrhunderts ist in der deutschen Fassung nur hier und da eine altertümelnde Schreibweise festzustellen, die aber kaum irritieren dürfte. Im Großen und Ganzen reden die Figuren wie Kunstfiguren des 20. Jahrhunderts und nicht wie Personen des 18. Jahrhunderts miteinander; ganz und gar unmöglich sowohl im Ton als auch im Stoff ist der angebliche Brief, den Smith aus dem Gefängnis an seinen Vater schreibt, der nicht nur die Briefform selbst massiv sprengt, sondern der sich auch auf keine erdenkliche Weise im Besitz der Erzählerin befinden kann.

All das macht deutlich, dass es sich um einen zwar flott erzählten, sonst aber  weitgehend gewöhnlichen Text der rezenten Unterhaltungsliteratur handelt, dessen humanitäre Pointe ebenso aufgesetzt ist wie alles andere. Zudem weist er die üblichen Schlampereien des Genres auf: Der 5. November 1746 war kein Sonntag, sondern ein Samstag (nach dem julianischen Kalender wohlgemerkt, der bis 1752 in England und den englischen Kolonien noch galt; merkwürdigerweise stimmt im letzten Drittel des Buchs die Zuordnung von Daten und Wochentagen), der Geburtstag des Königs George II wird zwei Tage zu spät gefeiert (sein Thronjubiläum fiele zwar auf einen 11., aber einen Monat früher), Smith kennt bereits 1746 Laurence Sterne als Erzähler und was der Kleinigkeiten mehr sind. Natürlich muss einen das nicht stören, aber es macht eben die Sorgfalt deutlich, die der Autor, der Übersetzer und zwei Lektorate dem Text gewidmet haben. Natürlich hat der Autor die Ausflucht, dass alle diese Fehler seiner Erzählerin zuzuschreiben sind; sinnvoller werden sie dadurch aber nicht.

Alles im allem kein schlechter Schmöker, der aber in Bezug auf den von der Kritik gezogenen Vergleich zu Fielding und Sterne erheblich zu kurz springt.

Francis Spufford: Neu-York. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Reinbek: Rowohlt, 2017. Pappband, Lesebändchen, 396 Seiten. 19,95 €.

Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae

Der Mann war in Schlaf gefallen, und träumte einen Traum, und jedes unsanfte Wecken musste sich unweigerlich als tödlich erweisen.

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Beim Einstellen meiner letzten Stevenson-Lektüre ins Bücherregal fiel mir dieser immer noch ungelesene Roman in die Hände, der im Jahr 2010 in einer Neuübersetzung bei mare erschienen ist. Er dürfte heute in Deutschland zu den unbekannteren Werken Stevensons zu zählen, obwohl es seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Übersetzungen des Textes geben hat.

Erzählt wird die Geschichte zweier Brüder aus altem schottischem Hochadel: James, der als der ältere und erbberechtigte den Titel des Masters von Ballantrae trägt und Henry. Die Handlung umfasst knapp 20 Jahre und beginnt im Jahre 1745, als Charles Edward Stuart versucht, sich gewaltsam des englischen Throns zu bemächtigen. Die Familie des Lords von Durrisdeer und Ballantrae entschließt sich, auf etwas merkwürdige Weise die Neutralität zu wahren, indem einer der beiden Brüder zur Unterstützung des Eroberers auszieht, während der andere brav und königstreu daheim bleibt. Nun fiele die Rolle des Rebellen eigentlich dem jüngeren Bruder Henry zu, um die natürliche Erbfolge nicht zu gefährden, doch besteht der Master so lange auf einer Vertauschung der Rollen, bis man ihm nachgibt und das Los entscheiden lässt.

Über den in den Krieg ziehenden Master treffen bald schlechte Nachrichten in der Heimat ein: Zuerst gibt es üble Nachreden, dass er sich als Schotte zu sehr um die Gunst der die Armee Prince Charlies anführenden Iren bemüht, und schließlich heißt es von ihm, er sei in der Schlacht von Culloden gefallen. Aufgrund dessen rückt Henry in der Erbfolge auf, übernimmt die Verwaltung des Gutes und des Vermögens und heiratet die eigentlich für seinen Bruder gedachte reiche Erbin. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Statt ordentlich im Reich der Toten zu verbleiben, meldet sich der nach Frankreich geflohenen Master alsbald wieder, um erhebliche Geldforderungen zu stellen. Der jüngere Bruder kommt diesen Forderungen nach, ohne seinen Vater oder seine Frau davon in Kenntnis zu setzen, obwohl dies eine erhebliche Belastung für das Vermögen der Familie darstellt. Als ihm die immer erneuten Forderungen dann doch zu viel werden und er seinem Bruder einen abschlägigen Bescheid erteilt, taucht dieser natürlich postwendend persönlich auf, um Vater und Schwägerin zu umgarnen und sich selbst in den Besitz des Vermögens zu versetzen. Die Konfrontation der beiden Brüder endet in einem Duell, in dem der Master von Ballantrae scheinbar tödlich verletzt wird.

Aber auch dieser Tod erweist sich als nicht dauerhaft: Nach einer in Indien und Nordamerika verbrachten Zeit kehrt der verlorene Sohn ein weiteres Mal in die Heimat zurück, was seinen jüngeren Bruder diesmal zur Flucht veranlasst: Er reist mit Frau und Sohn (der alte Lord ist inzwischen verstorben) nach New York ab, wohin ihm sein Bruder nach nur wenigen Monaten folgt. Im wilden Norden des Kontinents kommt es schließlich zum Showdown der Geschichte, der hier natürlich nicht verraten werden soll.

Das Besondere des Romans ist allerdings nicht auf der Ebene der Fabel zu finden, sondern besteht in der für einen solchen Abenteuerplot eher ungewöhnlichen Erzählposition: Als Erzähler fungiert nämlich ein Bediensteter Lord Henrys, der Gutsverwalter Ephraim Mackellar, der nicht nur als moralischer und sittlicher Anker der Erzählung fungiert, sondern auch selbst eine nicht unbeträchtliche Entwicklung durchläuft. Diese Erzählerfigur erlaubt es Stevenson, beide Brüder auf ihre jeweils eigene Weise verrückt werden zu lassen: James, indem er zum absoluten Egoisten wird, dem alles zum eigennützigen Kalkül gerät, und Henry, indem er über der jahrzehntelangen Feindschaft zu seinem Bruder langsam aber sicher paranoid wird. Mackellar selbst, der sich immer erneut bemüht, seine Treue und Verbundenheit mit seinem Herrn herauszustellen, wird mit der Zeit nicht nur von James in den Bann geschlagen, er wird an einer Stelle sogar bis zu dem Punkt gebracht, einen Mordversuch an James zu unternehmen, der mit Mackellars sonstigen Selbstverständnis kaum in Einklang zu bringen ist.

Angesichts dieser subtilen Erzählposition ist die von Stevenson später ergänzte, recht konventionelle Herausgeberfiktion, die dem Autor das Manuskript Mackellars hundert Jahre nach der Niederschrift in die Hand spielt, kaum der Rede wert. Der Roman ist ein erzählerisch brillantes Kabinettstück, das einmal mehr unter Beweis stellt, dass Stevenson deutlich mehr war als ein Unterhaltungsschriftsteller.

Robert Louis Stevenson: Der Master von Ballantrae. Eine Wintergeschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Hamburg: mare, 32011. Bedruckter Leinenband in bedrucktem Schuber, Lesebändchen, 352 Seiten. 29,90 €. (Die sehr gute Übersetzung liegt inzwischen auch bei dtv im Taschenbuch vor.)

Émile Zola: Der Zusammenbruch

Wehe dem, der stehenbleibt im fortwährenden Streben der Nationen! Der Sieg gehört denen, die in der Vorhut marschieren, den weisesten, den gesündesten, der stärksten!

zola_rougonDer vorletzte Band der Rougon-Macquart ist, wie schon der Titel anzeigt, dem Ende des Zweiten Kaiserreichs gewidmet, mit dessen Beginn der Zyklus in »Das Glück der Familie Rougon« zugleich einsetzte. »Der Zusammenbruch« knüpft direkt an »Die Erde« an, an dessen Ende Jean Macquart seine gescheiterte bäuerliche Existenz hinter sich ließ und sich angesichts des bevorstehenden Kriegs gegen Preußen wieder zum Militär meldete. Auch das Ende von »Nana«, die unter den Rufen »Nach Berlin! Nach Berlin« das Zeitliche segnete, wird unmittelbar wieder aufgenommen. So liefert »Der Zusammenbruch« die Abrundung der gesellschaftspolitischen und historischen Ebene des Zyklus, während der letzte Band »Doktor Pascal« die soziologisch-biologische Ebene abschließen wird. Dabei ist Jean Macquart aber nur eine von zwei Hauptfiguren des Buches, die den Zusammenhang des Romans mit der Familiengeschichte der Rougon-Macquarts sichert, während als gleichwertige Gegenfigur Maurice Levasseur eingeführt wird. Zola braucht eine zweite Hauptfigur, um in den beiden die Zerissenheit des französischen Volks in der Zeit des Umbruchs von Zweiten Kaiserreichs zur Dritten Republik personifizieren zu können.

Der Roman ist klar in drei Teile gegliedert: Teil 1 schildert die Desorganisation der französischen Truppen im August 1870, die dazu führt, dass im Gegensatz zum geplanten Einmarsch der Franzosen in Deutschland es die alliierten deutschen Truppen sind, die erfolgreich nach Frankreich eindringen. Teil 2 ist vollständig der Schlacht um Sedan in den ersten Tagen des September 1870 gewidmet, und Teil 3 schildert die nachfolgende Gefangenschaft und verlängert die Erzählung bis zum Ende der Pariser Commune. Jean Macquarts dient als Korporal in der französischen Infanterie; Maurice Levasseur ist einer seiner Untergebenen, der zuerst massive Vorurteile gegen den bäuerlichen Jean hegt, ihn dann aber als kompetenten und um seine Soldaten besorgten Vorgesetzten schätzen lernt und spätestens während der gemeinsamen Gefangenschaft nach der Schlacht bei Sedan eine echte Freundschaft zu ihm entwickelt. Die beiden fliehen gemeinsam aus der Gefangenschaft, wobei Jean durch einen Schuss ins Bein verletzt wird. Während Jean in der Pflege der Schwester Maurices zurückbleibt, begibt sich Maurice nach Paris, um die Stadt gegen die Preußen zu verteidigen. Dort schlägt er sich auf die Seite der Pariser Commune, während Jean nach seiner Genesung zu den regierungstreuen Truppen stößt. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Bei der Erstürmung der Barrikaden verletzt sich Jean Maurice tödlich, und mit dem Ende der Commune endet auch Maurices Leben.

Das Buch versucht nach dem offensichtlichen Vorbild von Tolstois »Krieg und Frieden« eine Parallelführung privater Schicksale mit dem Verlauf des Deutsch-Französischen Kriegs. Beides gelingt nicht wirklich zufriedenstellend: Die Schilderung der militärhistorischen Abläufe bleibt für den Nichtfachmann oft verwirrend – dies mögen die Zeitgenossen Zolas noch anders wahrgenommen haben –, und die private Ebene erscheint oft zu konstruiert, um zu überzeugen. Insbesondere die symbolistische Überfrachtung der Freundschaft zwischen Jean und Maurice, der, um die Tragik der Geschehnisse noch zu erhöhen, auch noch eine verhinderte Liebesgeschichte zwischen Jean und Maurices Schwester Henriette hinzugefügt wird, wirkt aufgesetzt und einzig um der sentimentalen Wirkung Willen inszeniert. »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«

Wichtig aber dürfte sein, dass Zola mit der militärischen und politischen Führung des Zweiten Kaiserreichs scharf ins Gericht geht: Während der Kaiser selbst zu einer kränklichen, machtlosen Figur verblasst, erweisen sich die Generäle entweder als selbstsüchtige und -gefällige Stümper oder auch als schlicht unfähig, mit den organisatorischen und militärischen Anforderungen der Lage zurechtzukommen. Für Zola erfüllt sich in der Niederlage gegen die Preußen eine notwendige Entwicklung, die ein korruptes und intrigantes Regime zu seinem natürlichen Ende bringt. Frankreich hatte aus der Sicht Zolas spätestens durch das Zweite Kaiserreich seine Führungsrolle in Europa, die es durch die Revolution von 1789 erworben hatte, verspielt. Der Roman endet daher ganz bewusst mit dem Appell, es gelte jetzt, »ein ganzes Frankreich neu zu erschaffen.«

Der Roman gehört sicherlich aufgrund der ideologischen Belastung seiner Konstruktion zu den schwächeren des Zyklus und zu denen, die rapide gealtert sind. Und er gehört ebenso sicher zu denen, die ein eher national gesinnter Franzose gänzlich anders lesen wird als ein eher philosophisch orientierter Deutscher.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Gustave Flaubert: Salambo

Auf einer Terrasse ein Dromedar, das ein Brunnenrad dreht: so war das gewiß in Karthago.

Reisetagebuch 1858

»Salambo« hat nun seit einiger Zeit auf meinem Nachttisch gelegen und auf die Wiederlektüre gewartet. Im Gegensatz zu den anderen Romanen Flauberts, hatte ich »Salambo« bislang nur ein einziges Mal gelesen (damals in der Übersetzung von Georg Brustgi), und es war von dem Buch nicht mehr als ein vager Eindruck geblieben. Auch diesmal hat mich das Buch nicht wirklich überzeugt, aber dazu später einige Sätze.

Erzählt wird die Geschichte des Söldneraufstandes gegen Karthago nach dem Ende des Ersten Punischen Krieges: Karthago war nicht in der Lage oder willens, die Söldner aus dem Krieg zu bezahlen und sah sich unerwartet in eine weitere ernsthafte kriegerische Auseinandersetzung verwickelt, die seine Position im Mittelmeerraum auf Jahre hinaus deutlich schwächte. Die einzige umfangreiche historische Quelle für den Konflikt ist die Römische Geschichte des Polybios, die auch Flauberts wichtigste Referenz darstellte. Darüber hinaus war zu Flauberts Zeit sehr wenig Konkretes über die Kultur Karthagos bekannt, was man angesichts der Fülle der Details, die der Roman präsentiert, leicht vergessen könnte. Flaubert hat die sehr reiche Welt des Romans allerdings nicht frei erfunden, sondern aus einer umfassenden Lektüre über die antiken mediterranen Kulturen extrapoliert. Hinzuerfunden hat er seine Titelfigur Salambo, eine Tochter des historischen Hamilkar Barkas – dem Vater des weit bekannteren Hannibal –, die für eine obskure Liebesgeschichte benötigt wird, die der ansonsten weitgehend im Militärmilieu situierten Handlung wenigstens den Anschein eines romantischen Interesses geben soll.

Flaubert war sich der Schwächen des Romans, die er hauptsächlich aus seinem Stoff erbt, durchaus bewusst:

Karthago bringt mich noch vor Wut zum Platzen. Ich habe jetzt lauter Zweifel am Ganzen, am allgemeinen Plan; ich glaube, es kommen zuviel Kommißköpfe darin vor. Das ist Geschichte, ich weiß. Aber wenn ein Roman so langweilig ist, wie ein wissenschaftliches Buch, gute Nacht! dann ist es keine Kunst mehr. [An Ernest Feydeau, 15.06.1861]

Auf der anderen Seite war er auf die Wahrhaftigkeit des erfundenen Bildes durchaus stolz, wie seine umfangreiche Verteidigung des Buches gegenüber Saint-Beuve (Brief vom 23./24.12.1862) erkennen lässt. Das Buch war ein weiterer Verkaufserfolg Flauberts, wobei das Interesse Europas im Allgemeinen und Frankreichs im Besonderen an Ägypten und Nordafrika, das nicht zuletzt von Napoleons Expedition nach Ägypten beflügelt worden war, sicherlich eine bedeutende Rolle gespielt haben dürfte.

Doch rettet das den Roman nur in einem historischen Sinne. Für den damaligen und noch mehr für den heutigen Leser ist die Fülle der historischen Details, die die Beschreibungen aufbläht und die Handlung immer wieder für Seiten zum Stillstand bringt, eher hinderlich, da sich bei aller Fülle am Ende doch beinahe nie ein abgerundetes Bild ergibt. Am eindrücklichsten sind die Beschreibungen der Stadt Karthago und des Palastes Hamilkars; die Kriegsgeräte und das Schlachtengetümmel bleiben nahezu notwendig eher undeutlich, wobei sie einen nicht unwesentlichen Teil des Romans ausmachen. Die zeitgenössischen Leser waren sicherlich überrascht über die ausführlich und präzise geschilderten Grausamkeiten sowohl in den Schlachten als auch in den Kulthandlungen; hier bewährt sich einmal mehr Flauberts Verachtung des allgemeinen Publikumsgeschmacks.

Warum einige deutsche Übersetzungen, darunter auch die hier besprochene, den französischen Eigennamen der Heroin Salammbô mit Salambo eindeutschen, hat sich mir bislang nicht entschlossen. Abgesehen davon ist Räbels Neuübersetzung bis auf einige wenige Modernismen gut lesbar und scheint – soweit ich das beurteilen kann – sprachlich auf Höhe des Originals zu sein. Die Ausgabe von Haffmans ist naturgemäß nur noch antiquarisch greifbar; die Übersetzung ist aber derzeit im Taschenbuch bei Fischer lieferbar.

Gustave Flaubert: Salambo. Aus dem Französischen von Petra-Susanne Räbel. Zürich: Haffmans, 1999. Pappband, Leinenrücken, Fadenheftung, Lesebändchen, 413 Seiten.

Lukas Hartmann: Bis ans Ende der Meere

978-3-257-24024-5Historischer Roman, der sich um James Cooks dritte Weltumsegelung dreht, auf der Cook bekanntlich auf Hawaii ums Leben gekommen ist. Der Protagonist des Romans ist der Expeditionsmaler John Webber, dessen Leben uns von der Kindheit bis zum frühen Tod erzählt wird. Die Erzählperspektive wechselt zwischen einem perspektivischen und einem journalartigen Ich-Erzählen, wobei die Entscheidungen, was aus welcher Perspektive erzählt wird, nicht immer ganz einleuchten. Außerdem werden in der Hauptsache zwei Zeitebenen im Wechsel erzählt: zum einen die Jahre der Reise, zum anderen der etwa Zeitraum bis zur Fertigstellung des offiziellen Expeditionsberichtes. Gerahmt wird diese Erzählstruktur durch zwei Besuche Webbers bei der Witwe Cooks; beim ersten Besuch übergibt er ihr ein Portrait des Toten, beim zweiten den soeben fertiggestellten Expeditionsbericht.

Dieser aufwendigen Erzählstruktur entspricht auf der motivischen und sprachlichen Ebene leider eher wenig. Der Roman ist, was die Beschreibung der Seereise angeht, über weite Strecken unoriginell; auch das Figurenensemble bleibt eher blass. Sprachlich ist das Buch gute Mittelware, wenn es auch an einzelnen Stellen an die Grenze zum Kitsch gerät:

3. August 1778. Mein Freund, William Anderson, ist tot. Ich grabe es mit der Feder ins Papier: Er ist tot! Es ist ein lautloser Schrei in mir und zerreißt beinahe meine Brust: Er ist tot! Warum muss das sein? Warum gerade jetzt? Ach, es sind die üblichen Fragen, nachdem man einen schweren Verlust erlitten hat, sie nützen nichts, sie mildern nichts.

Wer historische oder Segler-Romane schätzt, wird wohl auf seine Kosten kommen; wen Cook interessiert, sollte die Zeit besser auf eine Biografie verwenden.

Lukas Hartmann: Bis ans Ende der Meere. detebe 24024. Zürich: Diogenes, 2010. 491 Seiten. 11,90 €.

Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren

978-3-423-20655-6Jaan Kross ist von all den unbekannten estnischen Autoren wahrscheinlich der bekannteste, da etwa ein halbes Dutzend seiner Romane ins Deutsche übersetzt wurden, angefangen bei seinem großen ersten »Das Leben des Balthasar Rüssow«, der bereits 1984, also nur vier Jahre nach Erscheinen des vierten Bandes in Estland, in der DDR erschien. Ich hatte mir danach immer wieder vorgenommen, mehr von Kross zu lesen, bin aber erst in den letzten Wochen dazu gekommen.

Auch bei »Der Verrückte des Zaren« (1978) handelt es sich um einen historischen Roman. Kross erzählt die Geschichte des baltendeutschen Adeligen Timotheus Eberhard von Bock, der zu Anfang des 19. Jahrhunderts unter Zar Alexander I. in der russischen Armee Karriere macht und sich 1816 auf ein Gut in Estland zurückzieht. Er war zuletzt als Oberst Flügeladjutant des Zaren, mit dem ihn eine freundschaftliche Beziehung verbunden zu haben scheint.

Für Kross wird von Bock erst nach diesem Rückzug aus Russland interessant, da er kurz darauf gleich zwei in den Augen der meisten seiner Zeitgenossen unverzeihliche Fehler begeht: Zum einen heiratet er ein estnisches Mädchen (eine doppelte Mesalliance: eine kaum bürgerliche und estnische Braut), zum anderen wendet er sich 1818 mit einer Denkschrift an den Zaren, die eine Beschränkung des Absolutismus und die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland fordert. Von Bock wird daraufhin festgenommen und unter der Voraussetzung, er sei verrückt, in Festungshaft genommen. Erst 1827 wird er in den Hausarrest auf seinen estnischen Gütern entlassen. Dort lebt er, bis er sich im Jahr 1836 wahrscheinlich das Leben nimmt.

Der Roman erzählt dieses Schicksal weitgehend getreu nach. Als Erzähler erfindet Kross einen Schwager von Bocks hinzu, also einen fiktiven Bruder von Kross Frau Eeva. Dieser Erzähler Jakob führt ein fiktives Tagebuch, in dem er einerseits fortlaufend, wenn auch mit immer größeren Lücken, die Ereignisse nach von Bocks Entlassung aus der Haft darstellt, andererseits durch Rückblenden die Vorgeschichte der Ehe und der Denkschrift einholt. Alle diese Aufzeichnungen, die angeblich in ein einziges Heft passen (der Roman umfasst knapp 400 Seiten), muss der Erzähler natürlich geheim halten; am Ende übergibt er sie Timotheus’ Sohn, dem er es überlässt, sie zu bewahren oder zu vernichten.

Mit der Wahl dieses estnischen Erzählers gewinnt Kross einen erheblichen Abstand zur Figur und den Handlungen von Bocks. So wundert sich Jakob zusammen mit dem Leser eine erhebliche Zeit lang, ob von Bock tatsächlich verrückt ist, es vielleicht schon immer war oder auch erst in der Haftzeit geworden ist. Auch teilt Jakob durchaus nicht den Idealismus seines Schwagers, sondern findet die Reaktion des Zaren auf die Denkschrift eher gnädig. Sogar zu seiner Schwester hat Jakob zu Anfang ein eher distanziertes Verhältnis. Diese doppelte Perspektive von Figuren und Erzähler, erlaubt es dem Autor, ein sehr differenziertes Bild der Verhältnisse zu zeichnen, wenn auch schließlich seine Sympathien für von Bock durchschlagen, wenn er den Lesern suggeriert, dessen Tod sei weder Selbstmord noch ein Unfall gewesen, sondern eine Hinrichtung durch einen zaristischen Agenten.

Nicht zuletzt wird der Roman dadurch interessant, dass Kross hier sicherlich eigene Erlebnisse verarbeitet: Sowohl seine Zeit in Sibirien als auch seine Erwägungen, ob er in Estland bleiben solle oder in den Westen gehen, sind anscheinend in den Text eingegangen. Ein ungewöhnlicher Roman, dem man ein paar Seiten mehr geben sollte, damit er seine Wirkung entfalten kann.

Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren. Aus dem Estnischen von Helga Viira. dtv 20655. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 32004. 415 Seiten. 11,90 €.

Walter Scott: Ivanhoe

Der Verlag bezeichnet diese Neuausgabe von Scotts berühmtem Roman dreist als »vollständige Ausgabe«. Tatsächlich handelt es sich um eine wurschtige Kompilation von vier Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert, bei der nicht einmal deutlich gemacht wird, welche Teile welcher der Übersetzungen entstammen. Ziel ist es, die englische Erstausgabe vollständig wiederzugeben; um die späteren Ergänzungen Scotts mag sich der Kompilator Günter Jürgensmeier, der zumindest im VLB als Übersetzer genannt wird, nicht kümmern, da diese Ergänzungen in den von ihm verarbeiteten Vorlagen keine Rolle spielen.

Die alten Übersetzungen wurden ohne Rücksicht auf ihre Qualität dem Buch eingepflanzt und nicht weiter bearbeitet. Da die Übersetzungen des 19. Jahrhunderts sehr frei mit ihren Vorlagen umgegangen sind, kann auch auf der Ebene der präsentierten Texte nicht von Vollständigkeit die Rede sein. Auch lässt das Textverständnis der kompilierten Übersetzer an einigen Stellen so sehr zu wünschen übrig, dass der deutsche Text das blanke Gegenteil dessen sagt, was im Original steht. So heißt es, um nur ein Beispiel anzuführen, im 21. Kapitel bei der Beschreibung des Schlosses von Reginald Front-de-Bœuf:

It was a fortress of no great size, consisting of a donjon, or large and high square tower, surrounded by buildings of inferior height, which were encircled by an inner courtyard.

Daraus wird in der Neuausgabe:

Es war eine Feste von bescheidener Größe und bestand aus einem Bergfried, einem hohen viereckigen Turm, den wieder hohe Gebäude [»Gebäude von niederer Höhe« steht bei Scott] umgaben, die den inneren Hofraum umschlossen [»die von einem inneren Burghof umschlossen waren« steht bei Scott].

Die hier demonstrierte Qualität der Übersetzung ist charakteristisch für das gesamte Buch. Allenthalben wimmelt der Text von willkürlichen Auslassungen, Reformulierungen, Missverständnissen und was der Übersetzer-Späße mehr sind. Diese Neuausgabe ist eine editorische und verlegerische Zumutung, für die niemand auch nur einen Cent ausgeben sollte.

Walter Scott: Ivanhoe. dtv Literatur 13765. München: dtv, 2009. 608 Seiten. 9,90 €.