Lew Tolstoi: Krieg und Frieden

Das ärgerte ihn noch mehr, denn in seiner Seele wusste er, nicht aus Überlegung, sondern durch etwas Stärkeres als Überlegung, dass er zweifellos recht hatte mit seiner Meinung.

Natürlich bietet es sich an, im Jahr 2012, 200 Jahre nach Napoleons Feldzug nach Russland, »Krieg und Frieden« zu lesen. Das Buch stand weit oben auf der imaginären Liste des Wiederzulesenden; die erste Lektüre wird an die 30 Jahre zurückliegen. Damals war es die Übersetzung von Marianne Kegel bei Winkler, diesmal habe ich es natürlich mit der Neuübersetzung von Barbara Conrad bei Hanser versucht. Parallel dazu habe ich etwas mehr als die Hälfte des Textes in der ausgezeichneten Komplett-Lesung von Ulrich Noethen angehört, der eine nicht genauer bezeichnete Bearbeitung der Übersetzung von Hermann Röhl liest, die wohl zuerst 1915 erschienen ist, wenn sie auch in zahlreichen Bibliographien mit der Jahreszahl 1922 oder 1923 verzeichnet ist.

Angesichts der inzwischen zahlreichen Verfilmungen des Stoffs – zuletzt 2007 mit einer durchaus nicht unkomischen Soap-Opera-Ästhetik fürs Fernsehen – ist eine ausführlichere Inhaltsangabe wohl unnötig. Für all jene, die das Buch nie gelesen haben, sollte wohl gesagt werden, dass die Handlung um die vier Adels-Familien Bolkonski, Besuchow, Kuragin und Rostow nur eine von drei Ebenen des Romans bildet; die zweite ist eine durchaus kontroverse Geschichte der Napoleonischen und russischen Feldzüge zwischen 1805 und 1812, die dritte, besonders im dritten und vierten Buch präsente, bildet eine breit angelegte Reihe geschichtsphilosophischer Essays. Der Einfluss, den diese Mischung verschiedener Genres in einem Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20 Jahrhundert hatte, sollte nicht unterschätzt werden.

Die Neuübersetzung dürfte, wenn ich der einzigen Stichprobe trauen darf, die ich vorgenommen habe, die genaueste sein, die es in deutscher Sprache gibt. Sie verzichtet im Gegensatz zu den Vorläufern darauf, Tolstois Text stilistisch zu glätten. Aufgefallen war mir eine Passage, die ich zuerst für einen Lapsus der Übersetzerin hielt; da heißt es zu Anfang des 3. Kapitels im 1. Teil von Buch 4:

Neun Tage nachdem Moskau aufgegeben worden war, kam ein Bote von Kutusow nach Petersburg mit der offiziellen Nachricht, dass Moskau aufgegeben würde. Dieser Bote war der Franzose Michaud, der kein Russisch konnte, doch quoique étranger, Russe de cœur et d’âme war, wie er von sich sagte.

Der Kaiser empfing den Boten sofort in seinem Kabinett im Palais auf Kamenny Ostrow. Michaud, der Moskau vor der Kampagne noch nie gesehen hatte und der kein Russisch konnte, fühlte sich dennoch gerührt, als er vor notre très gracieux souverain (wie er schrieb) mit der Nachricht vom Brand Moskaus erschien, dont les flammes éclairaient sa route.

Die Doppelung der Information, dass Michaud kein Russisch spricht, was sich im Verlauf des Gesprächs mit dem Kaiser auch als gänzlich unnötig erweist, ist stilistisch etwas unglücklich, um das wenigste zu sagen. Da keine der mir erreichbaren Übersetzungen diese Doppelung reproduziert (merkwürdiger Weise aber in einem Fall im ersten und im anderen im zweiten Absatz fort lässt), habe ich einen des Russischen mächtigen Bekannten gebeten, das Original für mich aufzuschlagen (an dieser Stelle mein Dank an Frank Fischer). Und tatsächlich findet sich die von Barbara Conrad übersetzte Doppelung so bei Tolstoi. Ob es sich dabei um einen Fehler oder um die absichtliche Zuspitzung der auch sonst in weiten Teilen des Romans zu beobachtenden Methode, Informationen wiederholt und in ähnlichem Wortlaut mitzuteilen, handelt, kann ich nicht beurteilen. Aber der Fund erhöht mein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der neuen Übersetzung.

Aus dem obigen Zitat lässt sich auch eine weitere Entscheidung der Übersetzerin ablesen, nämlich die nicht russischen – in der Hauptsache französischen – Passagen des Buches in der jeweiligen Sprache im Haupttext zu belassen und nur in Fußnoten ins Deutsche zu übersetzen. Tolstoi markiert mit dem durchaus breiten Gebrauch des Französischen besonders in Gesprächen am Hof und unter dem Hof nahestehenden Adeligen nicht nur einen historischen Zug der russischen Kultur, sondern ist sich zugleich der Ironie bewusst, dass sich die Russen einem Angriff von Seiten genau jener Kulturnation gegenübersehen, die sie in ihrem höfischen Leben zu imitieren suchen. Auch diese Entscheidung der Neuübersetzung hebt sie aus der Reihe der bisherigen deutlich heraus. Hinzukommt, dass es sich wohl um eine der wenigen wirklich vollständigen Übersetzungen ins Deutsche handelt, da die meisten anderen deutschen Ausgaben auf die Übertragung des zweiten, rein essayistischen Teils des Epilogs verzichten.

Trotz alledem und obwohl meine zweite Lektüre sicherlich der ersten an Verständnis weit voraus ist, muss ich am Ende gestehen, dass ich mit Tolstoi nicht warm zu werden verstehe. Ich sehe durchaus die Vorzüge des Buches: Der breit angelegte Stoff, sowohl was die Fabel im engeren Sinne als auch was die historische Darstellung angeht, der lange Atem des Erzählers, die Spannbreite der dargestellten Lebens- und Notlagen zwischen Geburt und Tod, der ambitionierte Versuch zur Begründung einer originären – letztlich aber wohl inkonsistenten und von der eigenen historischen Erzählung konterkarierten – Theorie der Geschichte. Ich bewundere die Kunstfertigkeit, die disparaten gedanklichen und stofflichen Tendenzen des Buches miteinander in ein Gleichgewicht und einen Einklang zu bringen. Ich begreife inzwischen auch wenigstens in Grundzügen den Einfluss, den dieser Roman auf die Entwicklung der Gattung im 19. und 20. Jahrhundert gehabt hat.

Dennoch, und das betrifft nicht nur »Krieg und Frieden«, sondern ist mir mit »Anna Karenina« genauso gegangen, kann ich mich nicht dazu bringen, am Schicksal der Tolstoischen Figuren irgendeinen Anteil zu nehmen. Wer es auch sein mag, Natascha, Sonja, Marja, Andrej oder Pierre, sie bleiben mir gänzlich gleichgültig, und ich nehme ihre Meinungen, ihre Verirrungen, ihre Gedanken und Gefühle achselzuckend zur Kenntnis und denke: Naja, so geht es halt zu unter Menschen. Ich mag auch noch das erzählerische Konzept verstehen, dass diese Adeligen, diese Creme der Gesellschaft, zwar besser gebildet, deshalb aber nicht weniger dämlich ist als der Rest der Menschheit, der sie umgibt, doch eine Empathie mit ihnen erwächst daraus nicht. Im Gegenteil: Je menschlicher sie im Verlauf der Handlung geraten, desto mehr gehen sie mir auf die Nerven.

Als Essayist zeigt Tolstoi zahlreiche Mängel eines sogenannten Selbstdenkers, also eines Menschen, der nur eine unzureichende Ausbildung im abstrakten Denken erhalten hat: Er wiederholt sich aufs Umständlichste, analysiert Gedankengänge anhand konkreter Beispiele, die sich durchaus immer auch anders verstehen lassen, bleibt in seiner Kritik oft negativ, ohne sagen zu können, wodurch denn die von ihm kritisierten Deutungsansätze ersetzt werden sollten, und endet zu oft bei völlig vagen Konzepten wie zum Beispiel dem »Geist des Heeres«.

Vielleicht sollte ich Tolstoi die Lizenz Nietzsches einräumen, dass man von großen Dingen entweder groß reden oder schweigen soll, und entsprechend den Mund halten. Aber unter uns bleibt es dabei: Tolstoi ist zweifellos eine literarhistorische Größe, vielleicht auch ein Gigant, aber nichts von alle dem geht mich etwas an. Bei Gelegenheit werde ich sicherlich auch noch einmal »Anna Karenina« in der neuen Übersetzung bei Hanser in die Hand nehmen, doch viel Hoffnung mache ich mir nicht.

Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Übersetzt von Barbara Conrad. München: Hanser, 2010. 2 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1104 und 1184 Seiten. 58,– €.

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. In der Übersetzung von Hermann Röhl vollständig gelesen von Ulrich Noethen. Berlin: DAV, 2009. 54 CDs (3979 Minuten). 199,– €.

Else Lasker-Schüler: Die kreisende Weltfabrik

kreisende-weltfabrikElse Lasker-Schüler ist in meiner Lektürehistorie eine regelmäßig wieder auftauchende Verbindungsperson zwischen den unterschiedlichsten Bereichen: Die Freundschaften mit Gottfried Benn und Karl Kraus zeichnen sie ebenso aus wie die mit Franz Marc und nicht zuletzt ihr verwandtschaftliches Verhältnis zum Schachweltmeister Emanuel Lasker, dessen Schwägerin sie war. Entgegen all diesen Anknüpfungspunkten bin ich über eine oberflächliche Bekanntschaft mit ihrem Werk bislang nie hinaus gekommen, und das nicht, weil mir das wenige, das ich kenne, missfallen hätte – im Gegenteil. Und dennoch blieb sie immer am Rand des Lesegangs.

Allen, denen es ähnlich geht, aber auch allen, die Lasker-Schülers Schriften kennen und schätzen, sei die CD von Claudia Gahrke empfohlen, die eine schöne und sehr gut gesprochene Auswahl von Gedichten, Erzählendem und Briefen präsentiert und so ein bei aller von der Auswahl erzwungenen Kürze erstaunlich vielfältiges Porträt dieser enthusiastischen und kompromisslosen Dichterin und Malerin zeichnet. Natürlich fehlt der paradigmatische »Tibetteppich« ebenso wenig wie »Mein blaues Klavier«, aber fast noch beeindruckender sind die Beispiele der Liebeslyrik Lasker-Schülers: »Ein Liebeslied« oder die von Franz Marc illustrierte »Versöhnung« sind von erstaunlicher Konzentration und Originalität. Und Texte wie zum Beispiel »Der Kartoffelpuffer« zeigen die Autorin von einer zumindest mir bislang gänzlich unbekannten humoristischen Seite.

Erwähnt werden sollte auch noch, dass die CD dankenswerter Weise dem Klischee entgeht, Lasker-Schüler als jüdische Dichterin zu verkaufen. Nicht, dass ihr Judentum, das ihren Lebensweg tief geprägt hat, ignoriert wird, aber man verzichtet auf die so gern mit Lasker-Schülers Texten kombinierte Klezmer-Musik, die die Schriftstellerin selbst wohl nie besonders geschätzt hat. Stattdessen lockern kurze Musikstücke von Jojo Wolter und Herbert Mischke die Präsentation der Texte auf.

Eine rundherum gelungene und empfehlenswerte Produktion.

Else Lasker-Schüler: Die kreisende Weltfabrik. Claudia Gahrke liest Else Lasker-Schüler. Solingen: Valve-Records, 2011. 1 CD. Laufzeit: 1:16 h. Ca. 12,– €.

Zwei Thomas-Mann-Hörbücher

Nach der großen Anstrengung des Doktor Faustus (1947) schrieb Thomas Mann noch zwei in Ton und Inhalt humoristische und leichte Romane: Der Erwählte (1951) und Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). Letzteres blieb insoweit Fragment, als der veröffentlichte Text nur den ersten Teil der Pseudoautobiografie Krulls darstellt und eher unvermittelt abbricht. Dennoch handelt es sich bei den Bekenntnissen um den deutlich prominenteren Text, was sicherlich auch der sehr rasch erfolgten Verfilmung mit Horst Buchholz in der Hauptrolle geschuldet ist.

Der Erwählte ist eine parodistische Neuerzählung des Gregorius des Hartmann von Aue. Es ist die Geschichte eines aus einem Geschwisterinzest hervorgegangenen Knaben, der als Kleinkind ausgesetzt, auf einer der Kanalinseln aufwächst und dort zum Geistlichen erzogen wird. Trotz dieser Ausbildung drängt es ihn, Ritter zu werden, was er auch durchsetzt, als er nach einem handgreiflichen Vorfall mit einem seiner Ziehbrüder von seiner unseligen Herkunft erfährt und die Insel verlässt. Er kehrt unwissentlich in seine Heimat zurück, befreit die Stadt, in der seine Mutter residiert, von einer Belagerung und heiratet im Anschluss seine Mutter, mit der er zwei Töchter zeugt. Als zufällig die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse zutage kommen, verpflichtet Gregor seine Mutter zur Aufgabe der Regierung und zu wohltätigem Dienst, während er selbst sich im Sünderhemd zu einem Exil auf einer winzigen Felseninsel verbannt, auf der er auf wundersame Weise von der Erde selbst genährt wird. Befreit wird er nach 17 Jahren von zwei römischen Gesandten, die sich nach göttlicher Vision auf die Suche nach ihm gemacht hatten, um ihn als Papst nach Rom zu führen.

Der märchenhafte Grundton dieser Erzählung ist bereits in der Vorlage zu finden und wird von Thomas Mann in ausschmückendem Stil und epischer Breite übernommen. Da schon Hartmann nicht die Absicht verfolgt, die Biografie eines konkreten Papstes zu schreiben, kann sich Thomas Manns Text gänzlich im Reich der Ironie bewegen. Kein Satz, keine Szene ist der Ernsthaftigkeit verpflichtet, alles bewegt sich im Spielerischen. Das Faszinierendste dürfte sein, dass der Text sogar dann parodistisch wirkt, wenn der Leser die Vorlage nicht kennt. Von allen Romanen Thomas Manns ist Der Erwählte vielleicht sein freiester und gelöstester überhaupt.

Bekenntnisse des Hochstapler Felix Krull ist im Gegensatz dazu keine Parodie eines konkretes Textes, sondern gleich eines ganzes Genres: des deutschen Entwicklungsromans. Auch hier hat die Parodie in der Hauptsache humoristische und keine literaturkritische Absicht. Erzähler ist der alte Felix Krull, der die Geschichte seines Lebens aufschreibt: Sohn eines Sektproduzenten aus dem Rheingau, der sich den Folgen eines Bankrotts durch Selbstmord entzieht, sieht er sich gezwungen, eine Stellung als Liftboy in Paris anzutreten. Er ist von auffallender Schönheit, und seine Neigung zu gehobener Sprache und Umgangsformen zeichnen ihn ebenso aus wie eine skrupellose Dreistigkeit bei Diebstahl und Betrug. Seine Karriere als Hochstapler beginnt im eigentlichen Sinne, als er einen luxemburgischen Marquis kennenlernt, der ein Double benötigt, das für ersatzweise für ihn eine von seinen Eltern angeordnete Reise nach Südamerika antritt. Felix reist also nach Lissabon, von wo aus er mit einem Schiff nach Argentinien fahren soll. Unterwegs macht er die Bekanntschaft deutschen Professors Kuckuck, der in Lissabon ein Museum leitet. Natürlich wird er auch in die Villa Kuckuck eingeladen, wo er sich sowohl in die Tochter als auch in die portugiesische Frau des Professors verliebt. Leider bricht der Roman gerade an dem Punkt ab, als Felix sowohl bei der Mutter als auch bei der Tochter zum Ziel gekommen ist. Aus dem Fragment heraus lässt sich leider nur vermuten, ob nicht die wirkliche Hochstapelei Krulls darin besteht, sich diesen fantastischen Lebenslauf zuzuschreiben.

Von beiden Büchern – so wie von zahlreichen anderen Romanen Thomas Manns – gibt es ungekürzte Lesungen Gert Westphals aus einer Zeit, als es das Hörbuch zumeist nur im Radio und nur ausnahmsweise als Audiocassette gab. Heute liegen diese Lesungen selbstverständlich auf CD vor, und es steht zu hoffen, dass auch hier bald MP3-Versionen eine kompakte und preisgünstige Alternative liefern. Westphal hat für meinen Geschmack eine ideale Stimme für die Texte Thomas Manns; er befindet sich stets auf der Höhe der Texte – einzig sein Englisch hat einen störenden Akzent – und macht Manns hier und da zu feisten Manierismus durch seine Sprechkunst durchsichtig  und erträglich. Nachdem ich in den letzten Jahren eher Schwierigkeiten hatte, mich mit Manns Spätwerk noch einmal anzunähern, haben diese beiden Hörbücher mir einen neuen Weg eröffnet, und ich werde es demnächst auch einmal mit der Westphalschen Lesung des Doktor Faustus versuchen.

Thomas Mann: Der Erwählte. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 10 CDs mit zus. etwa 660 Minuten Laufzeit. Ca. 60,– €.

Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Ungek. Lesung von Gert Westphal. Berlin: Universal/Deutsche Grammophon, 2005. 13 CDs mit zus. etwa 990 Minuten Laufzeit. Ca. 75,– €.

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Auch eines der vielen Bücher, die ich nach langer Zeit noch einmal lese. Es ist bislang das einzige Buch Joseph Roths, das ich gelesen habe, und als ich es vor über 25 Jahren zum ersten Mal las, konnte ich mit seiner statischen und in vielen Teilen voraussehbaren Handlung wenig anfangen. Dafür, dass seine Statik zugleich die Statik des zum Ende kommenden österreichischen Kaiserreichs ist, fehlte mir damals der Sinn.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte dreier Generationen der Familie von Trotta. Der erste von Trotta, Sohn einer Bauernfamilie, rettet durch seine Geistesgegenwart dem jungen Kaiser Franz Josef I. in der Schlacht von Solferino das Leben. Er wird geadelt, zum Hauptmann befördert und gründet eine Familie. Aus Verbitterung über eine historisch falsche Darstellung seiner Tat von Solferino in einem Lesebuch seines Sohnes, nimmt er seinen Abschied und verbietet seinem Sohne eine militärische Karriere. Doch sein Enkel wird wieder Offizier, zuerst bei der Kavallerie, dann bei der Infanterie. Dieser Enkel des Helden von Solferino ist ein typischer Spätling: initiativ- und orientierungslos, moralisch naiv und indifferent, sensibel, doch ohne die Möglichkeit, dieser Empfindsamkeit irgendeinen Ausdruck zu geben.

Natürlich kommt es wie es kommen muss: Der Enkel Carl Joseph von Trotta verwickelt sich in Affären, Spiel und Trunksucht, macht Schulden und muss schließlich von seinem Vater aus einer ausweglos erscheinenden Situation gerettet werden, indem der eine kurzfristige Audienz beim Kaiser erzwingt. Doch damit scheint der Kredit der von Trottas verbraucht zu sein. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markiert deutlich den Untergang des Kaiserreiches und zugleich der von Trottas: Carl Joseph fällt, als er sich für seine Männer nutzlos einer tödlichen Situation aussetzt. Mit ihm endet das Geschlecht des Helden von Solferino.

Wie schon angedeutet, ist die Geschichte derer von Trotta zugleich die des Untergang des Kaiserreichs. Nicht umsonst wird der Sohn des Helden von Solferino im Alter seinem Kaiser immer ähnlicher, so dass, als sie sich schließlich gegenüberstehen, wie ein Bruder des Kaisers zu sein scheint. Roths zugleich distanzierte und empathische Darstellung des alten Kaisers und seiner Isolation von der ihn umgebenden Welt gehört sicherlich mit zum besten, was der Roman zu bieten hat.

Bei Diogenes liegt eine vollständige Lesung des Romans durch Michael Heltau vor. Sein leichter österreichischer Akzent bekommt dem Roman sehr gut, allerdings muss man sagen, dass Heltau den Text an einigen Stellen extrem dehnt. Das ist stimmig und passt zu dem Gesamteindruck der Stagnation, die der Roman vermittelt, stellt den Zuhörer aber trotzdem hier und da auf eine Geduldsprobe. Man sollte sich also ein wenig Einhören und nicht zu rasch aufgeben.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. dtv 12477. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1998. 416 Seiten. 9,50 €.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. Gelesen von Michael Heltau. Zürich: Diogenes Verlag, 2007. 7 Audio-CDs. 49,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

T. H. White: Der König auf Camelot

white_camelot Wahrscheinlich haben nur sehr wenige Leser die letzte, große mittelalterliche Bearbeitung des Artus-Stoffes von Thomas Malory zugleich so ernst genommen und so respektlos behandelt wie Terence Hanbury White (1906–1964), der mit seinem vierteiligen Roman Der König auf Camelot (im Original The Once and Future King) eine interessante und witzige moderne Bearbeitung des Stoffkreises geliefert hat. Das Buch hat es im englischen Sprachraum bis in den Kanon der Schullektüre geschafft, ist in Deutschland aber – wahrscheinlich aufgrund des Erscheinungsortes – ein wenig in die Fantasy-Ecke geraten, wo das Buch nicht wirklich hingehört.

Hauptsächlich auf der Grundlage des spätmittelalterlichen Le Morte d’Arthur, aber mit offensichtlicher Kenntnis auch anderer Quellen, schreibt White einen hochmittelalterlichen Artus-Roman, der zugleich die politischen und kriegerischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Im Kern des Romans steht Artus’ Plan, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu erschaffen, in der nicht mehr Gewalt vor Recht geht. Aus diesem Grundthema heraus entwickelt White Artus’ persönliche Tragödie, die er bis vor die letzte Schlacht des alten Königs gegen seinen Sohn Mordred vorantreibt.

Als erste Besonderheit erscheint dabei sicherlich die ausführliche Darstellung von Artus’ Kindheit und Jugend und seiner Erziehung durch den Zauberer Merlin, der bei White rückwärts lebt und auf diese Weise das Wissen um die Zukunft der Menschheit mit in die Ausbildung des zukünftigen Königs einfließen lässt. Merlin sorgt durch vielfache Verwandlungen des jungen Artus in diverse Tiere dafür, dass er die Welt aus zahlreichen Perspektiven zu sehen lernt, was ihn später zu einem zwar nicht besonders klugen, dafür aber um so toleranteren und weiseren Herrscher werden lässt. Erst am Ende des ersten Bandes findet sich die berühmte Szene, in der Artus das Schwert aus dem Stein zieht und damit seinen Anspruch auf den Thron beweist.

Der zweite Band ist der politischen Neuordnung Englands durch Krieg und Unterwerfung gewidmet, im Zentrum des dritten Bandes stehen die Geschichte Lanzelots und die Gründung der Tafelrunde, und im vierten Band schließlich der Zusammenbruch des neu geschaffenen gerechten Staatswesens, das von den alten Kräften gegen sich selbst gewendet wird. Artus’ Vision scheitert letztlich daran, dass der gerechten Staat keine gerechten Bürger hat.

All dies ließe vermuten, dass es sich bei diesem Buch um ein schwerblütiges philosophisches Werk handelt, aber White versteht es, dem Buch durch eine konsequente Vermenschlichung der heldischen Vorkämpfer und grundlegend satirische Darstellung des Rittertums eine überraschende Leichtigkeit zu geben. Es ist Whites alles durchdringender Humor, der dieses Buch zu etwas besonderem macht. Dabei greift sein Erzähler immer wieder direkt auf die Lebenswelt seiner eigenen Zeitgenossen zurück und macht klar, dass dieses Buch über und für die moderne Welt geschrieben ist.

white_camelot_hoerbuchAlternativ zur Lektüre bietet sich eine vollständige Hörbuchfassung von Jochen Malmsheimer an. Die Lesung ist durchgehend gut, einzig in den Dialogen sind Malmsheimers Männer hier und da etwas laut. Besonders aber die älteren Ritter, Merlin und die humoristischen Passagen gestaltet er unvergleichlich. Leider ist die Lesung auf vier CD-Boxen (mit insgesamt 19 Audio-CDs) aufgeteilt, woraus sich ein Gesamtpreis von etwa 100,– € ergibt.

T. H. White: Der König auf Camelot. Vier Bücher in einem Band. Aus dem Englischen von Rudolf Rocholl. Stuttgart: Klett-Cotta, Neuaufl. 2006. Pappband, 635 Seiten. 25,– €.

T. H. White: Der König auf Camelot. Vollständige Lesung in vier Teilen von Jochen Malmsheimer. Gesamtspielzeit gut 24 Stunden. Bochum: Roof Music, 2006. 1. Das Schwert im Stein – 6 Audio-CDs – 26,90 € (UVP). 2. Die Königin von Luft und Dunkelheit – 3 Audio-CDs – 22,90 € (UVP). 3. Der missratene Ritter – 6 Audio-CDs – 26,90 € (UVP). 4. Die Kerze im Wind – 4 Audio-CDs – 24,95 € (UVP).

Vladimir Nabokov: Pnin

nabokov_pnin_lesungNabokovs resignative Einsicht »Bekannt ist Lolita – ich bin es nicht« stimmt mehr oder weniger auch noch heute. Das wundervolle literarische Werk dieses sprachlich außergewöhnlich sensiblen und humorvollen Schriftstellers, der gleich in zwei Sprachen brilliert hat, ist, im Vergleich zum Skandalbuch Lolita, dessen Skandal noch dazu auf einem Missverständnis nicht alltäglichen Ausmaßes beruht, kaum bekannt. Dabei hätte Nabokov durchaus ein so breites Publikum verdient wie etwa John Irving oder Wladimir Kaminer.

Pnin wurde unmittelbar nach Lolita geschrieben (für die Nabokov zu diesem Zeitpunkt noch immer einen Verleger suchte) und erzählt die Geschichte des russischen Emigranten Timofey Pavlovich Pnin, der sich in den USA an einem provinziellen Ostküsten-College als Gelehrter durchschlägt. Pnin versammelt alle Eigenschaften in sich, die einen russischen Emigranten zum Außenseiter stempeln: Er ist im Habitus noch immer sehr europäisch, hat die englische Sprache nur unzureichend gelernt, lebt als eingesponnener Gelehrter noch ganz aus der europäischen Tradition heraus. Aber Pnin ist nicht nur eine komische Figur, er ist auch bei Kollegen am College unbeliebt und wird angefeindet und muss am Ende das College verlassen; seine Zukunft bleibt ungewiss.

Nabokov hat in diesem Roman sowohl seine eigenen Erfahrungen als Emigrant und College-Professor als auch seine Beobachtungen anderer Emiganten verarbeitet. Sein Humor reicht vom Leis-ironischen bis zum Slapstick, die Spannbreite des Tons vom Burlesken bis zum echt Tragischen.

Die Komplettlesung des Textes in der ausgezeichneten Übersetzung Dieter E. Zimmers durch Ulrich Matthes ist ein Fall, in dem die Lesung eine echte Bereicherung der eigenen Lektüre sein kann. Zu Anfang hält man sie vielleicht für ein wenig zu harmlos, aber spätestens wenn Pnin durch Matthes’ Mund zu sprechen anhebt, wird er zu einer runden und lebendigen Figur.

Vladimir Nabokov: Pnin. In der Übersetzung Dieter E. Zimmers vollständig vorgelesen von Ulrich Matthes. Berlin: Der ›Audio‹ Verlag, 2002. 6 Audio-CDs mit ca. 7 Stunden Spielzeit. Ca. 25,– €.

Den großen Wal auf die Ohren!

Herman Melvilles großer Roman »Moby-Dick« (nur echt mit dem Bindestrich!) ist ein ungeheuerliches Buch – aber darüber mehr bei anderer Gelegenheit. Der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen hat die Mühe auf sich genommen, diesen Roman kongenial ins Deutsche zu übertragen. Nun erscheint die komplette Übersetzung auch als mp3-Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

»Moby-Dick« ist ein dickes und oft überwältigendes Werk. Viele Leser werden es bloß aus einer der zahlreichen »Bearbeitungen für die heranwachsende Jugend« kennen, die versuchen, das Buch zu zähmen und auf die Abenteuer-Handlung zu reduzieren. Wenn man sich aber die Mühe macht, einmal nachzusehen, was Melville tatsächlich geschrieben hat, so entdeckt man einen wilden, zerklüfteten Text mit einer rauhen Sprache, die wechselhaft ist wie die See, von der er so viel erzählt.

Den Deutschen ist dieses Buch in seiner ganzen Fülle lange Zeit vorenthalten worden, weil alle älteren Übersetzungen versucht haben, den Text zu glätten und damit leichter lesbar zu machen. Nun sind aber in jüngster Zeit gleich zwei neue Übersetzungen erschienen – wobei das Kuriose darin besteht, dass eine der beiden Übersetzungen sogar die andere zugrunde legt – die beide von sich selbst behaupten, das Buch getreu ins Deutsch zu übertragen. Die grundlegende Übersetzung stammt von Friedhelm Rathjen und ist im Jahr 2004 bei 2001 erschienen. Diese Übersetzung ist der bislang kompromissloseste Versuch, aus Moby Dick einen deutschen Wal zu machen und wird für lange Zeit die deutsche Übersetzung bleiben.

Wem die Lektüre eines Romans von über 800 Seiten zu anstrengend ist oder wer einfach lieber hört als liest, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieses Stück Weltliteratur in einer hervorragenden Einspielung anzuhören: Christian Brückner hat die komplette Rathjensche Übersetzung vorgelesen und 2001 bietet diese Lesung als mp3-Hörbuch auf zwei CDs für 39,90 € an. Umgerechnet auf die ca. 30 Stunden Hörgenuss sind das nur etwas mehr als 2 Cent pro Minute. Das kann sich doch hören lassen, oder?