David Gerrold / Larry Niven: Die fliegenden Zauberer

Purpur stand außerhalb aller menschlichen Erfahrung. Das Unglück war geschehen, weil wir ebenso falsche Vorstellungen über ihn hatten wie er über uns.

Bei der Suche nach einer der nächsten Lektüren bin ich in einer zweiten Reihe auf lang vergessene Science-Fiction-Bücher gestoßen, die ich offensichtlich beim letzten Umzug vor über 20 Jahren nicht entsorgen wollte, die aber auch nicht in den Vorzug kamen, in der ersten Reihe des Regals aufgestellt zu werden. Darunter finden sich auch vier Romane von David Gerrold, der – als ich so etwas noch hatte – einer meiner liebsten Science-Fiction-Autoren gewesen ist. Gerrolds Bücher, oft mit Co-Autoren verfasst, zeichnen sich fast immer durch ungewöhnliche Themen oder zumindest ungewöhnliche Perspektiven auf klassische Themen der Science-Fiction aus; bei dem hier besprochenen „Die fliegenden Zauberer“ kommt hinzu, dass es sich um einen der seltenen humoristischen Romane des Genres handelt.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive eines Bewohners eines wahrscheinlich weit von der Erde entfernten Planeten. Der Planet befindet sich in einem Doppelsternsystem, das wiederum von einer dichten Wolke kosmischen Staubs umgeben ist, so dass die Bewohner des Planeten über ihr Planetensystem hinaus nichts vom Universum wissen. Erzählanlass ist die Landung einer Raumfähre, die einen einzelnen Menschen auf den Planeten bringt, vorgeblich einen Anthropologen, der sich allerdings als das dümmstmögliche Exemplar seiner Zunft erweist. Purpur, wie die Eingeborenen den Menschen aufgrund eines Übersetzungsfehlers von dessen Universalübersetzer nennen (der Witz wird auf den letzten 50 Seiten dann noch erklärt), wird aufgrund seiner technischen Überlegenheit sogleich der Zunft der Zauberer zugeordnet, was ihn dummerweise in direkte Konkurrenz mit dem lokalen Zauberer Shoogar bringt. Dieser sieht sich durch die Tradition zu einem Zauber-Duell genötigt, in dessen Verlauf er die Raumfähre Purpurs zerstört; Purpur verschwindet in der stark beschädigten Fähre Richtung Süden.

Als unangenehmer Nebeneffekt des Duells wird auch das Dorf der Einheimischen und dessen Umgebung weitgehend unbewohnbar, und die Dorfbewohner ziehen ebenfalls nach Süden, vor dem in dieser Jahreszeit stetig steigenden Meer fliehend. Nach langer Zeit treffen sie auf ein Dorf und – was für ein Zufall! – Purpur, der mit seiner abstürzenden Fähre den Dorf-Zauberer getötet und seine Stelle eingenommen hat. Purpur spricht inzwischen die lokale Sprache einigermaßen fließend; sein Hauptproblem besteht darin, dass er sich zu weit südlich befindet, um sein Mutterschiff zur Landung zu veranlassen (offenbar befindet er sich komplett allein auf einer interstellaren Forschungsreise!). Da sich nach Norden hin inzwischen das Meer ausgebreitet hat, kommt er zu der Einsicht, dass er ein Fluggerät bauen muss, um weit genug in den Norden zurückkehren zu können. (Alle diese Voraussetzungen sind etwas dünn, denn die Einheimischen verfügen durchaus schon über Boote; diese entsprechend weiterzuentwickeln, wäre sicherlich einfacher als das, was Purpur nun unternimmt.) Die fortgeschrittenste Maschine, die Purpur vorfindet, ist das Fahrrad. So beginnt er zusammen mit den beiden Fahrradbauern Wilville und Orbur (die Wortspiele sind Absicht!) eine steuerbares, durch Wasserstoff-Ballons in der Luft gehaltenes Luftschiff zu entwickeln, für dessen Herstellung aber die gesamte lokale Kultur industrialisiert werden muss. Dies ist das eigentliche Thema des Romans.

Der genaue Ablauf und die zu überwindenden Schwierigkeiten müssen hier nicht geschildert werden. Der Roman arbeitet nach dem nur zu verbreiteten Muster „was wahrscheinlich passiert, wenn etwas Unwahrscheinliches passiert“, führt sein Thema aber leicht und angenehm durch und ist auch nach über 50 Jahren immer noch eine witzige und intelligente Lektüre für ein Wochenende. Das englische Original ist lieferbar; die deutsche Übersetzung derzeit bloß als eBook bzw. antiquarisch. Für alle, die Gerrold nicht oder nur als Script-Autor des Star-Trek-Univers kennen, auf jeden Fall ein Tipp.

David Gerrold & Larry Niven: Die fliegenden Zauberer. Übersetzt von Yoma Cap. Heyne SF 3489. München: Heyne, 1976. Broschur, 352 Seiten. Derzeit nur als eBook für 7,99 € lieferbar.

Thomas Mann: Der Erwählte

Sehr oft ist das Erzählen nur ein Substitut für Genüsse, die wir selbst oder der Himmel uns versagen.

Im Jahr 1951 erschien nach einer für Thomas Mann recht kurzen Entstehungszeit von nur etwas mehr als drei Jahren sein kürzester und zugleich sein letzter abgeschlossener Roman Der Erwählte. Es handelte sich um eine modernisierte, sanft parodistische Nacherzählung des Gregorius des Hartmann von Aue, den Mann schon in seinem Münchner Studium kennengelernt hatte. Der Stoff hatte in der Fassung der Gesta Ro­ma­no­rum im Doktor Faustus eine kleine Rolle gespielt, was dann eine intensive Beschäftigung mit dem kleinen Epos Hartmanns auslöste. Dabei hatte Mann durchaus Schwierigkeiten, sich das mittelhochdeutsche Original anzueignen, konnte auch in den USA eine vage von ihm erinnerte Übersetzung im Reclam Verlag nicht finden, doch erhielt er Hilfe vom Schweizer Mediävisten Samuel Singer, der ihn schon bei der Arbeit am Doktor Faustus unterstützt hatte und der seine Mitarbeiterin Marga Bauer den Text Hartmanns ins Hochdeutsche übertragen ließ. (Dan­kens­wer­ter­wei­se liefert der Kommentarband dieser Ausgabe die Übersetzung voll­stän­dig mit!) Auf dieser Grundlage entstand ab Anfang 1948 der kleine Roman.

Den Inhalt habe ich schon an anderer Stelle kurz skizziert. Der le­gen­den­haf­te Stoff und die Freiheit, die ein weitgehend unbestimmt und ironisch geschildertes Mittelalter dem Autor ließ, sowie die Engführung der Parodie an der Vorlage haben Thomas Mann eine erzählerische Leichtigkeit erlaubt, wie sie in seinem Werk sonst nur in einigen seiner Erzählungen zu finden ist. Der Roman ist scheinbar mit leichter Hand wie nebenbei erzählt und weist die für Mann typische tonale Einheitlichkeit des Erzählens in einem besonderen Maße auf. Es liegt wahrscheinlich an dem etwas entlegenen Sujet, dass dieses Buch zu den eher unbekannten Thomas Manns gehört.

Die Neuedition innerhalb der Großen Frankfurter Ausgabe bringt im Textteil keine echten Verbesserungen, da die letzten Korrekturfassungen des Romans komplett verloren gegangen sind; es wird deshalb der im März 1951 innerhalb der Stockholmer Werkausgabe erschienene Text nachgedruckt. Dafür glänzt aber auch dieser Teil der aktuellen Werkausgabe mit einem umfangreichen Kommentarband, der neben einem Ein­zel­stel­len­kom­men­tar nicht nur Entstehungsgeschichte und Rezeption minutiös dokumentiert, sondern, wie oben schon angedeutet, unter anderem auch die beide wichtigen Quellentexte reproduziert, die Mann benutzt hat. Für alle Freunde des Romans eine reiche biographische und stoffliche Fundgrube.

Thomas Mann: Der Erwählte. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 11. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021 (erschienen 2022!). Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 302 (Text) + 559 (Kommentar) Seiten. 139,– €. Beide Bände sind auch einzeln lieferbar.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces

You could tell by the way that he talked, though, that he had gone to school a long time. That was probably what was wrong with him.

Ich muss gestehen, dass mich dieses Buch sehr spät erreicht hat. Geschrieben in den 1960er-Jahren, erschienen nach langem Widerstand diverser Verlage erst 1980, erhielt es 1981 den Pulitzer-Preis für Fiction und wurde schon 1982 zum ersten Mal und dann 2011 ein weiteres Mal ins Deutsch übersetzt. Dennoch ist mir das Buch bewusst erst letztes Jahr über den Weg gelaufen. In den USA wird es als wegweisendes Buch der sogenannten Southern literature gelesen und steht auf zahlreichen Must-read-Listen. In Deutschland scheint es mir immer noch ein Geheimtipp zu sein; aber da kann ich mich irren.

Erzählt werden einige Wochen aus dem Leben des Ignatius J. Reilly, eines übergewichtigen 30-Jährigen, der in New Orleans im Haus seiner Mutter Irene wohnt, den Kontakt zur Außenwelt so gut wie möglich meidet und sich in exzessiver Kritik des Kinos und Fernsehprogramms übt. Ignatius hat Mediävistik studiert und auch einige Zeit an der Universität unterrichtet, konnte sich aber nicht ins Hochschulsystem einpassen und wurde entlassen. Seitdem liegt er seiner Mutter auf der Tasche.

Erzählanlass ist ein Autounfall, bei dem Ignatius’ entnervte Mutter versehentlich beim Ausparken in ein Gebäude fährt und einen Balkon beschädigt. Der Hauseigentümer verlangt, dass die Reillys ihm den Schaden, gut 1.000 $, ersetzen, und um eine juristische Auseinandersetzung zu vermeiden, stimmt Irene dieser Forderung auch zu. Da aber völlig unklar ist, wie die beiden das Geld auftreiben sollen, bleibt als einziger Ausweg, dass Ignatius in die von ihm gehasste Welt zieht und sich Arbeit sucht. Er nimmt zuerst eine Stellung im Büro einer Hosen-Fabrik an, wobei er seinen Vorgesetzten über seine wahre Archivierungs-Methode hinwegtäuscht, die schlicht im Wegwerfen der ihm zur Ablage übergebenen Akten besteht, um schließlich unter den Arbeitern der Fabrik eine Art von Aufstand in Szene zu setzen. Nach seiner Entlassung beginnt er als Hotdog-Verkäufer zu arbeiten, dies aber auch nur, weil er dabei als sein bester Kunde nahezu unbegrenzten Zugriff auf die Würsten hat.

Neben dieser scheinbaren Haupthandlung entwickeln sich zahlreiche Nebenhandlungen, die nicht im Einzelnen erzählt zu werden brauchen. Es ist genug zu sagen, dass sich die Konsequenzen der einzelnen Handlungsstränge zu einem immer bedrohlicheren Szenarium für den Protagonisten aufzubauen scheinen, wobei die drohenden Schicksalsschläge Ignatius immer wieder auf wundersame Weise verfehlen.

Ein etwas überdrehter, aber intelligenter und witziger Roman von einer überraschenden Welthaltigkeit. Er steht klar in der Tradition des modernen Schelmenromans und erweist sich trotz seiner anekdotischen Struktur als gut konstruiert. Ein Tipp für ein verregnetes Wochenende.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces. Kindle-Edition. Penguin / Random House, 2016. 338 Seiten (Druck-Ausgabe). 8,99 €.

Stephen Fry: Mythos / Heroes / Troy

It all gets very confusing and is best left to academics and those with time on their hands.

In Deutschland haben wir in nahezu jedem Bücherschrank „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab stehen. Wer es nicht zur Konfirmation bzw. Kommunion geschenkt bekommen hat, erbt es irgendwann oder – in ganz verzweifelten Fällen – kauft es sich, weil man das doch einmal richtig wissen will. Die einen haben noch das fragwürdige Glück, ein „für die heranwachsende Jugend“ bearbeitetes Exemplar zu besitzen, während andere wenigstens versuchen, sich durch den originalen Text aus den 1830er Jahren zu arbeiten.

Schwab schrieb seine Darstellung antiker Mythen für die erwachsene Leserin seiner Zeit, die sich bewusst war, dass sie für die Lektüre der gerade entstehenden klassischen und romantischen Fossilien die griechische Mythologie präsent haben sollte. Schwab sah sich gezwungen, seine Auswahl und Nacherzählung an die Sensibilität seiner Rezipientinnen anzupassen. So wie es im viktorianischen England den für den Familiengebrauch chemisch gereinigten Shakespeare der Geschwister Lamb gab, so folgt Schwab konsequent seinem Programm, nur die „schönsten“ Sagen seinen Leserinnen zu präsentieren. Daraus folgt zuerst einmal, dass die in der Hauptsache aus Verrat, Mord, inzestuösem Sex und Kannibalismus bestehende Theogonie – also die Geschichte von der Entstehung der Welt und der Götter – bei ihm so gut wie gar nicht vorkommt. Auch sonst ist Schwab so dezent wie möglich, und er behandelt seinen Stoff ganz ernsthaft als hohes und notwendiges Bildungsgut. Man kann schon an dieser Beschreibung ablesen, warum ein solches Projekt in Deutschland dauerhaft Erfolg haben musste.

Und so verhindern die universale Verbreitung des Schwab und seine kommerziell attraktive Gemeinfreiheit, dass wir in Deutschland eine elegante und zeitgemäße Nacherzählung der griechischen Mythen der Antike aus der Feder eines großen Stilisten haben. Zum Glück kann eine Übersetzung jetzt diese Lücke füllen!

Stephen Fry ist eine der erstaunlichen Multibegabungen, derer sich das englische Königreich rühmen darf: Zumindest als Schauspieler, Moderator, Regisseur und Schriftsteller hat er schon geglänzt, er ist ein mehr als ordentlicher Musiker, und es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellen würde, dass er heimlich auch als Maler tätig ist. Seit 2017 sind nun drei Bücher von ihm erschienen, in denen er die antiken griechischen Mythen nacherzählt, und er tut dies nicht nur mit souveränem Überblick und beeindruckender Belesenheit, sondern auch mit dem nötigen ironischen Abstand und Witz, um die Stoffe unterhaltsam an die heutigen Leserinnen und Leser zu bringen.

Die bis dato erschienenen Bände umfassen das gesamte für zumindest die drei letzten Jahrhunderte relevante Material (mit Ausnahme der Erzählungen der Odyssee, die wahrscheinlich den nächsten Band füllen werden), angefangen mit der Kosmologie und Theogonie der Griechen und endend mit der Erzählung um den 10 Jahre andauernden Helena-Krieg der Griechen und Trojaner.

Seltsamerweise habe ich nichts gefunden, über das ich mich beschweren könnte (einzig im ersten und dritten Band fehlt jeweils ein In­halts­ver­zeich­nis, was aber durch ein angehängtes Register wett gemacht wird). Fry erzählt die Mythen nicht nur stilistisch elegant und unaufgeregt nach, er lässt es unter den Göttern auch hübsch menscheln, lässt sie die hübschesten Banalitäten austauschen und macht die griechische Antike überhaupt so alltäglich, wie sie wohl einstmals auch gemeint gewesen ist. Das alles ist auch für einen Leser wie mich, der die Stoffe alle mehr oder weniger gut kennt, mit Vergnügen zu lesen und wieder zu lesen. Fry lässt auch die kleineren mythologischen Erzählungen (Hero und Leander, Philemon und Baucis etc.) nicht aus, er weiß überall kurze und sehr präzise Hinweise zur Deutung und Bedeutung der Mythen zu streuen, so dass man bemerkt, was hier noch zu heben wäre, wenn man Zeit und Lust dazu hat, aber dies geschieht immer nur nebenbei und mit leichter und sicherer Hand; und in den Fussnoten blitzt dann und wann Frys umfassende klassische Bildung auf.

Band 1 beginnt mit der Theogonie und umfasst die Mythen der Frühzeit (Erschaffung der Menschen, Kulturstiftung, Verwicklung und -mischung der Götter und Menschen); Band 2 konzentriert sich auf die Erzählung der sogenannte Heldenzeit der Griechen (Perseus, Herakles, Bellerophon, Orpheus, Jason, Atalanta, Ödipus und Theseus) und der 3. Band umfasst, wie schon der Titel sagt, den Sagenkreis um den Trojanischen Krieg herum. Ich warte nun mit Spannung auf die Nacherzählung der Odyssee, die wohl die Reihe beschließen wird.

Die ersten beiden Bände liegen auch schon auf Deutsch vor (bei Aufbau, übersetzt von Matthias Frings); ich habe keinen Zweifel, dass auch der dritte Band bereits in Arbeit ist.

  • Stephen Fry: Mythos. o.O.: Penguin / Random House, 2018. Broschur, 442 Seiten. Etwa 10,– €.
  • Stephen Fry: Heroes. o.O.: Penguin / Random House, 2019. Broschur, 476 Seiten. Etwa 10,– €.
  • Stephen Fry: Troy. o.O.: Penguin / Random House, 2021. Broschur, 414 Seiten. Etwa 10,– €.

Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha

Da er sich an die engen Grenzen des Berichtes halte und auf sie beschränke, wo er doch Geschick, Begabung und Verstand genug besitze, um über das gesamte Weltall zu schreiben, soll man, wie er bittet, seine Mühe nicht verachten, sondern ihn loben nicht für das, was er schreibe, sondern für das, was er nicht geschrieben habe.

Die dritte Übersetzung dieses Weltklassikers, die ich nun gelesen habe. Meine erste Lektüre des Buches liegt in der späten Schulzeit und wurde wahllos mit der Übersetzung von Ludwig Braunfels erledigt, die heute noch unter die meistgedruckten deutschen Texte des Romans gehört. Dann geriet ich stark unter den literarischen Geschmack Arno Schmidts und fühlte mich daher genötigt, das Buch noch einmal aus der Feder Ludwig Tiecks zu lesen. Und nun endlich die erste Übersetzung des 21. Jahrhunderts von Susanne Lange, die wohl dem heutigen Leser den besten Eindruck davon vermittelt, wie das Buch im Spanischen auf den Leser wirkt.

Die Geschichte der Übersetzungen des Don Quijote ins Deutsche beginnt erstaunlicher Weise bereits Mitte des 17. Jahrhunderts: Joachim Caesar übersetzt 1648 die ersten 23 Kapitel des ersten Bandes – grob geschätzt ein Fünftel des gesamten Romans –, worin die Entstehung des Wahns Don Quijotes erzählt wird und einige der berühmtesten Abenteuer, darunter der Kampf mit der Wind­müh­le, seine Erlebnisse in einer Schenke, die er für eine Burg hält, die Sichtung und Verbrennung der Bibliothek Don Quijotes, aber auch eine der ersten romantischen Nebenhandlungen, eine der zahl­rei­chen Liebesgeschichten, mit denen besonders der erste Teil des Buches aufgefüllt wird.

Deutlich umfangreicher gerät dann die Übersetzung durch Friedrich Justin Bertuch (1775–1778), die sich als vollständige Übersetzung ausgibt, aber immer noch einige der eingeschobenen Novellen fortlässt, um das Ausschweifende des Romans einzudämmen. Erst die Übersetzung Ludwig Tiecks (1799/1801) liefert tatsächlich den vollständigen Text im Deutschen und ist allein deswegen bis heute im Druck und auch elektronisch verfügbar. Tiecks Text wird zur Grundlage der romantischen Verehrung des Buches, das, neben dem Tristram Shandy, zum Muster für zahlreiche der anek­do­ti­schen und von Nebenhandlungen regierten Erzählungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird. Der Roman wird so auch in Deutschland zum Klassiker, so dass im 19. Jahrhundert gleich fünf weitere Übersetzungen gedruckt werden (Förster und Müller, 1825; Anonym, 1837; Adalbert von Keller, 1839; Edmund Zoller, 1867; Ludwig Braunfels, 1883). Besonders die von Braunfels bläht den Text des Originals unnötig auf, indem er nicht nur in ein möglichst umständliches Deutsch übertragen wird, sondern auch eine unendliche Zahl von kleinsten Einschüben aufweist, was beides Braunfels wohl für eine Verstärkung des beabsichtigten humoristischen Effekts hält. Für das 20. Jahrhundert sind nur zwei Übersetzungen zu verzeichnen: Die von Konrad Thorer (Insel, 1908), die ausdrücklich eine Bearbeitung der anonymen Übersetzung von 1837 ist, und die von Anton M. Rothbauer (Goverts, 1964; zuletzt noch einmal bei Zweitausendeins um die Jahrhundertwende gedruckt), die zwar behauptet, eine eigenständige Leistung zu sein, der man aber das Skelett der Braunfelsschen Übersetzung in jedem Satz anmerkt. Man darf aber nicht zu streng mit Rothbauer ins Gericht gehen, der immerhin die Mühe auf sich genommen hat, eine deutsche Cervantes-Gesamtausgabe mit über 4.700 Seiten in vier Bänden zu erstellen.

Erst im Jahr 2008 legt Hanser mit der Übersetzung von Susanne Lange einen neuen, modernen und entschlackten Text des Don Quijote auf Deutsch vor. Langes Übersetzung ist – soweit ich das erkennen kann – stilistisch unbeeinflusst von den Vorgängern, bewegt sich nah am Original und versucht nicht, den Roman noch lustiger zu machen, als er es ohnehin schon nicht ist. Auch unterlässt sie jeglichen Versuch, die Reichhaltigkeit des Originals auf irgendeinen vermeintlichen Hauptzug zu konzentrieren. Sicherlich ist es so, dass der Don Quijote eine Parodie auf die grassierenden Ritterromane seiner Zeit darstellt, er ist aber auch zugleich – und damit sich selbst ins Wort fallend – ein Kommentar auf die soziale Wandlung der Welt und besonders Spaniens seit dem Abschluss der Reconquista Anfang 1492: Die meisten Ritterorden sind zusammengebrochen, der Ritterstand selbst spielt keine bedeutende Rolle mehr; in Südamerika hausen Glücksritter und Räuberhauptleute und betreiben das Geschäft der Ausbeutung dieses Kontinents; die Seefahrer sind endgültig zu den Helden der neuen Zeit aufgestiegen, und der umherziehende Ritter eines imaginierten Mittelalters taugt nur noch als Verrückter und Witzfigur in einer Welt, in der es in der Hauptsache um Geld geht, nicht um Ehre, Gerechtigkeit, Schönheit oder Liebe. Zugleich bedient Cervantes seine Leser mit verwickelten Liebes- und Fluchtgeschichten, thematisiert den fortdauernden Krieg gegen die Muslime, an dem er selbst teilgenommen und dem er eine Hand geopfert hat, den Konflikt der Religionen, den die Reconquista hinterlassen hat, und die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten und persönlichen Schicksale. Don Quijote ist eben nicht nur ein Abgesang auf die heile Welt der Romane (und damit zugleich auf das Erzählen trivialer Phantasien), sondern es ist zugleich eine ganz konkrete und durchaus kritische Bestandsaufnahme der neuzeitlichen Welt.

Hinzukommt, besonders im zweiten Teil, die Frage, inwieweit eine objektive Wahrnehmung dieser Welt überhaupt möglich ist. Don Quijote ist nicht nur ein Verrückter, sondern er stellt durch seine Grundannahme, dass alles, was ihm begegnet, von ihm feindlich gesinnten Zauberern in seiner Erscheinung verändert wurde, und man die Welt nur richtig deutet, wenn man diese Verzauberung durchschaut und rückgängig macht, das Muster des forschenden und erkennenden Menschen der Neuzeit schlechthin dar. Wer den tiefsitzenden Ursprung des Zorns im Streit zwischen Na­tur­wis­sen­schaft­lern und Gläubigen, Empirikern und Metaphysikern, Skeptikern und Verschwörungsanhängern begreifen will, lese dieses Buch. Denn es ist durchaus nicht damit getan, Sancho Panza als realistisches Korrektiv des verrückten Don Quijotes zu lesen, sondern es gilt zu begreifen, dass Panza auch den Verrat der Realisten am Ideal einer gerechten und edlen Welt darstellt. Es ist nämlich alles andere als ein Zufall, dass das Schlitzohr Panza in einer langen Passage des Romans als Richter über ein von ihm eingebildetes Inselreich fungiert und dort als weiser Mann durchgeht, weil er gewitzter ist als die gewitzten Betrüger, über die er zu urteilen hat.

Wer diesen Weltroman der Neuzeit lesen will, greife unbedingt zu dieser schlanken und eingängigen Übersetzung; und man sollte Geduld haben und den Roman nicht deshalb unterschätzen, weil er als humorige Schnurre daherkommt; dafür allein ist er erheblich zu lang geraten. Aber besonders der zweite Teil des Buches hat es in sich, denn wir sind noch lange nicht hinweg über das, was dort erzählt wird.

Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Zwei Bände. München: Hanser, 2008. Leinen Fadenheftung, Lesebändchen, 696 + 791 Seiten. 68,– €. Auch als dtv-Taschenbuch 14469.

Heike Olschansky: Täuschende Wörter

Ein sehr nettes kleines Wörterbuch, das man zum Blättern, schmökern und entdecken verwenden kann. Gesammelt wurden Wörter, deren heutige Form durch eine volks­ety­mo­lo­gi­sche Umdeutung Zustande gekommen ist, sowie Wörter, die leicht zu volks­ety­mo­lo­gi­schen Missverständnissen führen. So ist zum Beispiel die „Affenschande“ eigentlich eine „aapen Schann“, also eine offene Schande, oder der „Eisvogel“, der nichts mit dem gefrorenen Wasser zu tun hat, althochdeutsch wegen seines metallisch schillernden Gefieders eigentlich ein „isa(r)nfogal“, also ein eiserner Vogel. Es finden sich aber eben auch Lemmata wie „Falter“ (und auch einer für „Schmetterling“), dessen Name nichts mit dem Falten seiner Flügel zu tun hat, oder „Leghorn“ über eine Art von Hühnern, die nicht besonders gut Eier legt, sondern aus Livorno stammt.

Nach dem gut 160 Seiten umfassenden lexikalischen Teil folgen noch drei Essays, in denen sich dicht an dicht weitere etymologisch interessante Beispiele aneinandergereiht finden (Mundartliches, Namen und Ortsbezeichnungen und fremdsprachige Beispiele). Ein Register am Ende des Bandes erschließt sowohl den lexikalischen als auch den essayistischen Teil.

Mir persönlich hat nur eine Sache gefehlt: Bei den Fisematenten (Olschansky schreibt dudenkonformer „Fisimatenten“) ist nicht die so schön falsche rheinische Erklärung mit aufgeführt, dass die napoleonischen Soldaten die jungen Kölner Mädchen mit einem „Visitez ma tente“ zu einem unziemlichen Stelldichein eingeladen hätten, weshalb diese von ihren Eltern gewarnt wurden, keine Fisematenten zu machen. Aber man kann nicht alles haben.

Heike Olschansky: Täuschende Wörter. Kleines Lexikon der Volks­ety­mo­lo­gien. Ditzingen: Reclam, 1999/2017. Klappenbroschur, 253 Seiten. 9,80 €.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen

Als mein Freund Bornemann einmal gefragt wurde, welcher Vogel den größten poetischen Reiz auf ihn ausübe, antwortete er ohne Zögern: „Die Bratgans.“

Heinrich Seidel (1842–1906) ist ein beinahe ganz vergessener, erfolgreicher Un­ter­hal­tungs­schrift­stel­ler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Leberecht Hühnchen hat es – zumindest in meiner Familie, aber ich glaube wohl auch darüber hinaus – zur Sprich­wört­lich­keit gebracht für das kleinbürgerlich-idyllische Glück im kleinen Winkel. Nun steht eine kleine Seidel-Auswahl („Gesammelte Werke“ in fünf Bänden; es werden ungefähr 2500 Seiten sein) seit vielen Jahren ungelesen in meinem Bücherschrank, und als neulich ein Getwitter auf den Hans Dampf in allen Gassen von Zschokke kam, fiel mir auch gleich mein ungelesenes Hühnchen wieder ein.

Seidel war von Haus aus Ingenieur – er ist der Vater des vielzitierten „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“ – und gehörte auch, neben dem später viel berühmteren Theodor Fontane, zu den Mitgliedern des Tunnels über der Spree. Neben der Dichterei, die er durchaus mit finanziellem Erfolg betrieb, war er ein Vereinsmensch und Hobbygärtner mit Hang zu exotischen Blumen. Stilistisch steht er ganz anspruchslos in den Traditionslinien Jean Pauls, Hoffmanns, Fritz Reuters und wohl auch in denen Kellers und Storms, ohne deren Ernst und Hintergründigkeit je erreichen zu wollen. Er selbst wird sich wohl als Realist begriffen haben, doch steht er eher einer seichten Pseudo-Romantik nahe, die viele Romantiker wahrscheinlich mit einiger Verachtung betrachtet hätten.

Sein Leberecht Hühnchen ist von Beginn an Held einer lockeren Reihe anekdotischer Erzählungen, in denen es immer um Lebensfreude, Menschlichkeit und das Glück der kleinen Existenz geht. Das alles geht ganz leicht von der Hand und ist – bei aller gewollten Naivität; der Name Leberecht ist natürlich alles andere als ein Zufall – niemals in Gefahr, ins Kitschige abzurutschen. Der Ich-Erzähler ist ein Studienfreund Hühnchens, der diesen nach einigen Jahren zufällig in Berlin wiedertrifft. Hühnchen hat inzwischen eine kleine Familie mit seiner leicht behinderten, aber herzensguten Ehefrau, zwei immer entzückende Kinder und den rechten Lebenssinn: sich stets gutgelaunt nie vom Geschick einschüchtern zu lassen. Die Figur war sofort beliebt, und Seidel hat der ersten Erzählung noch zahlreiche, ganz ähnlich gestrickte nachfolgen lassen.

Wie schon gesagt: Das ganze ist die Art von Unterhaltungsliteratur, wie sie zu dieser Zeit die Familienblätter füllte, aber sie ist gut geschrieben und auch heute noch vergnüglich zu lesen, wenn man Maß hält und nicht zu viel auf einmal zu sich nimmt. Das eine oder andere gibt es auch aktuell noch im Druck; eine üppige Auswahl aber findet sich für kleines Geld in An­ti­qua­ria­ten oder eBooks.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen. In: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe in 5 Bänden. Band I. Stuttgart: Cotta u. Berlin: Klemm, o. J. (ca. 1925). Bedruckter Leinenband, Fadenheftung. 266 (von 524) Seiten.

William Goldman: The Princess Bride / Die Brautprinzessin

“Hello,” he said. “My name is Inigo Montoya. You killed my father. Prepare to die.”

Es war die gekürzte Fassung von Zettel’s Traum die mich wieder an dieses nette Buch von William Goldman hat denken lassen. Goldman war einer der gefeierten Drehbuch-Autoren Hollywoods – Butch Cassidy and the Sundance Kid, The Stepford Wives, Marathon Man, All the Presidents Men und und und –, aber auch ein erfolgreicher Romanautor, wobei The Princess Bride erst so richtig Erfolg hatte, nachdem es 1987 verfilmt worden war (14 Jahre nach seiner Veröffentlichung; wobei auch der Film seine Anlaufschwierigkeiten hatte und erst im Video-Verkauf zu dem Klassiker wurde, der er heute – zumindest in den USA – ist). Wer allerdings nur den Film kennt, dem entgeht wenigstens eine wichtige Pointe des Buchs.

Das Buch enthält im Kern eine in einem tief ironischen Grundton verfasste Geschichte von „wahrer Liebe und edlen Abenteuern“, wie der Untertitel sagt, verfasst von dem fiktiven florinesischen Autor S. Morgenstern. Goldman zieht alle Register des Genres von märchenhafter Liebe zwischen der schönsten Frau der Welt, Buttercup, der Tochter einfacher Bauern und dem heldenhaftesten Stallburschen Westley, der sogar den eignen Tod überwindet, um seine Liebe den Klauen des bösen Prinzen Humperdinck zu entreißen. Goldman selbst tritt nur als Herausgeber und Bearbeiter dieses Textes auf, den er selbst, obwohl er sein Initiationserlebnis in Sachen Literatur war, nie gelesen hat. Sein Vater hatte ihm das Buch vorgelesen als Goldman als Kind krank ans Bett gefesselt war und damit überhaupt erst seine Liebe zur Literatur geweckt. Nun feiert Goldmans Sohn Jason seinen zehnten Geburtstag und soll The Princess Bride unbedingt als Geschenk erhalten. Da sich Goldman aber gerade an der Westküste der USA aufhält, kostet es ihn einige Mühe, ein antiquarisches Exemplar des Buches aufzutreiben und rechtzeitig nach Hause liefern zu lassen. Als er einige Tage später heimkehrt, muss er leider feststellen, dass Jason bereits am zweiten Kapitel des geliebten Buches gescheitert ist.

Daraufhin nimmt Goldman das Buch zum ersten Mal selbst in die Hand und stellt fest, dass es ganz und gar nicht seiner Erinnerung entspricht. Zwar ist der Abenteuerroman, den ihm sein Vater vorgelesen hat, durchaus Teil des Textes, doch ist er überlagert vom einem satirischen Roman, der sich kritisch mit Gegenwart und Vergangenheit Florins auseinandersetzt; Goldmans Vater hatte diese Stellen – immerhin etwa 70 % des Originals – beim Vorlesen einfach weggelassen. Aus dieser Einsicht heraus entsteht nun der Gedanke, den Roman auf die “good parts” (die im Deutschen zu den „spannenden Teilen“ werden) zu­sam­men­zu­strei­chen; die unspannenden Teile werden durch resümierende Texte Goldmans eingeholt.

Die deutsche Übersetzung durch Wolfgang Krege ist gut gelungen – wenn mir persönlich Kreges Deutsch auch oft zu lax ist – und trifft den Humor und den Geist des Buches. Sie ist inzwischen sogar ergänzt worden, nachdem Goldman zum 25. Jahrestag des Buches eine erweiterte Ausgabe herausgebracht hat, die zum einen eine zusätzlich Einführung enthält (die in der Hauptsache anekdotisch die lange Entwicklung bis zur Verfilmung nacherzählt) und ein weiteres Kapitel aus Morgensterns angeblicher Fortsetzung des Romans Buttercup’s Baby. Da der Roman ursprünglich ein offenes Ende hatte, reagierte Goldman hier sicherlich auf zahlreiche Proteste seiner Leser darüber, dass er das Buch mit einem Cliffhanger habe enden lassen. Das zusätzliche Kapitel führt das alte offene Ende mit einer ganzen Reihe aussichtsloser Situationen weiter, womit sich der Autor natürlich nur über den potenziell end- und formlosen Charakter des Genres lustig macht.

Alles in allem ein unterhaltsamer, intelligenter und witziger Roman, der sich selbst nicht ernst nimmt und den man gut an einem verregneten Wochenende konsumieren kann. Es ist nicht unbedingt nötig, die erweiterte Fassung zu lesen; auch die ältere deutsche Übersetzung tut es ganz gut. Von einer zweiten Lektüre würde ich jetzt aber abraten: Dafür ist das Buch dann doch nicht gut genug.

The Princess Bride. S. Morgenstern’s Classic Tale of True Love and High Adventure. The “Good Parts” Version abridged by William Goldman. 25th Anniversary Edition. London / New Delhi / New York / Sydney: Bloomsbury, 1998. Kindle-Edition, 2013. 400 Seiten. 5,13 €.

Die Brautprinzessin. S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der „spannenden Teile“. Gekürzt und bearbeitet von William Goldman. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Krege. Stuttgart: Cotta, 1977. Lizenzausgabe: Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 1995. Pappband, 324 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Die Übersetzung der erweiterten Ausgabe ist als Taschenbuch lieferbar.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten / Theaterroman

»Ich bin neu«, schrie ich, »ich bin neu! Ich bin unvermeidlich, ich bin angekommen!«

Die Aufzeichnungen eines Toten, die auch unter dem Titel Theaterroman veröffentlicht wurden, sind Bulgakows letzter, unvollendet gebliebener Roman, der in den Jahren 1929 begonnen und 1936/1937 überarbeitet wurde. Bücher, die das Wort Aufzeichnung im Titel tragen, haben in Russland eine lange Tradition der au­to­bio­gra­phi­schen oder wenigstens nah an wirklichen Ereignissen geführten Erzählung. Bulgakow spielt ganz bewusst mit dieser Einordnung, wenn er dem Roman das Vorwort eines fiktiven Herausgebers voranstellt, das nicht nur vom Freitod des Ich-Erzählers Sergej Leontjewitsch Maksudow berichtet, sondern auch betont, dass dessen Darstellung des Theaters in diesen Aufzeichnung vollkommen unrealistisch sei.

Der Roman ist offensichtlich eine satirisch über­spitz­te Verarbeitung von Bulgakows eigenen Erfahrungen als Theaterautor. Der Ich-Erzähler, der seinen Lebensunterhalt als Redakteur einer Dampf­schiff­fahrts-­Zeit­schrift verdient hat, schreibt aus einem plötzlichen Impuls heraus einen Roman, den er dann vergeblich einem Verleger anzubieten sucht. Er kommt durch seine Suche auch in Kontakt mit anderen Moskauer Schriftstellern, die seinen Roman zwar unterschiedlich bewerten, sich aber darüber einig sind, dass er von der Zensur niemals zum Druck zugelassen werden wird. Eines Tages aber wird Maksudow von einem me­phi­sto­phe­lisch erscheinenden Mann aufgesucht, der ihm anbietet, das erste Drittel des Romans in einer Zeitschrift drucken zu lassen. Entgegen aller Wahr­schein­lich­keit kommt es zu dieser Publikation, die wiederum dazu führt, dass Maksudow von einem Regisseur des „Unabhängigen Theaters“ angeschrieben wird, der den Roman als Theaterstück inszenieren will.

Dies alles ist nur das Vorspiel zur eigentlichen Handlung, die in ihrem ersten Teil die Erstellung des Stückes und zugleich dessen Gang durch die diversen Institutionen des Theaters schildert. Der erste Teil endet damit, dass Maksudow als Theaterautor komplett gescheitert zu sein scheint: Sein naives Verhalten gegenüber einem der beiden Direktoren des Theaters, seine Unkenntnis der Machtverhältnisse im Establishment der Schauspieler und seine voreilige Unterschrift unter einen Vertrag mit dem Theater führen dazu, dass sein Stück weder am Unabhängigen Theater noch sonst irgendwo in Moskau gespielt werden soll.

Der zweite Teil des Romans, von dem leider nur ein und ein halbes Kapitel existieren, beginnt mit der wundersamen Nachricht, dass es einem der Regisseure des Theaters trotz allem gelungen ist, dass Stück wieder auf den Spielplan setzen zu lassen. Es beginnt nun eine Farce von Proben unter dem Direktor, der zuvor das Stück verhindert hatte. Leider bricht der Text mitten in der absurden Zuspitzung dieser methodischen Proben ab, die zwar der Theatertheorie des Direktors entsprechen, mit dem Stück aber nur am Rande etwas zu tun haben.

Der Roman nimmt nach einem etwas verhaltenen Anfang deutlich Fahrt auf und kann – auch in seiner fragmentarischen Form – als eine große Satire nicht nur auf den sowjetischen, sondern auf den Theaterbetrieb schlechthin gelesen werden. Ich bin durch den Hinweis Boris Strugatzkis auf ihn gestoßen, der ihn, neben Der Meister und Margarita, als wichtiges Vorbild für Das lahme Schicksal nennt. Es ist nun wirklich an der Zeit, mehr von Bulgakow zu lesen.

Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten. Theaterroman. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. München: Luchterhand, 2005. Kindle eBook. 193 Seiten (Buchausgabe). 8,99 €.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze

Weihnachten? O! Das wird den schlechtesten Aufsatz geben; denn über etwas so Süßes kann man nur schlecht schreiben.

Anlässlich des Erscheinens dieses kleinen Büchleins möchte ich auf die Berner Ausgabe der Werke Robert Walsers hinweisen, die – in weitgehender Stille – vor zwei Jahren mit zwei Briefbänden und einem zugehörigen Kommentarband begonnen wurde und inzwischen bei acht, zumeist schmalen Bändchen angekommen ist. Insgesamt soll sie einmal 31 Bände umfassen; einen vollständigen Editionsplan habe ich allerdings nicht finden können. Heuer sind zwei Bände dazugekommen, darunter eben auch eine Neuausgabe der ersten Buchs von Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze (Insel, 1904). Der dünne Band ist für alle, die Robert Walser kennenlernen wollen, ein nahezu idealer Einstieg.

Walser hat mit dem Verlag lange um sein erstes Buch ringen müssen, bis Insel sich dazu entschließen konnte, diesem sehr eigenwilligen Autor eine Chance zu geben. (Der Verlag sollte mit seiner Skepsis vorerst recht behalten: Das Buch verkaufte sich miserabel.) Die titelgebenden Aufsätze sind vorgebliche Schulaufsätze – Walser hatte in seiner Schulzeit tatsächlich einen Mitschüler mit dem Namen Fritz Kocher –, gehalten in einer naiven, jungenhaften Weltsicht und einem manieristischen Stil, der wohl zu Recht Abiturientenprosa genannt werden darf. Themen sind die für die Schulzeit vieler Generationen üblichen: Der Mensch, Der Herbst, Die Schule, Der Beruf, Meine Stadt und was dergleichen mehr ist. Überall findet sich Walsers luzides Spiel mit der Rolle des schreibenden Schülers, der die Dinge aus seiner mangelnden Lebenserfahrung heraus notwendig falsch und doch immer ein wenig richtiger sieht, als es der Lehrer Leser erwartet. Es wundert daher nicht, dass der Lehrer offenbar gleich den ersten Aufsatz mit der Anmerkung „Stil erbärmlich“ versehen hat.

Es ist ein stilles, leicht melancholisches und zugleich sehr witziges Buch, das Walser hier geschrieben hat, und es weist schon auf seine späteren, stilistisch schlichten und zugleich schillernden Meisterwerke voraus. Noch einmal: Wer neugierig auf Walser ist, findet hier eine gute Gelegenheit. Zudem bekommt man noch die Illustrationen der Erstausgabe von Roberts Bruder Karl, ein kluges Nachwort und Erläuterungen mitgeliefert. Und wer daran Spaß gefunden hat, kann in derselben Ausgabe auch gleich noch Der Gehülfe lesen.

Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze. Berner Ausgabe. Werke Band 4. Hg. von Dominik Müller und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp, 2020. Broschur, 180 Seiten. 22,– €.