Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«

978-3-15-020240-1Im Jahr 1975 erschien eines der erfolgreichsten Bücher Friedrich Torbergs: »Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten«. Darin finden sich unter anderem zahlreiche Anekdoten um den ebenso berühmten wie erfolglosen Wiener Strafverteidiger Dr. Hugo Sperber, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Darunter auch folgende:

Der wahrscheinlich populärste dieser Aussprüche [Dr. Sperbers], der jahrelang in allerlei Variationen (und schließlich ohne Quellenangabe) kursierte, fiel in der Verhandlung gegen einen von Sperber ex offo verteidigten Einbrecher. Der Mann hatte zwei Einbruchsdiebstähle begangen, den einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke, mit der er sich das Dunkel der Nacht zunutze gemacht hatte.
An dieser Stelle erdröhnte der Gerichtssaal von Dr. Sperbers Zwischenruf:
»Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?«

Das ist nun kein jüdischer Witz, sondern es ist erstens eine Anekdote, und wäre es zweitens ein Witz, so wäre es ein juristischer, für den es unerheblich ist, welcher Herkunft oder religiösen Überzeugung der Verteidiger ist. Das alles hindert Wüst nicht an folgendem:

Einbrecher. Ein Mann steht vor Gericht. Er soll zwei Einbrüche begangen haben, einen tagsüber und den anderen nachts. Der Staatsanwalt wirft ihm deshalb in dem einen Fall besondere Frechheit vor, weil er sogar am hellen Tag eingebrochen sei, und in dem anderen Fall besondere Heimtücke, da er die Tat während der Dunkelheit begangen habe.
Da unterbricht der Verteidiger den Staatsanwalt:
»Herr Staatsanwalt, jetzt frage ich Sie: Wann soll mein Mandant denn eigentlich einbrechen?« [S. 316.]

Ebenso wenig wie so etwas möchte ich Heinrich Heines berühmtes »Dieu me pardonnera. C’est son metier.« anonymisiert und germanisiert als jüdischen Witz wiederfinden (S. 172).

Die Sammlung entgeht auch nicht immer der Gefahr, Witze, die auf der Ausschlachtung antisemitischer Klischees beruhen, für jüdischen Humor auszugeben:

Prozent. David zu seinem Großvater:
»Tate, wie heißt es richtig: drei Perzent oder drei Prozent?«
»Nu, besser sind fünf Prozent!« [S. 232.]

Ganz abgesehen davon, dass Wüst den Witz schlecht erzählt (es sollte heißen: »Tate, was ist besser: drei Perzent oder drei Prozent?« »Nu, besser sind fünf Perzent!«), zweifele ich nicht daran, dass es Juden gibt, die sich diesen Witz erzählen und darüber lachen. Ein jüdischer Witz wird es deshalb noch lange nicht. Ebenso wenig werden lahme politische Witze über die Sowjetunion zu jüdischen Witzen, indem man einen der Akteure Blau, den anderen Grün nennt.

Die Sammlung ist alles in allem mäßig lustig und noch mäßiger gelungen. Wer das Buch von Salcia Landmann noch nicht sein eigen nennt, sollte lieber dazu greifen, die anderen sollten die 10 Euro lieber für etwas besseres ausgeben, zum Beispiel für Torbergs »Die Tante Jolesch«.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«. Jüdische Witze. Reclam Tb. 2040. Stuttgart: Reclam, 2011. Broschur, 340 Seiten. 9,95 €.

Padgett Powell: Roman in Fragen

Sollte ich weggehen? Sie in Frieden lassen? Sollte ich mit meinen Fragen nur mich selbst behelligen?

powell_fragenHandelt es sich bei dieser mehr als 180 Seiten langen Ansammlung unzusammenhängender Fragen tatsächlich um einen Roman? Ist ein Roman nicht ein Werk der erzählenden Literatur? Wäre es nicht besser gewesen, die Übersetzung des Originaltitels »The Interrogative Mood. A Novel?« zu benutzen? Ist ein Konzept, das auf zehn, vielleicht auch auf zwanzig Seiten witzig ist, auf mehr als 180 Seiten nicht nur noch eine Frage der Ausdauer oder eine Manie? Warum mit 180 Seiten aufhören? Sind dem Autor die Fragen ausgegangen, oder hat ein Controller des Verlages das Buch auf die am Markt am besten zu platzierenden Länge zusammengekürzt?

Glauben Autor, Übersetzer und Verlag tatsächlich, dass das witzig ist? Schätzen Sie den Humor von Harry Rowohlt? Glauben Sie nicht auch, dass sich seine Wortspielchen beliebig reproduzieren lassen und seine Gedankenströme eher seichter Natur sind? Ist seine Selbst-Identifikation mit Winnie-the-Pooh nicht vielleicht nur ironisch gemeint?  Könnte es sein, dass gerade Sie deshalb dieses Buch schätzen würden, während ich es nach zwanzig Seiten gähnend langweilig fand? Braucht man tatsächlich irgend wofür ein »kindliches Gemüt«? Und besitzt man eines, wenn man es ständig vor sich her trägt? Sollte man als Leser seine wenige und wertvolle Lesezeit nicht besser auf etwas weniger Beliebiges verwenden?

Heißt der Autor des Buches Padgett Powell? Lautet sein Titel »Roman in Fragen«? Wurde es von Harry Rowohlt aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt? Ist es im Jahr 2012 in Berlin im Berlin Verlag erschienen? Handelt es sich um einen Pappband mit Lesebändchen und 191 Seiten? Kostet es 17,90 €?

(Wurde diese Besprechung für
Literaturwelt
geschrieben?)

Martin Rowson: Tristram Shandy (deutsch)

978-3-86873-370-9Etwas verspäteter Hinweis auf die kongeniale Umsetzung von Laurence Sternes »Tristram Shandy« als Comic, die hier schon nachdrücklich empfohlen wurde und die im letzten Jahr nun auch auf Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung besorgte Michael Walter, der als Übersetzer und Kenner des Romans natürlich eine exzellente Wahl für diese Aufgabe ist. Jedem Sterne-Leser sei der Band dringend ans Herz gelegt.

Martin Rowson: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Nach Laurence Sterne. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Knesebeck, 2011. Leinenrücken, Fadenheftung, Lesebändchen, 176 unpaginierte Seiten. 24,95 €.

Walter Moers: Das Labyrinth der Träumenden Bücher

Hier fängt die Geschichte an.

978-3-8135-0393-7Es ist ein gewagtes Spiel, das Walter Moers mit seinem neuesten Zamonien-Roman treibt: »Das Labyrinth der Träumenden Bücher« setzt die Geschichte aus »Die Stadt der Träumenden Bücher« (2004) fort. Während dort der ich-erzählende Held Hildegunst von Mythenmetz, ein schreibender Lindwurm von der Lindwurmfeste, als junger, unbekannter Autor auf seine erste Aventiure auszieht, so ist er nun, 200 Jahre später, ein arrivierter Bestseller-Lieferant, eingebildet, eitel und dick, der längst des Orms, der zamonischen Quelle aller wahren Inspiration, verlustig gegangen ist. Da reißt ihn ein geheimnisvoller Brief aus seiner selbstzufriedenen Lethargie heraus, und er begibt sich ein weiteres Mal auf die Reise nach Buchhaim, das am Ende des letzten Buches einem verheerenden Feuer zum Opfer gefallen war. Inzwischen wieder aufgebaut, ist es weitgehend zu einer Touristenfalle verkommen, bietet aber auch noch letzte Reste der alten Buchkultur. Hier trifft Hildegunst einige alte Freunde wieder, ja Moers entblödet sich nicht, anlässlich einer Aufführung in einem Puppentheater in aller Breite die Geschehnisse des ersten Romans noch einmal zu erzählen. Als Hildegunst dann endlich wieder an jenem Ort angelangt ist, der, wenigstens dem Titel nach zu urteilen, den Hauptinhalt des Buches liefern sollte, sind die gut 400 Seiten voll fabuliert und das Buch ist aus. In einem kurzen Nachwort vertröstet Moers seine Leser auf den nächsten Band, in dem dann hoffentlich endlich so etwas wie Handlung zu finden sein wird.

Zugeben werden muss, dass das alles nicht ohne Witz gemacht ist: Moers erfindet im Zuge der vollständig anekdotisch bleibenden Fabel in Wort und Bild detailliert die Buchhaimer Kultur, die sich in der Hauptsache um Bücher und Puppentheater dreht. Den Höhepunkt bildet das Unsichtbare Theater, das einzig im Kopf der Zuschauer entsteht und das nichts anderes ist als die Spiegelung dessen, womit Moers am Ende seine Leser allein lässt: Der Held ist angekommen am Ort seiner schlimmsten Ängste, er ist dort allein gelassen und einer ungewissen Zukunft ausgesetzt, alles könnte Inszenierung sein oder auch tödlicher Ernst: Was wird nun geschehen? Die dankbareren unter den Moers-Lesern werden dieses Spiel sicherlich genussvoll mitspielen und nun in Foren und Chats zwei Jahre lang aufgeregt an ihrer jeweils eigenen Fortsetzung spinnen. Weniger dankbare oder auch ältere Leser wie ich werden eher enttäuscht mit den Schultern zucken und sich denken: Was soll schon geschehen? Das was immer geschieht.

Alles in allem ein nettes Buch mit einem etwas enttäuschenden Ende. Noch ist es Walter Moers nicht gelungen, an seinen großen Wurf der »Stadt der Träumenden Bücher« anzuschließen.

Walter Moers: Das Labyrinth der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München: Knaus, 2011. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 430 Seiten. 24,99 €.

Alan Bennett: Miss Fozzard findet ihre Füße

Als er endlich wieder herunterkommt, sagt er: »Sie halten das Haus aber in Ordnung.« »Ich war mal Lehrerin«, sage ich. »Und was haben Sie unterrichtet?«, fragt er. »Kinder«, sage ich. »Haben Sie welche?«, fragt er. »Sieht es hier so aus?«, frage ich.

978-3-8031-1276-7Fortsetzung des Bandes Ein Kräcker unterm Kanapee,die beide im Original des Titel »Talking Heads«, also Redende Köpfe tragen. Auch diesmal handelt es sich um Monologe, hier sieben an der Zahl, darunter auch das erste Stück »Eine Frau ohne Bedeutung«, mit dem Bennett die Form begründet hat. Geschrieben wurden alle Talking Heads für die BBC. Dieses Mal sind die Monologisierenden:

  • eine Antiquitätenhändlerin, die das Geschäft ihres Lebens verpasst,
  • eine Verkäuferin, die mit ihren Füßen einen lukrativen Nebenerwerb findet,
  • ein Kinderschänder,
  • die reinliche Frau eines Serienmörders,
  • die botanisierende Gattin eines Voyeurs,
  • eine an Alzheimer Erkrankte und
  • »Eine Frau ohne Bedeutung«.

Auch in diesem Band sind die Monologe geprägt von stiller Tragik und Selbstvergessenheit der Hauptfiguren und beziehen ihre Kraft aus der unglaublichen Verblendung der Protagonistinnen, von der der Leser zugleich begreift, dass es gerade so in den Köpfen der meisten zugehen muss, damit ihnen ihre Existenz überhaupt erträglich ist.

Alan Bennett: Miss Fozzard findet ihre Füße. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2011. Leinen, Fadenheftung, 138 Seiten. 15,90 €.

Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler

Wie konnte er die Parodie eines Schriftstellers sein und zugleich der Einzige, der aufgrund der Zeit, die er seinem Beruf widmete, und des geschaffenen Werks diese Bezeichnung in Peru verdiente?

978-3-518-42255-7Wahrscheinlich der beste Roman Vargas Llosas (wenn ich auch zu wenig von ihm gelesen habe, um das wirklich beurteilen zu können, aber alles andere fiel deutlich ab), den Suhrkamp dadurch aufwertet, dass man ihn neu hat übersetzen lassen. Wohl um die Neuübersetzung als solche kenntlich zu machen, hat man den Titel variiert: Während die alte Übersetzung nicht sehr glücklich »Tante Julia und der Kunstschreiber« hieß (das Kunstwort Kunstschreiber sollte vielleicht an Kunstreiter erinnern?), ist der Schreibkünstler der Neuübersetzung beinahe noch unglücklicher gewählt, da das Wort zum einen sehr gekünstelt daherkommt und zum anderen eher einen Kalligraphen als einen Schriftsteller bezeichnet. Mit dem im spanischen Original »La tia Julia y el escribidor« verwendeten escribidor haben beide Wörter nur entfernte Verwandtschaft, denn das bedeutet auf Deutsch schlicht Schreiberling, was den unschlagbaren Vorteil hat, dass sich im Titel noch gar nicht entscheidet, welcher der beiden im Text vorkommenden Autoren denn dieser Schreiberling sein soll. Warum das im Deutschen gebräuchliche und passende Wort (von der wundervoll altertümelnden Variante Skribent will ich hier ganz schweigen) in beiden Fällen nicht zur Anwendung gekommen ist, blieb mir bislang unverständlich. (Die englische Übersetzung macht aus dem escribidor übrigens einen scriptwriter, was die lustige Folge hat, dass der Übersetzungsautomat von Google für escribidor als erste Wahl Drehbuchautor vorschlägt. Da sage nochmal einer, Literatur habe keine Folgen.)

Das Buch ist in alternierenden Kapiteln erzählt: In den ungerade bezifferten erzählt der halbautobiographische Ich-Erzähler Mario von seinen Erlebnissen des Jahres 1954. Mario ist 18 Jahre alt und studiert eher aus Pflicht als mit Lust Jura in Lima. Um sich ein wenig nebenbei zu verdienen, arbeitet er außerdem als Nachrichtenredakteur bei einem kleinen Radiosender, indem er Meldungen aus den Zeitungen umarbeitet. Eigentlich will Mario aber Schriftsteller werden, nur hat er bislang mit seinen Bemühungen weder bei seinem literarisch beschlagenen Freund Javier noch bei den lokalen Zeitschriften Glück gehabt. Zu Anfang des Romans treten zwei neue Personen in Marios Leben: Seine angeheiratete Tante Julia, eine 32-jährige, geschiedene Bolivianerin, die ihre Schwester in Lima besucht und auf der Suche nach einem neuem Ehemann ist, und Pedro Camacho, ein 50-jähriger Autor, ebenfalls Bolivianer, der beim Radiosender anfängt, um die täglichen Hörspielserien – vier an der Zahl – zu schreiben, zu produzieren und auch in ihnen mitzuwirken.

Während sich Mario mit seiner Tante Julia, die ihn als halbes Kind behandelt, zuerst nicht gut versteht, lernt er Pedro Camacho sehr bald zu respektieren. Zwar sind die von ihm produzierten Radio-Novellas nicht seine Welt, doch im Gegensatz zu ihm geht Camacho das Schreiben völlig mühelos von der Hand. Mit der Zeit entwickelt sich zwischen Mario und Pedro eine nähere Bekanntschaft, die der einzige soziale Kontakt zu sein scheint, den Camacho überhaupt pflegt. Auch mit seiner Tante versteht sich Mario immer besser: Die beiden gehen miteinander ins Kino, beginnen Händchen zu halten und sich sogar zu küssen, wobei das ganze lange Zeit nur ein Flirt bleibt und erst langsam in eine Verliebtheit übergeht.

In den gerade bezifferten Kapiteln (mit Ausnahme des letzten, das eine Art von Epilog liefert) dagegen wird immer eines der Hörspiele von Pedro Camacho nacherzählt. Camacho ist ein Meister der Seifenoper und wird in kurzer Zeit zum Star des Radiosenders; die Einschaltquoten und damit auch die Werbeeinnahmen vervielfachen sich. Allerdings legt Camacho von Anfang an bestimmte Marotten an den Tag: Vorlieben für gewisse religiöse Kulte, einen Hass auf Argentinier und ähnliches. Doch da er so erfolgreich ist, dass angeblich sogar der Staatspräsident seinen Hörspielen folgt, ist er für lange Zeit unantastbar. Aber die Belastung, vier Serien am Tag produzieren zu müssen, fordert Tribut: Je länger Camacho schreibt, desto mehr verliert er die Kontrolle über seine Geschichten. Zuerst tauchen Figuren  auch in Serien auf, zu denen sie ursprünglich nicht gehörten. Wird in diesem Fall noch an einen künstlerischen Trick geglaubt – man vermutet, Camacho ahme Balzac nach –, so wechseln Figuren bald auch ihre Namen oder haben plötzlich einen anderen Beruf, ebenso verändern sich ihre körperlichen Eigenschaften oder verwandtschaftlichen Beziehungen. Camacho, dem von Anfang an klar ist, dass er die Kontrolle verliert, versucht sich dadurch zu helfen, dass er einen bedeutenden Teil seines Personals sterben lässt, vergisst aber natürlich gleich wieder, wer nun schon tot ist und wer noch lebt.

»Alle sind ertrunken«, präzisierte die ausländische Dame. »Sein Neffe Richard und auch Elianita und ihr Mann, der Rotfuchs Antúnez, dieser Dummkopf, und selbst das Kind ihrer Blutschande, der kleine Rubencito. Sie waren auf dem Schiff, um sie zu verabschieden.«
»Bloß komisch, dass der Leutnant Jaime Concha ertrunken ist, der war schon bei dem Brand von Callao umgekommen, in einer anderen Serie, vor drei Tagen«, fiel die junge Frau wieder ein und lachte sich halb tot; sie hatte aufgehört zu schreiben. »Diese Radioserien sind ein Witz geworden, meinen Sie nicht?« [S. 325]

Während Camacho mit seinen Serien kämpft ist die Liebesgeschichte zwischen Julia und Mario ernsthaft geworden. Da aber nun die Eltern von Mario drohen, der Sache ein Ende zu machen, versuchen die beiden Verliebten durch eine Heirat vollendete Tatsachen zu schaffen. Doch um heiraten zu können, braucht der noch minderjährige Mario entweder die schriftliche Einwilligung seiner Eltern oder er muss einen Bürgermeister finden, der bereit ist, die Trauung auch ohne dieses Dokument vorzunehmen. Nachdem alle Versuche in Lima gescheitert sind, machen sich Julia und Mario zu einer Odyssee durch die Provinz auf, um irgendwo auf dem Dorf heiraten zu können …

Der Roman ist nicht nur äußerst witzig und erfindungsreich, er ist zugleich auch eine intelligente Auseinandersetzung mit der Schriftstellerei: Während der junge Autor Mario verzweifelt mit seinen Texten um Bedeutung kämpft, nur um dann von seinem Freund Javier in Grund und Boden kritisiert zu werden, hat er zugleich das Beispiel eines Schreibers vor Augen, der praktisch alles Material seines Lebens problemlos in triviale Literatur umgießt und auf diese Weise in kurzer Zeit große Mengen Text produziert. Der Witz besteht aber nun gerade darin, dass der Ich-Erzähler Mario mit seiner Geschichte von dem Vielschreiber Pedro und seiner Liebe zu Julia nichts anderes macht als der von ihm als Schreiberling angesehene Camacho. Und die im Buch wiedergegebenen Hörspiele machen mit ihrem Gebrauch und der Verwechslung der Versatzstücke klar, dass alles immer auch anders hätte sein können, dass die fiktive Welt immer nur eine Folge von Entscheidungen ihres Schöpfers ist, die leicht auch ganz anders hätten ausfallen können.

Das Buch ist zweifellos ein Glücksfall der Literatur! Die Neuübersetzung ist gut und flott zu lesen; ob sie tatsächlich besser ist als die alte von Heidrun Adler, ist eine Frage, die jemand mit besseren Spanisch-Kenntnissen entscheiden muss. Ich will’s bis zum Beweis des Gegenteils gern glauben.

Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Pappband, 447 Seiten. 22,90 €.

Tom Rachman: Die Unperfekten

978-3-423-24821-1Netter, ein wenig zu lang geratener sogenannter Roman, der in einzelnen Erzählungen um die Mitglieder Redaktion einer namenlos bleibenden Zeitung kreist. Die Redaktion ist in Rom angesiedelt, wurde aber von einem Amerikaner gegründet und erstellt eine englischsprachige Zeitung für den internationalen Markt. Jedes der elf Kapitel dreht sich um jeweils ein Mitglied der Redaktion oder einen Korrespondent; in einem Kapitel steht sogar eine Leserin der Zeitung im Mittelpunkt. Am Ende der einzelnen Kapitel wird in einer kursiv gesetzten Passage die Geschichte der Zeitung aufgerollt von ihrer Gründung in der 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bis zu ihrer Auflösung im Jahr 2007. Die meisten Figuren sind witzig oder obskur, die meisten Erzählungen humorvoll und leicht zu konsumieren. Gegen Ende wird es ein wenig dünner, wahrscheinlich auch, weil hier der Bericht vom Niedergang der Zeitung dem Autor gewisse erzählerische Zwänge auferlegt.

Wirklich zu bemängeln ist eigentlich nur der deutsche Titel: Das Original heißt »The Imperfektionists«, also Die Imperfektionisten, was zugleich mit der grammatikalischen Zeitstufe des Imperfekts und der Spannung zwischen dem Anspruch auf Perfektionismus und der immerwährenden Unvollkommenheit im Geschäft des Journalismus spielt. Davon ist im deutschen Titel »Die Unperfekten« mit dem neckisch kursiv gesetzten Un nun leider gar nichts übrig geblieben. Aber man kann nicht alles haben.

Tom Rachman: Die Unperfekten. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv 24821. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2010. Broschur, 397 Seiten. 14,90 €.

Daniil Charms: Werke

978-3-86971-025-9Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:

  1. Prosa
  2. Gedichte
  3. Theaterstücke
  4. Autobiografisches, Briefe, Essays

978-3-86971-029-7Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.

978-3-86971-023-5Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.

Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!

Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.

Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.

Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz

978-3-596-18074-5Roman um einen jungen, jüdischen Tausendsassa, der in den Nachkriegsjahren in Montreal eine fieberhafte geschäftliche Tätigkeit entwickelt, um in den Besitz eines Sees zu gelangen, an dem er Hotels und ein Ferienlager errichten möchte. Er gründet zu diesem Zweck eine Filmproduktion, die Hochzeiten und Bar-Mizwa-Feiern dokumentiert. Da Duddy jedoch einen in Hollywood durchgefallenen, avantgardistischen Regisseur anheuert, muss er all seine Überredungskünste aufbringen, um seinen ersten Film als Kunstwerk verkaufen zu können. Nebenbei holt er seinen weggelaufenen Bruder Lennie wieder zurück und rettet dessen Medizinstudium, fährt, wenn das Geld mal wieder knapp wird, zusätzliche Schichten im Taxi seines Vaters, vereinigt seinen totktranken Onkel wieder mit dessen Frau, vermittelt hier und da einige kleinere Geschäfte, wird unfreiwillig als Drogenkurier eingesetzt und erleidet, wie nicht anders zu erwarten, einen ordentlichen Nervenzusammenbruch. Und natürlich kommt auch die Liebe vor:

»Ich kapier’s nicht«, sagte Duddy nachher. »Stell dir mal vor, Kerle heiraten und hängen sich für ihr ganzes Leben an ein einziges Weib, dabei laufen so viele herum.«
»Menschen verlieben sich«, sagte Yvette. »Das kommt vor.«
»Es stürzen auch Flugzeuge ab«, sagte Duddy.

Erzählt wird all dies in einem hohen Tempo und mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Sowohl die Milieuschilderungen als auch die Charaktere sind durchweg überzeugend. Nur das Ende des Romans fällt ein klein wenig ab; hier scheint Richler der entscheidende Einfall gefehlt zu haben.

Erstaunlich ist, dass dieser Roman bereits 1959 erscheinen ist – er war Richlers Durchbruch –, seine Verfilmung 1975 sogar für einen Oscar nominiert war, er aber erst 2007 auf Deutsch erschienen ist. Das scheint dafür, dass Richler als einer der bedeutendsten Autor Kanadas gilt, eine ungewöhnlich lange Zeitspanne zu sein. Wollen wir hoffen, dass Richler auch spät noch die Leser findet, die er verdient.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Fischer 18074. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. 432 Seiten. 9,95 €.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee

978-3-8031-1268-2Sechs Monologe, darunter ein männlicher, die Alan Bennett im Jahr 1987 für die BBC geschrieben hat. Nachdem »Die souveräne Leserin« ein Erfolg in Deutschland geworden ist, werden nun auch die älteren Veröffentlichung Bennetts peu à peu ins Deutsche übersetzt. Die Sprecherinnen der Monologe sind:

  • ein psychotischer Sohn, der mit seiner Mutter in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebt,
  • eine Pfarrersfrau, die die Enge ihrer Ehe nicht erträgt,
  • eine Leserbriefschreiberin,
  • eine Nebendarstellerin,
  • eine Witwe, die langsam, aber sicher Bekanntschaft mit ihrem verstorbenen Ehemann macht und
  • eine alte Dame, die sich endgültig gegen ein Leben im Altersheim entscheidet.

Die Texte lassen hier und da den Humor Bennetts aufblitzen, sind aber insgesamt eher ernst gestimmt. Das folgende Zitat charakterisiert den Ton des Bändchens ganz gut:

Sie sollten aber nicht denken, dass meine Geschichte tragisch ist.
Pause.
Ich bin keine tragische Figur.
Pause.
Der Typ bin ich nicht.
Ausblenden zu schwach hörbarer Musik, vielleicht Johann Strauß.

Bennett begleitet das Bändchen mit einem Nachwort, in dem er sich selbst über einige motivischen Wiederholungen wundert, die ihm beim Lesen aufgefallen sind, und verfolgt einige dieser Motive auf ihre biografischen Quellen zurück. Sehr angenehm, wenn ein Autor seine Texte so lesen kann, als stammten sie von einem anderen.

Abgeschlossen wird das Bändchen mit einem Foto, auf dem Bennett sein Schwein Betty spazieren führt! Eine exzellentes Büchlein für zwischendurch.

Alan Bennett: Ein Kräcker unterm Kanapee. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2010. Leinen, Fadenheftung, 139 Seiten. 15,90 €.