P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit

wodehouse-onkeldynamit Erst jetzt bin ich durch einen Hinweis in de.rec.buecher und einen Auszug in der Süddeutschen Zeitung darauf aufmerksam geworden, dass seit einigen Jahren in der Schweiz eine neue Ausgabe der Bücher von P.G. Wodehouse veranstaltet wird. Das ist sehr zu begrüßen, da die alten Übersetzungen von Fred Schmitz wohl ein Haupthindernis für eine größere Popularität von Wodehouse in Deutschland dargestellt haben: Schmitz’ Übersetzungen waren nur bemüht komisch und – und das ist das Entscheidende – trafen den durchgehend ironischen Ton Wodehouses nicht. Es ist daher wundervoll, dass sich nun mit Thomas Schlachter ein Übersetzer der Sache angenommen hat, dem es mit scheinbar leichter Hand gelingt, den deutschen Texten ein den Originalen adäquates Flair zu geben.

In England ist Wodehouse selbstverständlich ein Klassiker der Unterhaltungsliteratur und in zahllosen Ausgaben und Anthologien erhältlich. In Deutschland hingegen scheint er in der Hauptsache durch die TV-Produktion der Geschichten um »Jeeves & Wooster« einige Bekanntheit erlangt zu haben. Es ist also vielleicht nicht ganz falsch, hier wenigstens einige Worte über den Autor zu verlieren: Wodehouse wurde 1881 im englischen Guilford geboren. Sein Vater war zu dieser Zeit Richter in Hongkong, so dass Wodehouse seine Schulzeit in der Hauptsache in Internaten verbrachte und viel seiner Ferienzeit bei seinen Tanten (die wahrscheinlich die Vorlage für die matronenhaften und tyrannischen Tanten Bertie Woosters geliefert haben dürften). Da sich die Familie ein Studium für ihren Sohn nicht leisten konnte, begann Wodehouse seine berufliche Karriere bei einer Bank, wechselte aber schon nach zwei Jahren ins journalistische Fach und landete schließlich als Drehbuch-Autor in Hollywood. Dort verdiente er eine Zeit lang gutes Geld und ließ sich dann in Frankreich nieder. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weigerte er sich beharrlich, die Lage irgendwie ernst zu nehmen und wurde daher von den Deutschen gefangen gesetzt und ein Jahr lang interniert. Anschließend nötigte man ihn, von Berlin aus über den Rundfunk anti-alliierte Propaganda zu verbreiten, was ihm in England viele Sympathien kostete. Nach dem Krieg lebte Wodehouse in New York und wurde 1955 US- amerikanischer Staatsbürger. Wodehouse starb 1975. Sein umfangreiches Werk enthält einige der markantesten englischen Charaktere, wobei viele seiner Figuren in diversen Erzählungen und Romanen auftauchen. Die zahlreichen Serien und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen, würde hier zu weit führen.

Bei Onkel Dynamit, dem Titelhelden des hier vorgestellten Bandes, handelt es sich um Frederick Altamont Cornwallis Twistleton, den 5. Graf von Ickenham, auch schlicht Onkel Fred, wie ihn sein Neffe Reginald »Pongo« Twistleton nennt. Pongo ist verlobt mit Hermione Bostock und hat sich auf den Weg gemacht, die Eltern seiner Braut in Ashenden Manor aufzusuchen, um sich vorzustellen. Unterwegs macht er Station bei seinem Onkel Fred, der gerade seine Gattin zum Schiff in Richtung Karibik gebracht hat, wo sie einer Hochzeit beiwohnen will. Onkel Fred sieht in der Abwesenheit seiner Gattin die günstige Gelegenheit mit seinem Neffen zusammen einmal wieder richtig auf den Putz zu hauen, wovon der – unverständlicherweise – nichts wissen will. Am nächsten Tag macht er sich auf nach Ashenden Manor, wo er binnen Kurzem nicht nur eines der Prunkstück aus der afrikanischen Sammlung seine Schwiegervaters in spe fallen lässt, sondern auch dessen Lieblingsbüste zerstört. In seiner Verzweiflung, wenigstens diesen zweiten Lapsus verbergen zu können, ersetzt er die Büste durch eine andere, die seine ehemalige Verlobte, Sally Painter, bei seinem Onkel zur Aufbewahrung gegeben hat. Natürlich braucht Sally diese Büste genau in diesem Moment dringend zurück und infolge eines missglückten Austauschversuchs entschließt sich Onkel Fred, sich unter falschem Namen in Ashenden Manor einzuquartieren. In seiner herzlichen, offenen und der Wahrheit nur wenig verpflichteten Art gelingt es Onkel Fred in kürzester Zeit ein allgemeines Chaos herzustellen, in dem er aber nicht, wie zu erwarten wäre, untergeht, sondern das er als fröhlich weiter fabulierendes Genie souverän beherrscht. Selbst die größten Katastrophen bringen ihn nicht aus der Ruhe, und so gerät am Ende alles ganz so, wie er sich das von Anfang an ausgemalt hat. Und zwischendurch bleibt noch Zeit für lehrreiche erzähltechnische Reflexionen wie etwa diese:

Kritische Stimmen werden hier anmerken, es sei ein an den Haaren herbeigezogenes und, rein handwerklich betrachtet, höchst unmotiviertes Zusammentreffen, daß in dieser bewegten Nacht sage und schreibe sechs Bewohner von Ashenden Manor unabhängig voneinander auf die Idee kamen, sich in den Salon zu begeben, um dort der Karaffe habhaft zu werden, die Jane, das Stubenmädchen, am Abend hingestellt hatte; andere werden darin lediglich jene Unausweichlichkeit erkennen, die sich in den großen griechischen Tragödien solcher Beliebtheit erfreute. Wie sagte doch Aischylos einmal zu Euripides: »Es geht nichts über die Unausweichlichkeit«, und Euripides antwortete, genau das habe er sich auch schon oft gedacht.

Wie ein Kurat mit Masern, ein in einen Ententeich gestoßener Polizist, ein verliebter, aber schüchterner Brasilien-Forscher und eine rasante Schriftstellerin mit all dem zusammenhängen, ist in wenigen Worten nicht nachzuerzählen und muss von jedem Leser selbst heraus- gefunden werden. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um eine der amüsantesten und zugleich elegantesten Geschichten handelt, die ich seit Langem gelesen habe.

Neben der bereits gelobten Übersetzung, die Wodehouse wohl zum ersten Mal angemessen auf Deutsch präsentiert, soll die Ausstattung der Bändchen nicht unerwähnt bleiben: Sie kommen mit Fadenheftung daher, haben mit 12,5 × 17 cm ein etwas ungewöhnliches, aber nicht unangenehmes Format, ein wundervoll geblümtes Vorsatzpapier und eine sorgfältige Typographie (wenn man einmal von dem unglücklichen Hurenkind auf S. 114 absieht). Auf den populären Unsinn eines Schutzumschlages wird verzichtet, stattdessen liegt der Waschzettel auf ein kleines Pappkärtchen aufgedruckt bei, das man gleich als Lesezeichen verwenden kann. Alles in allem sind die Bändchen eine Freude und dem Inhalt ganz angemessen. Wollen wir hoffen, dass sie recht viele Leser finden und uns noch zahlreiche weitere Bände Wodehouse beschert werden.

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2001. Pappband, Fadenheftung, 303 Seiten. 19,95 €.

Passig / Scholz: Lexikon des Unwissens

passig-scholz Eine nette, kurzweilige Lektüre, von der man nicht zuviel erwarten sollte. Die Autoren informieren im populären Ton über Fragen und gegenstände, zu denen unsere Wissen bestenfalls lückenhaft ist. Die behandelten Wissensbereiche sind Biologie, Physik (besonders die Astronomie), Mathematik, Geologie, die Wirtschafts- wissenschaften und die Anthropologie. Geschichtliche Ereignisse oder philologische Rätsel (»Indus-Schrift« und »Voynich-Manuskript«) stellen Ausnahmen dar. Andere Bereiche, wie etwa die Philosophie, die beinahe per definitionem komplett aus ungeklärten Fragen besteht, sind ausgelassen worden. Wahrscheinlich kennen sich die Autoren da nicht gut genug aus, um das dortige fundamentale Nichtwissen populär vermitteln zu können.

Wirklich harte Kandidaten (Zeit, Energie, Materie, der Kosmos, die Wahrheit, Gott) wurden ausgelassen. Bedingung zur Aufnahme eines Lemmas scheint gewesen zu sein, dass wissenschaftliche Lösungsansätze oder Theorien zu den Stichwörtern bestehen, die aber unzureichend bleiben. Einige Kandidaten sind durchaus überraschend: »Aal« oder »Klebeband« haben mich ebenso überrascht, wie ich die Lemmata »Geld« oder »Trinkgeld« amüsant fand. Überhaupt muss man betonen, dass das Buch in einem lockeren, angenehmen Ton gehalten ist, der sich und die verhandelten Themen nicht besonders ernst nimmt.

Eine leichte und vergnügliche Lektüre für zwischendurch.

Kathrin Passig / Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antwort gibt. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, 255 Seiten, Lesebändchen. 16,90 €.

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott

Auslander_Gott15 »fiese Storys« – so der treffende Untertitel –, die sich alle um Gott, Religion und das Phänomen des Glaubens drehen. Nicht alle halten das Niveau, aber einige haben wirklich Biss. So etwa »Sensationelle Offenbarungen aus dem verschollenen Buch Stan«, das von einer banalen und schlecht erfundenen Voraussetzung aus (Stan Fisher findet 13 Steintafeln mit der ältesten Fassung des Alten Testaments, das »leider« auf der ersten Tafel explizit als fiktionales Werk bezeichnet wird) zu einem kurzen, beinahe absurden Rundumschlag gegen den Wirtschaftszweig Religion ausholt. Oder auch »Sie sind alle gleich«, in dem Gott als Kunde einer Werbeagentur auftritt, um die Präsentation für eine große Kampagne abzunehmen. Von einer brillanten Mischung aus erkünstelter Naivität und ausgesuchter Bosheit sind die »Holocaust-Tipps für Kids«.

Anderes dagegen gerät eher platt, so die pubertäre Seelenqual in »Heimisch weiß alles« oder die fade Mischung aus Terry Pratchett und »Pulp Fiction« in »Die schützende Hand ganz oben«. Eine nette Lektüre für Atheisten und Agnostiker an einem verregneten Nachmittag, aber man sollte nicht zuviel erwarten.

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott. Fiese Storys. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Berlin Verlag Taschenbuch 459. Berlin, 2007. 157 Seiten. 7,90 €.

Überflüssige Zweitverwertung

herzogImmer, wenn jemand sich mit Hitler und dem Dritten Reich auf humoristische Weise auseinandersetzt, diskutiert das Feuilleton einmal mehr die Frage, ob man über Adolf Hitler lachen dürfe. Einen interessanten Aspekt dieser Frage eröffnen die sogenannten Flüsterwitze des Dritten Reichs, die gern als Teil des alltäglichen Widerstandes gegen das Regime gewertet werden. Von daher wäre eine systematische Sammlung, klug kommentiert und unterfüttert mit Erfahrungsberichten von Zeitgenossen ein verdienstvolles Unternehmen. Um es kurz zu machen: Dies ist Rudolph Herzogs Buch nicht.

Das Buch ist offensichtlich als Parallelprojekt zu einem entsprechenden Film entstanden, in dem der Autor – er ist im Hauptberuf Regisseur und Drehbuchautor – sein Recherche-Material zum Film nochmals verwertet. Präsentiert wird nur eine kleine Auswahl von Witzen, ohne dass der Leser den Eindruck gewinnt, einen vollständigen oder wenigstens systematischen Überblick über das Phänomen zu bekommen. Alle Witze sind in kommentierenden Text eingebettet, der oft oberflächlich und zufällig bleibt. Das allgemeine Niveau mag für die eher flüchtige Präsentationsform eines Films genügen; für das Medium des Buchs fallen die Darstellung und die erreichten Einsichten zu oft zu kurz. Der vom Autor selbst formulierte Anspruch, durch »die Analyse politischer Witze« käme »man ungewöhnlich nah heran an das, was die Menschen des untergegangenen ›Tausendjährigen Reichs‹ wirklich dachten«, wird nur an den wenigsten Stellen eingelöst.

Insgesamt hat das Buch nur den einen Vorteil, die Lücke, die sein Titel vorgibt zu schließen, deutlich zu markieren. Wollen wir hoffen, dass sie in absehbarer Zeit durch eine solide, umfangreiche historische Untersuchung wenigstens annähernd geschlossen wird.

Rudolph Herzog: Heil Hitler, das Schwein ist tot! Lachen unter Hitler – Komik und Humor im Dritten Reich. Eichborn, 2006. Pappband, 267 Seiten. 19,90 €.

Das witzigste Buch der Welt

shandy

Anlässlich der stark beworbenen Neuausgabe der Übersetzung von Michael Walter beim Eichborn Verlag möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, auf eines der witzigsten Bücher der Weltliteratur hinzuweisen: Laurence Sternes »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman«. Es gibt nicht viele Bücher, die man in seinem Leben immer und immer wieder lesen kann, ohne dass sie ihren Reiz und Witz irgendwann einmal verlieren; der »Tristram Shandy« gehört sicherlich dazu.

Denn ungewöhnlich ist das Buch in beinahe jeder Hisicht. Aber langsam! Fangen wir mit dem an, was sich ohne zu große Verwirrung zu stiften, sagen lässt: »Tristram Shandy« ist zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden in London erschienen. Sein Autor, Laurence Sterne (1713–1768), entstammte einer englischen Offiziersfamilie, war in Irland geboren worden, und zu dem Zeitpunkt, als er seinen Roman schrieb, seit 20 Jahren Geistlicher. Die ersten beiden Bände des »Tristram Shandy« machten den Autor über Nacht berühmt und zu einem gefeierten und gesuchten Gast der Londoner Salons. Auch in Paris, das er Ende 1762 auf dem Weg nach Südfrankreich besuchte, wurde er triumphal empfangen und gefeiert. Er war einer der Literaturstars seiner Zeit. Neben dem »Tristram Shandy« existiert noch eine Sammlung von Predigten und im Todesjahr 1768 erschien »A Sentimental Journey through France and Italy« in zwei Bänden. Damit ist Sternes Werk auch schon so gut wie ausgeschöpft.

Der Ich-Erzähler und Held des »Tristram Shandy« ist wahrscheinlich einer der ungewöhnlichsten, sicherlich aber der unordentlichste Erzähler der Weltliteratur. Von jedem Gedanken, jedem Einfall lässt er sich ablenken, immer fällt ihm noch etwas ein, das er noch kurz erzählen muss, bevor er mit seiner Geschichte weiterkommen kann, wobei er in der Abschweifung gleich die nächste Abschweifung beginnt und so weiter und so fort. Den Anfang seiner Lebensgeschichte macht er mit einem Bericht, beinahe schon einer Klage über seine eigene Zeugung:

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie vornahmen, als sie mich zeugten! Hätten sie geziemend erwogen, wieviel von dem abhinge, was sie damals taten – daß es also nicht nur die Erzeugung eines vernünftigen Wesens galt, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und ausgiebige Wärme des Körpers, daß vielleicht des Menschen Geist und seine ganze Gemütsbeschaffenheit, ja sogar – denn was wußten sie vom Gegenteile? – das Wohl und Geschick seines ganzen Hauses durch ihren damals vorherrschenden Seelen- und Körperzustand bestimmt werden konnte; – wenn sie, wie gesagt, das alles getreulich erwogen und überdacht hätten und dementsprechendvorgegangenwären, sowürde ich nach meiner Uberzeugung eine ganz andere Figur in der Welt gemacht haben als die, in welcher mich fortan der Leser dieses Buches erblicken wird.

(Übers. v. Rudolf Kassner)

Und nachdem er im Folgenden die Umstände seiner Zeugung mit einiger Sorgfalt »ab ovo« – um wie Tristram Shandy selbst mit Horaz zu sprechen – dargelegt hat, braucht der Erzähler immerhin bis ins dritte Buch hinein, um überhaupt bis zu seiner Geburt und zugleich Nottaufe vorzudringen. Im Weiteren erfahren wir, warum nach Auffassung der Kirche Kinder nicht mit ihren Müttern verwandt sind, was für eine geheimnisvolle Bewandnis es mit Nasen und Namen hat, wie und – im doppelten Sinne – wo Tristrams Onkel Toby in Flandern bei der Belagerung von Namur verletzt wurde und was diese Verletzung für Folgen zeitigte, wir kommen an der berühmten schwarzen und der noch berühmteren bunten Seite des Buches vorüber – jene ein Symbol der Trauer, diese ein Symbol der Buntscheckigkeit des Buches und des Lebens –, vermissen ein ganz und gar aus dem Buch herausgerissenes Kapitel, werden vom Erzähler zum Kapitelanfang zurückgeschickt, weil wir beim Lesen nicht gut genug aufgepasst haben, und was der Leseabenteuer mehr sind. »Tristram Shandy« ist eine solch übersprudelnde Quelle von Einfällen, Pointen, nichtsnutzigen Verweisen, falschen und richtigen Zitaten, philosophischen Weis- und Dummheiten, dass es eine reine Freude ist. In diesem Buch kann man versinken, die Welt vergesssen und sie wiederfinden. In jeglicher Hinsicht ein Zauberbuch.

Das Buch war im 18. Jahrhundert ein solch grandioser Erfolg, dass es nicht nur rasch in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt wurde, sondern dass es eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden hat: Die Sterneiana sind auch in Deutschland eine wichtige Literaturtradition, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert fortgesetzt hat; aber davon müssen wir ein andermal erzählen.

Die nun bei Eichborn wieder aufgelegte Übersetzung Michael Walters ist die späteste und modernste Übersetzung des Textes. Die erste deutsche Übersetzung stammt von dem bedeutenden Verleger und Übersetzer Johann Christoph Bode und erschien 1774. Später ist das Werk noch des öfteren übersetzt worden; die Eindeutschungen von Seubert (1880) und Kassner (1937) dürften auch heute noch bedeutsame Alternativen darstellen. Dass sich schließlich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer der besten deutschen Übersetzer – Michael Walter – daran gemacht hat, den »Tristram Shandy« neu ins Deutsche zu übertragen, hatte seine erste Ursache in einem Aufsatz Arno Schmidts. Der hatte in »Alas, poor Yorick!« (1963) nicht nur eine der damals noch im Druck befindlichen Überarbeitungen der Bodeschen Übersetzung auf gut irokesisch massakriert, sondern verstärkt auch auf den seiner Meinung nach weitgehend ignorierten sexuellen Grundbass des Buches hingewiesen.

Michael Walter machte es sich nun zur Aufgabe, eine Übersetzung zu liefern, die gerade diesen Basso continuo sexueller Anspielungen und Wortspiele deutschen Lesern sichtbar machen sollte. Dabei ist ihm dieser Klang zum Teil recht deutlich geraten, hier und da sicher auch deutlicher als im Original. Aber wenigstens eines kann der deutsche Leser der Walterschen Übersetzung nur mit Mühe: Ignorieren, dass es sich bei »Tristram Shandy« auch um ein Buch des sexuellen Witzes handelt.

Ohne jede Frage ist die Waltersche Eindeutschung grandios und virtuos geraten. Aber vielleicht ist es doch besser, das Buch zuerst einmal – mehrmals lesen wird man es ohnehin, wenn man es denn einmal mit Genuss gelesen hat – in der Übersetzung von Rudolf Kassner zu lesen (Diogenes Taschenbuch 20950). Auch Kassner hat die sexuelle Ebene des Textes durchaus wahrgenommen und mitübersetzt, ist aber deutlich dezenter als Walter. Und so mag es der einen oder dem anderen eher gelingen, auch auf die anderen Töne zu hören, die bei Walter manchmal drohen im allzureichen Glockenklang unterzugehen. Aber ganz gleich, welchen Zugang man auch wählt, für »Tristram Shandy« gilt der alte Satz Lichtenbergs: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Laurence Sterne: Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys. Aus dem Englischen von Rudolf Kassner. Zürich: Diogenes, 1982. (detebe-Klassiker 20950). Broschiert, 810 Seiten. 14,90 €.

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Ins Deutsche übertr. u. hrsg. v. Michael Walter. Neuausgabe Frankfurt: Eichborn, 2006. 852 Seiten. 39,90 €.

Im Führerbunker brennt noch Licht!

Moers_BonkerOffenbar angeregt durch den Kinofilm »Der Untergang« hat Walter Moers seine eigene Version der letzten Tage Adolf Hitlers entworfen: »Der Bonker« erzählt natürlich nicht, wie es wirklich war, sondern in guter alter Moers-Tradition, wie es nicht hat sein können.

Während die beiden Vorläufer – »Adolf« (1998) und »Adolf. Teil 2« (1999) – ziemlich durchgeknallte Abenteuer des aus der Kanalisation zurückkehrenden ›Ex-Föhrers‹ erzählten, liefert »Der Bonker« nach einem kurzen Vorspiel ein Drama in drei Akten, dessen Handlung in der Hauptsache darin besteht, dass sich am Abend des 30. April 1945 zahlreiche ›Besocher im Föhrer-Bonker‹ einfinden, um Adolf zur Kapitulation zu überreden. Beinahe alle kommen inkognito: Gandhi kommt als Michael Jackson, Hermann Göring als Eva Braun, der Tenno als Tod und zu guter Letzt auch noch Mussolini als Gott verkleidet. Zwischendurch wird Adolf mehrfach von Churchill am Handy gefoppt, der zum Schluss auch noch eine ganz besondere Rolle spielen wird. Aber ich will nicht zuviel verraten.

Highlight des ›Boches‹ ist sicherlich die beigelegte DVD, auf der sich ein Musikclip befindet, in dem der ›Föhrer‹ im ›Bonker‹ ein letztes Lied anstimmt. Allein deswegen lohnt sich schon die Anschaffung. »Der Bonker« ist zurückhaltender als die beiden älteren Bände; der eine oder andere Fan mag enttäuscht sein, dass der Ton der satten Geschmacklosigkeit doch etwas abgemildert wurde. Aber auch so stellt Walter Moers einmal mehr seine Ausnahmestellung unter den deutschsprachigen Autoren unter Beweis: Mir wenigstens will kein anderer lebender deutscher Autor einfallen, der über eine derartige Bandbreite verfügt, wie sie sich zwischen der »Wilden Reise durch die Nacht« und den Zamonien-Romanen einerseits und dem »Kleinen Arschloch« und der »Adolf«-Serie andererseits aufspannt. Für Moers-Fans ein Muss, für Menschen mit einem breit angelegten Humor auf jeden Fall eine Empfehlung.

Walter Moers: Der Bonker. Piper Verlag, 2006. Fadengeheftet; 80 Seiten (unpag.) u. 1 DVD. 14,90 €.

Aber wehe, wenn er losgelassen!

Im September 1905 veröffentlichten die »Annalen der Physik« einen Aufsatz Albert Einsteins, in dem der Zusammenhang zwischen Materie und Energie auf die handliche Formel E = mc² gebracht wird. Damit war die Idee geboren, dass Materie in irgendeiner Weise vollständig in Energie umgewandelt werden könnte und dass dabei gewaltige Mengen von Energie freigesetzt würden.

Noch bevor eine technische Anwendung dieser Idee auch nur absehbar war, erschien 1922 in der Tschechoslowakei ein utopischer Roman von Karel Čapek: »Továrna na absolutno«, auf deutsch »Das Absolutum oder die Gottesfabrik«. Čapek lässt im Jahr 1943 einen Ingenieur das Problem der Materieumwandlung lösen: Er baut eine Maschine, den Karburator, der in einem geregelten Prozess Materie vollständig in Energie überführt. Leider hat dieser Prozess einen unangenehmen und nicht vorhergesehen Nebeneffekt.

Es stellt sich nämlich heraus, dass die Pantheisten mit ihrer Theorie richtig lagen: Die Materie ist aufs Engste mit dem Göttlichem, dem Absoluten verbunden, und der Karburator, der die Materie vollständig verschwinden läßt, setzt das in ihr gebundene Absolutum frei. Freies Absolutum hat nun in der Hauptsache zwei Effekte: Es verwandelt Menschen, die ihm ausgesetzt sind, in religiöse Eiferer, und es setzt den göttlichen Drang zum Erschaffen in eine ungebremste Tätigkeit um. Das Absolutum übernimmt die Maschinen der Fabriken, in denen ein Karburator eingesetzt ist, und produziert ungebremst und in höchster Geschwindigkeit riesige Mengen aller möglichen Güter. Es lässt sich leicht denken, dass dies binnen kurzem zum Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystem führt. Parallel dazu verschenken die vom Absolutum durchtränkten Bankangestellten alles verfügbare Geld an Arme und Bedürftige – in nur wenigen Monaten ist das Chaos perfekt.

Binnen Jahresfrist bricht ein Weltkrieg aus, der bis in den Herbst 1953 andauert und 198 Millionen Todesopfer kostet.

Sehen Sie, das ist Geschichte. Ein jeder von diesen hundert Millionen kämpfender Menschlein hatte vorher seine Kindheit, seine Lieben, seine Pläne; er hatte manchmal Angst, wurde manchmal zum Helden, war aber gewöhnlich zu Tode ermattet und hätte sich gern friedlich auf dem Bette ausgestreckt; und wenn er starb, so tat er’s gewiß nicht gern. Und aus dem allen kann man nur eine Handvoll trockener Begebenheiten herausnehmen: hier und dort eine Schlacht, soundso viel Verletzte, dieses oder jenes Resultat. Und zu alldem hat dieses Resultat gar keine Entscheidung gebracht.

Zum Glück ist es das vornehmste Ziel aller kriegsführenden Parteien, feindliche Karburatoren zu zerstören. Erst als annähernd alle Karburatoren vernichtet sind, erschöpft sich der Krieg. Am Ende treffen sich die letzten 13 Krieger unter einer Birke und beschließen spontan, es nun gut sein zu lassen und heim zu gehen. Mit der Zerstörung des wahrscheinlich letzten kleinen Karburators schließt der Roman.

Das Buch könnte nach der Dürrenmattschen Regel geschrieben sein, jedes Stück habe zu zeigen, was wahrscheinlich geschieht, wenn etwas Unwahrscheinliches geschieht, und müsse dabei die schlimmstmögliche Wendung nehmen. Die Satire Čapeks hat keinen exakten Fokus, sondern spielt auf verschiedenen Ebenen den ebenso einfachen, wie weitreichenden Einfall durch, was geschähe, wenn Gott tatsächlich auf Erden wandeln würde. Dass die moderne Welt und der Mensch schlechthin dabei nicht besonders gut abschneiden, versteht sich beinahe von selbst. Keine besonders überraschende Erkenntnis, aber ein beinah prophetischer kleiner Roman.

Karel Čapek: Das Absolutum oder die Gottesfabrik. Aus d. Tschech. von Anna Auredničková. Berlin: Das Neue Berlin, 1976. 256 Seiten.

Das Buch ist derzeit nicht lieferbar.

Mark Haddon: The Curious Incident of the Dog in the Night-Time

136098253_a6be5e40b6Ein durch und durch freundliches und liebenswertes Buch, dem allerdings passagenweise seine Konzeption als Jugendbuch deutlich anzumerken ist. Erzählt wird das Buch von Christopher Boone, einem leicht autistischen 15-Jährigen, dessen Leben zunehmend aus den Fugen gerät, nachdem er den mit einer Gartenforke getöteten Hund einer Nachbarin entdeckt und sich entschließt, seinem Vorbild Sherlock Holmes folgend aufzuklären, wer für den Tod des Hundes verantwortlich ist. Christopher lebt mit seinem Vater zusammen in dem kleinen englischen Ort Swindon, besucht eine Sonderschule und ist offensichtlich mathematisch und naturwissenschaftlich hochbegabt. Er weiß auch um diese Begabung, und sein Ziel ist es, eine staatliche Mathematik-Prüfung zu bestehen, die ihm später den Zugang zur Universität ermöglichen wird.

Das Besondere am Buch ist, dass die weitgehend entlang von bekannten Klischees erzählte Fabel durch die Sicht Christophers auf die Welt gebrochen wird. Sowohl seine durchgängige Furcht vor Fremden und Fremdem als auch seine Methode, die Welt durch Pläne, Zahlen und Listen »in Ordnung« zu bringen und zu halten, machen den Witz des Buches aus. Das beginnt schon damit, dass die Kapitel nicht wie gewöhnlich mit natürlichen Zahlen, sondern mit Primzahlen durchgezählt werden. Zwischendurch erzählt Christopher auch immer mal wieder eines seiner liebsten mathematische Rätsel oder eine bemerkenswerte naturwissenschaftliche Tatsache. So wird beispielsweise en passant das »Ziegen-Problem« gelöst oder dem Leser das Problem des »Zukunftslichtkegels« veranschaulicht. Cristopher erklärt außerdem sehr genau, wie sich seine Wahrnehmung der Welt von der eines »normalen« Menschen unterscheidet, und warum dieser Unterschied dazu führt, dass er sich in neuen Umgebungen und mit unbekannten Menschen so unsicher fühlt.

Angesichts seiner großen erzählerischen Vorzüge sollte man dem Buch seine etwas triviale Fabel schlicht verzeihen. Ein Buch zum Selbstlesen und Weiterverschenken!

Haddon, Mark: The Curious Incident of the Dog in the Night-Time.
Vintage, 2004. ISBN 1-4000-7783-4
Broschiert – 226 Seiten – ab ca. 5,00 EUR

Deutschsprachige Ausgabe:
Haddon, Mark: Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone
Goldmann. ISBN 3-442-46093-X
Kartoniert – 288 Seiten – 8,95 Eur[D]

John Steinbeck: Tortilla Flat

106060846_41dd06354eEin immer noch ganz wundersames Buch, das wahrscheinlich von den meisten Lesern literarisch unterschätzt wird, weil es sich so angenehm und amüsant liest. Tatsächlich steckt es voller literarischer Bezüge und Parodien: Nicht nur ist es eine subtile Satire auf die europäische Adelsgesellschaft, sondern Steinbeck parallelisiert seinen Gruppe von Tagedieben ganz bewußt mit Artus und seiner Tafelrunde, die im Gegenzug als edle Räuberbande erscheinen. Außerdem steckt natürlich ein gerüttelt Maß an »Don Quixote« im Buch und zugleich auch viel vom »Lazarillo« und seinen Brüdern. Steinbeck erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Autor mit gewichtigen literarischen Wurzeln. Dass er aus diesen Wurzeln eine so eingängige Kunst herauszutreiben versteht, zeichnet ihn umso mehr aus.

Auch dieses Buch ist wie »Von Mäusen und Menschen« noch in der schlechten Übersetzung von Elisabeth Rotten im Handel. Es ist zu hoffen, dass die Reihe der Steinbeck-Neuübersetzungen im Zsolnay Verlag auch diese Ausgabe bald ersetzt.

Steinbeck, John: Tortilla Flat. Deutsch von Elisabeth Rotten.
Roman
dtv. ISBN 3-423-10764-2
Kartoniert – 176 Seiten – 7,50 Eur[D]

Herbert Rosendorfer: Mitteilungen aus dem poetischen Chaos

76398531_552cb612c5Acht kurze Erzählungen, die alle in Rom spielen und – mehr oder weniger – von Rom handeln. Stofflich sind sie von recht unterschiedlichem Gehalt: Von der gesellschaftlichen Anekdote, einer Kriminalerzählung mit kindlichem Detektiv, über zum absurden tendierenden Reflektionen zu Glanz und Elend der vatikanischen Welt und touristische Satirestücke bis hin zu einem Entwurf zu einem Lenbach-Roman, dessen fiktiven Autor der Erzähler bei einer Vernissage kennenlernt und dem Leben und Roman ebenso aus den Fugen geraten wie seinem noch fiktiveren Romanhelden Franz von Lenbach, spannt sich der Bogen. Zusammengehalten wird er durch einen Erzähler, dessen Liebe zu Rom sich in jedem Stück aufs Neue widerspiegelt und mit dem man selbst gern einmal das Frühstück im Caffè Greco einehmen würde.

Die Sammlung zeigt einmal mehr die routinierte Erzählweise Rosendorfers, der offenbar auch den zwischenzeitlichen Ruhm der »Briefe in die chinesische Vergangenheit« gut überstanden hat und weiterhin mit schöner Regelmäßigkeit seine Bücher produziert, um von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend ignoriert zu werden. Sein »Kirchenführer Rom« ist derzeit allerdings schon in der dritten Auflage, was zumindest eine gewisse Popularität beweist, wenn man ihm auch bislang nicht die fragwürdige Ehre Gesammelter Werke hat angedeihen lassen – zum Ausgleich dafür wird er aber wahrscheinlich tatsächlich gelesen –, und vielleicht schreibt er ja, wenn er mit seiner »Deutschen Geschichte« fertig ist, eine Fortsetzung des Gregorovius, etwa vom Barock bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Zuzutrauen wäre es diesem erstaunlichen Stilisten allemal.

Die hier angezeigte Taschenbuchausgabe von 1993 (bibliographischer Nachweis) scheint nicht mehr lieferbar zu sein. Dafür ist es aber immer noch die zwei Jahre ältere Originalausgabe:

Rosendorfer, Herbert: Mitteilungen aus dem poetischen Chaos. Römische Geschichten
Kiepenheuer & Witsch, 1991. ISBN 3-462-02098-6
Gebunden – 156 Seiten – 14,90 Eur[D]