Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste

Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle!

Cover

„Unruhige Gäste“ ist ein später, kurzer Roman Wilhelm Raabes und wurde 1885 im populären Familienblatt „Die Gartenlaube“ in zwölf Folgen veröffentlicht; im Jahr darauf erschien die Buchausgabe bei Grote in Berlin. Mit der Fortsetzungsausgabe erreichte der „Roman aus dem Säkulum“ – so die vom Autor gewählte Genrebezeichnung – ein für Raabe vergleichsweise breites Publikum, das den Roman anfänglich zumeist positiv aufnahm, mit dem Ende aber nicht recht zufrieden war; ich werde noch darauf zurückkommen.

Die Handlung spielt in den 1880er Jahren in einem Minendorf im Harz und einem im Tal darunter gelegenen Kurort, für den offenbar Bad Harzburg das Vorbild war. Über den Charakter des Städtchens als Badeort macht sich Raabe, der Bad Harzburg aus eigenem Erleben kannte, ein wenig lustig:

Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen.

S. 90

Zu dieser guten Gesellschaft gehört auch eine Gruppe um Professor Freiherr Veit von Bielow, der das Bad offenbar mit seiner Verlobten in spe Valerie, deren Vater und einer Gruppe von jungen Leuten besucht. Beim Ausflug in das in den Bergen gelegene Dorf macht er einen Abstecher ins Pfarrhaus, um dort seinen ehemaligen Kommilitonen, den in Gott verbitterten Pastor Prudens Hahnemeyer aufzusuchen, den er seit der Studienzeit nicht mehr gesehen hat. Hahnemeyer lebt zusammen mit seiner Schwester Phöbe, einer 20-jährigen Lehrerin und Krankenpflegerin, die sich in der Gemeinde und im Pfarrhaus nützlich macht. Den eigentlichen Erzählanlass bildet der Tod von Anna Fuchs, die gerade an dem Tag stirbt, als von Bielow im Dorf eintrifft. Anna Fuchs war am Typhus erkrankt und wurde zusammen mit ihrem im Dorf ohnehin nur mäßig beliebten Mann Volkmar und ihren beiden Kindern zu einer ärmlichen Existenz in einer notdürftigen Hütte am Dorfrand gezwungen. Nun will man die Tote möglichst rasch unter die Erde bringen, doch Volkmar in seiner Trauer und seinem Zorn auf die Gemeinde verweigert die Herausgabe der Toten, die er lieber im Wald verscharren will, als es zuzulassen, dass sie zusammen mit jenen, die sie verachtet haben, auf einem Friedhof liegen soll.

Es gibt nun mehrere Versuche, Fuchs zur Vernunft zu bringen, die aber alle scheitern: Weder die Drohungen des Ortsvorstehers, noch die Ermahnungen des Pastors helfen; erst als Phöbe, die sich aufopferungsvoll um die Kranke gekümmert hatte, zusammen mit von Bielow noch einmal die Hütte aufsucht, gelingt der Durchbruch, als von Bielow spontan anbietet, drei nebeneinanderliegende Grabstellen zu erwerben, in denen Anna – in der Mitte – bewacht von Phöbe und ihm selbst die letzte Ruhe finden soll. Völlig überrascht und überwältigt von der Zustimmung Volkmars zu diesem Vorschlag, erklärt sich auch Phöbe einverstanden. Nach der Beerdigung geht von Bielow wieder hinab in den Kurort zu der Gesellschaft, zu der er gehört.

Damit beginnt die zweite Hälfte des Romans, in deren Zentrum die Erkrankung von Bielows am Typhus steht. Wieder im Kurort angekommen, muss von Bielow sehr rasch und gegen seinen Willen die Geschichte um das Begräbnis der Anna Fuchs und der dreifachen Grabstelle erzählen. Valerie ist von dieser Festlegung von Bielows auf eine letzte Ruhestätte so betroffen und in Furcht versetzt, dass sie selbst hinauf ins Dorf reitet, Volkmar und Phöbe – in der sie eine Konkurrentin um die Liebe von Bielows zu haben fürchtet – kennenlernt und sich den Friedhof zeigen lässt. Es kommt zu einer Art von Aussprache zwischen den beiden Frauen, und als Valerie abends ins Tal zurückkommt, muss sie erfahren, dass inzwischen von Bielow selbst an Typhus erkrankt ist.

Merkwürdigerweise wird nun nicht das Klischee umgesetzt, dass sich Valerie am Krankenbett Veits zum großen, entsagenden Vorbild der Phöbe hinauf arbeitet, sondern ganz in Gegenteil flieht die Gesellschaft um Valerie den Kurort, von Bielow wird in ein aufgelassenes Siechenspital am Rande des Städtchens verbannt und dort vom lokalen Doktor, Phöbe und Dorette – einer spät eingeführten, aber nichts weniger als unbedeutenden Nebenfigur – gepflegt. Nur dass Veit von Bielow dem Tod entgeht und nach einer Woche Phöbe wieder ins Pfarrhaus zurückkehrt, wird uns erzählt. Und dann schließt Raabe einen ganz merkwürdigen Schluss an: Im nächsten Frühjahr erreichen das Pfarrhaus zwei Briefe. Zum einen von Dorette an Phöbe, in dem ein schlichtes Gemüt die Erlebnisse der Woche der Pflege von Bielows und die Freundschaft der beiden Frauen reflektiert. Zum anderen von dem in Sizilien sich nur langsam erholenden Veit von Bielow und seiner Gattin Valerie, die ihre Flitterwochen zu einem Genesungsurlaub verlängert haben.

Wer die Romane kennt, die im Umfeld um „Unruhige Gäste“ entstanden, wird begreifen, dass ein Gutteil der Leser der „Gartenlaube“ mit einem solchen Ende nur wenig zufrieden sein konnten. Weder wird der durch die Flucht Valeries inszenierte Konflikt auch nur angesprochen, sondern die beiden werden einfach verheiratet, noch findet die aufopferungsvolle Liebe Phöbes, die durch die Persönlichkeit von Bielows doch für den Moment heftig aus dem Gleichgewicht geraten war, eine Auflösung. Stattdessen wird Volkmar Fuchs zu einem angesehenen Mitglied der Gemeinde, nachdem er – offenbar durch die Protektion von Valeries Vater – zu einer Anstellung als Forstwart gekommen ist. Aber eine der üblichen, kunstfertigen Abrundungen darf von Raabe im Ernst nicht erwartet werden.

Neben dem hier Nacherzählten hat der Roman noch die eine und andere knorrige Nebenfigur, wie man sie ähnlich nur in den Romanen von Charles Dickens finden wird. Für seine nur knapp 180 Seiten macht das Buch ein erstaunlich breites Gesellschaftspanorama auf. Und es enthält viel von der Welt, wie sie sich Raabe gezeigt hat.

Jeder für den Mist vor seine Kellerlöcher, und unser Herrgott fürs Ganze!

S. 158

Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2024. Pappband, Fadenheftung, 235 Seiten. 26,– €.

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers

Wirklich, die Welt war ziemlich komisch. Und es gab Sprachen ohne Ende. Es würde nicht einfach sein, sich auf diesem Planeten zurechtzufinden.

Amélie Nothomb schreibt ganz wundervolle, autobiographisch unterfütterte Erzählungen. Ich habe sie vor vielen Jahren mit »Liebessabotage« entdeckt, das sich inhaltlich zu »Biographie des Hungers« wie ein kleiner, nicht konzentrischer Inkreis verhält. »Biographie des Hungers« erzählt etwa fünfzehn Jahre aus dem Leben der Tochter eines belgischen Diplomaten, die es aufgrund der regelmäßig alle drei Jahre erfolgenden väterlichen Versetzungen von Japan über China, den USA und Bangladesch nach Burma und schließlich Laos verschlägt; »Liebessabotage« war die Geschichte der ersten Liebe des jungen Mädchens im Pekinger Diplomatenviertel. Auch Nothombs Bücher »Mit Staunen und Zittern« und »Der japanische Verlobte« (von dem ich das allerdings nur vermute, da ich es bislang nicht gelesen habe) gehören zu diesen autobiographischen Zirkel. Ansonsten schreibt Nothomb auch noch Krimis, von denen zumindest einer ein ziemlich grobes Plagiat eines Hörspiels von Friedrich Dürrenmatt (lustigerweise im selben Verlag!) darstellt. Belesen ist die junge Frau also auch noch!

Wie der Titel schon besagt, fokussiert Nothomb diese Erzählung auf das Phänomen des Hungers, das sich zuerst als Gier des kleinen Mädchens nach Süßigkeiten und – man staunt – Wasser darstellt, sich dann in Bangladesch ganz in den unerträglichen Hunger der einheimischen Bevölkerung veräußerlicht, um sich schließlich als Anorexie der Ich-Erzählerin zu manifestieren, die sie fast zu Tode bringt. Alles rundet sich mit einer Rückkehr der 21-Jähringen an den Ort ihrer kindlichen Selbstvergottung in Japan und der Begegnung mit ihrem ersten Kindermädchen.

Nothombs Erzählen zeichnet sich in der Hauptsache durch drei Eigenschaften aus: Einen knappen, lakonischen Stil, präzise, von allem Überflüssigen befreite Beobachtungen und einen distanzierten, oft ironischen Humor. Man darf wahrscheinlich nicht zuviel auf einmal von ihr lesen, aber wenn man von Zeit zu Zeit bei ihr vorbeischaut, ist sie immer wieder ein Genuss.

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers. Aus dem Französischen von Brigitte Große. detebe 24042. Zürich: Diogenes, 2010. Broschur, 207 Seiten. 9,90 €.

Thomas Mann: Der Zauberberg

»Siehst Du wohl,« sagte Hans Castorp später zu seinem Vetter, »siehst Du wohl, daß es in der Literatur auf die schönen Worte ankommt? Ich habe es gleich gemerkt.«

mann-zauberbergZuletzt habe ich den »Zauberberg« mit großer Begeisterung 1986 während des Studiums gelesen. Während ich zur gleichen Zeit den Glauben an Thomas Mann als bedeutendem deutschen Intellektuellen endgültig durch die Lektüre der »Betrachtungen eines Unpolitischen« verloren habe, hat dieser Roman die Überzeugung verfestigt, dass er einer der besten deutschsprachigen Erzähler war. In den Jahren dazwischen habe ich immer wieder einmal versucht, Mann zu lesen, bin aber damit nie recht fertig geworden: Im »Doktor Faustus« war mir bei der Zweitlektüre der Erzähler nur schwer erträglich, um »Lotte im Weimar« recht zu goutieren verstand ich wohl noch zu wenig von Goethe – da hat sich erst die dritte Lektüre als vergnüglich erwiesen –, der »Joseph« war eindeutig zu geschwätzig für den in weiten Teilen unerheblichen Stoff und an den »Zauberberg« wollte ich dann nicht noch einmal heran, aus Furcht, ihn mir zu verderben. Erst mit dem Erscheinen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe stellte sich die Lust wieder ein, es erneut zu versuchen.

Erzählt wird bekanntlich die Geschichte des jungen Hamburger Ingenieurs Hans Castorp, der auf drei Wochen nach Davos reist, um seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Im internationalen Kurhotel Berghof angekommen, verliebt er sich in eine wenige Jahre ältere Russin, Clawdia Chauchat, deren Augen ihn an eine alte, homoerotische Liebe aus seiner Schulzeit erinnern. So ist er mehr als glücklich als der Chefarzt Dr. Behrens auch bei ihm eine Lungenerkrankung diagnostiziert, die ihn zwingt, seinen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Dies motiviert seinen letztlich siebenjährigen Aufenthalt auf dem Berghof, der unter der Hand zu einem Bildungsgang gerät. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spült Castorp zusammen mit vielen anderen Insassen des Hotels wieder ins Flachland, wo der Erzähler seine Spur im Schlachtgetümmel verliert.

Was mich bei der ersten Begegnung mit diesem umfangreichen Buch fasziniert hat, war der Eindruck der erstaunlich ausgewogenen zeitlichen Beherrschtheit des Textes: Die Beschleunigung des Erzähltempos von der ausführlichen Schilderung der ersten Tage, Wochen und Monate bis zu dem unmerklichen Verfließen ganzer Jahre am Ende erschien mir so mühe- und bruchlos gestaltet, dass dieser Eindruck damals beinahe jede andere Wahrnehmung überlagerte. Dies hat sich bei der erneuten Lektüre nicht wieder im gleichen Maße eingestellt. Besonders im letzten Drittel empfand ich dieses Mal manche Passage als überdehnt und manches Motiv als zu breit ausgewalzt. So etwa die Auseinandersetzungen zwischen den beiden um die Menschwerdung Castorps ringenden Dämonen Settembrini und Naphtha, die Parodie auf die Mode der Geisterbeschwörung, die sich zugleich über die Psychoanalyse lustig macht, die Ausführungen zur Musik – das alles könnte auch kürzer und konziser gefasst werden und enthält viel Geschwätz, das einfach nur der Verarbeitung von eben angefallenem Stoff dient und weniger einer tatsächlichen Notwendigkeit des Erzählens entspringt.

Das ist aber nur die eine Seite; auf der anderen muss ich sagen, dass ich das Buch durchaus wieder mit großem Vergnügen gelesen habe. Wem es gelingt, den Text insgesamt als ein Spiel mit Motiven, Strömungen und Tendenzen seiner Zeit wahrzunehmen, der kann all dem mit vergnügter Distanz folgen. Das Verweben sowohl einer Bildungsroman- als auch einer Liebesroman-Parodie, die einander zudem auch noch erzählerisch bedingen, ist sehr fein und ungezwungen ausgeführt. Und nicht zuletzt habe ich auch den Genuss an Manns sprachlichem Manierismus wieder gefunden, der mir zwischenzeitlich verloren gegangen war. Natürlich kann es auch leicht geschehen, dass einem die letztlich gänzlich substanzlose Haltung des Erzählers auf die Nerven geht, aber mir ist es wenigstens diesmal gelungen, dass das Vergnügen an der Lektüre weit überwogen hat. Ich bin gespannt, wie meine Lesegeschichte mit Thomas Mann weitergehen wird …

Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1103 Seiten. 42,– €. Zusammen mit dem umfangreichen Kommentarband: 84,– €. Der Text der GkFA erscheint im April 2012 erstmals auch im Taschenbuch.

P. S.: Vielleicht doch noch ein paar Worte zum Kommentarband: Mit gut 520 Seiten ist er fast halb so umfangreich wie der Text des Romans. Neben soliden Kapiteln zur Entstehung und Rezeption enthält er einen umfangreichen Einzelstellenkommentar, der in der Hauptsache den ungeheuer umfangreichen stofflichen Resonanzraum des Romans deutlich macht. Hier lassen sich schöne Funde machen, und es wird deutlich, was für ein außergewöhnlicher Organisator großer Stoffmengen Thomas Mann gewesen ist. Für die genießende Lektüre ist der Kommentar durchaus nicht notwendig, aber er hilft sehr beim Entdecken der hinter dem Gobelin verlaufenden Fäden.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menge zu uns höchst lächerlich, Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst ein gewagtes, zu verbietendes Unternehmen.

Tod-in-VenedigNachdem mir bei der Besprechung von Koeppens »Der Tod in Rom« der grobe Schnitzer unterlaufen war, Gustav Aschenbach für einen Tonsetzer zu erklären, war klar, dass es dringend an der Zeit war, Thomas Manns Erzählung wieder einmal zu lesen. Innerlich hatte ich wohl vor etwa zwanzig  Jahren mit den Erzählungen Manns abgeschlossen, nachdem ich auch die letzten eher aus einem Sinn für einen Abschluss als aus echtem Interessen heraus gelesen hatte. Viele der kürzeren Erzählungen von Thomas Mann schienen mir damals wenig zu taugen, so dass ich mich , wenn Mann bei mir noch einmal dran sein würde, auf die Romane konzentrieren wollte. Überhaupt muss ich gestehen, dass mir die Deutschen Thomas Mann weit zu überschätzen scheinen, nicht etwa als Erzähler, wo er fraglos zur ersten Garnitur gehört, sondern als Intellektuellen.

Wie genau Thomas Mann um die Windigkeit seines Status als Intellektueller wusste, macht eine kleine Passage aus seinem schlechtesten Roman »Königliche Hoheit« deutlich. Da muss die Königliche Hoheit gelegentlich in einem kleinen Ort ein Denkmal enthüllen und zu diesem Anlass einige Worte sagen:

Als er im Namen des Großherzogs, »meines gnädigsten Herrn Bruders«, die Enthüllung des Johann-Albrecht-Standbildes zu Knüppelsdorf vollzog, hielt er auf dem Festplatze gleich nach dem Vortrage des Vereins »Geradsinnliederkranz« eine Rede, in der alles untergebracht war, was er sich über Knüppelsdorf notiert hatte, und die allerseits den schönen Eindruck hervorrief, als habe er sich zeit seines Lebens vornehmlich mit den historischen Schicksalen dieses Mittelpunktes beschäftigt. […] Und Klaus Heinrich stand lächelnd, mit einem Gefühle der Ausgeleertheit unter seinem Theaterzelt, froh in der Sicherheit, daß niemand ihn weiter fragen dürfe. Denn er hätte nun kein Sterbenswörtchen mehr über Knüppelsdorf zu sagen gewußt.

Präziser lässt sich der Status des Festredners Thomas Mann nicht auf den Punkt bringen.

Doch zu »Der Tod in Venedig«: Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück  des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, wie es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeutung, Spiegelungen und  Ringstrukturen angeht, eine Perle traditioneller Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Kindle Edition. Frankfurt/M.: Fischer E-Books, 2009. 317 KB. 6,99 €.

(Die zweite Hälfte dieser Besprechung ist auch in der
Reihe 100 Seiten beim Umblätterer erschienen.)