Wilhelm Raabe: Der Lar

Am anderen Morgen ging das Leben weiter in gewohnter Weise. Am folgenden wieder so, und so weiter; und es fiel gar nichts Besonderes vor.

Ein ganz leichter und wundervoller Roman, den Raabe zwischen dem dunklen „Das Odfeld“ (1888) und dem anspruchsvollen „Stopfkuchen“ (1890/91) geschrieben hat. Als Motto zitiert er wohl aus einem Leserbrief an ihn: »O bitte, schreiben auch Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!« Und um den Leser gar nicht lange warten zu lassen, verrät er gleich auf der ersten Seite, wer sich kriegt und dass die Beiden Eltern eines gesunden Jungen werden.

Mit dieser Versicherung im Hintergrund erzählt Raabe die Geschichte vierer Figuren: dem etwas verlotterten Paul Warnefried Kohl, seiner Jungendfreundin Rosine Müller, seines Paten Franz de Paula Schnarrwergk und seines einzigen Freundes Bogislaus Blech, der den Roman als Maler betritt, sich dann aber rasch zum Photographen wandelt. Schnarrwergk, ein eingefleischter Junggeselle, der einstmals in Warnefrieds Mutter verliebt war, die sich dann aber vom Germanistikprofessor Kohl hat heiraten lassen, besitzt den titelgebenden Hausgeist (Lar), einen ausgestopften Affen, von dem der Leser nie die konkrete Art erfährt und der als stummer Zeuge besonders des letzten Viertels des Romans dient.

Bis dahin geschieht in etwa folgendes: Nach dem Tod von Warnefrieds Mutter wird der elterliche Haushalt der Kohls aufgelöst, um die verblieben Mietschulden zu zahlen. Am selben Tag ziehen Rosine Müller, die eine junge Freundin von Warnefrieds Mutter war, und der ehemalige Kreisveterinär Schnarrwergk zufällig im selben Stockwerk des selben Hauses ein. Warnefried hilft ein wenig beim Umziehen, zieht dann aber mittellos in die Welt hinaus, wird Student, der aus dem geringen wissenschaftlichen Renommee seines Vaters Kapital zieht und sich so durchs Studium schlägt, um fünf Jahre später als Doktor der Philosophie in die Heimatstadt zurückzukehren. Diese Entwicklung wird in nur wenigen Zeilen zusammengefasst.

Wieder daheim findet er, wie schon gesagt, seinen Freund Bogislaus vom Portrait-Maler zum Leichen-Photographen gewandelt, der aber nun auch in derselben Straße residieret wie Rosine und Schnarrwergk. Diese beiden Nachbarn sind inzwischen gut miteinander befreundet, hauptsächlich wegen eines verregneten Pfingstspaziergangs. Warnefried wird Journalist, da er ein schriftstellerisches Talent für Mord- und Sensationsgeschichten hat, und dann wird es auch schon Weihnachten. Schnarrwergk erleidet auf dem Weihnachtsmarkt einen Schlaganfall, wird von Warnefried nach Hause gebracht und dort zusammen mit der Nachbarin Rosine wieder gesund gepflegt. Dass „sie sich kriegen“, wurde ja oben schon gesagt; und auch Bogislaus bleibt nicht außen vor, sondern nimmt in der Ehe der Kohls nun jene Stelle ein, die Schnarrwergk zuvor im Hause der Eltern Kohl inne hatte.

Wie man sieht, erzählt das Buch eigentlich nichts; besonders das letzte Viertel schafft es, die Handlung, die ohnehin schon nicht sehr üppig war, noch einmal drastisch zu reduzieren. Auch werden jene spannenden oder gefühligen Szenen, mit denen die Trivialliteratur der Zeit auf die Herzmuskeln oder Tränendrüsen der Leserinnen abzielte, gar nicht auserzählt: Die Verlobung geschieht ganz nebenbei, vom kranken Scharrwergk wird uns gleich mehrfach versichert, dass er wieder auf die Beine kommen wird, die Hochzeit bleibt ganz außen vor und was der Sachen mehr sind. Auch als Entwicklungsroman taugt der Text nicht: Bogislaus und Warnefried werden undramatisch auf den Boden der ökonomischen Realität geholt, Rosine bleibt sich schlicht gleich und der knurrige Schnarrwergk war am Ende auch immer schon ein Herzensmensch.

Und dennoch sind die 200 Seiten ganz und gar gelungen. Da zeigt ein Meister, was Trivialliteratur sein könnte, wenn sie nur nicht so trivial wäre.

Wilhelm Raabe: Der Lar. Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2025. Pappband, Fadenheftung, 287 Seiten. 26,– €.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Im Schatten junger Mädchenblüte

»Hast du jemals Proust gelesen?« fragte er sie.
»Ich hab’s versucht, aber er langweilt mich.«
»Er ist wirklich außergewöhnlich.«
»Möglich! Aber er ist mir zu langweilig: all diese Sophisterei! Er hat keine Gefühle, er hat nur endlose Worte über Gefühle. Ich bin diese überheblichen Mentalitäten leid.«

D. H. Lawrence

In der Welt von Madame Swann

Wir alle sind gezwungen, einige kleine Dummheiten in uns zu nähren, um die Wirklichkeit erträglich zu machen.

Der zweite Band des Zyklus setzt unmittelbar dort ein, wo der erste aufgehört hatte: Bei der Liebe des Erzählers Marcel zu Gilberte Swann. Es gelingt ihm wider Erwarten Zugang zur Familie Swann zu finden (wie zuvor schon erwähnt, stehen sich die Familien des Erzählers und der Swanns nicht mehr nahe) und ein regelmäßiger Gast bei Gilbertes Tee-Gesellschaften zu werden. Außerdem wird er trotz seinen jungen Jahren ein Mitglied des Salons von Odette Swann, die sich langsam, aber sicher in der Gesellschaft nach ober arbeitet. Auch als sich Marcel nach einer verärgerten Reaktion Gilbertes entschließt, sie nicht mehr wiedersehen zu wollen, verbleibt er im Umfeld von Madame Swann. Dort lernt er auch den von ihm hochgeschätzten Schriftsteller Bergotte persönlich kennen, dessen Person zwar in einer radikalen Widerspruch zu dem Bild steht, das sich Marcel anhand der Lektüre der Werke von ihm gemacht hat, der aber den jungen Mann schätzt und ein wichtiger Einfluss auf dem Weg Marcels zu seinem eigenen Schriftstellertum wird.

Weite Strecken dieses Teils sind gefüllt mit Reflexionen, Hoffnungen und Fantasien Marcels, die sich aus seiner Trennung von Gilberte ergeben, die immer und immer wieder gewendet und neu formuliert werden. Dagegen bleibt Marcels offensichtliches Interesse an Madame Swann von einer erzählerischen Durcharbeitung weitgehend verschont.

Ländliche Namen: Das Land

Vielleicht sind ja manche Meisterwerke unter Gähnen entstanden.

Der zweite Abschnitt dieses zweiten Buches spielt in Balbec, einem fiktiven Seebad, in das der Erzähler mit seiner Großmutter reist, um seine schwächlichen Gesundheit auf die Sprünge zu helfen. Der Erzähler hatte sich alnge schon danach gesehnt, die Kirche von Balbec zu sehen, von der er schon lange phantastische Vorstellungen hegt; abermals wird er von der Realität zuerst enttäuscht, dann aber von einem ästhetisch profunderem Geist angeleitet, das Besondere im Allgemeinen zu erkennen. Im Wesentlichen lernt der Erzähler außer drei Männern (Robert von Saint-Loup, den Baron von Charlus und den Maler Elstir) eine Gruppe junger Mädchen kennen, von denen er sich nach einigem Hin und Her in eine verliebt: Albertine. Er versucht sie zu küssen, sie klingelt nach dem Personal.

In den ästhetischen Reflexionen findet sich hier der Übergang von der Architektur – zuvor in der Hauptsache repräsentiert durch Kirchen – zur Malerei – repräsentiert durch die Figur Elstirs, einer Mischung hauptsächlich aus Whistler und Turner mit ein wenig Monet und Manet –, der, wie zuvor der Schriftsteller Bergotte, als zeitweiliger Nestor des jungen Erzählers fungiert.

Es liegt natürlich an mir, aber auch nach 1.300 Seiten kann ich mich nicht für den Erzähler interessieren. Das Buch wird ein klein wenig lebendiger, als Albertine auftritt, deren Sprache den Text wie ein frischer Wind durchweht. Aber so gleich geht es wieder über Seiten und Seiten hinweg um Ereignisse, Figuren und Gedanken, die mir vollständig gleichgültig bleiben. Wie überaus fein ziseliert, wie überaus langweilig. Es wird nun eine erhebliche Weile dauern, bevor ich den dritten Band in die Hand nehmen werde.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 2: In Schatten junger Mädchenblüte. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 834 Seiten. 32,95 €.

Friedrich Heinrich Jacobi: Aus Eduard Allwills Papieren

Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) ist einer jener Schriftsteller des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert, die nur deshalb noch einigermaßen in Erinnerung sind, weil sie sich in die reiche Briefkultur dieser Zeit eingeschrieben haben. Jacobis älterer Bruder war der als Dichter oft verspotteter Anakreontiker Johann Georg Jacobi, der an zahlreichen Zeitschriften der Zeit beteiligt war und dessen Prominenz seinem Bruder den Weg zu zahlreichen berühmteren Korrespondenz­partnern eröffnete. Ganz im Geiste der Zeit folgten den Briefen auch persönliche Begegnungen, und so wurde Friedrich Heinrich Jacobi eine der vielen Randfiguren der deutschen Literarhistorie.

Die ersten Briefe Aus Eduard Allwills Papieren erschienen 1775 in der von Johann Georg Jacobi herausgegebenen Zeitschrift Iris, die sich explizit an ein weibliches Publikum wandte. Fortgesetzt wurde die Reihe der Briefe dann 1776 in Wielands Teutschem Merkur und dann über weitere Zwischenstufen bis 1812, als sie als Allwills Briefsammlung innerhalb der vom Autor selbst besorgten Werke endgültig fixiert wurden. Die Reihe von Briefen einen Roman zu nennen, wie dies weitgehend geschieht, ist etwas verwegen, nicht nur wegen des mäßigen Umfangs, sondern auch, weil eine Handlung eher angedeutet ist, als dass sie wirklich erzählt würde.

Die Briefe erzählen im im Großen und Ganzen eine Episode aus der Geschichte der Familien Clerdon und der mit ihr verschwägerten von Wallberg, zu deren Bekanntenkreis auch der titelgebende junge Eduard Allwill gehört. Allwill hat sich bereits in seiner Kindheit als ein besonders willensstarkes und eigensinniges Kind gezeigt und ist nun ein junger Mann, der auf gesellschaftliche Usancen nur wenig Rücksicht nehmen zu müssen glaubt. Er hat offensichtlich einer jungen Frau – Luzie von Wallberg – den Kopf verdreht und sie dann sitzen lassen. In einem ihrer Briefe schreibt ihre Tante Silly:

So ward unsere Luzie hingewagt, so ging uns das süße Geschöpf verloren; denn sie stirbt, Kinder, und ihr Tod ist dieser Allwill!

Als ganz so dramatisch erweist sich die Lage dann doch nicht: In den beiden letzten Briefen, die das eigentliche Prunkstück der Sammlung (1775/1776) bilden, verbreitet Eduard nicht nur seine libertinistische Philosophie des natürlichen Gefühls, dem es zu folgen gelte, sondern er erhält auch eine vollständige Zurückweisung seines Standpunktes durch die bürgerlich-moralisch argumentierende Luzie, die mit ihrem Plädoyer das letzte Wort behält. Einen sterbenden Eindruck macht sie dabei ganz und gar nicht.

Ich bin an dieses Stück geraten, da ich im Rahmen einer Rezension, die hier nichts zur Sache tut, wieder einmal den Goetheschen Werther in die Hand genommen habe und dabei an Jacobi erinnert wurde, von dem mir bislang nur sein Woldemar dem Namen nach bekannt war. Der Eduard Allwill stand kurzzeitig im Verdacht eine weiterer Briefroman aus der Feder Goethes zu sein, wenn dies auch aus einer eher oberflächlichen Vergleichung mit dem Werther herzurühren scheint. Da das Stück rasch gelesen ist (digitale Texte und deren Ausdrucke finden sich zuhauf), kann ich es für jene, die an der Literatur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang interessiert sind, nur empfehlen. Wahrscheinlich werde ich hier in nächster Zeit noch die eine oder andere kleine Publikation, die im zeitlichen Umfeld des Werthers entstanden ist, besprechen.

Friedrich Heinrich Jacobi: Aus Eduard Allwills Papieren. Düsseldorf: Iris 4.1775 und Weimar: Der Teutsche Merkur 2.1776–4.1776.

John Williams: Stoner

But William Stoner knew of the world in a way that few of his younger colleagues could understand.

Ein eingängiger, etwas sentimentaler Ent­wick­lungs­ro­man, der bereits 1965 erschienen ist, aber erst in diesem Jahrhundert in den USA wieder- und in Europa entdeckt und systematisch zu einem Bestseller beworben wurde. Williams war zu Lebzeiten immerhin so erfolgreich, dass er 1972 den National Book Award for Fiction verliehen bekam, aber er konnte vom Schreiben nie leben. Stattdessen unterrichtete er, ähnlich wie der Protagonist dieses Romans, bis 1985 Englisch an der Universität Denver.

Beim Protagonisten handelt es sich um William Stoner, der von seinen als Bauern mehr schlecht als recht lebenden Eltern unter großem Verzicht an die Universität von Missouri geschickt wird, um dort Landwirtschaft zu studieren. Stoner verirrt sich aber ins Englische Seminar, beginnt mit dem Lesen von Gedichten und Romanen, die ihm anfangs erheblichen Widerstand entgegensetzen, wechselt das Studienfach und wird statt Diplom-Landwirt akademischer Lehrer für Englisch mit einem deutlichen Interessenschwerpunkt auf dem Einfluss der lateinischen Literatur auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Dichtung Englands. Man muss sich aber als Leser keine Sorgen machen: Nichts von dem spielt im Roman wirklich eine Rolle; Stoner hätte genauso gut eine akademische Karriere als Mathematiker machen können.

Er heirate die erste Frau, die ihn interessiert; Edith wiederum heiratet ihn, um aus ihrem verhassten Elternhaus herauszukommen, wobei unklar bleibt, ob ihr Vater nur ein Tyrann oder ein Pädophiler ist. Sie haben eine gemeinsame Tochter, Grace, die im Konflikt ihrer unglücklich verheirateten Eltern zum Spielball wird; sie wird sich wie ihre Mutter durch eine frühe, eher zufällige Heirat dem elterlichen Elend entziehen und in ihr eigenes geraten. Zusätzlich zum familiären Unglück gerät Stoners akademische Karriere ins Stocken, als er sich seinem unmittelbaren Vorgesetzten widersetzt und dessen Protegé durch eine Prüfung fallen lässt. Eine zwischenzeitliche Affäre mit einer Doktorandin bildet den emotionalen Höhepunkt in Stoners Leben, aber diese Unterbrechung des allgemeinen Unglücks kann in den späten 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts nicht von Dauer sein. Das Buch endet so voraussehbar wie alles in ihm: Stoner stirbt an Magenkrebs, bevor er einen wohlverdienten Ruhestand antreten könnte.

Der Reiz des Romans liegt sicherlich in seinem durchweg unaufgeregten Erzählton, der recht genau auf die stoische Grundhaltung des Protagonisten abgestimmt ist, und in der Welt im kleinen Kreis, die er schildert. Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg gehen weitgehend spurlos an Stoner vorbei (im Ersten Wertkrieg fällt allerdings einer seiner beiden einzigen Studienfreunde; ein Verlust, der ihn bis zu seinem Ende nicht loslässt), auch die technische und soziale Entwicklung der USA spielen kaum eine Rolle im Roman. Der Konkurs seiner Schwiegereltern in Folge des Börsenkrachs 1929 und der anschließende Selbstmord seines Schwiegervaters berühren Stoner genauso wenig, wie es der Tod seiner eigenen Eltern tut. Was sollen ihn da andere soziale, wirtschaftliche oder gar technische Entwicklungen interessieren; er lebt hauptsächlich in der Welt der alten englischen Literatur, die aber, wie schon erwähnt, inhaltlich im Roman ebenfalls kaum eine Rolle spielt.

Die Übersetzung von Bernhard Robben habe ich diesmal nicht angeschaut; dazu erschien mir das Buch nicht wichtig genug.

John Williams: Stoner. New York: Vintage digital, 2012. Kindle Edition. 288 Seiten. 8,99 €

Fjodor Dostojewskij: Weiße Nächte

Doch noch ein Nachklapp zu meiner Dostojewskij-Lektüre: Weiße Nächte ist im Schicksalsjahr Dostojewskijs 1848 entstanden und erschienen, in dem er später verhaftet und in der Folge zum Tode verurteilt, begnadigt und nach Sibirien strafverschickt wurde. Das kleine Büchlein trägt die Genre-Bezeichnung „Ein empfindsamer Roman“; seiner Länge entsprechend hat es sein früherer Übersetzer Alexander Eliasberg ganz richtig als Novelle eingeordnet. Erzählt wird von vier Nächten im Hochsommer in Sankt Petersburg, wo es bekanntlich in dieser Zeit nicht mehr richtig dunkel wird. Dort trifft ein romantisch-verträumter Flaneur auf ein junges, eher praktisch veranlagtes Mädchen, das er vor einer unschicklichen Belästigung beschützen kann; so macht er seine Bekanntschaft.

Wie junge Leute so sind, erzählen sie einander ihr Leben: Der junge Mann von seiner Realitätsflucht in die Phantasie, das junge Mädchen von seinem Leben an der Seite ihrer blinden Großmutter und von ihrer Liebe zu einem ehemaligen Untermieter, der nach Moskau gegangen sei, um Geld für eine gemeinsame Zukunft zu verdienen, aber bislang nicht zu ihr zurückgekommen ist. Doch nun wird der namenlose Ich-Erzähler plötzlich selbst sehr praktisch und nötigt die junge Frau, sich in einem Brief an den Vermissten zu wenden; und alles andere kommt dann so, wie es kommen muss.

Die Erzählung ist ganz nett, bewegt sich aber durchaus im Rahmen dessen, was man als romantische Epigonie bezeichnen darf. Die „weißen Nächte“ und die beiderseits vorhandene Armut bleiben nur Staffage, die erzählerischen Motive sind wenig originell und auch die abschließende Zuspitzung der Frau zwischen zwei Männern bringt nichts wirklich Eigenständiges hervor. Dostojewskijs Bücher nach seiner Rückkehr aus Sibirien sind dann wirklich schon sehr anders geraten.

Fjodor Dostojewskij: Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers. Aus dem Russischen von Johannes von Guenther. RUB 14237. Stuttgart: Reclam, 2021. (Neuausgabe des Bandes von 1969). Broschur, 123 Seiten. 4,40 €.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren

Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien einen armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?

Nachdem ich Elisabeth Edls Übersetzung der Éducation sentimentale vorerst übersprungen habe – zum einen, weil es zeitlich nicht passte, zum anderen aber sicherlich auch, weil ich über die Übersetzung des Titels mit Lehrjahre der Männlichkeit doch etwas erschrocken war –, folgt nun also, im Jahr seines 200. Geburtstages, die Neuübersetzung von Flauberts erstem ernsthaften Versuch, einen Roman zu schreiben. Der Text, der keine 100 Druckseiten umfasst, ist zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht worden, und man darf davon ausgehen, dass sich Flaubert seiner Schwächen sehr bewusst war.

… Mir ist alles so zuwider, dass ich einen tiefen Ekel davor empfinde weiterzuschreiben, nachdem ich das Vorangehende gelesen habe.
Können die Werke eines gelangweilten Mannes die Leser amüsieren?

S. 40

Aber natürlich zeigt sich die Wichtigkeit eines Autors eben auch darin, dass nach seinem Tod sein Nachlass herausgegeben wird.

Im Falle der Memoiren eines Irren geschah dies zuerst Ende 1900, 20 Jahre nach dem Tod Flauberts. Die Erzählung, die nur ehrenhalber die Bezeichnung Roman verdient, ist deshalb interessant, weil hier schon einige der Motive durchgespielt werden, die in den späteren Werken eine Rolle spielen. Zentral dürfte dabei die Beschreibung der ersten Verliebtheit des Erzählers in eine ältere, verheiratete Frau sein, die deutlich auf die Liebe Frédéric Moreaus aus L’Éducation sentimentale vorausweist. Außer diesen einzelnen Motiven ist der Text weitgehend lamoyant, verbunden mit einer für einen 17-Jährigen doch recht künstlichen Welt- und Menschenfeindlichkeit. Der Erzähler tut sich selbst unendlich leid, was den Leser ungefähr so kalt lässt, wie es Flauberts spätere Erzähler sind. Literarisch ist das beste am Text, dass er nicht länger ist.

Um dem Band etwas mehr Umfang zu geben, hat man eine Auswahl früher Briefe Flauberts hinzugefügt, die – wie Flauberts Briefe überhaupt – immer interessant und lebendig sind. Die wichtigste Stelle im Buch aber ist diese:

Wolfgang Matz hat auch diesen Band als Lektor begleitet; dass er der Einladung folgte, zum (wenigstens vorläufigen) Abschluss dieser Flaubert-Jahre auch das Nachwort beizusteuern, …

S. 200

Es wird also auf absehbare Zeit keine Übersetzung von Bouvard et Pécuchet durch Elisabeth Edl geben. Fassen wir uns also in Geduld.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 28,– €.

Lisa Halliday: Asymmetrie

Sei vorsichtig, hatte mich Alastair am Abend zuvor gewarnt, […] noch mehr als dein Bruder ist jemand wie du für diese Leute ein Hauptgewinn. Ein Schiit aus einer politischen Familie, die zwei der politischen Parteien angehört, die sie hassen, und mit Verbindungen in die grüne Zone und noch dazu amerikanischer Staatsbürger mit Familie in den USA und Ersparnissen in Dollar? Kannst du dir das vorstellen? »So viele Fliegen! Eine Klappe!«

Als dieses Buch 2018 erschien und wenig später auch auf Deutsch vorlag, wurde es in der Hauptsache damit beworben, dass es eine der letzten Affären von Philip Roth beschreibe. Da ich gegen solch voyeuristische Projekte eine gesunde Abneigung hege und die ersten Seiten mein Vorurteil noch bestärkten, habe ich es an mir vorübergehen lassen. Nun sind zwei Biographien über Roth erschienen, weshalb ich mich wieder an Hallidays Buch erinnert habe.

Das Text besteht aus drei Teilen: Die ersten beiden liefern jeweils ungefähr das, was heutzutage von der holzverarbeitenden Industrie als Roman ausgeschrieen wird, wobei diese beiden Teile motivisch sorgsam miteinander verknüpft sind; der dritte Teil enthält ein kurzes fiktives Radio-Interview mit dem männlichen Protagonisten des ersten Teils, Ezra Blazer. Er dient in der Hauptsache dazu, Blazer eine Biographie zu verpassen, die deutlich von der Roth’ abweicht, und außerdem vorzuführen, dass er auch mit 78 Jahren immer noch versucht, alles ins Bett zu kriegen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Der erste Teil – gut 130 Seiten – beschreibt etwa drei Jahre Beziehung zwischen der 27-jährigen Alice Dodge, Lektorin in einem New Yorker Verlag, und dem weltberühmten, 70-jährigen Autor Ezra Blazer. Nachdem Blazer Alice im Central Park angesprochen hat, kommt es sehr rasch und ohne besondere Präliminarien zu einer Affäre zwischen beiden, die über die beschriebene Zeit immer enger und partnerschaftlicher wird. Alice nimmt von Anfang an Geschenke von Ezra entgegen, auch Geld für Kleidung oder eine Klimaanlage für ihr Apartment. Am Ende verbringt sie auch längere Zeit mit Ezra in dessen Insel-Refugium, in das er sich immer wieder zum Schreiben zurückzieht, lernt schließlich auch seine Familie kennen etc. pp. Die anfangs von beiden Seiten mit bewusster Distanz geführte Beziehung wird deutlich emotionaler, bis zum Schluss des ersten teils Alice einen emotionalen Zusammenbruch hat, als sie sich mit der Sterblichkeit Ezras, die durchgehend Thema des Textes ist, ganz unmittelbar konfrontiert sieht.

Der zweite Teil ist etwa gleich lang wie der erste und präsentiert offensichtlich einen Text, den die Schriftstellerin Alice Dodge verfasst hat. In seinem Mittelpunkt steht ein junger irakisch-amerikanischer Mann, der im Jahr 2009 von Los Angeles aus zu seinem Bruder in den Irak reisen will und beim Umsteigen in London am Flughafen von der Zollbehörde festgehalten wird. Amar Ala Jaafari hat sowohl die us-amerikanische als auch die irakische Staatsangehörigkeit; er hat in den USA gerade seine Dissertation als Wirtschaftswissenschaftler abgeschlossen und sehnt sich danach, endlich wieder seinen Bruder und dessen Familie zu besuchen. Er hatte geplant, in London zwei Tage mit einem befreundeten Journalisten verbringen, doch wird er bei der Ankunft festgehalten und ausführlich befragt; nach einiger Wartezeit wird ihm die Einreise nach Großbritannien ohne eine genaue Begründung verweigert. Immerhin darf er die Nacht im Flughafen verbringen, um am nächsten Tag Richtung Irak weiterreisen zu können. Diese Episode dient als Rahmen für eine Erzählung des Lebens Amars und seiner Familie. Sein älterer Bruder, der in den USA nie heimisch geworden ist, lebt inzwischen als Arzt im Nord-Irak; der Großteil der Familie lebt aber noch immer in Bagdad, und ihr Leben während und nach der amerikanischen Eroberung des Iraks durch die US-Amerikaner ist eines der bedeutenden Themen dieses zweiten Teils.

Abgeschlossen wird der Roman, wie schon gesagt, durch ein kurzes Interview der BBC mit Ezra, dessen Funktion oben schon kurz beschrieben wurde. Der gesamte Roman ist motivisch gut gearbeitet, er ist thematisch reich und mit bedeutender Souveränität konstruiert. Für einen Erstling ein erstaunlich objektives Buch, das sehr bewusst mit Distanz zu seinen Themen und den Distanzen zwischen seinen Figuren arbeitet. Es ist auch vollständig ohne den mitgelieferten voyeuristischen Schlüssel zu lesen und zu goutieren und durchweg auf der Höhe des von ihm verarbeiteten Stoffs. An den wenigen Stellen, die ich geprüft habe (ausschließlich im ersten Teil, die als Leseprobe greifbar ist), hat sich die Übersetzung bewährt.

Lisa Halliday: Asymmetrie. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. btb 71958. München: btb, 2020. Broschur, 316 Seiten. 11,99 €.

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut

Letztlich ist alles möglich. Vor allem hier bei Ihnen in Russland.

Es ist ja seit einiger Zeit Mode, Neu­über­set­zun­gen dadurch zu markieren, dass man Ihnen einen neuen Titel mitgibt; so auch hier: Aus dem Adelsnest (Dworjanskoje gnesdo) wird das semantisch sicherlich ebenso korrekte Adelsgut, was ein wenig verwundern darf, denn nicht nur nimmt es dem Titel das Heimische zusammen mit dem Provinziellen, es spielt im ganzen Roman ein Adelsgut auch keine bedeutende Rolle. Aber erfahrene Leser wissen, dass über die Titel der Bücher nicht immer die Übersetzerin entscheidet, auch wenn sie die Entscheidung nachträglich zu rechtfertigen hat. Lassen wir es auf sich beruhen.

Das Adelsgut (erschienen 1859) ist Turgenews zweiter Roman und sicherlich derjenige, der ihn in Russland als Romanautor fest etabliert hat. Erzählt werden eine Ehe- und eine Liebesgeschichte, beide unglücklich, die der etwas träge Fjodor Iwanytsch Lawrezki durchlebt. Lawrezki entstammt einer Mesalliance zwischen seinem adeligen Vater und einer Bedienten, die jener geschwängert und dann nur geheiratet hatte, um damit wiederum seinem Vater einen Tort anzutun. Lawrezki wächst unter der rationalistischen Fuchtel seines Vaters auf, versucht nach dessen Tod in Moskau zu studieren, verkuckt sich in Warwara Pawlowna, die lebenslustige Tochter eines Generals a.D., die ihn nicht nur heiratet, sondern von seinem Geld auch ein großes Haus in Paris führt, ihn in seinen Studien einschläfert und nebenbei nach Strich und Faden betrügt. Als Lawrezki entdeckt, dass er betrogen wird, läuft er einfach davon, zuerst nach Italien und dann zurück nach Russland, wo er sich der Bewirtschaftung seines Gutes widmen will. Unterwegs macht er Station bei entfernten Verwandten im Städtchen O., in dessen Nähe er über ein kleines Gut verfügt.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Lawrezki, inzwischen 35 Jahre alt, verliebt sich in die 19jährige Tochter des Hauses, Lisaweta Michailowna. Es fällt ihm nicht schwer, die Gegenliebe der jungen Frau zu gewinnen, und als er aus einer Zeitungsmeldung vom vorgeblichen Tod seiner Gattin erfährt, ist die offene Liebeserklärung gleich gemacht. Aber natürlich kommt es, wie es kommen muss: Als die beiden Liebenden reif sind, einander in die Arme und andere Körperteile zu fallen, taucht unvermittelt die tot geglaubte Warwara mit dem gemeinsamen Töchterchen wieder auf. Herzzerreißend verzichten die Liebenden auf einander, zähneknirschend vergibt Lawrezki seiner Frau und stimmt zu, für eine Weile mit ihr unter einem Dach zu leben, um seiner Tochter nicht den Weg in die gute Gesellschaft zu verbauen. Auf jegliches weltliche Glück verzichtend geht die fromme und weltfremde Lisa ins Kloster, während sich Warwara so gut wie bisher zu amüsieren versteht. Am Ende ist sie die Einzige, die aus dem allgemeinen Elend glücklich hervorgeht und bekommt, was sie will.

An diese insgesamt etwas seichte und flache Geschichte, der auch nicht durch die in ihr spielenden Charaktere aufgeholfen wird– nur die Figur Warwaras sticht mit ihrem amoralischen Erfolg etwas aus der literarischen Einheitsware heraus –, klebt Turgenew einen unerträglich Epilog, der acht Jahre nach der Haupthandlung den Gutsbesitzer Lawrezki an den Ort seines Unglücks zurückkehren lässt. Dort lebt nun eine neue Generation, fröhlich umeinanderspringend wie junge Hunde, deren Hauptbeschäftigung im Lachen und Hopsen besteht und die daher die positive Zukunft darstellt. Man sollte sich die Lektüre dieser abschließenden Dummheit ersparen!

Dass dieser Roman inhaltlich schwächelt bzw. deutlich dem damaligen populären Literaturgeschmack huldigt, bemerkte schon die zeit­­g­enös­sische Kritik (auch Turgenew selbst macht sich an einer Stelle ein wenig darüber lustig). Hoch gelobt wurde er aber wegen seiner sprachlichen Aus­ge­stal­tung, die man nun leider in einer anderen Sprache immer nur bedingt wiedergeben kann. Die Neuübersetzung von Christiane Pöhlmann ist angenehm zu lesen und so beweglich, dass sie in jeder Szene auf der Höhe des Erzählten ist. Auch mildert sie im Epilog das Pathos des Erzählers nicht ab, um einer heutigen Lesererwartung entgegenzukommen. Alles in allem hinterlässt der deutsche Text einen sehr runden Eindruck. Wenn nur der Inhalt etwas weniger klischeehaft wäre …

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut. Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 382 Seiten. 25,– €.

Aus meinem Poesiealbum (XXVI) ‒ Romantische Liebe

… und hätte sie sich nicht zweitens in einen jungen, durchreisenden Studenten verliebt, mit dem sie sogleich in einen emsigen, leidenschaftlichen Briefwechsel trat; in ihren Episteln erteilte sie ihm ihren Segen für ein gottgefälliges, herrliches Leben, wie das in derartigen Fällen üblich ist, brachte »ihr ganzes Sein« zum Opfer, verlangte nichts als seine Schwester zu sein, erging sich in Naturbeschreibungen, ließ auch Goethe, Schiller, Bettina und die deutsche Philosophie nicht unerwähnt und stürzte den armen jungen Mann schließlich in schiere Verzweiflung. Doch die Jugend nahm sich ihr Recht: eines schönen Tages erwachte er mit einem derart brennenden Hass auf seine »Schwester und beste Freundin«, dass er rasend vor Zorn um ein Haar seinen Kammerdiener verprügelt hätte und noch lange Zeit danach bei der geringsten Anspielung auf eine erhabene und selbstlose Liebe in Wut geriet …

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. München: Hanser, 2018. S. 285

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming

Diese Lektüre bedarf einiges an Erläuterungen. August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831) war ein Massenschriftsteller der Goethe-Zeit, der seine Romane in serieller Produktion schrieb. Er hatte einen ungeheuren Erfolg beim Publikum, wurde aber von den Kritikern, wenigstens von jenen, die wir auch heute noch lesen, im besten Falle als ein Trivialautor, im schlimmsten als ein Schreiberling unterster Kategorie angesehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er zu Recht weitgehend vergessen; dennoch ist das vorliegende Buch ein Nachdruck aus dem Jahr 2008 und in einer – wenigstens damals noch – halbwegs prominenten Buchreihe erschienen, den Haidnischen Alterthümern.

Bei den Haidnischen Alterthümern handelt es sich um eine in lockerer Folge herausgegebene Reihe von Büchern, die allesamt auf Hinweise Arno Schmidts zurückgehen. Schmidt hatte Mitte der 1950er Jahre damit begonnen, für den Südfunk Stuttgart, für den Alfred Andersch damals als Redakteur tätig war, sogenannte Nachtprogramme zu schreiben. Es handelte sich um dialogisch aufbereitete Essays zur Literatur, die spät abends gesendet wurden. Damals war die Arbeit für den Rundfunk für die meisten Schriftsteller recht attraktiv, da die Funkhäuser vergleichsweise gut bezahlten. Schmidt, dessen eigene Werke zwar Anerkennung bei Kritik und Kollegen fanden, sich aber nur schleppend verkauften, war auf Brotarbeiten wie Übersetzungen, Texte fürs Feuilleton oder eben auch die Nachtprogramme für den Funk dringend angewiesen.

Die Aufmachung der 2. Serie
der Haidnischen Alterthümer

Für die Funk-Essays griff Schmidt auf seine breite Lektüre der Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und konnte auf einige Autoren und Werke hinweisen, die damals halbwegs oder weitgehend vergessen waren. Als Schmidt dann nach dem Erscheinen von Zettel’s Traum (1970) auch für ein etwas breiteres Publikum zu einem Gerücht geworden war, wurden 1978 die Haidnischen Alterthümer begründet, die angeblich die Lieblingsbücher Arno Schmidts herauszubringen gedachten. Man könnte über diesen Anspruch nun Band für Band diskutieren, aber dafür ist hier kaum der richtige Platz. Wie dem auch sei: Es erschienen in 30 Jahren insgesamt 16 Titel, für die sich allesamt eine Empfehlung Arno Schmidts konstruieren ließ.

Im Jahr 2008 fand die Reihe dann ihr Ende mit dem hier besprochenen Roman. Schmidt hatte 1965 einen entsprechenden Funk-Essay verfasst, der den etwas merkwürdigen Titel Eine Schuld wird beglichen trug. Anlass dafür war, dass sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie über den Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué dem Urteil der Zeitgenossen folgend über August Lafontaine abfällig geäußert hatte. Angeblich hatte er damals auch drei von dessen Romanen gelesen und für schlecht befunden. Nun aber habe er sich eines Besseren belehrt, weitere Romane konsumiert und müsse Abbitte leisten: So schlecht seien Lafontaines Romane gar nicht gewesen. Ganz am Ende bespricht Schmidt dann auch für einige Minuten eben jenen Quinctius Heymeran von Flaming, der es deshalb zur Ehre eines Nachdrucks gebracht hat.

Der vierbändige Roman vom Ende des 18. Jahrhunderts umfasst 1.200 Seiten, auf denen leider nicht viel mehr steht, als bequem auch auf 300 gepasst hätte. Erzählt wird eine endlose Abfolge von Liebeshändeln, wobei Lafontaine auf dem Rücken dieses Stroms von Ge- und Missverständnissen eine milde Satire auf einige gelehrte Theorien seiner Zeit transportiert. Der Titelheld, der aus einem shandyianischen Adels-Haushalt stammt, dessen Hausherr besessen über seine Ahnenreihe dilettiert, eignet sich auf der Universität eine obskure Rassentheorie an, mit der er nun die Welt interpretiert und dabei natürlich aufs Vortrefflichste scheitert. Es wird unsäglich viel geweint – der Beweis der Echtheit der Gefühle in der bürgerlichen Literatur der Zeit – und geschwätzt, die Missverständnisse und ihre Auflösung sind sehr trivial und vorhersehbar. Auch der Humor, den man dem Buch durchaus nicht absprechen kann, reicht nur für den ersten Band aus; danach ist es wie auf der Rückreise von einer Kaffeefahrt: Man ist sicher, dass man jede mögliche Pointe schon mindestens zweimal gehört hat.

Es handelt sich bei diesem Buch um ganz gewöhnliche Unterhaltungsware des späten 18. Jahrhunderts, wie sie so seitdem in ungebrochener Tradition den Buchmarkt betritt und wieder verlässt. Der dünne satirische Anstrich hebt das Buch zwar ein wenig über die Masse hinaus, doch macht sich hier nur einer über ganz offensichtlichen Unfug der Anthropologen seiner Zeit lustig, ohne dabei wirklich das Niveau eines originellen und freien Denkens zu erreichen. Lafontaine steckt im Gegenteil ganz tief in der bürgerlichen Moral seiner Zeit fest und bedient letztlich die entsprechenden Vorurteile zuverlässig. Auch sind die meisten seiner Figuren gänzlich eindimensional und verfügen ausschließlich über Charakterzüge, die dem Verlauf der Handlung dienlich sind. Einzig die Mutter Flaming ist ihm ein wenig menschlich geraten; er wusste also schon, was er da treibt.

Mit Blick auf Arno Schmidt und seine banal-psychoanalytische Sprachtheorie – „Das’ss ja heutzutage bekannt genug, daß jeder Könner zu seinem Können grundsätzlich åuch noch ’ne gänzlich zwecklose Theorie hinzuerfindn muß.“ – ist es nicht unwitzig, dass er einen Roman in den Druck zurückgelobt hat, dessen Protagonist mit einer kruden, selbstgezimmerten Theorie durch die Welt läuft, mit der er überall nur Celten, Mongolen, Slaven und Neger wahrnimmt, aber nicht in der Lage ist, die Realität oder Individualität seiner Mitmenschen zu erfassen.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will – auch weil das Buch in die in Deutschland nur dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit gehört – kann getrost nach der Lektüre des zweiten der ursprünglichen vier Bände aufhören; ich selbst habe die letzten 450 Seiten nur mehr quer gelesen.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 2 Pappbände mit Leinenrücken, Silber-Kopfschnitt, Lesebändchen, 632 + 822 Seiten. 39,90 €.