Virginia Woolf: Mrs. Dalloway

Und Richard und Elizabeth waren ziemlich froh, dass es vorbei war …

Ein kleiner Roman, 1925 erschienen, der offensichtlich eine der frühen Reaktionen auf den Ulysses von James Joyce (1922) darstellt. Woolf experimentiert mit fließenden Über­gän­gen zwischen personalem Erzählen mit wech­seln­dem Fokus, erlebter Rede und stream of conciousness. Nachgebildet werden darüber hinaus hauptsächlich Er­zähl­tech­ni­ken aus dem Irrfelsen-Kapitel. Erzählt werden ungefähr 12 Stunden eines Tages im Sommer 1923, an dessen Abend Clarissa Dalloway einen Empfang in ihrem Haus gibt, der den Gipfel und zugleich das Ende des Romans bildet. Dabei ist Mrs. Dalloway kaum mit der Vorbereitung des Empfangs beschäftigt – das einzige, was als Vorbereitung zählen kann, ist, dass sie ihr Kleid, an dem eine Kleinigkeit genäht werden muss, für den Abend herrichtet –, auch wenn ein bedeutender Teil ihres Denkens um die Bedeutung und den Erfolg des Abends kreist.

Unterbrochen werden diese Gedanken durch den Besuch ihrer Jugendliebe Peter Walsh, der gerade aus Indien zurückgekehrt ist, um in London die Scheidung seiner unglücklichen Ehe zu betreiben. Walsh hat sich auf seine alten Tage (er ist 52 Jahre alt) in eine junge, verheiratete Frau verliebt; ob dies mehr als eine Phantasie ist, lässt sich aus dem Text heraus kaum beurteilen. Außerdem verfolgt der Text für eine Weile den Tag von Richard Dalloway, der nach einer etwas merkwürdigen Einladung bei einer Lady Bruton in einem plötzlichen emotionalen Überschwang seiner Frau einen großen Strauß Rosen vorbeibringt, sich aber nicht dazu überreden kann, ihr zu sagen, dass er sie liebe. Auch von der gemeinsamen Tochter Elizabeth erfahren wir das eine oder andere, ebenso wie von einigen anderen Freunden und Bekannten der Dalloways.

Als soziales Gegengewicht zu dem ansonsten durchweg der Oberschicht angehörenden Personal fungiert das Ehepaar Septimus und Lucrezia Warren Smith. Septimus ist mit einem unerkannten psychischen Trauma aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Aus Italien, wohin es ihn im Krieg verschlagen hatte, hat er seine Ehefrau nach London mitgebracht. Er hat seine alte Stellung in einem Büro wieder angetreten, ist aber mit den Jahren mehr und mehr in eine Psychose abgerutscht, die sich nun in Visionen seines im Krieg gefallenen Vorgesetzten manifestiert. Seine Frau, die angesichts seines immer merkwürdiger werdenden Verhaltens langsam verzweifelt, bringt ihn an diesem Tag erstmals zu einem berühmten Nervenarzt, der wenigstens den Zusammenhang mit dem Kriegserleben erkennt und ihn für mindestes sechs Monate in einem Sanatorium unterbringen will. Man muss feststellen, dass diese Nebenhandlung wohl die aussagekräftigste und interessanteste im ganzen Buch ist.

Bei aller Anerkennung der artistischen Anstrengung bleibt leider festzustellen, dass das Buch an seinem weitgehend unerheblichen Personal scheitert. Es mag sein, dass es sich dabei um eine milde Satire auf die englische Oberschicht handeln soll – besonders die Schilderung des sozialen und intellektuellen Leerlaufs beim abendlichen Empfang im Hause Dalloway nährt diesen Verdacht –, doch ist das Objekt dieser Satire inzwischen so weit von uns entfernt, dass wir ihren Biss kaum mehr empfinden, sondern uns konstruieren müssten. Doch dafür ist der Text eindeutig zu lang geraten. Am Ende geht es uns so, wie Richard und Elizabeth: Wir sind ziemlich froh, dass es vorüber ist.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. RUB 18886. Stuttgart: Reclam, 2012. Broschur, 231 Seiten. 6,80 €.

Henry James: Eine Dame von Welt

Das letzte Wort zu alldem musste lauten, dass Mrs. Headway ein Quälgeist war.

James Dame„Eine Dame von Welt“ heißt im Original “The Siege of London”, also Die Belagerung von London. Dass der Verlag eine solche Umbenennung für notwendig hielt, macht deutlich, dass James in Deutschland mittlerweile so unbekannt ist, dass man mit einer getreuen Übersetzung des Titels die Leser historischer Romane in die Irre zu leiten fürchtet. Ich vermute, dass es inzwischen in China eine Ausgabe von Thomas Manns „Der Zauberberg“ unter dem chinesischen Titel Das Sanatorium gibt, um die chinesischen Fantasy-Leser nicht zu verwirren. Einerseits ist eine solche Haltung in Zeiten eines immer breiteren und zugleich immer differenzierteren Buchmarktes verständlich (dazu gehört auch die hinzuerfundene Gattungsbezeichnung „Eine Salonerzählung“), andererseits nimmt die deutsche Ausgabe mit dieser Entscheidung dem intelligenteren Leser ein von James bewusst an den Anfang gesetztes Signal, um den Ton der Erzählung einschätzen zu können. Aber was nützt das beste Straßenschild, wenn es kaum wer als solches erkennt? Da kann man an derselben Stelle auch gleich eine Reklametafel aufstellen. Denn immerhin existiert ja noch die Straßenverkehrsordnung, wenn die auch kaum mehr wer kennt. „Das ist ein prächtiger Anfang! Wenn jeder nur erst wieder von Null ausgeht, da müssen die Fortschritte in kurzer Zeit außerordentlich bedeutend werden“, bemerkte Goethe zu Johann Daniel Falk am 17. April 1808. Wie rasch doch die unbedeutendsten Dinge zu vollständig nutzlosen Betrachtungen führen können.

Wie so oft bei James ist es nicht einfach zu entscheiden, wessen Geschichte eigentlich erzählt wird. Es beginnt mit einer Begegnung der beiden US-Amerikaner George Littlemore und Rupert Waterville mit Nancy Headway in der Pariser Comédie Française. Littlemore kennt Nancy aus seiner Zeit im Westen der USA; damals hieß sie noch Nancy Beck, und seit damals hat sie einige Ehen hinter sich gebracht. Nachdem sie mit dem Versuch, in die New Yorker High Society aufgenommen zu werden, gescheitert ist, versucht sie jetzt ihr Glück in London. Zu diesem Zweck hat sie dem deutlich jüngeren Sir Arthur Demesne den Kopf verdreht, den sie zu heiraten gedenkt, wenn er sich denn dazu bringen lässt. Dem steht im Wesentlichen seine Mutter im Weg, die den Verdacht hegt, Mrs. Headway sei nicht gesellschaftsfähig, es aber nicht nachweisen kann. Sie versucht sowohl Waterville, der für die US-Botschaft in London arbeitet, als auch Littlemore die entsprechenden Informationen zu entlocken. Littlemore, der mit der ganzen Sache eigentlich nichts zu tun haben will, knickt schließlich ein und bestätigt Lady Demesnes Verdacht. Doch es ist zu spät: Nancy ist bereits verlobt mit Sir Arthur und setzt sich gegen die Mutter letztlich durch.

Der moralische Konflikt ist interessanterweise der Littlemores: Nancy ist eine rücksichtslose Karrieristin, die schlicht versucht, ihre Interessen durchzusetzen; sie betrachtet das Normensystem der besseren Gesellschaft und seine Vertreter schlicht als Gegner, gegen die es sich durchzusetzen gilt. Waterville dagegen will als Vertreter des Normensystems erscheinen, ist aber nicht bereit, die daraus folgenden Konsequenzen zu ziehen: Von Lady Demesne nach der Vergangenheit von Nancy Headway befragt, windet er sich aus der Verantwortung heraus, obwohl er sie moralisch ebenso verurteilt wie die Fragestellerin oder seine Mutter oder Schwester. Littlemore schließlich, der das ganze als eine Art oberflächlichen Spiels ansieht und auf dem Standpunkt steht, dass Nancy jedes Recht hat zu versuchen, sich gegen den Widerstand der Gesellschaft durchzusetzen, ist derjenige, der Lady Demesne am Ende das liefert, was sie braucht. Er tut dies in dem Wissen, dass eine Verlobung bereits stattgefunden hat, und in der Überzeugung, dass seine Antwort wahrscheinlich nichts mehr ändern wird. Dennoch ist er es, der als einziger der moralischen Forderung nach Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander nachkommt. Ob Lady Demesne einen Anspruch auf diese Wahrhaftigkeit erheben kann, bleibt dabei ebenso ungeklärt wie die Frage, ob das moralische Urteil, das sich die High Society über Nancy Headway anmaßt, berechtigt ist oder nicht.

Hält man diese distanzierte Haltung des Erzählers mit dem historisierenden Originaltitel zusammen, bekommt man einen Eindruck von der über dem Ganzen der Erzählung liegenden Ironie: James erzählt diese Episode, als würde sie beispielsweise am Hofe Heinrich VIII. spielen, und er hält sie in ihren moralischen Konsequenzen wahrscheinlich für ähnlich relevant, als hätte sie sich dort abgespielt. Nimmt man allerdings an, die Erzählung sei eine Salonerzählung und handle von einer Dame von Welt, könnte dies im Einzelfall beim Leser zu einem ganz grundsätzlichen Missverständnis führen. Doch die Hauptsache ist natürlich, dass der Vertrieb zufrieden ist.

Ergänzt wird der Band durch einen Essay von Henry James, indem er unter anderem über eines der Vorbilder der Erzählung, Alexandre Dumas’ Komödie „Le Demi-Monde“, schreibt.

Henry James: Eine Dame von Welt. Eine Salonerzählung. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Berlin: Aufbau, 2016. Flexibler Leinenband mit Banderole, Lesebändchen, 176 Seiten. 16,95 €.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt

MacGregor-Shakespeares-WeltNeil MacGregor ist der Direktor des Britischen Museums und hat im Jahr 2011 mit seiner Kulturgeschichte „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ einen internationalen Bestseller geschrieben, die die Entwicklung der Zivilisation anhand ausgesuchter Artefakte aus dem Bestand des Museums nacherzählte. In ähnlicher Weise aufgebaut folgt nun ein Buch zur Zeit und der Welt Shakespeares, also der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Der Band ist reich illustriert und zeichnet in 20 Kapiteln anhand von Alltagsgegenständen und Druckwerken der Zeit ein durchaus weit gespanntes Panorama der englischen Kultur, Gesellschaft und Politik der Elisabethanischen und ersten Jahre der Jakobinischen Ära. Das ein oder andere Thema spielt bei Shakespeare nur indirekt eine Rolle, wobei MacGregor es versteht, auch die Blindstellen in Shakespeares Widerspiegelung seiner Lebenswelt in den Stücken interessant zu machen.

Das Buch versucht nicht, eine Shakespeare-Biographie zu liefern oder Shakespeares Stücke in irgendeinem erschöpfenden Sinne zu interpretieren (Interpretationen zitiert MacGregor klugerweise von Experten), es will nur die reichhaltige Verwebung der Stücke Shakespeares und der ihre Zuschauer (und ihren Autor) umgebenden Kultur an prominenten Einzelbeispielen aufscheinen lassen. Dies gelingt ihm ausgezeichnet. Das Buch ist als Einführung in die Welt Shakespeares und den Reichtum und die Offenheit seines Theaters bestens geeignet. Es macht Lust, sich mit der spannungsreichen und widersprüchlichen Kultur und Geschichte dieser Zeit, zu der Shakespeares Stücke nur ein Segment einer ganzen Reihe liefern, intensiver auseinanderzusetzen.

Erwähnt werden sollte auch, dass der Band nicht nur in sehr guter Qualität auf schwerem Papier gedruckt wurde, sondern bei einem Preis von knapp 30,– Euro auch mit einer Fadenheftung glänzt. Hätte man auch noch einige Druckfehler ausgemerzt (einer macht – in einer Bildunterschrift – aus dem gerade wieder einmal populären Gun-Powder-Plotter Guy Fawkes einen Guy Hawkes), wäre der Band ein Musterstück geworden.

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Zeit. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: C.H. Beck, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 29,95 €.

Valdimir Nabokov: Die Mutprobe

Die Aussicht, weitschweifige seichte Werke und ihren Einfluß auf andere weitschweifige seichte Werke zu untersuchen, reizte ihn nicht.

nabokov_werke_02Dieser 1930 unmittelbar im Anschluss an »Der Späher« auf Russisch geschrieben Roman macht lange Zeit den Eindruck eines konventionellen modernen (man entschuldige dieses in der Sache begründete Oxymoron) Entwicklungsromans: Erzählt werden die Jugend- und frühen Erwachsenenjahre des russischen Exilanten Martin Edelweiß (der seinen Namen Schweizer Vorfahren verdankt), der nach der Trennung der Eltern und dem Tod des Vaters mit der Mutter nach Westeuropa zieht, in Cambridge Irgendwas studiert, sich in Sonja, die Tochter einer anderen Exil-Familie verliebt, die aber nichts von ihm wissen will, und schließlich aus unklaren Gründen illegal nach Russland zurückkehrt und dort verschwindet. Eine oberflächliche Lektüre könnte dem Verdacht Vorschub leisten, dass Nabokov hier zur erzählerischen Harmlosigkeit seines ersten Romans »Maschenka« zurückkehrt.

Der Roman fällt allerdings durch zwei Eigenschaften auf: Zum einen wird die oft stagnierende Handlung durch sehr exakte atmosphärische Schilderungen aufgewertet, zum anderen wird das Verschwinden des Protagonisten nicht nur von langer Hand vorbereitet, sondern es wird auch als Verschwinden in eine phantastische, artistische Wirklichkeit dargestellt, was den vorherrschenden realistischen Ton des Romans komplett diskreditiert. Bereits als Kind träumt Martin davon, in dem Landschaftsbild über seinem Bett zu verschwinden, in dem er dem dort dargestellten Waldweg folgt, und Nabokov lässt für den aufmerksamen Leser wenig Zweifel daran, dass Martins letzter Weg ihn in das mit der von ihm geliebten Sonja zusammen erfundene Soorland führt. Dieser Übergang ins Phantastische ist allerdings auch das einzige, was sich vernünftigerweise mit dem durch und durch unpraktischen und weltfremden Martin anfangen lässt.

Der Roman ist alles in allem ganz nett zu lesen und wegen seines romantischen Gegenspiels unter scheinbar realistischer Flagge reizvoll. Am Ende wird ihn der Leser aber wahrscheinlich doch ein wenig enttäuscht zur Seite legen, denn der ästhetische Gewinn des artistischen Spiels fällt für die gut 300 Seiten doch ein wenig dünn aus.

Vladimir Nabokov: Die Mutprobe. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 327 (von 777) Seiten. 29,– €.

Charles Dickens: Große Erwartungen

Armer Junge!

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Dieser 1860/1861 entstandene Roman gehört nach »Oliver Twist« und »David Copperfield« sicherlich zu den beliebtesten Büchern Charles Dickens’. Das liegt wohl auch daran, dass Dickens die Sozialkritik, die etwa in »Bleakhaus« oder »Harte Zeiten« sehr im Vordergrund zu finden ist, hier wieder zugunsten einer eher unverbindlichen und humoristischen Erzählweise zurückgedrängt wurde. Dickens hat das Buch unter großem Zeitdruck in wöchentlichen Lieferungen für seine eigene Zeitschrift »All the Year Round« geschrieben, was sich in einem vergleichsweise reduzierten Figurenensemble und einigen deutlich stagnierenden Passagen niedergeschlagen hat. Auch ist die Konstruktion des Handlungs- und Beziehungsgeflechts bei weitem nicht so komplex wie etwa in »Bleakhaus«.

Erzählt wird die Lebensgeschichte des Jungen Philip Pirip, von allen nur Pip genannt, der als Waise im Haushalt seiner viel älteren, mit einem Schmied verheirateten Schwester lebt. Der Roman beginnt etwa in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts und spielt in der Hauptsache in London und dem östlich davon liegenden Marschland, in dem sich die Themse in die Nordsee ergießt. In diesem Marschland wächst Pip in ärmlichen, aber gesicherten Verhältnissen auf. Der Roman beginnt mit der schicksalshaften Begegnung Pips mit einem Flüchtling von einem der in der Nähe liegenden Gefängnis-Schiffe. Halb aus Mitleid, halb aus Angst vor dem unheimlichen Menschen versorgt ihn Pip mit Nahrunsgmittels und einer aus der Werkstatt seines Ziehvaters gestohlenen Feile. Doch wird der Flüchtige trotzdem bald wieder eingefangen und verschwindet für lange Zeit aus dem Buch.

Zur selben Zeit beginnt Pip damit, regelmäßig das Haus von Miss Havisham zu besuchen. Miss Havisham ist die Erbin eines Brauers und als junge Frau von einem Hochstapler am Tag ihrer Hochzeit sitzen gelassen worden. Seit diesem Tag lebt sie vereinsamt in der elterlichen Villa, in der alles unverändert so geblieben ist, wie es zum Zeitpunkt der geplanten Hochzeit war. Sie selbst trägt noch immer das Hochzeitskleid, das inzwischen so weit heruntergekommen ist wie das Haus, in dem sie lebt. Der etwa sechsjährige Pip wird als Spielgefährte für die gleichaltrige Estella eingeladen, die, dem Anschein nach ebenfalls eine Waise, als Ziehtochter im Hause Havisham lebt. Estella wird von Miss Havisham zu ihrem Rachewerkzeug an den Männern erzogen, und Pip ist eines der ersten Übungsobjekte für die junge Herzlose, was natürlich zu nichts anderem führen kann als dazu, dass er sich unsterblich in das seelenlose Wesen verliebt.

Als Pip in die Pubertät kommt, bricht Miss Havisham den Kontakt zwischen ihm und Estella ab und versorgt den Jungen, in dem sie seine Lehre in der Werkstatt seines Ziehvaters finanziert. Diese Lehre wird nach einigen Jahren durch das überraschende Erscheinen des Londoner Anwalts von Miss Havisham, Mr. Jaggers, abgebrochen, der Pip eröffnet, er sei von einem seiner Klienten als Erbe eines großen Vermögens vorgesehen worden und solle deshalb von nun an zum Gentleman ausgebildet werden. Er werde in London leben, Unterricht erhalten und sich auf das sorgenfreie Leben in der besseren Gesellschaft vorbereiten. Für seinen Unterhalt bis dahin sei gesorgt; er dürfe aber in keinem Fall nach der Identität seines Wohltäters forschen. Für Pip ist nur eine Erklärung möglich: Miss Havisham hat sich eines anderen besonnen und will ihn zum Ehemann für Estella heranziehen. Dass sich diese offensichtliche Lösung des Rätsels als falsch erweisen muss, versteht sich von selbst.

Es ist nicht wichtig, hier die Auflösung dieser langen Exposition nachzuerzählen. Reizvoll ist dieser Entwicklungsroman in der Hauptsache dadurch, dass seine beiden Hauptfiguren über weite Strecken als Marionetten der Intentionen anderer agieren und Pips Erwachsenwerden im wesentlichen Sinne erst einsetzt, als er sich von dem für ihn vorgezeichneten Weg löst und für sich selbst und seinen Wohltäter Verantwortung übernimmt. Dickens verweigert sich dabei dem in der Exposition vorgezeichneten Happy End und überführt seine beiden Protagonisten statt dessen in ein ganz gewöhnliches Unglück.

Wie immer brilliert Dickens besonders in den Rand- und Nebenfiguren des Romans. Sowohl der monomanische Mr. Jaggers als auch sein dualistischer Gehilfe Wemmick machen dem Leser viel Vergnügen, und auch der kinderreiche Haushalt von Pips Lehrer Mr. Pocket hinterlässt mit seinem Chaos einen tiefen Eindruck. Überhaupt finden sich, wie bereits gesagt, zahlreiche humoristische Passagen, auch wenn sie im Gesamtzusammenhang des Romans zum Teil etwas erratisch wirken.

Die Neuübersetzung Melanie Walz ist gut zu lesen und hat sich an den Stellen, an denen ich sie verglichen habe, als zuverlässig und präzise erwiesen. Sie soll im November dieses Jahres auch bei dtv im Taschenbuch erscheinen.

Charles Dickens: Große Erwartungen. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. München: Hanser, 2011. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 829 Seiten. 34,90 €.