Heute wurde in der »Welt« (Die literarische Welt, S. 2) von Marc Reichwein mein lektürebegleitendes Blog zettels-traum-lesen.de vorgestellt:
Solche Anerkennung freut einen natürlich.
Lektüren eines Nachtwächters
Heute wurde in der »Welt« (Die literarische Welt, S. 2) von Marc Reichwein mein lektürebegleitendes Blog zettels-traum-lesen.de vorgestellt:
Solche Anerkennung freut einen natürlich.
Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:
Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.
Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.
Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.
Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!
Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.
Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.
Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.
Im Oktober 2006 stellte der Eichborn Verlag für die wohl bekannteste anspruchsvolle Buchreihe auf dem deutschen Buchmarkt, die »Andere Bibliothek« zwei neue Herausgeber vor: Michael Naumann und Klaus Harpprecht. Wie Spiegel online berichtet, hat der Verlag nach nur drei Jahren diese beiden Herausgeber wieder entlassen:
„Der Eichborn-Verlag hat sich entschieden, mit modernen Marketing- Methoden nach einer neuen Zielgruppe für die Andere Bibliothek zu suchen“, sagte Naumann am Donnerstag. „Sowohl Klaus Harpprecht als auch ich sind der Meinung, dass Zielgruppen-Ideologie jeglicher Art, ob gruppen- oder altersspezifisch, mit dem Charakter dieser Buchreihe nichts zu tun hat. Wir bedauern die Entscheidung des Verlags und wünschen dieser wunderbaren Buchreihe eine Zukunft, die ihrer Tradition entspricht.“
Nun ist die »Andere Bibliothek« der Inbegriff einer Zielgruppen-orientierten Buchreihe gewesen, und man kann begreifen, dass der Verlag zwei Herausgeber der Reihe entlässt, die gerade dieses Konzept nicht verstehen. Andererseits haben wir ja bereits damals, als die Reihe ihren Gründer Hans Magnus Enzensberger verlor, festgestellt, dass auch der Eichborn Verlag lange schon jeglichen Kontakt mit der ursprünglichen Zielgruppe der Reihe verloren hatte, nämlich mit den Buchliebhabern, die rare Texte in solider handwerklicher Ausstattung wollten, statt mit der üblichen Massenware der Papierindustrie abgespeist zu werden. Dieses Profil ist der »Andere Bibliothek« inzwischen aber komplett abhanden gekommen.
Nun soll es ein dem breiten Publikum eher unbekannter Macher richten:
Der Eichborn Verlag teilte mit, neuer Programmleiter der Anderen Bibliothek werde ab 1. Januar 2011 Christian Döring. Der frühere Suhrkamp-Lektor mit Hang zum schillernden Auftritt gilt als eine der markanten Gestalten der deutschen Buchbranche.
Wohlgemerkt, er gilt als markante Gestalt; Enzensberger war eine markante Gestalt. – Sic transit gloria mundi.
Ich habe ein wenig gezögert, hier eine Rezension des eBook-Readers einzustellen, den ich mir gekauft habe, denn schließlich berichte ich auch nicht davon, wenn ich mir eine neue Leselampe kaufe. Aber nun hat Giesbert danach gefragt, also will ich wenigstens ein paar Eindrücke aufschreiben. Diejenigen, die hier regelmäßig mitlesen, entschuldigen hoffentlich diesen Ausflug in die Sphäre des Erlebnis-Aufsatzes.
Gekauft habe ich einen eBook-Reader in der Hauptsache aus dem Grund, dass vor über einem Jahr die Batterien meines Handhelds – es war ein Palm – aufgegeben haben, und ich beschlossen habe, das Gerät weder reparieren zu lassen noch zu ersetzen. Meine Termine verwalte ich seitdem im Netz und komme auch auf diese Weise prima zurecht. Was mir mit der Zeit allerdings wirklich fehlte, war der Reader auf meinem Palm. Zugegeben: Das Display war winzig, aber ich hatte immer etwas zu lesen dabei und nicht nur ein Buch, sondern gleich eine ganze Auswahl. Ich habe daher mit stillem Interesse die Entwicklung der eBook-Reader verfolgt. Nachdem der PRS-600 erschienen war, habe ich auf eine Gelegenheit gewartet, das Gerät anzuschauen, und es dann auch gekauft.
Entscheidend beim PRS-600 war für mich der Touchscreen, der es einerseits ermöglicht, Textstellen auf dem Bildschirm direkt zu markieren, und andererseits das Anlegen von Notizen erlaubt. Wie man in allen Rezensionen des Readers lesen kann, nimmt man dafür einen etwas schwächeren Kontrast des Bildschirms in Kauf; außerdem neigt der Bildschirm dazu, leicht zu spiegeln. Beides habe ich mir vor dem Kauf angeschaut und es als tolerabel empfunden. Es empfiehlt sich, den PRS-600 bei gutem Licht zu benutzen, wobei nach meiner Erfahrung eine Lichtquelle direkt von oben oder schräg hinten ideal ist. Je besser das Licht, desto besser der Kontrast. Außerdem sollte man nicht erwarten, dass ein Reader die Lesequalität einer gedruckten Buchseite erreicht. Das mag bei guten Lichtbedingungen so scheinen, aber bei schlechten Lichtverhältnissen zeigt sich die Überlegenheit einer gedruckten Seite.
E-Books mit einer flexiblen Seitengröße (z. B. im epub-Format) kann der Reader in variabler Schriftgröße darstellen, wobei für meinen Geschmack der Sprung zwischen den beiden kleinsten Größen S und M schon zu heftig ist. Alternativ kann man die Anzeige um 90 Grad drehen und sich die obere und untere Hälfte der Seite nacheinader anzeigen lassen. Insbesondere bei Büchern mit festem Seitenformat (etwa pdfs mit eingescannten Seiten) führt dies zu guten Ergebnissen.
Nicht unproblematisch ist aber die von Sony mitgelieferte Software zur Verwaltung des Readers. Mir ist eine dauerhaft funktionierende Installation unter Windows Vista nicht gelungen. Bei meiner Recherche bin ich auf entsprechende Berichte auch von Nutzern von Windows 7 gestoßen. Zum Glück habe ich noch einen Rechner der mit Windows XP arbeitet; hier ist die Installation problemlos verlaufen und der Betrieb ist einwandfrei.
Lesestoff für den Reader gibt es natürlich zu kaufen (der PRS-600 bevorzugt das epub-Format, kann aber auch pdf, rtf, Word-doc u.a.), aber auch auszuleihen (die Stadtbibliothek Solingen hat ein entsprechendes Angebot). Bei mir kommt der bedeutende Teil aber von den CD-ROMs der Digitalen Bibliothek. Für diese CDs gibt es ein Update der Verwaltungssoftware (Digitale Bibliothek 5), das die strengen Restriktionen der Vorläuferversion aufhebt: Es können nun beliebig viele Seiten gleichzeitig kopiert oder ausgedruckt werden und es lassen sich ganze Bücher auf einen Schlag in diverse Formate (darunter auch epub) exportieren. So habe ich etwa ein File mit dem kompletten Shakespeare erstellt und ebenso mit der deutschen Gesamtausgabe der Märchen aus 1001 Nacht. Selbst solche großen Files mit mehreren tausend Seiten sind innerhalb weniger Sekunden exportiert und werden vom Reader problemlos verarbeitet.
Nach der Lektüre eines vollständigen Buchs auf dem Reader bin ich recht zufrieden mit der Wahl. Sicherlich könnte manches besser sein, aber ich habe nun wieder die Möglichkeit, stets eine kleine Bibliothek dabeizuhaben und das in besserer Qualität und höherer Flexibilität als zuvor.
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Infinite Jest von David Foster Wallace für 100 Tage ein Leserblog aufgemacht. Hier darf eine handverlesene Auswahl von Autoren seine Leseeindrücke des Buches niederschreiben. Im Grunde eine richtige Idee: Warum sollen solche Initiativen nicht von den Verlagen ausgehen? Und warum sollen nicht einige gute Leser (und viele Autoren sind gute Leser) den Ton vorgeben, in dem über ein Buch gesprochen wird?
Auf den ersten Blick ist das alles auch eine Bereicherung, die Beiträge sind bunt gemischt vom Erlebnisbericht bis zur theoretischen Auseinandersetzung. Leider ist das alles aber auch einmal mehr sehr deutsch geraten. In ihrem heutigen Beitrag schreibt die Berliner Schriftstellerin Annett Gröschner das folgende:
Doofe Sportarten
Ich mag amerikanische Autoren, seitdem ich lesen kann, aber ich habe ihrer Vorliebe für Baseball nie irgendetwas abgewinnen können und mir auch nie die Mühe gemacht, die Regeln zu verstehen. Mit Football und Tennis geht es mir ähnlich. In der Hochzeit der deutschen Tennisleidenschaften der Achtziger mit ganzen Nächten voller Grand-Slam-Turniere und Wimbledon-Wettbewerbe im Fernsehen, bin ich lieber zum Fußball gegangen. Tennis ist immer irgendwie mit Boris Becker verbunden und das spricht nicht gerade für diesen Sport.
Ich schwächele etwas mit meinem Spaß, weil das Tennisturnier im Roman nicht aufhören will. Ich habe vor lauter Langeweile vorgeblättert, das geht noch 40 Seiten so weiter und dann kommt Orin mit Football. Auch nicht gerade meine Lieblingssportart. Ich sehne mich nach einem blutigen Boxkampf oder einer grundsoliden 100-m-Freistil-Staffel, aber leider wäre Hal sowohl als Boxer als auch als Schwimmer eher unglaubhaft. O.K., ich muss da jetzt durch.
Das ist nun nichts als Doofes Gemaule; soll sie doch was anderes lesen oder weiterblättern, wenn ihr die verständliche Vorliebe des Autors für bestimmte nationale Sportarten nicht passt.
Ich habe also spontan einen Kommentar abgesetzt:
Wenn einem ein Buch so gar nicht passt, sollte man sich vielleicht einfach ein eigenes schreiben. Es ist aber zu befürchten, dass Figuren wie Lothar Matthäus oder Lukas Podolski ebenso wenig für den Fußball sprechen wie Boris Becker für das Tennis.
Es mag nicht ganz genau dieser Wortlaut gewesen sein, aber es ist ziemlich nahe dran. Der Kommentar wurde einfach gelöscht. Es ist das gute Recht eines Bloginhabers, so etwas zu tun. Habe ich also einen zweiten Kommentar geschrieben:
Darf ich fragen, warum mein Kommentar gelöscht wurde?
Durfte ich offensichtlich auch nicht, denn auch dieser Kommentar verschwand im digitalen Orkus. Also eine Mail an den Verantwortlichen Guido Graf geschrieben:
Sehr geehrter Herr Graf,
ich habe heute versucht, einen Kommentar auf http://www.unendlicherspass.de/2009/09/07/doofe-sportarten/ abzugeben. Er ist gelöscht worden, obwohl er – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – keinen anstößigen Inhalt hatte. Auch meine Nachfrage, warum der Kommentar gelöscht worden sei, wurde kommentarlos gelöscht.
Ist das die Art, wie KiWi mit seinen Lesern umzugehen wünscht? Ich bin ein wenig vor den Kopf gestoßen.
Mit bestem Gruß, Marius Fränzel
Und gleich bekam ich eine zackige Antwort:
Sehr geehrter Herr Fränzel,
wo der Spaß endet – darüber kann man sicher streiten, aber in diesem Fall schien meiner – leider maßgeblichen – Meinung nach die Grenze überschritten.
Ich möchte Sie nicht davon abhalten, das mit Helge Malchow zu diskutieren. Meine – s.o. – Meinung ist nicht automatisch identisch mit der des Verlags.
Beste Grüße,
Guido Graf
Tja, selbst der Unendliche Spaß endet an den Grenzen des deutschen Humors!
Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (Köln), teilt in einem Rundschreiben »u. a.« mit:
Die Kleist-Jury hat Daniel Kehlmann als Vertrauensperson für den Kleist-Preis 2008 bestimmt und dieser hat als Preisträger Max Goldt ausgewählt, einen Prosakünstler, den Sie vor allem als Kolumnist der ‚Titanic‘ kennen, als einen, der in den letzten 20 Jahren den deutschen Alltag zur Kenntlichkeit entstellt hat – in Witz, Scharfsinn, ästhetischem Urteilsvermögen dem großen Sprachkritiker Karl Kraus vergleichbar.
Nun ist ja manches vergleichbar, aber Goldt und Kraus?
Vor solchem Helden hat es mir gegraut,
da wagt’ ich höchstens diese wenigen Verse:
Er gleicht dem Siegfried durch die dicke Haut
und dem Achilles durch die Ferse.
Aus dem Verein sollte ich wohl auch besser wieder austreten.
Einer der seltenen Fälle, in denen ein englischsprachiges Buch einen deutschen Titel trägt: Das Wort Zugzwang stammt aus der deutschen Schachterminologie und ist heute weltweit gebräuchlich. Es bezeichnet Stellungen, in denen für den am Zug befindlichen Spieler jeder mögliche Zug zum Partieverlust führt; man sagt dann: »Der Spieler ist in Zugzwang.« Zugzwang entsteht am häufigsten in Endspielen und ist dort ein wichtiges, für beide Seiten schwer kalkulierbares taktisches Mittel.
Die deutsche Ausgabe ist von Bloomsbury mit einer beachtlichen Kampagne beworben worden, in der der Verlag neben den üblichen buchhändlerischen und journalistischen Kanälen auch die Schachmedien konsequent bedient hat. Das Buch hatte daher beim Erscheinen eine breite und beinahe durchweg positive Publicity, was wohl in der Hauptsache daran lag, dass kaum einer der Rezensenten es tatsächlich gelesen hatte. Nur in Einzelfällen ist darauf hingewiesen worden, dass das St. Petersburger Schachturnier des Jahres 1914 eher als Kulisse dient, als dass es eine tragende Rolle spielen würde. Doch zum schachlichen Anteil weiter unten noch einige Worte.
Erzähler des Romans ist der St. Petersburger Neurologe und Psychoanalytiker Dr. Otto Spethmann, der unter anderem auch einige Prominente behandelt. Wie schon angedeutet, spielt das Buch im Frühjahr 1914, kurz vor und während des berühmten St. Petersburger Turniers, das nicht nur vom russischen Zaren direkt gefördert wurde, sondern an dessen Ende auch die ersten offiziellen Großmeistertitel verliehen wurden. Allerdings beginnt Bennetts Geschichte erst einmal mit einem Mord: Am 14. März 1914 (man fragt sich unwillkürlich, ob nach julianischem oder gregorianischem Kalender, aber solche Feinheiten sind dem Autor gänzlich fern) wird der St. Petersburger Zeitungsherausgeber Gulko auf offener Straße ermordet. Wie wir wenige Seiten danach erfahren, ist dies nicht der einzige Mord des Tages, denn wenig später erhält Dr. Spethmann den Besuch des Polizeiinspektors Lychev, der ihn in einer Mordsache befragt, bei der beim Opfer eine Visitenkarte des Arztes gefunden wurde. Spethmann gibt wahrheitsgemäß Auskunft, dass ihm der Name des Ermordeten nichts sage und wird für den nächsten Tag zusammen mit seiner Tochter Catherine (wahrscheinlich heißt sie Katharina, aber solche Feinheiten sind dem Autor gänzlich fern) aufs Revier bestellt.
Als er dies noch am selben Abend einer seiner Patientinnen, Anna (we need a girl in the story, who is she and what does she do?), erzählt, arrangiert diese sofort einen Termin bei ihrem geld- und einflussreichen Vater, der Spethmann weitere Belästigungen der Polizei ersparen soll. Allerdings hat dieser Versuch eher den gegenteiligen Effekt: In der Folge werden Spethmann und seine Tochter inhaftiert und verdächtigt, Kontakte zu Verschwörern zu haben, die planen, den Zaren zu töten. Es erweist sich allerdings, dass Catherine den Ermordeten Visitenkartenträger intim kannte, sich aber weigert, der Polizei mit irgendwelchen Angaben dienlich zu sein. Trotz oder wegen der Sackgasse, in die die Untersuchungen Lychevs damit geraten, werden Vater und Tochter aus der Haft entlassen (auch dem Autor ist inzwischen aufgefallen, dass mit einem Protagonisten im Gefängnis die Handlung nicht recht vorwärts will) und geraten, wie man sich leicht denken kann, nahezu augenblicklich in den Sog schier unglaublicher Ereignisse: Es erweist sich, dass mit Ausnahme von Spethmann nahezu keine der handelnden Personen ist, was sie zu sein scheint. Der staatstreue Inspektor ist in Wirklichkeit ein Bolschewist, die brave Tochter nicht nur promisk sondern auch noch Bolschewistin, der Bolschewist Petrov wiederum ein Handlanger der Reaktion, der scheinbar hilfreiche Vater Annas ein Judenhasser und Verschwörer, der Pianist ein Doppelspion und nur der Schachspieler Rozental (eine grobe Mischung aus Akiba Rubinstein und Alexander Lushin, aber Feinheiten liegen dem Autor ohnehin gänzlich fern) ist wirklich der Neurotiker, als der er erscheint. Die Fabel ist ebenso wirr wie uninteressant, wie sich das für dieses Genre wohl gehört, und gewürzt mit der heute anscheinend unvermeidlichen Portion Pornographie: »‘How many fingers now?’ she gasped.« Eben ein Buch, wie solche Bücher eben sind; suum cuique.
Geschrieben ist das Dings in einer glatten und einfach zu konsumierenden Sprache ohne jeglichen artistischen Anspruch. Motivisch herrschen einzelne Unsicherheiten (so dürfte ein angesehener Arzt in Petersburg im Jahr 1914 sicherlich daheim und in der Praxis einen Telefonanschluss besessen haben, eher zweifelhaft aber scheint, dass er über eine Telefonanlage verfügt, die das Durchstellen von Gesprächen aus dem Vor- ins Behandlungszimmer erlaubt; das mit dem Verhältnis des Autors zu Feinheiten hatte ich wohl schon erwähnt, oder?), aber das muss die Konsumenten einer solchen rattling good story nicht unbedingt stören. Bleibt das Schachliche:
Schachlich hat das Buch 2½ Ebenen: Die halbe besteht darin, dass der Autor immer wieder durchblicken lässt, dass das Motiv des Zugzwanges die gesamte Handlung strukturieren, ja sogar als Allegorie der Krise der russischen Monarchie schlechthin taugen soll. Dies dürfte nur sehr einfach gestrickte Gemüter überzeugen.
Eine Ebene wird von einer Fernpartie gebildet, die Spethmann mit dem ihm befreundeten Pianisten Kopelzon spielt und deren Endphase wir Zug um Zug mitgeteilt bekommen. Bennett hat hierfür, wie er selbst angibt, die Partie Daniel King vs. Andrei Sokolov, Schweizer Meisterschaft 2000, benutzt. Das Buch setzt im Endspiel nach dem 34. Zug von Schwarz ein (Diagramm):
Es folgt: 35.Tg2 (diesen feinen Zug findet Spethmann nicht selbst, sondern er wird ihm geschenkt) Txg2+ 36.Kxg2 Dc7 37.Df5+ Kh6 38.Df6+ Kh7 39.Kg3 Kg8 40.Kh4 Db6 41.Kh5 Kf8 42.Kh6 Ke8 43.Kh7 Dc5 44.Dg7 Ke7 45.Dg5+ Ke8 46.Kg8 Dc7 47.Dh6 De7 48.Dg7 a6 49.a3 a5 50.a4 (Diagramm unten). Angeblich erkennt Kopelzon erst an dieser Stelle, dass er nun in Zugzwang ist und den König vom Bauern entfernen müsse, was den Bauern und damit auch die Partie einstellt: »He had no choice but move the king away from the defence of the f-pawn.« Nun könnte man, wenn man denn schon seine Amateure von 1914 wie Profis des Jahres 2000 spielen lässt, auch den computergestützten Kommentar wagen, dass hier 50… Kd8 vielleicht nicht die zähste Verteidigung ist, sondern Schwarz mit 50… Dh4 noch auf einen späteren Fehler des Gegners spekulieren könnte. Der Rückzug des Königs kommt einer Resignation gleich, die vielleicht für Sokolov in einer Partie gegen King passt, für Kopelzon, der sich einem Patzer wie Spethmann gegenübersieht, aber ganz sicher nicht. Es folgt noch: 50… Kd8 51.Df8+ De8 52. Kg7 1-0. Wichtig ist natürlich auch hier, dass die Partie am Ende durch einen Zugzwang entschieden wird und sich auf diese Weise wenigstens oberflächlich dem vorgeblichen Generalbass einfügt.
Diejenige Ebene aber, die in den meisten voreiligen Rezensionen am deutlichsten herausgestellt wurde, ist das St. Petersburger Turnier von 1914. Es dient, wie oben bereits angedeutet, lediglich als Kulisse vor der die ansonsten gänzlich schachfremde Handlung abrollt. Dass eine der Nebenfiguren der Handlung einer der Teilnehmer am Turnier ist, bleibt ebenfalls rein dekorativ; die gleiche Funktion könnte etwa auch von einem Musiker erfüllt werden. Nun könnte man die Hoffnung haben, dass sich Bennett schachlich oder wenigstens atmosphärisch mit dem Turnier auseinandersetzt, aber auch dies ist nicht der Fall. Zwar lässt er seinen Protagonisten kurz vor der Flucht aus St. Petersburg wenigstens rasch bei der vierten Runde des Turniers hereinschauen, aber damit beginnt auch gleich das Elend: Als Spethmann die Turnierhalle betritt, sind nach seiner Aussage die Partien schon deutlich fortgeschritten (»well under way«). Er entdeckt Rozental, der in der vierten Runde mit Schwarz gegen Lasker spielt, versteckt hinter einer Palme sitzend, während Lasker über seinen 60. Zug nachdenkt. Er zieht schließlich seinen Bauern nach b3, wodurch eine aus der Partie Rubinstein vs. Lasker bekannte Stellung entsteht, die auch im Buch abgebildet ist (Diagramm):
As I went back to Lychev, there was a stir at the table. Lasker had made his move, pushing his b-pawn one square forward to b3. One of the spectators gasped, ‘Zugzwang!’ Rozental trooped from his refuge and stared at the position. It was true. He would now be forced into the role of author of his own destruction.
(Als ich zu Lychev zurückging, entstand eine Bewegung am Tisch. Lasker hatte seinen Zug ausgeführt und seinen b-Bauern um ein Feld nach b3 vorgerückt. Einer der Zuschauer keuchte: »Zugzwang!« Rozental kam aus seinem Versteck hervor und starrte aufs Brett. Es stimmte. Er würde nun gezwungen sein, den Urheber seiner eigenen Vernichtung zu spielen. [Eigene Übersetzung.])
Bis dahin alles ganz schön und gut. Nur folgt leider unmittelbar darauf ein Absatz, der den ganzen Eindruck zunichte macht: Während Spethmann dies alles beobachtet, merkt er zugleich, dass er von der Bühne aus erkannt worden ist. Da er von der Polizei gesucht wird und im Fall einer Verhaftung um sein Leben fürchten muss, verlässt er zusammen mit Lychev fluchtartig den Spielsaal:
As we started away, the spectators sent up a sudden murmur of speculation. Looking back, I saw Lasker taking the knight on d2 with his queen. He pressed his clock to start Rozental’s ticking. As one body, the spectators turned their gaze to the potted palm, from which Rozental duly emerged, eyes cast down, arms rigidly at his side, hands clenched. He took his seat and, after the briefest glance at the new position, moved his f-pawn one square forward.
(Als wir uns aufmachten, ließen die Zuschauer plötzlich ein spekulierendes Gemurmel hören. Zurückblickend sah ich, wie Lasker den Springer auf d2 mit seiner Dame schlug. Er drückte die Uhr, um die Rozentals losticken zu lassen. Wie ein Mann wandten die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit der Topfpalme zu, hinter der Rozental erwartungsgemäß auftauchte, die Augen niedergeschlagen, die Arme eng angelegt, die Hände zu Fäusten geballt. Er setzte sich und zog, nach einem ganz kurzen Blick auf die neue Stellung, seinen f-Bauern ein Feld nach vorn. [Eigene Übersetzung.])
Selbst der nicht besonders im Schachspiel bewanderte Leser könnte sich hier wenigstens einen Augenblick lang darüber wundern, warum Lasker schon wieder am Zug und Rozental hinter der Palme ist und von welchem Springer oder welcher Dame hier wohl die Rede ist, da in der abgebildeten Position offensichtlich keine der beiden Figuren vorhanden ist. Und er wunderte sich zu Recht: Denn diese Beschreibung bezieht sich offensichtlich auf eine ganz andere Stellung derselben Partie: Mit seinem 11. Zug hatte Rubinstein Laskers Springer auf d2 geschlagen (Diagramm) und der zitierte Absatz beschreibt nun die nächsten beiden Züge: 12.Dxd2 f6. Es scheint so zu sein, dass Bennett in einer älteren Fassung des Buchs ein viel früheres Stadium der Partie Lasker vs. Rubinstein verarbeiten wollte, sich aber angesichts des Einfalles, das Buch »Zugzwang« zu nennen, dann für die Stellung nach 60.b3 entschieden hat. Nur hat er leider vergessen, den zitierten Absatz aus dem Manuskript zu löschen oder umzuschreiben.
Nun frage ich mich natürlich, wie viele Leute – vom Autor und dem Lektorat einmal abgesehen – das Buch vor und seit dem Erscheinen tatsächlich gelesen haben und ob kein einziger seither in der Lage war, diesen Fehler zu bemerken und Verlag oder Autor anzuzeigen. Und was hat der Verlag in der Zeit gemacht: Das Geld gezählt? Muss ein solcher schriftstellerischer Patzer tatsächlich bis in die Taschenbuch-Ausgabe durchgeschleift werden? Vielleicht kann uns einer der Besitzer der deutschen Ausgabe mitteilen, ob sie diesen Unfug ebenfalls reproduziert; die Stelle ist aufgrund des Diagramms ja rasch zu finden. Wundern würde es mich nicht. [Vgl. den Kommentar unten.]
Leider nur ein oberflächlicher Roman mehr, der wie viele seiner Vorläufer das Schach rein dekorativ verwendet. Als Thriller und Lesefutter wahrscheinlich ganz tauglich, aber eben auch nicht mehr als Standardware.
Ronan Bennett: Zugzwang. London: Bloomsbury Paperbacks, 2008. Broschur mit geprägtem Deckel, 280 Seiten. Ca. 9,– €.
Zeno.org ist ein Ableger der Digitalen Bibliothek. Angefangen hat diese Seite als kommerzieller Download-Anbieter, bei dem man Bände der Digitalen Bibliothek erwerben und auf den eigenen Rechnen herunterladen konnte. Heute Nacht um 0:00 Uhr startet Zeno.org außerdem offiziell die größte freie deutschsprachige Online-Bibliothek. Dieser Status wird auch der Tatsache geschuldet sein, dass Zeno.org als Mirror der Wikipedia fungiert.
Insgesamt wird Zeno.org rund 1,6 Millionen Seiten mit etwa 600 Millionen Wörtern und 420.000 Bildern anbieten. Neben Allgemeinen Lexika – besonders historisch wichtigen – finden sich umfangreiche Texte zu Geschichte, Philosophie, Kunst und Kunstgeschichte sowie aus der klassischen Literatur. Das ist kein Pappenstiel; und diese Bibliothek soll kontinuierlich weiter wachsen.
Zeno.org setzt auf ein Konzept von Sponsoring und Buchpatenschaften, das den Bestand und die Erweiterung der Bibliothek finanzieren soll. Nähere Einzelheiten liefert die Seite. Wir werden das Projekt mit großem Interesse beobachten und hoffen, dass sich die Professionalität der Digitalen Bibliothek auch bei diesem Projekt fortsetzen wird, und wünschen der Seite eine blühende Zukunft.
Anlässlich des gerade erschienenen Buches »Der Schrecksenmeister« hat der zamonische Autor Hildegunst von Mythenmetz schwere Vorwürfe gegen seinen Übersetzer Walter Moers erhoben. Moers antwortet schlagkräftig in der Wochenschrift »Die Zeit«. Für Leser des Buches dürfte die folgende Passage wichtig sein:
Ausgerechnet Hildegunst von Mythenmetz, der Gofid Letterkerls schmale Novelle zum dicken Roman ausbaut, sich also schamlos eines vorhandenen Fundamentes bedient, macht mir den Vorwurf des geistigen Diebstahls. Die Literaturgeschichte ist nicht arm an solchen Beispielen. Ist nicht letztendlich jede Reiseerzählung eine Odyssee? Ist nicht jedes epische Märchen ein Abklatsch der Nibelungen- oder Artussage? Jede Detektivgeschichte ist Edgar Allan Poe zu verdanken, der das Genre erfand. Und jedes Werk der Science-Fiction schuldet seine Existenz eigentlich Shakespeares Sturm. Sind deshalb alle Autoren von Märchen, von Detektiv- oder Science-Fiction-Romanen Diebe und Plagiatoren?
P.S.: Wie wir herausfinden konnten, liegt dem Mythenmetzschen Roman wohl die Novelle »Schakal spendet Ziege« von Gofid Letterkerl zugrunde, auch wenn das Nachwort nur den viel späteren, abschwächenden Titel der Neuauflage »Echo, das Kätzchen« erwähnt.
Ich gebe sonst nicht viel um Literaturpreise, da sie nur selten etwas über die Qualität des oder der Ausgezeichneten aussagen; zu verzwickt sind dazu zumeist die gegenseitigen Interessen von Publicity, persönlichen Bekanntschaften und einander waschenden Händen.
Aber die Meldung, dass Paul Wühr den Ernst-Jandl-Preis erhalten hat, hat mich doch gefreut. Ich bin seit 1983, dem Jahr, in dem »Das falsche Buch« erschien, treuer Wühr-Leser und habe das Glück gehabt, auf einer Lesung Wührs in Tübingen eines der raren Exemplare von »Gegenmünchen« verlagsfrisch erwerben zu können!
Da Wühr auch vielen Literatur-Interessierten unbekannt sein dürfte, setze ich hier (leicht überarbeitet) ein kurzes Wühr-Portrait hin, das ich 1998 für die Newsgroup de.rec.buecher geschrieben habe:
Paul Wühr wurde am 10.7.1927 in München geboren und lebt heute in Italien. Er hat die meiste Zeit als Hauptschullehrer in und um München gelebt. Er schreibt Prosa und Lyrik und hat in der Phase der sogenannten Experimentellen Literatur 1970 ein Buch veröffentlicht, das sich in seiner Merkwürdigkeit ohne weiteres mit Arno Schmidts »Zettel’s Traum« und Brinkmanns »Rom Blicke« messen kann: »Gegenmünchen« (wie das meiste von Paul Wühr bei Hanser; da muß jemand sitzen, der ihn wirklich verehrt, denn die machen seit jetzt fast vier Jahrzehnte Bücher von ihm, an denen sie einfach nichts verdienen können!), das in einer völlig verrückten Mischung aus Lyrik, Prosa und Abbildungen die Stadt München zum Thema hat.
Unter den lyrischen Sachen dürfte »Preislied« das bekannteste sein, das es auch bei Reclam in der Universal Bibliothek gab. (Das war übrigens, wenn ich mich recht erinnere, noch vor zwanzig Jahren Abiturstoff an österreichischen Gymnasien!)
Kurzfristig Aufsehen um Paul Wühr hat es gegeben, als 1983 »Das falsche Buch« erschien. Damals hat ihn das überregionale Feuilleton kurz zur Kenntnis genommen, und das Buch ist daraufhin auch bei Fischer im Taschenbuch erschienen und war ungewöhnlich lange Zeit lieferbar. Es handelt sich um einen Roman, dessen Protagonisten in der Hauptsache Hunde sind, die sich auf der abgesperrten Münchner Freiheit bewegen.
Im Jahr 1987 wurde eine ganz gute und informative Aufsatzsammlung, hg. von Lutz Hagestedt, vorgelegt, in der man auch ein bißchen über Wührs Leben erfährt. Seit 1997 gibt es auch ein Paul-Wühr-Jahrbuch, das ich aber noch nicht in der Hand gehabt habe.
Zum Einstieg empfehlen würde ich durchaus »Das falsche Buch«, weil es einen guten Eindruck von Wührs Humor und seiner Spannbreite gibt. Die zweite Wahl »Der faule Strick« – ein Kommentar zu einem Kommentar eines Tagebuchs (alle Textebenen sind im Buch präsent) – ist leider nie im Taschenbuch erschienen und wie das meiste von Wühr längst nur noch antiquarisch greifbar. Und in »Gegenmünchen« muss man als Leser wenigstens einmal in seinem Leben geblättert haben, um zu sehen, was alles im 20. Jahrhundert möglich war. Daraus nur eine einzige Überschrift als Appetit-Happen:
Dokumentarspiel
Wie Schwarze Roten weiße Sünden verzeihen
oder
Die Mörder in letzter Liniegespielt wird unter dem Bürgersaal
Bühnenbild: im Hintergrund links
der rote Terror rechts der weiße
Terror
Personen: Pater Rupert Mayer
(steht vor 21 Särgen der 21
Gesellen des Gesellenvereins
St. Joseph – ermordet am 6.6.1919)
ihm gegenüber auf der
linken Seite: Er und Sie
in der Mitte: alle gutgesinnten
Katholiken Münchens
Einzige Szene:
Die unterbrochene GrabredeDas ganze denke man sich in einer Fraktur gesetzt. Und danach geht das Theater dann los.
Zuletzt ist in diesem Jahr »Dame Gott« erschienen. Ich werde hier bei Gelegenheit eine Besprechung einstellen.