Virginia Woolf: Orlando

Nicht Orlando sprach, sondern der Geist der Epoche. Doch wer es auch war, niemand antwortete.

Es muss in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, als ich unter großen Vorbehalten zwei oder drei Bücher von Virginia Woolf gelesen habe; „Orlando“ war darunter und „Die Wellen“ und wahrscheinlich noch ein weiterer Roman, wobei ich mich weder an Titel noch Inhalt irgendwie erinnern kann. Meine Vorurteile Woolf gegenüber entstammten in der Hauptsache zwei Quellen: ihrer Rezeption des Joyceschen „Ulysses“ und einer Gruppe von ideologischen Leserinnen Woolfs, die mir damals, während des Studiums, unschwer auf die Nerven gingen.

Nun hat Melanie Walz im Insel Verlag vor einigen Jahren die inzwischen vierte deutschsprachige Übersetzung des „Orlando“ vorgelegt und allein aufgrund der Übersetzerin war ich geneigt, das Buch noch einmal zu lesen. Walz’ Übersetzung ist die erste, die auch das formale Spiel Woolfs mit dem Genre der Biographie im Deutschen wiedergibt. Im englischen Sprachraum folgt die akademische Biographie oft einem festen formalen Schema: Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Text und Register. Da aber deutschen Lesern dieses Schema weitgehend unbekannt sein dürfte, haben alle früheren Ausgaben auf dessen Reproduktion verzichtet, so dass Walz’ Übersetzung als die erste tatsächlich vollständige bezeichnet werden kann. Und auch wenn es das fatale Marketinglabel „Roman“ wieder auf den Umschlag des Buches geschafft hat, so steht doch wenigstens auf seinem Titelblatt korrekt die irreführende Gattungsbezeichnung: „Eine Biographie“.

Selbstverständlich handelt es sich bei „Orlando“ nur um ein Spiel mit der Form und den Gepflogenheiten biographischen Schreibens. Der Protagonist bzw. die Protagonistin Orlando wird um 1580 geboren und ist im Jahr des Erscheinens ihrer Biographie noch immer am Leben; wahrscheinlich hat sie vor lauter Beschäftigung einfach vergessen zu sterben. Kurz zusammengefasst findet sich Orlandos Lebenslauf im Register des Buches:

Orlando – als Knabe 14; verfasst sein erstes Schauspiel 15; besucht die Königin in Whitehall 20; wird zum Schatzmeister und Großhofmeister ernannt 23; seine Liebschaften 26; und die russische Fürstin 34–39; seine erste Trance 59; zieht sich in die Einsamkeit zurück 63; seine Liebe zur Lektüre 65; seine romantischen Dramen 15 [sic!]; seine literarischen Ambitionen 67, 68, 152; und Greene 74–90; seine Urgroßmutter Moll 76; erwirbt Elchhunde 84; und sein Poem Die Eiche 99, 129, 152, 272; und sein Haus 93–96; und die Erzherzogin Harriet 101–193; als Gesandter in Konstantinopel 106–117; wird zum Herzog ernannt 113; zweite Trance 117; Heirat mit der Zigeunerin Rosina Pepita 118; wird zur Frau 122; bei den Zigeunern 125–134; kehrt nach England zurück 135; Gerichtsverfahren 148; und Erzherzog Harry 158; in der Londoner Gesellschaft 169; bewirtet die Esprits 191 [sic!]; und Mr. Pope 179; und Nell 191; mit ihrem Cousin verwechselt 193; kehrt in ihr Haus auf dem Land zurück 203; bricht sich den Knöchel 217; wird zur Frau erklärt 220; Verlobung 291; Heirat 228; Geburt des ersten Sohnes 259

Wie man sieht, ein durchaus erfülltes Leben, für das eben 350 und einige Jahre erforderlich sind. Orlando durchläuft nicht nur alle Epochen der englischen Geschichte seit der Elizabethanischen, sondern sie durchleidet auch deren stilistische und soziale Moden. All dies wird mit leichter und ironischer Souveränität betrieben und ist – bis auf wenige Längen – sehr vergnüglich zu lesen. Sicherlich kann man darin auch tiefere Bedeutungen vermuten, aber ich würde davon abraten; das Spiel als Spiel ist vollständig ausreichend, alles weitere verdirbt nur diesen wirklichen Wurf.

Die Neuübersetzung von Melanie Walz ist jener früheren, die ich las – leider kann ich nicht rekonstruieren, welche der beiden frühen Übersetzungen ich damals in der Hand hatte, ich befürchte aber, es war die von Karl Lerbs – um Welten überlegen. Der spielerische und ironische Charakter des Buches ist mir erst mit dieser Lektüre vollständig deutlich geworden. Eine genüssliche Lektüre setzt beim Leser allerdings ein gerüttelt Maß an historischer und literarischer Bildung voraus.

Virginia Woolf: Orlando. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. it 4238. Berlin: Insel, 2015. Broschur, 304 Seiten. 8,– €.

John Dos Passos: Manhattan Transfer

Gebt mir Freiheit, sprach Patrick Henry und setze am 1. Mai seinen Strohhut auf, oder gebt mir den Tod. Den hat er dann ja gekriegt.

dos-passos-manhattanBei „Manhattan Transfer“ (1925) handelt es sich um einen der frühen, großen Romane, die unter dem unmittelbaren Einfluss des Joyceschen „Ulysses“ (1922) entstanden sind. Daraus ergibt sich sein Status als einer der Gründungstexte der US-amerikanischen Moderne. „Manhattan Transfer“ hat sich für einen anspruchsvollen Avantgarde-Roman außergewöhnlich gut verkauft, was auch erklärt, dass er bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen auf Deutsch vorlag – auch Georg Goyerts Übersetzung des „Ulysses“ erschien übrigens im Jahr 1927.

Nun haben solche raschen Übersetzungen einerseits den Vorteil, dass sie die deutsche Leserschaft darüber auf dem Laufenden halten, was jenseits der Grenzzäune so getrieben wird, andererseits stellen sie an den Übersetzer hohe Ansprüche, denn nicht nur muss er gerade erst im Entstehen begriffene formale Entwicklungen in seiner Sprache nachbilden, sondern er sieht sich auch oft mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er sprachliche Slang-, Alltags- oder Mode-Wendungen nirgends nachschlagen kann und sich aufs Raten oder – wie Baudisch – aufs Weglassen verlegen muss. Andere Produktionshemmnisse mögen hinzugetreten sein.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, es kann nur festgestellt werden, dass die Übersetzung von Paul Baudisch, die bislang „Manhattan Transfer“ im Deutschen vertreten musste, ihren Lesern nur ansatzweise einen Eindruck von der Qualität des Originals vermitteln konnte – und das ist noch freundlich formuliert. Schon Kurt Tucholsky fasste 1931 seinen Eindruck von Paul Baudischs Übersetzungen in dem Satz zusammen: „Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!“

Es ist daher nicht nur sehr löblich, sondern es war auch dringend nötig, dass Rowohlt diesen Text hat neu übersetzen lassen. Von Dirk van Gunsteren, der seine Kunst als Übersetzer auch schon an Thomas Pynchon, Philip Roth und T. C. Boyle unter Beweis gestellt hat, liegt nun eine sehr gut lesbare Neuübersetzung  vor, von der ich insgesamt den Eindruck habe, dass sie sich auf der Höhe des Originals bewegt. Auch van Gunsteren trifft einige befremdliche Entscheidungen  – so lässt er zum Beispiel in den meisten Fällen eine dialektale, soziale oder umgangssprachliche Einfärbung der Dialoge einfach weg und verflacht auf diese Weise den Text –, aber der Gesamteindruck seiner Übersetzung ist der Baudischs so weit überlegen, dass sich ein ernsthafter Vergleich verbietet.

Erzählt wird die Geschichte von ungefähr drei oder vier Hauptfiguren, die in der Hauptsache von 1904 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt werden: Ellen, später Elaine und noch später Helena Thatcher, Tochter eines Buchhalters, die früh ihre Mutter verloren hat, wird Schauspielerin, heiratet einen ungeliebten Kollegen, verliebt sich in einen jugendlichen Säufer, dann in einen Journalisten, den sie im Ersten Weltkrieg lieben lernt, und endet als unglückliche Ehefrau eines Staatsanwalts. Jimmy Herf stammt aus besseren Verhältnissen, wird aber früh Waise und schlägt sich als Reporter durch. Er lernt Ellen durch eine ihrer Kolleginnen kennen, verliebt sich in sie, kommt ihr aber erst während des Krieges in Europa näher und kehrt 1918 mit ihr als Ehefrau und mit einem kleinen Sohn nach New York zurück. Jimmy ist der einzige, dem es am Ende des Romans gelingt, aus dem Dunstkreis New Yorks und damit vielleicht auch seinem Unglück zu entkommen. George Baldwin ist ein aufstrebender, junger Anwalt mit einer Schwäche fürs schöne Geschlecht. Er macht berufliche Karriere, endet als Bezirksstaatsanwalt und potenzieller Kandidat für das Amt des Bürgermeisters. Auch er verliebt sich leidenschaftlich in Ellen, verliert zwischenzeitlich sogar einmal die Kontrolle über seine Gefühle so weit, dass er versucht sie zu erschießen, und endet, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit aber mit Notwendigkeit als ihr letzter, unglücklicher Ehemann. Stanwood Emery ist ein junger, reicher Taugenichts und Ellens große und wahrscheinlich einzige Liebe. Stan ist ein notorischer Säufer, heiratet im Suff versehentlich die falsche Frau und kommt bei einem von ihm selbst verursachten Brand ums Leben.

Um diese Hauptfabel herum entwickelt Dos Passos ein reiches Panorama von Figuren und Geschichten: Bud Korpenning flieht als Mörder vom Land in die Stadt, fristet dort sein Dasein als Tagelöhner und Bettler und springt von einer der Brücken New Yorks in den Tod. Joe Harland war einst der König der Wall Street, hat sich verspekuliert und versäuft sein restliches Leben. James Merivale, ein Cousin Jimmy Herfs, ist ein opportunistischer Schwachkopf, kommt als Kriegsheld aus dem Ersten Weltkrieg und wird ein erfolgreicher Banker, der seine Schwester an einen Hochstapler verheiratet. Congo Jake ist ein französischer Matrose und Barkeeper, der als Alkoholschmuggler reich wird. John Oglethorpe (Ellens erster Ehemann), Ruth Prynne, Nevada Jones und Tony Hunter sind Schauspieler, die nie so recht den Durchbruch schaffen. Gus McNiel und seine Frau Nellie haben Glück im Unglück und machen aus einem Beinbruch eine Karriere. Joey O’Keefe ist ein Spitzel, der sich später für die Veteranen des Krieges engagiert. Dutch Robertson ist einer dieser Veteranen und macht Karriere als Räuber. Anna Cohen ist eine lebenslustige Jüdin, die gern tanzt und sich als Näherin durchschlägt; auch ihr Leben ist letztlich schicksalhaft mit dem Ellens verbandelt. Rosie und Jake Silverman sind ein Betrügerpärchen, dem kein Erfolg beschieden ist. Man könnte diese Aufzählung problemlos weiter treiben.

Alle diese Geschichten, Kleinsterzählungen und Anekdoten werden in kurzen Abschnitten – von einer halben Seite bis zu einigen Seiten Länge – vorangetrieben, die einander nach einem nur scheinbar zufälligen Muster ablösen. Dazwischen finden sich immer wieder rein impressionistische Abschnitte, aber auch kurze Blitzlichter der sozialen und politischen Verhältnisse New Yorks im frühen 20. Jahrhundert. Das korrupte Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird thematisiert, das Elend der Arbeitslosen, die Not der ungewollt Schwangeren, die Abschiebung politisch Unerwünschter, all dies und vieles mehr kommt oft nur wie nebenbei, aber dennoch unübersehbar in dem Gesamtbild vor, das der Roman zeichnet.

Der Roman ist mit seinem inhaltlichen und motivischen Reichtum sowie seiner musivischen Form eines der wichtigen Vorbilder für die Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert. Es ist sehr erfreulich, dass dieses wichtige, historische Musterbuch für deutsche Leser endlich in einer angemessenen Übersetzung vorliegt. Jeder und jedem, die an der Entwicklung der literarischen Moderne interessiert sind, sei die Lektüre dieser Neuübersetzung dringend empfohlen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2016. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,95 €.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona

Außerdem: 1594 […] war [Shakespeare] 30 Jahre alt; vergleichsweise war Georg Büchner da schon sechs Jahre tot.

Wolfgang Wicht

Shakespeare Guenther 09

Bei den „Zwei Herren aus Verona“ handelt es sich um eines jener Stücke Shakespeares, die den Nachlebenden erhebliche interpretatorische Bauchschmerzen bereiten. Uneins ist man sich bereits bei der Frage der zeitlichen Verortung des Stückes: Einige halten es eindeutig für ein Frühwerk, andere weisen auf die raffinierte Gearbeitetheit des Stückes hin und wollen es auf jeden Fall dem reifen Dichter zuordnen. Was die einen nur als dramaturgische Hilflosigkeit verstehen können, ist für die anderen eine provokante Parodie auf spätmittelalterlichen Chauvinismus. Was auch immer es ist, wirklich gelungen scheint es nicht zu sein.

Einmal mehr handelt es sich bei den „Zwei Herren aus Verona“ um eine italienisch situierte Liebeskomödie Shakespeares: Valentin und Proteus, zusammen in Verona aufgewachsen und dicke Freunde, werden auf kurze Zeit voneinander getrennt: Valentin geht nach Mailand an den Hof des Kaisers, Proteus bleibt zurück, um seine geliebte Julia zu hofieren. Das allerdings nützt ihm nicht viel, denn sein Vater entscheidet bald, dass auch der Stubenhocker Proteus nach Mailand soll, wogegen der sich plötzlich nicht mehr wehrt. In Mailand eingetroffen findet er Valentin verliebt in Silvia vor, die Tochter des Herzogs. Ruck, zuck vergisst Proteus seine Julia, verliebt sich ebenfalls in Silvia und will sich nun den zum Widersacher gewordenen Valentin vom Halse schaffen. Daher verrät er Valentins und Silvias Fluchtplan dem herzoglichen Vater, der Valentin daraufhin verbannt. Auf dem Weg nach Mantua wird Valentin von einer Räuberbande aufgegriffen, die ihn kurzerhand zu ihrem Hauptmann macht, anstatt ihn auszurauben. Schließlich laufen auch Silvia, Proteus, der Herzog und dessen Ehekandidat für Silvia, ein Herr Thurio, in den Wald, wo sich alle zum Happy End treffen: Valentin und Proteus versöhnen sich wieder, Proteus wendet sich der als Page verkleideten Julia wieder zu, der euphorisierte Herzog verzeiht Valentin und allen seinen Räubern alles und erlaubt die Heirat mit Silvia, und selbst Herr Thurio wird mit zur Doppelhochzeit eingeladen.

Das Stück ist nach unserem Verständnis tatsächlich dramaturgisch abenteuerlich uneinheitlich: Einerseits lässt sich auf das schön gearbeitete gegenseitige Spiegelverhältnis der Paare Proteus/Julia und Valentin/Silvia hinweisen; auch die feinen Spitzen gegen höfisches Rittertum sind nicht von der Hand zu weisen. Andererseits überzeugen weder die urplötzliche Räuberhauptmannschaft noch die gesamte Konstellation der Konfliktlösung am Ende des Stücks. Als eigentliche Crux erweist sich dabei die Versöhnung der beiden Protagonisten, zwischen denen nicht nur nach einem kurzen Reuebekenntnis des Proteus alles wieder gut ist, sondern als deren Konsequenz Valentin auch noch ganz großzügig Silvia dem Proteus als Freundschaftspreis anbietet.

Nun weisen zwar Übersetzer Frank Günther und der Verfasser des beigebundenen Essays Wolfgang Wicht darauf hin, dass man dies – ob Parodie oder Ernst – im Rahmen der zeitgenössischen Ideologie der Männerfreundschaft lesen sollte, doch auch das befriedet nur, befriedigt aber letztlich nicht. Was auch immer der Grund für die augenscheinliche Unausgewogenheit des Stückes sein mag (man könnte geneigt sein, ein zeitgenössisches Stück erfinden zu wollen, das so schlecht und zugleich so bekannt war, dass Shakespeare mit „Zwei Herren aus Verona“ eine direkte Parodie darauf verfasst hat, die aber keiner mehr erkennt, weil die Vorlage vollständig verschwunden ist; natürlich würde das in unseren Zeiten der Vernunft kein Mensch gelten lassen), wir werden damit leben müssen, hier nur ein verwachsenes Kind des Schwans vom Avon vorliegen zu haben.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 9. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 246 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: Was ihr wollt

Jetzt geht’s zu End, die ganze großspurige große Welt wird ein salbaderndes Narrenhaus!

Shakespeare Guenther 08Im Jahr eines Shakespeare-Jubiläums soll man nach Möglichkeit auch Shakespeare lesen! Fangen wir also an: Bei „Was ihr wollt“ handelt es sich – wie schon der Titel erahnen lässt – um eine von Shakespeares leichten Komödien, die versuchen, einen möglichst breiten Publikumsgeschmack zu treffen. Im Vordergrund stehen daher Spaß und Klamauk, Wortspiele und Liebes-Gedöns. Als Gegengewicht wird ein alternder, zum Narren verkommener Philosoph mit in die Handlung verwickelt, und weil man dann immer noch nicht auf die notwendige Länge kommt, stecken wir noch eine kleine Verwechslungsgeschichte mit Zwillingen dazu.

Die Handlung ist im Grunde diese: A liebt B, B liebt C, C liebt A. D liebt heimlich auch B, wird aber dafür von E, F und G – die letztern beiden Saufkumpane, von denen G, um die Verwirrung komplett zu machen, es auch noch auf B abgesehen hat – auf den Arm genommen. C ist eigentlich eine Frau, hat sich zur Sicherheit aber als Mann verkleidet, da sie als Schiffbrüchige (beinahe hätte ich geschrieben ‚Alleinerziehende‘) im fremden Land – einem vollständig erfundenen Illyrien – leben muss. Verkleidet als Mann gleicht sie zum Verwechseln ihrem Zwillingsbruder C1. C und C1 glauben einander wechselseitig ertrunken. Den Rest kann sich jeder leicht selbst ausdenken, es kommt nicht so sehr aufs Detail an. Die Hauptsache ist ein üppiges Hin und Her, das ausreichend Gelegenheit zu gewollten und ungewollten Missverständnissen, Wortwechseln, Streitereien und Verwechslungen liefert, die sich schließlich alle durch eine, in diesem Fall sogar zwei Hochzeiten auflösen lassen.

Dieser weitgehend schematisierte Klamauk ist natürlich dadurch geadelt, dass er von Shakespeare stammt. Die Qualität der Wortspiele ist hoch, hier und da fällt sogar ein echter Gedanke dabei ab. So darf der neben der eigentlichen Handlung herlaufende Narr Feste wenigstens halbwegs Anspruch auf Originalität machen. Anlass für diesen speziellen Klamauk war eine Art von englischem Karneval, der um die Weihnachtszeit gefeiert wurde und dessen Höhepunkt auf den Dreikönigstag – der Twelfth Night nach Weihnachten; daher der englische Haupttitel des Stücks – fiel.

Es sind aber gerade die Wortspiele, die es dem Übersetzer schwer machen: Frank Günther, dessen erklärtes Ziel es ist, eine spielbare Übersetzung zu liefern, die dem heutigen deutschen Publikum einen ähnlichen Eindruck vermittelt wie das Original den Zeitgenossen Shakespeares, macht aus der Not eine Tugend und erfindet Dialoge zum Teil vollständig neu, da sich die englischen nicht ins Deutsche retten lassen. In den umfangreichen Anmerkungen werden die entsprechenden Entscheidungen vom Übersetzer ausführlich dokumentiert und erläutert; da die Shakespeare-Ausgabe Günthers immer zweisprachig daherkommt, kann sich jeder Leser auch selbst ein Bild davon machen, was der Übersetzer aus dem Original hat werden lassen.

Ein Stück, das man nicht zu ernst nehmen sollte – was offenbar, wie man dem angehängten Essay von Christa Jansohn entnehmen kann, auf deutschen Bühnen gern geschieht – und das, mit dem richtigen Tempo gespielt, auch heute noch seine Wirkung entfalten dürfte.

William Shakespeare: Was ihr wollt. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 8. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 296 Seiten. 33,– €.

Henry James: Eine Dame von Welt

Das letzte Wort zu alldem musste lauten, dass Mrs. Headway ein Quälgeist war.

James Dame„Eine Dame von Welt“ heißt im Original “The Siege of London”, also Die Belagerung von London. Dass der Verlag eine solche Umbenennung für notwendig hielt, macht deutlich, dass James in Deutschland mittlerweile so unbekannt ist, dass man mit einer getreuen Übersetzung des Titels die Leser historischer Romane in die Irre zu leiten fürchtet. Ich vermute, dass es inzwischen in China eine Ausgabe von Thomas Manns „Der Zauberberg“ unter dem chinesischen Titel Das Sanatorium gibt, um die chinesischen Fantasy-Leser nicht zu verwirren. Einerseits ist eine solche Haltung in Zeiten eines immer breiteren und zugleich immer differenzierteren Buchmarktes verständlich (dazu gehört auch die hinzuerfundene Gattungsbezeichnung „Eine Salonerzählung“), andererseits nimmt die deutsche Ausgabe mit dieser Entscheidung dem intelligenteren Leser ein von James bewusst an den Anfang gesetztes Signal, um den Ton der Erzählung einschätzen zu können. Aber was nützt das beste Straßenschild, wenn es kaum wer als solches erkennt? Da kann man an derselben Stelle auch gleich eine Reklametafel aufstellen. Denn immerhin existiert ja noch die Straßenverkehrsordnung, wenn die auch kaum mehr wer kennt. „Das ist ein prächtiger Anfang! Wenn jeder nur erst wieder von Null ausgeht, da müssen die Fortschritte in kurzer Zeit außerordentlich bedeutend werden“, bemerkte Goethe zu Johann Daniel Falk am 17. April 1808. Wie rasch doch die unbedeutendsten Dinge zu vollständig nutzlosen Betrachtungen führen können.

Wie so oft bei James ist es nicht einfach zu entscheiden, wessen Geschichte eigentlich erzählt wird. Es beginnt mit einer Begegnung der beiden US-Amerikaner George Littlemore und Rupert Waterville mit Nancy Headway in der Pariser Comédie Française. Littlemore kennt Nancy aus seiner Zeit im Westen der USA; damals hieß sie noch Nancy Beck, und seit damals hat sie einige Ehen hinter sich gebracht. Nachdem sie mit dem Versuch, in die New Yorker High Society aufgenommen zu werden, gescheitert ist, versucht sie jetzt ihr Glück in London. Zu diesem Zweck hat sie dem deutlich jüngeren Sir Arthur Demesne den Kopf verdreht, den sie zu heiraten gedenkt, wenn er sich denn dazu bringen lässt. Dem steht im Wesentlichen seine Mutter im Weg, die den Verdacht hegt, Mrs. Headway sei nicht gesellschaftsfähig, es aber nicht nachweisen kann. Sie versucht sowohl Waterville, der für die US-Botschaft in London arbeitet, als auch Littlemore die entsprechenden Informationen zu entlocken. Littlemore, der mit der ganzen Sache eigentlich nichts zu tun haben will, knickt schließlich ein und bestätigt Lady Demesnes Verdacht. Doch es ist zu spät: Nancy ist bereits verlobt mit Sir Arthur und setzt sich gegen die Mutter letztlich durch.

Der moralische Konflikt ist interessanterweise der Littlemores: Nancy ist eine rücksichtslose Karrieristin, die schlicht versucht, ihre Interessen durchzusetzen; sie betrachtet das Normensystem der besseren Gesellschaft und seine Vertreter schlicht als Gegner, gegen die es sich durchzusetzen gilt. Waterville dagegen will als Vertreter des Normensystems erscheinen, ist aber nicht bereit, die daraus folgenden Konsequenzen zu ziehen: Von Lady Demesne nach der Vergangenheit von Nancy Headway befragt, windet er sich aus der Verantwortung heraus, obwohl er sie moralisch ebenso verurteilt wie die Fragestellerin oder seine Mutter oder Schwester. Littlemore schließlich, der das ganze als eine Art oberflächlichen Spiels ansieht und auf dem Standpunkt steht, dass Nancy jedes Recht hat zu versuchen, sich gegen den Widerstand der Gesellschaft durchzusetzen, ist derjenige, der Lady Demesne am Ende das liefert, was sie braucht. Er tut dies in dem Wissen, dass eine Verlobung bereits stattgefunden hat, und in der Überzeugung, dass seine Antwort wahrscheinlich nichts mehr ändern wird. Dennoch ist er es, der als einziger der moralischen Forderung nach Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander nachkommt. Ob Lady Demesne einen Anspruch auf diese Wahrhaftigkeit erheben kann, bleibt dabei ebenso ungeklärt wie die Frage, ob das moralische Urteil, das sich die High Society über Nancy Headway anmaßt, berechtigt ist oder nicht.

Hält man diese distanzierte Haltung des Erzählers mit dem historisierenden Originaltitel zusammen, bekommt man einen Eindruck von der über dem Ganzen der Erzählung liegenden Ironie: James erzählt diese Episode, als würde sie beispielsweise am Hofe Heinrich VIII. spielen, und er hält sie in ihren moralischen Konsequenzen wahrscheinlich für ähnlich relevant, als hätte sie sich dort abgespielt. Nimmt man allerdings an, die Erzählung sei eine Salonerzählung und handle von einer Dame von Welt, könnte dies im Einzelfall beim Leser zu einem ganz grundsätzlichen Missverständnis führen. Doch die Hauptsache ist natürlich, dass der Vertrieb zufrieden ist.

Ergänzt wird der Band durch einen Essay von Henry James, indem er unter anderem über eines der Vorbilder der Erzählung, Alexandre Dumas’ Komödie „Le Demi-Monde“, schreibt.

Henry James: Eine Dame von Welt. Eine Salonerzählung. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Berlin: Aufbau, 2016. Flexibler Leinenband mit Banderole, Lesebändchen, 176 Seiten. 16,95 €.

Henry James: Daisy Miller

»Sie tat, was sie wollte!«

James Daisy Miller„Daisy Miller“ ist eine der frühen Erzählungen Henry James’, erstmals veröffentlicht im Jahr 1878. Das Original trägt den etwas differenzierteren Titel “Daisy Miller: A Study”, was in dieser Neuausgabe bei dtv auf die schlichte Gattungsbezeichnung „Eine Erzählung“ reduziert wird. Der Geschichte seiner Titelheldin stand James im Alter eher reserviert gegenüber, musste aber hinnehmen, dass sie zu seinen bekanntesten und beliebtesten gehörte.

Interessanterweise ist der eigentliche Protagonist aber der junge US-Amerikaner Frederick Winterbourne, der bereits als Kind nach Europa gekommen ist. Zur Zeit der Erzählung lebt er in Genf, wo er vorgeblich studiert, tatsächlich aber eine Beziehung zu einer älteren Frau pflegt. Daisy Miller lernt er zufällig kennen, als er seine Tante im Kurort Vevey besucht. Sie fällt ihm sofort nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihres sehr freien und selbstbewussten Verhaltens auf. Sie lässt sich schon nach kurzer Bekanntschaft mit Winterbourne darauf ein, zusammen mit ihm – und nur mit ihm – das nahegelegene Schloss Chillon zu besichtigen.

Winterbournes Tante reagiert auf seinen Bekanntschaft mit Daisy etwas reserviert, da sie von den Millers gesellschaftlich nicht viel hält. Daisy, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem viel jüngeren Bruder in Europa unterwegs ist, stammt aus einer Industriellenfamilie, die aber nicht zur High Society der USA zu rechnen ist. Für Winterbournes Tante machen sich diese Leute allein schon deshalb unmöglich, weil sie mit ihrem europäischen Cicerone zusammen essen und überhaupt einen vertrauten Umgang mit ihm pflegen. Daisy lebt in Europa offenbar ein außergewöhnlich freies Leben, da ihre Mutter sich als gänzlich unfähig erweist, der Selbstständigkeit ihrer Tochter irgendwelche Grenzen zu setzen.

Als Winterbourne seinen Besuch in Vevey bereits nach wenigen Tagen beendet, lässt Daisy für einen einzigen Moment durchblicken, dass ihr ironisches und distanziertes Spiel mit Frederick nur eine Farce ist, und sie an dem jungen Mann doch ernsthafter interessiert sein könnte. Sie nötigt ihm jedenfalls das Versprechen ab, sie im Winter in Rom aufzusuchen, was in Fredericks Pläne passt, da auch seine Tante sich dann in Rom aufhalten wird.

Winterbourne trifft etwa acht Monate später erwartungsvoll in Rom ein und hofft eine Daisy vorzufinden, die ihn sehnsüchtig erwartet. Stattdessen amüsiert sich die junge Frau prächtig in der römischen Gesellschaft, pflegt Freundschaften mit italienischen Junggesellen und kümmert sich wenig darum, was die amerikanische Gemeinde in Rom von ihr denkt. Diese Spannung kommt zur Entladung, kurz nachdem Frederick in Rom eingetroffen ist: Daisy wird von einer der Grande Dames der Amerikaner dazu aufgefordert, einen Spaziergang mit ihrem italienischen Freund Giovanelli abzubrechen und zu ihr in die Kutsche zu steigen; als Daisy sich weigert, das zu tun, wird sie bei nächster Gelegenheit öffentlich abgekanzelt und aus der guten Gesellschaft ausgestoßen.

Winterbourne reagiert in einer Mischung aus Enttäuschung, Eifersucht und Unsicherheit ebenfalls abweisend; er versucht zwar noch, Daisy auf den rechten Weg zu führen, gibt sie dann aber letztlich ebenfalls auf. James bringt die Erzählung zu einem recht abrupten Ende, indem er Daisy an der Malaria erkranken und kurz darauf sterben lässt. Am Grab kommt Frederick zur Einsicht, die junge Frau und ihre Handlungen falsch be- und sie daher verurteilt zu haben. Doch allzu tief scheint es ihn nicht getroffen zu haben, denn letztlich kehrt er zu seinem eigenen unmoralische Verhältnis in Genf zurück.

Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, wovon James in diesem Text eigentlich erzählt; es könnte sogar der Verdacht aufkommen, dass er das selbst nicht so ganz genau gewusst hat. Der für James typische Gegensatz zwischen nordamerikanischen und europäischen Sitten bildet nur die Folie für eine Geschichte, in der einen junge Frau von der sie umgebenden Gesellschaft dafür verurteilt und abgestraft wird, dass sie sich Freiheiten herausnimmt, die bei einem US-amerikanischen Mann in Europa selbstverständlich toleriert werden. Dass James das Thema nicht vollständig durchführen konnte, zeigt sich an dem hilfsweisen Tod Daisys, für den zum Teil ihr eigener Starrsinn, zum Teil die Leichtfertigkeit Giovanellis verantwortlich gemacht werden. Daisy scheitert an der Gefährlichkeit der Natur, der sie sich aussetzt, nicht an der Gesellschaft, von der sie verurteilt wurde. Das ermöglicht eine Tragik, für die am Ende keiner wirklich verantwortlich zeichnet, ohne dass das kritische Potenzial der Erzählung damit aufgehoben würde. Wahrscheinlich ist es diese eigentümliche Konstruktion, die zu ihrem dauerhaften Erfolg wesentlich beigetragen hat.

Die Neuübersetzung von Britta Mümmler liest sich gut und ist, soweit ich sie geprüft habe, in der Sache korrekt, nimmt sich für meinen Geschmack aber stilistisch ein wenig zu viele Freiheiten heraus – fehlende oder hinzugefügte Worte, Verwechslung von Subjekt und Objekt und andere Änderung von Satzstrukturen habe ich allein auf den ersten Seiten gefunden; den kastrierten Titel muss man wahrscheinlich dem Verlag und nicht der Übersetzerin anlasten. Wer den englischen Text nicht kennt, wird aber mit dieser deutschen Ausgabe ganz zufrieden sein; die Erläuterungen im Anhang sind gut gesetzt und hilfreich. Alles in allem eine gute deutsche Leseausgabe.

Henry James: Daisy Miller. Aus dem Englischen von Britta Mümmler. Kindle-Edition. München: dtv, 2015. (Druckausgabe: 128 Seiten.) 9,99 €.

Henry James: Die Gesandten

Vorherrschend jedoch blieb an diesem Ort und in dieser Stunde die Freiheit; es war die Freiheit, was ihm am stärksten seine eigene, vor langer Zeit versäumte Jugend zurückbrachte.

James-GesandtenAuch der Hanser Verlag liefert in seiner Klassiker-Reihe einen Beitrag zum bevorstehenden Henry-James-Jubiläumsjahr: James’ später Roman „The Ambassadors“ (1903) erscheint in einer Neuübersetzung von Michael Walter, einem der renommiertesten deutschen Übersetzer. „Die Gesandten“ gelten einerseits als eines der späten Meisterwerke James’, sie stellen andererseits hohe Ansprüche an ihre Leser, heute wahrscheinlich mehr als noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die Handlung des Romans ist – wie oft bei Spätwerken anspruchsvoller Autoren – stark reduziert und bildet nicht mehr als ein Gerüst für das eigentliche Interesse des Erzählers: Erzählt wird ein knappes halbes Jahr aus dem Leben des US-Amerikaners Lewis Lambert Strether – wahrscheinlich benannt nach dem Titelhelden von Balzacs Roman „Louis Lambert“ (1845) –, der Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem kleinen und fiktiven amerikanischen Städtchen Woollett in der Nähe Bostons nach Paris reist. Strether, 55 Jahre alt und Witwer, ist im Auftrag seiner Chefin und Verlobten Mrs. Newsome unterwegs, um deren Sohn Chad in Paris loszueisen und nach Amerika zurückzubringen. Chad befindet sich inzwischen seit drei Jahren in Europa, und in Woollett vermutet man, dass er sich eine Beziehung zu einer moralisch fragwürdigen Frau zugezogen hat. In Woollett dagegen erwartet ihn nicht nur eine finanziell überaus lukrative leitende Position im väterlichen Unternehmen, sondern auch eine dieser Stellung angemessene Heirat mit der „fabelhaften“ – das für nahezu alle Personen ständig benutzte Epitheton Strethers – Mamie Pocock, mit deren Bruder Jim bereit Chads Schwester Sarah verheiratet ist.

In Paris zeigt sich Strether allerdings ein recht anderes Bild: Chad hat sich unter der leitenden Hand der verheirateten Comtesse Marie de Vionnet zu einem jungen Gentleman gemausert, der auf Strether einen gewaltigen Eindruck macht. Sein gehobener Umgang, seine vornehme Wohnung, seine Lebensart schlechthin überwältigen Strether so sehr, dass er bei ihrer ersten Begegnung zwar seinem Auftrag nachkommt, Chad zur Rückkehr aufzufordern, jedes ernsthafte Drängen in dieser Richtung aber unterlässt und anschließend seine Tage in Paris mehr oder weniger vorbeitreiben lässt. Er lernt die Comtesse und ihre ihn entzückende Tochter Jeanne kennen, befreundet sich mit John Bilham, einem von Chads US-amerikanischen Freunden und berichtet über all das brav und aufrichtig in Briefen nach Woollett. Als Chad sich dann endlich zur Abreise bereit erklärt, verhindert Strether dies in dem klaren Bewusstsein, dass Mrs. Newsome ihm weitere Gesandte nachschicken wird. Er lebt in der Überzeugung oder wenigstens der Hoffnung, dass auch diese Chads Verwandlung erkennen und seinen Verbleib in Europa befürworten werden. Um Strethers Haltung richtig einschätzen zu können, muss man noch wissen, dass er nahezu die einzige Figur des Romans ist, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten muss: Er ist Herausgeber einer von seiner Verlobten finanzierten Woolletter Zeitschrift, so dass er damit rechnen muss, nicht nur seine berufliche Stellung, sondern auch seine Alterssicherung zu verlieren, wenn er sich den Zorn der allmächtig im Hintergrund bleibenden Mrs. Newsome zuzieht.

Wie erwartet, tauchen nach einigen Wochen drei weitere Abgesandte in Paris auf: Chads Schwester mit Ehemann und Schwägerin. Entgegen Strethers Hoffnung ist Sarah von Chads Entwicklung nicht im geringsten beeindruckt, hält seine platonische Freundschaft mit der Comtesse schlicht für ein unmoralisches Verhältnis mit einer verheirateten Frau, die Comtesse selbst für eine adelige Schlampe und bringt überhaupt nur deshalb für einige Wochen Geduld mit Chad auf, weil sie selbst Urlaub in Paris zu machen gedenkt. Doch bevor sie mit ihrer Entourage zu einer kleinen Rundreise durch Europa aufbricht, setzt sie Chad und Strether die Daumenschrauben an. Und da sich Strether nicht vorbehaltlos auf ihre Seite schlägt, erklärt sie, nun „mit ihm fertig“ zu sein, wobei sie durchaus nicht nur für sich, sondern auch für ihre Mutter spricht. Bevor der Roman endet, steht Strether noch eine herbe Überraschung und Einsicht bevor, aber auch diese bewältigt er ganz und gar als der wahre Gentleman, der er ist. Das Ende des Romans bleibt mehr oder weniger offen: Ob Chad tatsächlich dauerhaft in Paris bei der Comtesse blieben wird und wie es in der privaten und beruflichen Zukunft Strethers, der vorerst einmal in die USA zurückkehrt, weitergehen wird, wird höchstens angedeutet.

Im Zentrum des Romans steht die Einsicht Strethers, sein Leben vertan zu haben. James selbst hat darauf hingewiesen, dass Strethers kleine Rede an den jungen Bilham über die „Illusion der Freiheit“ das eigentlichen Thema des Romans prägnant zusammenfasst:

Immerhin haben wir die Illusion der Freiheit; vergessen Sie deshalb nicht, so wie ich heute, diese Illusion. Ich war im entscheidenden Augenblick entweder zu dumm oder zu klug, mich daran zu erinnern; ich weiß nicht, was von beiden. Jetzt spricht aus mir die Reaktion auf diesen Fehler; und der Stimme der Reaktion sollte man fraglos nie ohne Vorbehalt begegnen. Das ändert aber nichts daran, dass für Sie jetzt die richtige Zeit da ist. Die richtige Zeit ist jede Zeit, die man zum Glück noch besitzt. […] Verpassen Sie bloß nichts aus Dummheit. […] Tun Sie, was Sie wollen, bloß begehen Sie nicht meinen Fehler. Denn es war ein Fehler. Leben Sie, leben Sie!

Dieses kleine Plädoyer für das Leben – das ursprünglich von James’ Freund und Mentor William Dean Howells stammt und die erste Idee zum Roman lieferte – beschreibt auf den Punkt, woraus sich Strethers Loyalität gegenüber Chad selbst dann noch speist, als er einsehen muss, von diesem belogen und manipuliert worden zu sein.

All dies wird in einem sehr langsamen und detaillierten Stil beschrieben. Die weitgehend personale Erzählperspektive des Romans und die damit einhergehende langsame und sozusagen schichtweise Einsicht in die bestehenden Sachverhalte sowie das Überwiegen dialogischer und reflektierender Passagen stellen einige Ansprüche an Geduld und Aufmerksamkeit der Leser. Der Roman unterläuft, wie Herausgeber Daniel Göske in seinem durchweg informativen Nachwort richtig anmerkt, alle damals gängigen Lesererwartungen an einen in Paris spielenden Roman: Er ist weder ein sozialkritischer Zeitroman, noch eine romantische Komödie, eine moralisierende Liebesgeschichte oder ein tragischer Ehebruchsroman. Auch für den Protagonisten eines Entwicklungsromans ist Strether deutlich zu alt. Auch der von James so ausgiebig bearbeitete Gegensatz Europa/USA spielt in diesem Fall nur eine untergeordnete, hintergründige Rolle. Für den Leser kommt es ganz und gar darauf an, sich auf die Person Strethers einlassen zu können; wer den sentimentalen Konflikt des Protagonisten nicht erfasst, für den ist der Roman verloren.

Die Neuübersetzung durch Michael Walter ist – bis auf winzige Kleinigkeiten – meisterlich. Walter versteht es, die komplexen Strukturen, in denen sich die Gedanken Strethers bewegen, im Deutschen perfekt nachzubauen. Die schwierigste Aufgabe bestand aber zweifelsohne darin, die nahezu immer nur indirekten und vieldeutigen Dialoge zwischen den Figuren wiederzugeben. Kaum jemals sagt in diesem Roman eine Figur unmittelbar, was sie meint; beinahe jede Äußerung enthält nicht nur eine Andeutung, sondern auch die Möglichkeit, sie misszuverstehen, und garantiert dem Sprecher zugleich die Möglichkeit der Ausflucht, nichts von alledem, was man verstehen könnte, tatsächlich gemeint zu haben. Das geht soweit, dass James eine der Nebenfiguren von der Bühne fliehen lässt, als sie sich in die Notlage versetzt sieht, Strether entweder geradewegs belügen oder gänzlich schweigen zu müssen. Dieses fragile System der Kommunikation, das schon im Original unendliche Mühe gemacht haben muss, ins Deutsche gerettet zu haben, ist kein kleines Meisterstück!

Ein Roman für Leser, die Zeit und Sorgfalt in seine Lektüre zu investieren bereit sind. Ich verspreche, dass sie dafür reicher belohnt werden als durch die Lektüre von zehn zeitgenössischen Krimis (von denen ich zugestandenermaßen keine Ahnung habe).

Henry James: Die Gesandten. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Hanser, 2015. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 699 Seiten. 39,95 €.

Henry James: Die Europäer

Man muss schon sagen – und das ist mir bereits früher aufgefallen, – nichts übersteigt die Zügellosigkeit, die sich die Fantasie puritanischer Leute manchmal erlaubt.

Die Europaeer von Henry JamesBei „Die Europäer“ handelt es sich um einen kurzen, frühen Roman von Henry James (je nachdem, ob man „Watch and Ward“ als vollwertigen Roman gelten lässt, handelt es sich um seinen dritten oder vierten). Er ist 1878 erschienen, seine Handlung ist aber – wie die zahlreicher anderer Texte James’ auch – deutlich vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg in Boston angesiedelt. Die Europäer des Romans sind zwei Geschwister, Baronin Eugenia Münster (im Original Munster, was akustisch deutlich näher bei Monster liegt) und ihr jüngerer Bruder Felix Young, ein immer gut gelaunter Liebhaber der Malerei. Die Baronin floh vom alten Kontinent, da ihre Ehe zum Bruder des regierenden Fürsten von Silberstadt-Schreckenstein in einer Krise steckt: Der Fürst möchte seinen Bruder gern standesgemäß verheiraten und daher dessen morganatische Ehe mit Eugenia lösen; da er aber nicht nur ein schreckensteinischer Herrscher, sondern auch ein Gentleman ist, macht er die Verwirklichung seiner Pläne von Eugenias Zustimmung abhängig.

So besuchen Eugenia und Felix in Boston ihre amerikanischen Verwandten: Mr. William Wentworth, der Halbbruder ihrer Mutter, lebt dort mit seinen drei Kindern in gut situierten Verhältnissen. Seine beiden noch unverheirateten Töchter Charlotte und Gertrude befinden sich passenderweise gerade im besten heiratsfähigen Alter, aber der Jüngste, Clifford, macht seinem Vater etwas Sorgen, da er wegen eines Falls von öffentlicher Trunkenheit eine Zwangspause im Studium einlegen muss. Das Umfeld der Familie bilden Robert Acton und seine Schwester Lizzie sowie Mr. Brand. Robert Acton hat bereits als junger Mann sein ererbtes Vermögen beim Handel in China verfünffacht und scheint nun gar nichts zu tun (überhaupt arbeitet niemand in diesem Roman für seinen Lebensunterhalt), seine Schwester dient als potentielles Ehefrau Cliffords, und der Unitarische Geistliche Mr. Brand ist sowohl für die moralische Besserung Cliffords zuständig als auch als Ehemann für Gertrude vorgesehen. Der aufmerksame Leser beginnt sogleich, im Geiste Pärchen zu bilden.

So kommt es denn, wie es kommen muss, oder wenigstens beinahe: Felix heiratet am Ende Getrude, Mr. Brand heiratet Charlotte, Clifford heiratet Lizzie und nur Eugenia und Robert bekommen einander nicht, sondern Eugenia verlässt das für sie unerträglich langweilige Amerika wieder und begibt sich zurück zu ihrer gefährdeten Ehe in Silberstadt-Schreckenstein, was ihr immer noch lieber zu sein scheint, als sich in ein vernünftiges, solides Leben in Boston einzufinden neben einem Mann, der zwar sie liebt, den sie aber nicht zu lieben versteht.

Die Vernunft ist deprimierend fade. Das ist eine Suppe ohne Salz.

Seinen milden Witz bezieht der Roman aus der Verunsicherung der altehrwürdigen Puritaner durch die weit weniger traditionell erscheinenden, in ihren Manieren wenigstens äußerlich freieren Europäer. Alles in allem muss man aber feststellen, dass die Figuren des Romans vergleichsweise flach bleiben. So müssen sich die Leser den Konflikt, den die Baronin in sich austrägt, und die Umstände ihrer amerikanischen Langeweile weitgehend selbst zusammenreimen, da sie vom ihren europäischen Lebensumständen kaum etwas Konkretes erfahren; auch der ewig gutgelaunte Felix, der selbst die direktesten Grobheiten mit Leichtigkeit und naiver Harmlosigkeit vorträgt, ermangelt jeglichen tatsächlichen Charakters. Die einzige Figur, bei der James etwas anderes als ein Komödienklischee gelungen ist – Gertrude – kommt so selten im Buch vor, dass auch sie mehr zu einem raunenden Geheimnis als zu einer tatsächlichen Person gerät.

Ein leichter, eingängiger, kurzer Roman ohne besonderen Tiefgang, der nur an wenigen Stellen ahnen lässt, was für ein Schriftsteller aus James noch werden sollte. Vom Publikum seiner Zeit ist er gut aufgenommen worden; seine heutigen deutschen Leser werden ihn wohl eher nur en passant zur Kenntnis nehmen.

Henry James: Die Europäer. Aus dem Englischen von Andrea Ott. Zürich: Manesse, 2015. Leinenband mit grünem Farbschnitt, Lesebändchen, 248 Seiten. 24,95 €.

William Faulkner: Absalom, Absalom!

«Mein Gott, was ist der Süden herrlich, wie? Besser als im Theater, wie? Besser als Ben Hur, wie? Kein Wunder, dass ihr da ab und zu mal wegmüsst.»

Faulkner-Absalom

Es ist eine sehr schöne Entscheidung, unmittelbar auf die Neuübersetzung von „Schall und Wahn“ die von „Absalom, Absalom!“ folgen zu lassen, auch wenn in der Chronologie der Werke Faulkners sieben Jahre und vier Romane zwischen diesen beiden Büchern liegen. Der Grund ist, dass in „Absalom, Absalom!“ Quentin Compson einer der Protagonisten und Erzähler ist, dessen wahrscheinlich letzten Lebenstag im Harvard des Jahres 1910 wir im zweiten Abschnitt von „Schall und Wahn“ mitverfolgt haben. Auf diese Weise bekommt der Leser einen Sinn dafür, wie die meisten Texte Faulkners miteinander in Verbindung stehen und zusammen eine einzige Welt entstehen lassen, deren Vorbild allerdings, als Faulkner seine Romane niederschreibt, als bereits endgültig untergegangen und verloren angesehen werden musste.

„Absalom, Absalom!“ besteht wesentlich aus zwei großen Erzählzusammenhängen, die durch Quentin Compson als Augenzeugen, Erzähler und Wiedererzähler miteinander verbunden sind. Die ersten Kapitel schildern einen Tag im September 1909, unmittelbar bevor Quentin zum Studium nach Harvard aufbricht. Er wird von der alten Miss Rosa Coldfield aufgefordert, ihn zu besuchen, um ihn zu überreden, mit ihr einen nächtlichen Ausflug zum Haus ihrer seit langem verstorbenen Schwester Ellen Sutpen (geb. Coldfield) zu machen. Halb von Miss Rosa, halb von seinem Vater bekommt Quentin an diesem Tag ein Gutteil der Tragödie der Familie Sutpen erzählt: Wie ihr Begründer Thomas Sutpen im Jahr 1833 in Begleitung einer Gruppe von Sklaven und eines französischen Architekten in Jefferson auftaucht, sich Indianerland außerhalb von Jefferson verschafft (keiner weiß genau, wie das vor sich gegangen ist), dort das größte Haus der Gegend errichtet und beginnt, auf seiner Plantage Sutpens Hundred Baumwolle anzubauen, sich dann mit der Tochter eines kleinen Kaufmanns in Jefferson verlobt, wahrscheinlich durch eine fragwürdige Spekulation mit dem Geld seines Schwiegervaters zu Reichtum kommt, die Verlobte heiratet und mit ihr zwei Kinder zeugt, Henry und Judith Sutpen, die in der Isolation des Herrenhauses von Sutpens Hundred groß werden.

Das Unglück beginnt über die Familie hereinzubrechen, als Henry die damals neue Universität Oxford besucht und dort Freundschaft mit Charles Bon schließt, einem ein wenig älteren Mann, zu dem er nahezu sofort eine vertraute Freundschaft beginnt. Schon bald steht für ihn fest, dass Charles der einzige Mann ist, denn er sich für seine Schwester wünschen würde, und so bringt er ihn bei nächster Gelegenheit mit zu sich nach Haus. Charles verhält sich bei diesem Besuch mehr als korrekt, aber Judiths Mutter Ellen ist sofort von dem Gedanken überwältigt, hier den idealen Schwiegersohn vor sich zu haben, und sie posaunt die Verlobung zwischen Judith und Charles überall heraus, bevor zwischen den jungen Leuten auch nur ein Wort über eine solche Verbindung gesprochen worden ist.

Zum Eklat kommt es am folgenden Weihnachtsfest: Thomas Sutpen hat eine Aussprache mit seinem Sohn Henry, der daraufhin zusammen mit Charles vorgeblich für immer das Haus seines Vaters verlässt. Der Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs 1861 hält die sich anbahnende Familienkatastrophe noch für vier Jahre in der Schwebe, doch Ellen Sutpen ist vom Scheitern ihrer Ehepläne für die Tochter so erschüttert, dass sie sich in ihr Zimmer zurückzieht und über zwei Jahre hin langsam stirbt. Als Henry und Charles, die zusammen beim selben Südstaaten-Regiment gedient haben, nach dem Ende des Krieges gemeinsam wieder auf Sutpens Hundred eintreffen, erschießt Henry Charles unmittelbar nach der Ankunft und flieht anschließend, um nicht für den Mord zur Verantwortung gezogen werden zu können.

Quentin wird von seinem Vater in dem Glauben bestärkt, Thomas Sutpen hätte seinem Sohn Henry an jenem Weihnachtsabend des Jahres 1860 offenbart, dass Charles in New Orleans bereits mit einer Farbigen verheiratet sei, mit der er auch einen Sohn habe, und dass deshalb eine Heirat mit Judith nicht in Frage komme. Quentin hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass die Beziehung eines weißen Mannes zu einer schwarzen Frau, selbst wenn es sich tatsächlich um eine Ehe gehandelt haben sollte, einen ausreichenden Grund für das Verhalten Henrys darstellen würde. So bleibt das Geschehen vorerst unzureichend geklärt; auch über die nächtliche Fahrt mit Miss Rosa hinaus zu Sutpens Hundred erfährt der Leser erst am Ende des Buches näheres.

Der zweite große Erzählzusammenhang beginnt einige Monate später, im Januar 1910 in Harvard. (In diesem Zusammenhang ist auf einen sehr unglücklichen Druckfehler hinzuweisen: Am Anfang von Kapitel 6 ist der Brief, den Quentin von seinem Vater erhält und der ihn über den Tod von Miss Rosa informiert, auf den 10. Januar 1919, statt richtig 1910 datiert; das könnte bei Lesern, die versuchen, die innere Chronologie der Abläufe zu konstruieren doch zu einiger Verwirrung führen, insbesondere auch bei denen, die aus „Schall und Wahn“ erinnern, dass Quentin Compson sich im Juni 1910 das Leben nimmt.) Quentin hat seinem Mitbewohner Shrevlin McCannon, einem kanadischen Studenten, die Geschichte der Sutpens, soweit er sie kennt, erzählt.

Aus dem Brief des Vaters erfahren Quentin, Shrevlin und der Leser nun eine weitere Schicht der Tragödie der Familie Sutpen: Thomas Sutpen hatte dem Großvater Quentins erzählt, dass er bereits verheiratet war, bevor er zum ersten Mal in Jefferson auftauchte. Als Sohn aus ärmlichsten Verhältnissen hatte er auf Haiti sein Glück gesucht, dort einem Plantagenbesitzer bei einem Sklavenaufstand beigestanden und anschließend dessen Tochter geheiratet. Mit ihr hat er einen Sohn gezeugt, eben jenen Charles Bon, den sein Sohn Henry auf der Universität kennenlernen sollte. Doch hat er seine erste Frau verstoßen, die Ehe wurde geschieden und Thomas Sutpen, der auf das Erbe und die Mitgift seiner ersten Frau verzichtet, baute sich in Jefferson ein neues Leben auf. Die Heirat zwischen Judith und Charles verbietet sich also, da es sich um Halbgeschwister handelt.

Aber auch diese neue Wendung lässt Fragen offen: Wieso hat Henry Charles nach Ende des Krieges überhaupt nach Sutpens Hundred zurückgebracht, um ihn dann dort zu erschießen, bevor er Judith wiedersehen konnte? Wieso hat Charles Judith zuvor noch einen Brief geschrieben, indem er ihre Heirat als eine nun beschlossene Sache ankündigte? War es tatsächlich Zufall, dass sich Charles und Henry in Oxford getroffen haben? Um diese und andere offene Fragen zu beantworten, konstruieren nun Quentin und Shrevlin zusammen eine weitere Ebene der Familiengeschichte, die auf eine Pointe hinausläuft, die hier nicht verraten werden soll.

„Absalom, Absalom!“ (der Titel geht auf die biblische Geschichte um Abschalom, einen Sohn König Davids, zurück, der seinen Halbbruder Amnon umbringen lässt, nachdem der Abschaloms Schwester Tamar vergewaltigt hatte (2. Samuel 13); „Absalom, Absalom!“ ist der Klageruf König Davids, als er vom Tod seines aufsässigen und widerspenstigen Sohns erfährt (2. Samuel 19), ist ein bewusst an den großen Tragödien der Antike und Shakespeares orientierter Roman, der den Untergang der Familie Sutpen und den der Südstaaten miteinander parallelisiert. Das Buch stellt besonders im ersten Drittel einige Ansprüche an seine Leser, da sich die Zusammenhänge unter den Figuren, die Position der jeweiligen Erzähler etc. erst peu à peu offenbaren. Hinzukommen die sehr anspruchsvolle grammatikalische Struktur und die Länge vieler Sätze, die einen Einstieg in den Roman zusätzlich schwierig machen; ein wenig Geduld ist auf Seiten der Leser also schon erforderlich.

Man muss dem Übersetzer Nikolaus Stingl das Kompliment machen, dass er besonders das erste, sprachlich und strukturell sehr anspruchsvolle Drittel des Romans meisterlich übersetzt hat. Andererseits erlaubt sich die Übersetzung hier und da einige Freiheiten bei der Übertragung, mit denen wenigstens ich nicht ganz glücklich geworden bin; auch wird der bei Faulkner sorgfältig nachgeahmte starke Dialekt vieler Schwarzer wie so oft in einer recht sanften und zurückhaltenden Weise im Deutschen wiedergegeben. Und ob ich mich getraut hätte, in einem Roman, dessen Titel bereits auf das zentrale strukturelle Motiv der Wiederholung verweist, nicht jede wortwörtliche Wiederholung auch in der Zielsprache entsprechend nachzubauen, bezweifle ich.

Insgesamt muss man aber festhalten, dass diese Übersetzung einmal mehr einen entscheidenden Fortschritt für die Wahrnehmung Faulkners im deutschen Sprachraum darstellt, so sie denn gelesen werden sollte. Dies liegt auch daran, dass die alte Übersetzung von Hermann Stresau aus dem Jahr 1938 auf den vom amerikanischen Verlag der Erstausgabe bearbeiteten Text zurückgeht und nicht auf die Rekonstruktion von Faulkners Original, die erst seit 1986 im Druck vorliegt. Dass mit dieser Neuausgabe den deutschen Lesern zum ersten Mal der korrigierte Text von „Absalom, Absalom!“ zugänglich gemacht wird, findet übrigens nirgendwo im Buch Erwähnung. In diesem Fall hätte ein, wenn auch noch so kurzes Nachwort dem Buch gut getan. Entschädigt werden die Leser dafür mit einer übersetzten Version der von Faulkner handgezeichneten Karte des Yoknapatawpha County, einer Chronologie der Ereignisse und einem genealogisch geordneten Personenverzeichnis (in dem sich leider gleich der zweite Druckfehler bei einer Jahreszahl findet).

Wie auch bei den Bänden zuvor ist festzuhalten: Diese Reihe der Neuübersetzungen der Romane Faulkners ist eine wirkliche Gelegenheit für deutschsprachige Leser, einen der großen amerikanischen Erzähler des 20. Jahrhunderts (wieder) zu entdecken, und es sind uns noch viele weitere Bände zu wünschen!

William Faulkner: Absalom, Absalom! Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Reinbek: Rowohlt, 2015. Pappband, Lesebändchen, 478 Seiten. 24,95 €.

Henry James: Washington Square

«Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib», rief Morris sich im Stillen zu.

James-Washington-SquareBei Manesse kümmert man sich erfreulicherweise wieder um Henry James, von dem es zwischenzeitlich mal den Anschein hatte, dass er in Deutschland langsam vergessen würde. James nimmt in der englischsprachigen Literatur in etwa die Stelle ein, die Theodor Fontane in der deutschsprachigen besetzt. Das heißt, dass seine Romane oft im gehobenen Bürgertum spielen und typische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Hinzukommt bei James, der in Amerika geboren wurde, einen Großteil seines Lebens aber in Europa verbrachte und schließlich sogar englischer Staatsbürger wurde, die Faszination der Amerikaner für das alte Europa bzw. das halb bewundernde, halb kopfschüttelnde Unverständnis der Europäer für ihre nordamerikanischen Kusinen und Vettern.

„Washington Square“ (1881) ist einer von James’ frühen, vergleichsweise kurzen Romanen. Erzählt wird die Geschichte der verhinderten Eheschließung Catherine Slopers etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Catherine ist die Tochter eines angesehen New Yorker Arztes, deren Mutter recht bald nach Catherines Geburt verstorben ist. Aufgezogen wurde Catherine von ihrer Tante Lavinia Penniman, die nach dem Tod ihres Ehemannes vorübergehend in das Haus ihres Bruders ein-, doch nie wieder ausgezogen ist. Catherine ist ein in beinahe jeglicher Hinsicht durchschnittliches Mädchen: Sie enttäuscht ihren Vater, was ihre Intelligenz angeht, und ihre Tante, soweit es ihre Befähigung zu romantischer Leidenschaft betrifft. Den einzigen Vorzug, den sie gesellschaftlich für sich verbuchen kann, ist das mütterliche Vermögen, das ihr 10.000 $ im Jahr einbringt, und das väterliche Erbe, das eines Tages den doppelten Betrag hinzufügen wird. Gesegnet mit diesen herausstechenden Vorzügen wird sie – wie es kommen muss – zum Ziel eines gutaussehenden Mitgiftjägers, Morris Townsend, der sein eigenes kleines Vermögen bei Reisen durch die Welt durchgebracht hat und sich nun eine Ehefrau sucht, um der Notwendigkeit einer Beschäftigung zu entgehen.

Der nüchterne Doktor Sloper durchschaut die Absichten Townsends rasch und teilt seiner Tochter mit, dass er gegen die zwischen den beiden jungen Leuten verabredete Verlobung sei. Da Catherine volljährig sei, könne er sie an der Heirat mit Townsend nicht hindern, er werde sie aber enterben, was dem Enthusiasmus des jungen Mannes sicher einen Dämpfer aufsetzen werde. Da sich Catherine von dieser Drohung unbeeindruckt zeigt, entschließt er sich, sie mit auf eine Europareise zu nehmen, damit die junge Frau Abstand zum obskuren Objekt ihrer Begierde gewinnen kann. Doch auch nach einem Jahr in Europa – das James nur summarisch abhandelt – hat sich weder an Catherines Gefühlslage noch an Slopers hartnäckigem Widerstand gegen den Ehemann in spe etwas geändert. Als Catherine dies ihrem Verlobten mitteilt, macht dieser endgültig einen Rückzieher, lässt seine Geliebte sitzen und verschwindet aus New York. Nach einer relativ kurzen Trauerphase scheint die junge Frau diesen Verrat verwunden zu haben, doch bleibt kein Zweifel daran, dass sie zu heiraten nicht mehr in Betracht zieht. Der Roman endet mit einer späten Wiederbegegnung der beiden Liebesleute nach dem Tod des Arztes, doch wie das ausgeht, soll hier nicht verraten werden.

Der Witz des Romans besteht weniger in der gerade geschilderten Fabel als vielmehr darin, dass seine Protagonistin zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere gestellt wird, die zwei Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts repräsentieren: Der wissenschaftlich-rationalistische Vater und die romantisch-gefühlsschwangere Tante. Beide missverstehen die Heldin auf exemplarische Weise: Der Vater, der erwartet, dass seine charakterliche Analyse einen ausreichenden Grund für seine Tochter darstellen muss, von ihrer ersten Verliebtheit in einen Mann überhaupt zu lassen; die Tante, die eine große Romanze mit Flucht und heimlicher Ehe und Liebe, die über alle Schwierigkeiten siegt, inszeniert haben möchte, ja, die von ihrer Nichte erwartet, jene Liebesbeziehung zu Morris Townsend zu leben, die sie sich für ihr eigenes Leben zusammenphantasiert hat. Beides greift an dem durch und durch normalen Erleben Catherines vorbei: Catherine wünscht sich einen Ehemann, sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Rechtschaffenheit, eine eigene Familie und einen Menschen, der sie um ihrer selbst willen liebt. Dass auch sie damit an der Realität vorbeilebt, ist die ironische Pointe der von James erfundenen Konstellation. Allerdings erfüllt sie auch im Scheitern nicht die Ansprüche ihrer Umwelt: Weder gesteht sie ihrem Vater zu, dass er Recht hatte und eine Ehe mit Townsend ihr Unglück bedeutet hätte, noch ist sie die große Verweifelte, die in das Weltbild ihrer Tante passen würde. Sie lebt in einem ganz alltäglichen Unglück vor sich hin, fast mit einem Schulterzucken gegenüber der Chance, die sich eröffnet hatte und die nun vertan ist. Es ist sehr schmerzlich gewesen, aber nun ist es vorüber.

Gerade das Ende des Romans kann den zeitgenössischen Lesern kaum gefallen haben und macht in gewisser Weise die Qualität dieses doch sonst weitgehend durchschnittlichen Romans aus. So ökonomisch und nüchtern James auch erzählt, er hat in dieser Phase noch die Tendenz sehr viel von dem zu erläutern, was sich ein aufmerksamer und mit der Zeit vertrauter Leser auch selbst denken könnte. Auch geraten die psychologischen Profile des Doktors und der Tante noch etwas holzschnittartig und übermäßig antagonistisch. Einzig Catherine hat eigentlich gar keinen wirklichen Charakter, was sie eindeutig zur interessantesten Figur des gesamten Romans macht.

Henry James: Washington Square. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Blumenberg. Zürich: Manesse, 2014. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 277 Seiten. 24,95 €.