William Faulkner: Absalom, Absalom!

«Mein Gott, was ist der Süden herrlich, wie? Besser als im Theater, wie? Besser als Ben Hur, wie? Kein Wunder, dass ihr da ab und zu mal wegmüsst.»

Faulkner-Absalom

Es ist eine sehr schöne Entscheidung, unmittelbar auf die Neuübersetzung von „Schall und Wahn“ die von „Absalom, Absalom!“ folgen zu lassen, auch wenn in der Chronologie der Werke Faulkners sieben Jahre und vier Romane zwischen diesen beiden Büchern liegen. Der Grund ist, dass in „Absalom, Absalom!“ Quentin Compson einer der Protagonisten und Erzähler ist, dessen wahrscheinlich letzten Lebenstag im Harvard des Jahres 1910 wir im zweiten Abschnitt von „Schall und Wahn“ mitverfolgt haben. Auf diese Weise bekommt der Leser einen Sinn dafür, wie die meisten Texte Faulkners miteinander in Verbindung stehen und zusammen eine einzige Welt entstehen lassen, deren Vorbild allerdings, als Faulkner seine Romane niederschreibt, als bereits endgültig untergegangen und verloren angesehen werden musste.

„Absalom, Absalom!“ besteht wesentlich aus zwei großen Erzählzusammenhängen, die durch Quentin Compson als Augenzeugen, Erzähler und Wiedererzähler miteinander verbunden sind. Die ersten Kapitel schildern einen Tag im September 1909, unmittelbar bevor Quentin zum Studium nach Harvard aufbricht. Er wird von der alten Miss Rosa Coldfield aufgefordert, ihn zu besuchen, um ihn zu überreden, mit ihr einen nächtlichen Ausflug zum Haus ihrer seit langem verstorbenen Schwester Ellen Sutpen (geb. Coldfield) zu machen. Halb von Miss Rosa, halb von seinem Vater bekommt Quentin an diesem Tag ein Gutteil der Tragödie der Familie Sutpen erzählt: Wie ihr Begründer Thomas Sutpen im Jahr 1833 in Begleitung einer Gruppe von Sklaven und eines französischen Architekten in Jefferson auftaucht, sich Indianerland außerhalb von Jefferson verschafft (keiner weiß genau, wie das vor sich gegangen ist), dort das größte Haus der Gegend errichtet und beginnt, auf seiner Plantage Sutpens Hundred Baumwolle anzubauen, sich dann mit der Tochter eines kleinen Kaufmanns in Jefferson verlobt, wahrscheinlich durch eine fragwürdige Spekulation mit dem Geld seines Schwiegervaters zu Reichtum kommt, die Verlobte heiratet und mit ihr zwei Kinder zeugt, Henry und Judith Sutpen, die in der Isolation des Herrenhauses von Sutpens Hundred groß werden.

Das Unglück beginnt über die Familie hereinzubrechen, als Henry die damals neue Universität Oxford besucht und dort Freundschaft mit Charles Bon schließt, einem ein wenig älteren Mann, zu dem er nahezu sofort eine vertraute Freundschaft beginnt. Schon bald steht für ihn fest, dass Charles der einzige Mann ist, denn er sich für seine Schwester wünschen würde, und so bringt er ihn bei nächster Gelegenheit mit zu sich nach Haus. Charles verhält sich bei diesem Besuch mehr als korrekt, aber Judiths Mutter Ellen ist sofort von dem Gedanken überwältigt, hier den idealen Schwiegersohn vor sich zu haben, und sie posaunt die Verlobung zwischen Judith und Charles überall heraus, bevor zwischen den jungen Leuten auch nur ein Wort über eine solche Verbindung gesprochen worden ist.

Zum Eklat kommt es am folgenden Weihnachtsfest: Thomas Sutpen hat eine Aussprache mit seinem Sohn Henry, der daraufhin zusammen mit Charles vorgeblich für immer das Haus seines Vaters verlässt. Der Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs 1861 hält die sich anbahnende Familienkatastrophe noch für vier Jahre in der Schwebe, doch Ellen Sutpen ist vom Scheitern ihrer Ehepläne für die Tochter so erschüttert, dass sie sich in ihr Zimmer zurückzieht und über zwei Jahre hin langsam stirbt. Als Henry und Charles, die zusammen beim selben Südstaaten-Regiment gedient haben, nach dem Ende des Krieges gemeinsam wieder auf Sutpens Hundred eintreffen, erschießt Henry Charles unmittelbar nach der Ankunft und flieht anschließend, um nicht für den Mord zur Verantwortung gezogen werden zu können.

Quentin wird von seinem Vater in dem Glauben bestärkt, Thomas Sutpen hätte seinem Sohn Henry an jenem Weihnachtsabend des Jahres 1860 offenbart, dass Charles in New Orleans bereits mit einer Farbigen verheiratet sei, mit der er auch einen Sohn habe, und dass deshalb eine Heirat mit Judith nicht in Frage komme. Quentin hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass die Beziehung eines weißen Mannes zu einer schwarzen Frau, selbst wenn es sich tatsächlich um eine Ehe gehandelt haben sollte, einen ausreichenden Grund für das Verhalten Henrys darstellen würde. So bleibt das Geschehen vorerst unzureichend geklärt; auch über die nächtliche Fahrt mit Miss Rosa hinaus zu Sutpens Hundred erfährt der Leser erst am Ende des Buches näheres.

Der zweite große Erzählzusammenhang beginnt einige Monate später, im Januar 1910 in Harvard. (In diesem Zusammenhang ist auf einen sehr unglücklichen Druckfehler hinzuweisen: Am Anfang von Kapitel 6 ist der Brief, den Quentin von seinem Vater erhält und der ihn über den Tod von Miss Rosa informiert, auf den 10. Januar 1919, statt richtig 1910 datiert; das könnte bei Lesern, die versuchen, die innere Chronologie der Abläufe zu konstruieren doch zu einiger Verwirrung führen, insbesondere auch bei denen, die aus „Schall und Wahn“ erinnern, dass Quentin Compson sich im Juni 1910 das Leben nimmt.) Quentin hat seinem Mitbewohner Shrevlin McCannon, einem kanadischen Studenten, die Geschichte der Sutpens, soweit er sie kennt, erzählt.

Aus dem Brief des Vaters erfahren Quentin, Shrevlin und der Leser nun eine weitere Schicht der Tragödie der Familie Sutpen: Thomas Sutpen hatte dem Großvater Quentins erzählt, dass er bereits verheiratet war, bevor er zum ersten Mal in Jefferson auftauchte. Als Sohn aus ärmlichsten Verhältnissen hatte er auf Haiti sein Glück gesucht, dort einem Plantagenbesitzer bei einem Sklavenaufstand beigestanden und anschließend dessen Tochter geheiratet. Mit ihr hat er einen Sohn gezeugt, eben jenen Charles Bon, den sein Sohn Henry auf der Universität kennenlernen sollte. Doch hat er seine erste Frau verstoßen, die Ehe wurde geschieden und Thomas Sutpen, der auf das Erbe und die Mitgift seiner ersten Frau verzichtet, baute sich in Jefferson ein neues Leben auf. Die Heirat zwischen Judith und Charles verbietet sich also, da es sich um Halbgeschwister handelt.

Aber auch diese neue Wendung lässt Fragen offen: Wieso hat Henry Charles nach Ende des Krieges überhaupt nach Sutpens Hundred zurückgebracht, um ihn dann dort zu erschießen, bevor er Judith wiedersehen konnte? Wieso hat Charles Judith zuvor noch einen Brief geschrieben, indem er ihre Heirat als eine nun beschlossene Sache ankündigte? War es tatsächlich Zufall, dass sich Charles und Henry in Oxford getroffen haben? Um diese und andere offene Fragen zu beantworten, konstruieren nun Quentin und Shrevlin zusammen eine weitere Ebene der Familiengeschichte, die auf eine Pointe hinausläuft, die hier nicht verraten werden soll.

„Absalom, Absalom!“ (der Titel geht auf die biblische Geschichte um Abschalom, einen Sohn König Davids, zurück, der seinen Halbbruder Amnon umbringen lässt, nachdem der Abschaloms Schwester Tamar vergewaltigt hatte (2. Samuel 13); „Absalom, Absalom!“ ist der Klageruf König Davids, als er vom Tod seines aufsässigen und widerspenstigen Sohns erfährt (2. Samuel 19), ist ein bewusst an den großen Tragödien der Antike und Shakespeares orientierter Roman, der den Untergang der Familie Sutpen und den der Südstaaten miteinander parallelisiert. Das Buch stellt besonders im ersten Drittel einige Ansprüche an seine Leser, da sich die Zusammenhänge unter den Figuren, die Position der jeweiligen Erzähler etc. erst peu à peu offenbaren. Hinzukommen die sehr anspruchsvolle grammatikalische Struktur und die Länge vieler Sätze, die einen Einstieg in den Roman zusätzlich schwierig machen; ein wenig Geduld ist auf Seiten der Leser also schon erforderlich.

Man muss dem Übersetzer Nikolaus Stingl das Kompliment machen, dass er besonders das erste, sprachlich und strukturell sehr anspruchsvolle Drittel des Romans meisterlich übersetzt hat. Andererseits erlaubt sich die Übersetzung hier und da einige Freiheiten bei der Übertragung, mit denen wenigstens ich nicht ganz glücklich geworden bin; auch wird der bei Faulkner sorgfältig nachgeahmte starke Dialekt vieler Schwarzer wie so oft in einer recht sanften und zurückhaltenden Weise im Deutschen wiedergegeben. Und ob ich mich getraut hätte, in einem Roman, dessen Titel bereits auf das zentrale strukturelle Motiv der Wiederholung verweist, nicht jede wortwörtliche Wiederholung auch in der Zielsprache entsprechend nachzubauen, bezweifle ich.

Insgesamt muss man aber festhalten, dass diese Übersetzung einmal mehr einen entscheidenden Fortschritt für die Wahrnehmung Faulkners im deutschen Sprachraum darstellt, so sie denn gelesen werden sollte. Dies liegt auch daran, dass die alte Übersetzung von Hermann Stresau aus dem Jahr 1938 auf den vom amerikanischen Verlag der Erstausgabe bearbeiteten Text zurückgeht und nicht auf die Rekonstruktion von Faulkners Original, die erst seit 1986 im Druck vorliegt. Dass mit dieser Neuausgabe den deutschen Lesern zum ersten Mal der korrigierte Text von „Absalom, Absalom!“ zugänglich gemacht wird, findet übrigens nirgendwo im Buch Erwähnung. In diesem Fall hätte ein, wenn auch noch so kurzes Nachwort dem Buch gut getan. Entschädigt werden die Leser dafür mit einer übersetzten Version der von Faulkner handgezeichneten Karte des Yoknapatawpha County, einer Chronologie der Ereignisse und einem genealogisch geordneten Personenverzeichnis (in dem sich leider gleich der zweite Druckfehler bei einer Jahreszahl findet).

Wie auch bei den Bänden zuvor ist festzuhalten: Diese Reihe der Neuübersetzungen der Romane Faulkners ist eine wirkliche Gelegenheit für deutschsprachige Leser, einen der großen amerikanischen Erzähler des 20. Jahrhunderts (wieder) zu entdecken, und es sind uns noch viele weitere Bände zu wünschen!

William Faulkner: Absalom, Absalom! Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Reinbek: Rowohlt, 2015. Pappband, Lesebändchen, 478 Seiten. 24,95 €.

Henry James: Washington Square

«Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib», rief Morris sich im Stillen zu.

James-Washington-SquareBei Manesse kümmert man sich erfreulicherweise wieder um Henry James, von dem es zwischenzeitlich mal den Anschein hatte, dass er in Deutschland langsam vergessen würde. James nimmt in der englischsprachigen Literatur in etwa die Stelle ein, die Theodor Fontane in der deutschsprachigen besetzt. Das heißt, dass seine Romane oft im gehobenen Bürgertum spielen und typische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft darstellen. Hinzukommt bei James, der in Amerika geboren wurde, einen Großteil seines Lebens aber in Europa verbrachte und schließlich sogar englischer Staatsbürger wurde, die Faszination der Amerikaner für das alte Europa bzw. das halb bewundernde, halb kopfschüttelnde Unverständnis der Europäer für ihre nordamerikanischen Kusinen und Vettern.

„Washington Square“ (1881) ist einer von James’ frühen, vergleichsweise kurzen Romanen. Erzählt wird die Geschichte der verhinderten Eheschließung Catherine Slopers etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Catherine ist die Tochter eines angesehen New Yorker Arztes, deren Mutter recht bald nach Catherines Geburt verstorben ist. Aufgezogen wurde Catherine von ihrer Tante Lavinia Penniman, die nach dem Tod ihres Ehemannes vorübergehend in das Haus ihres Bruders ein-, doch nie wieder ausgezogen ist. Catherine ist ein in beinahe jeglicher Hinsicht durchschnittliches Mädchen: Sie enttäuscht ihren Vater, was ihre Intelligenz angeht, und ihre Tante, soweit es ihre Befähigung zu romantischer Leidenschaft betrifft. Den einzigen Vorzug, den sie gesellschaftlich für sich verbuchen kann, ist das mütterliche Vermögen, das ihr 10.000 $ im Jahr einbringt, und das väterliche Erbe, das eines Tages den doppelten Betrag hinzufügen wird. Gesegnet mit diesen herausstechenden Vorzügen wird sie – wie es kommen muss – zum Ziel eines gutaussehenden Mitgiftjägers, Morris Townsend, der sein eigenes kleines Vermögen bei Reisen durch die Welt durchgebracht hat und sich nun eine Ehefrau sucht, um der Notwendigkeit einer Beschäftigung zu entgehen.

Der nüchterne Doktor Sloper durchschaut die Absichten Townsends rasch und teilt seiner Tochter mit, dass er gegen die zwischen den beiden jungen Leuten verabredete Verlobung sei. Da Catherine volljährig sei, könne er sie an der Heirat mit Townsend nicht hindern, er werde sie aber enterben, was dem Enthusiasmus des jungen Mannes sicher einen Dämpfer aufsetzen werde. Da sich Catherine von dieser Drohung unbeeindruckt zeigt, entschließt er sich, sie mit auf eine Europareise zu nehmen, damit die junge Frau Abstand zum obskuren Objekt ihrer Begierde gewinnen kann. Doch auch nach einem Jahr in Europa – das James nur summarisch abhandelt – hat sich weder an Catherines Gefühlslage noch an Slopers hartnäckigem Widerstand gegen den Ehemann in spe etwas geändert. Als Catherine dies ihrem Verlobten mitteilt, macht dieser endgültig einen Rückzieher, lässt seine Geliebte sitzen und verschwindet aus New York. Nach einer relativ kurzen Trauerphase scheint die junge Frau diesen Verrat verwunden zu haben, doch bleibt kein Zweifel daran, dass sie zu heiraten nicht mehr in Betracht zieht. Der Roman endet mit einer späten Wiederbegegnung der beiden Liebesleute nach dem Tod des Arztes, doch wie das ausgeht, soll hier nicht verraten werden.

Der Witz des Romans besteht weniger in der gerade geschilderten Fabel als vielmehr darin, dass seine Protagonistin zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Charaktere gestellt wird, die zwei Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts repräsentieren: Der wissenschaftlich-rationalistische Vater und die romantisch-gefühlsschwangere Tante. Beide missverstehen die Heldin auf exemplarische Weise: Der Vater, der erwartet, dass seine charakterliche Analyse einen ausreichenden Grund für seine Tochter darstellen muss, von ihrer ersten Verliebtheit in einen Mann überhaupt zu lassen; die Tante, die eine große Romanze mit Flucht und heimlicher Ehe und Liebe, die über alle Schwierigkeiten siegt, inszeniert haben möchte, ja, die von ihrer Nichte erwartet, jene Liebesbeziehung zu Morris Townsend zu leben, die sie sich für ihr eigenes Leben zusammenphantasiert hat. Beides greift an dem durch und durch normalen Erleben Catherines vorbei: Catherine wünscht sich einen Ehemann, sie wünscht sich Aufmerksamkeit und Rechtschaffenheit, eine eigene Familie und einen Menschen, der sie um ihrer selbst willen liebt. Dass auch sie damit an der Realität vorbeilebt, ist die ironische Pointe der von James erfundenen Konstellation. Allerdings erfüllt sie auch im Scheitern nicht die Ansprüche ihrer Umwelt: Weder gesteht sie ihrem Vater zu, dass er Recht hatte und eine Ehe mit Townsend ihr Unglück bedeutet hätte, noch ist sie die große Verweifelte, die in das Weltbild ihrer Tante passen würde. Sie lebt in einem ganz alltäglichen Unglück vor sich hin, fast mit einem Schulterzucken gegenüber der Chance, die sich eröffnet hatte und die nun vertan ist. Es ist sehr schmerzlich gewesen, aber nun ist es vorüber.

Gerade das Ende des Romans kann den zeitgenössischen Lesern kaum gefallen haben und macht in gewisser Weise die Qualität dieses doch sonst weitgehend durchschnittlichen Romans aus. So ökonomisch und nüchtern James auch erzählt, er hat in dieser Phase noch die Tendenz sehr viel von dem zu erläutern, was sich ein aufmerksamer und mit der Zeit vertrauter Leser auch selbst denken könnte. Auch geraten die psychologischen Profile des Doktors und der Tante noch etwas holzschnittartig und übermäßig antagonistisch. Einzig Catherine hat eigentlich gar keinen wirklichen Charakter, was sie eindeutig zur interessantesten Figur des gesamten Romans macht.

Henry James: Washington Square. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Blumenberg. Zürich: Manesse, 2014. Leinenband mit rotem Farbschnitt, Lesebändchen, 277 Seiten. 24,95 €.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Hesiod: Theogonie

Hesiod-TheogonieIm Jahr 2008 erschienen zwei Bücher Raoul Schrotts: zum einen eine Übersetzung von Homers „Ilias“ und zum anderen mit unmittelbarem Bezug zu dieser Übersetzung der Band „Homers Heimat“, der einen kleinen Sturm im Wasserglas der Al­ter­tums­wis­sen­schaf­ten auslöste. Schrott macht sich in diesem Buch in einer komplexen und quel­len­ge­sät­tig­ten Argumentation für die Hypothese stark, Homer als einen kilikischen Autor zu lesen, seine Herkunft und die von ihm verarbeitete lebensweltliche Wirklichkeit also in den östlichen Mittelmeerraum, genauer an die Südost-Küste der Türkei zu verlegen.

Schrotts gerade erschienene „Theogonie“ stellt eine Variation desselben Themas dar: Er liefert zu seiner Übersetzung des Textes einen umfangreichen Anhang, in dem er den Einflüssen nachspürt, den die Mythen des östlichen Mittelmeerraums auf den griechischen Ent­wurf der Göt­ter­welt gehabt haben könnten. Er behauptet im Falle Hesiods nicht, dass ihm – wie er das für Homer wahrscheinlich ma­chen möchte – eine schriftliche Fassung der verarbeiteten Mythen vorgelegen habe, sondern geht in diesem Fall von einer mündlichen Tradierung der entsprechenden Stoffe aus. Schrott steht mit dieser Sicht, die von einer vielfältigen Verbindung und Verschränkung der diversen Kulturräume des Mittelmeers ausgeht, durchaus nicht allein; er ist nur derjenige, der diese Einsichten außerhalb der reinen Fach­dis­kus­sion zuerst thematisiert hat.

Wen die Verknüpfungen der alten Kulturen im Mittelmeerraum in­ter­es­sie­ren, findet hier reichhaltigen Stoff und Anregungen zur weiteren Lektüre. Verständlicherweise ist auch Schrotts Übersetzung sehr stark von seiner Grundthese beeinflusst. Es kann sich daher hier und da lohnen, eine zweite, konservativere Übersetzung zu Schrotts Text der „Theogonie“ parallel zu lesen.

Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott. München: Hanser, 2014. Bedruckter Pappband, bedruckte Vorsätze, 216 Seiten. 19,90 €.

Isaak Babel: Mein Taubenschlag

Und  das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleideter Läuse, stapfte in Bast­schu­hen zu beiden Seiten des Waggons.

Babel-Taubenschlag

Zum schönsten in einem langen und kon­ti­nu­ier­li­chen Leseleben gehören jene Momente, in denen man unvorbereitet auf einen Autor stößt, der einem ganz neu und ursprünglich ein Vergnügen bereitet, mit dem man schon lange nicht mehr gerechnet hatte. Meine Lektüre von Isaak Babels Erzählungen ist ein solcher Glücksfall. Natürlich kannte ich Babel dem Namen nach, wusste auch, dass er in der DDR viel gelesen wurde, aber ich war nie zufällig so an einem seiner Bücher vorbeigekommen, dass es mich im Augenblick gereizt hätte, ihn kennenzulernen. Erst die jetzt erschienene Neuausgabe seiner sämtlichen Erzählungen bei Hanser hat mich verführt.

Im Zentrum des Bandes steht Babels Erzählzyklus „Die Reiterarmee“ in der Übersetzung Peter Urbans, die – mit wenigen Änderungen – aus der Ausgabe der Friedenauer Presse von 1994 übernommen wurde. „Die Reiterarmee“ enthält Babels Erzählungen aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920, an dem er als Kriegsjournalist teilnahm, nachdem er zuvor schon im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg als Soldat und Reporter gedient hatte. Babels Erzählweise ist zumeist denkbar knapp und unemotional, dann aber immer wieder durchsetzt mit kurzen, nahezu lyrischen Na­tur­be­schrei­bun­gen, ohne dass die Texte dadurch ihre Stimmigkeit verlieren würden. Babel versucht an keiner Stelle ein historisches oder auch nur geschlossenes Bild des Krieges zu liefern; er konzentriert sich im Gegenteil auf Anekdoten, von denen durchaus nicht jedesmal klar wird, wo sie in der Chronologie der Ereignisse zu verorten sind. Kriegselend, Euphorie der Attacke und Streitereien unter den Soldaten, hohe Kriegsziele und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit, Geistliche, Künstler, Bettler und Generale, Juden und Christen, Polen und Russen treffen unvermittelt auf­ein­an­der, Verständnis, Missverständnis und Tod wechseln sich un­vor­her­seh­bar ab und der Erzähler Ljutov – Babels eigener Nom de guerre – scheint kaum hinterherzukommen mit seinen Notizen.

Um diesen Kern herum finden sich in vier Teilen alle anderen Erzählungen Babels in der Übersetzung von Bettina Kaibach. Man muss ihr das Kompliment machen, dass es ihr tatsächlich gelungen ist, einen Ton für ihre Übersetzung zu finden, der kaum eine Diskrepanz zu dem Urbans erkennen lässt. Natürlich sind Babels Erzählungen aus Odessa stofflich oft leichter und in weiten Teilen humoristischer als die der „Reiterarmee“, aber Kaibach trifft wie Urban die lakonisch-lyrische Spannung der Texte vortrefflich. Der „Reiterarmee“ voran gehen die beiden Sammlungen „Die Geschichte meines Tau­ben­schlags“ und die „Geschichten aus Odessa“, wobei dieser Zyklus und die Sammlung „Die Reiterarmee“ um einige zugehörige Texte ergänzt werden. Nachgestellt sind zwei Gruppen von Erzählungen, die Babel nicht selbst gesammelt hat und die der Chronologie der Entstehung nach geordnet wurden. Besonders die frühen, noch recht konventionellen Erzählungen machen deutlich, wie Babel schließlich zu seinem eigenen, knappen und lakonischen Ton gefunden hat.

Wie bereits oben gesagt, hat mich seit Langem kein Erzähler mehr so auf Anhieb überrascht und überzeugt. Babels Erzählungen prä­sen­tie­ren eine ganz und gar eigenständige und originelle Sicht auf die Welt, sie zeigen eine Wirklichkeit, die sich in dieser Präzision wohl schwer­lich anderswo wird finden lassen, wenn sie sich überhaupt finden lässt. Eines jener wenigen Bücher, die tatsächlich ein Stück Welt bewahren!

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 863 Seiten. 39,90 €.

William Faulkner: Schall und Wahn

Komische Leut. Gut dass ich keiner von denen bin.

Faulkner-Schall

Rowohlt setzt seine Reihe von Neuübersetzungen von Romanen William Faulkners – „Licht im August“ (2008), „Als ich im Sterben lag“ (2012) – mit dem 1929 erschienenen „Schall und Wahn“ fort. Der Titel des amerikanischen Originals „The Sound and the Fury“ ist eine offensichtliche Anspielung auf eine Passage aus Shakespeares „Macbeth“:

Life’s but a walking shadow, a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.

Nun wäre angesichts dieses Hintergrundes der Titel wahrscheinlich genauer mit „Der Lärm und die Raserei“ oder auch, wie Übersetzer Frank Heibert in seinem Nachwort vorschlägt, „Das Tönen und Wüten“ übersetzt. Allerdings, schließt Heibert seine Reflexion über mögliche Titelvarianten, habe bei

der Titelentscheidung […] nicht der Übersetzer das letzte Wort.
Auf Deutsch heißt dieser Roman «Schall und Wahn».

Der Roman ist aufgeteilt in vier große Abschnitte, von denen drei an den drei Tagen von Karfreitag bis Ostersonntag des Jahres 1928 im fiktiven Mississippi-Städtchen Jefferson spielen. Der zweite Teil ist auf den 2. Juni 1910 datiert und ist in Harvard angesiedelt. Jedes der Kapitel hat einen eigenen Erzähler, wobei die Erzählhaltungen von Abschnitt zu Abschnitt immer traditioneller werden. Der erste Abschnitt, der wohl am besten dem Programm des oben angeführten Shakespeare-Zitats folgt, wird vom geistig behinderten Benjy, dem jüngsten der drei Söhne der Familie Compson erzählt. Benjy ist 1928 dreiunddreißig Jahre alt und bedarf ständiger Aufsicht und Hilfe. Er ist nach einem Übergriff auf ein kleines Mädchen kastriert worden und hätte anschließend nach dem Willen seines Bruders Jason in eine geschlossene Anstalt gesteckt werden sollen. Doch aus Rücksicht auf die Mutter lebt er weiterhin im elterlichen Haus, unter ständiger Aufsicht eines schwarzen Bediensteten, zumeist des erst 14-jährigen Lusters.

Benjy ist naturgemäß ein denkbar ungeeigneter Erzähler: Er kann kaum zwei Gedanken folgerichtig hintereinander setzen, seine Erinnerungen und Eindrücke nicht in eine zuverlässige zeitliche Abfolge bringen, keine seiner Erfahrungen tatsächlich begreifen oder sich in ein Verhältnis zu ihr setzen etc. Er ist tief geprägt von den Erlebnissen seiner Kindheit, die in seinem Gedanken- und Er­fah­rungs­strom immer wieder auftauchen. Besonders die Liebe zu seiner Schwester Candy ist eine der Konstanten in dem Chaos in Benjys Kopf. Erst die zweite Hälfte des Romans wird vieles von dem, was Benjy erzählt, verständlich werden lassen.

Der zweite Abschnitt wird von Quentin Compson erzählt, der im Jahr 1910 in Harvard studiert. Der Leser kann vermuten, dass es sich bei dem erzählten Tag um denjenigen handelt, an dessen Ende sich Quentin ertränken wird. Quentin verbringt den Tag mit einer an­schei­nend ziellosen Fahrt durch Harvard und dessen ländliches Umfeld. In einer kleinen Stadt läuft ihm längere Zeit ein kleines italienisches Mädchen nach, weshalb er unter dem Verdacht verhaftet wird, er habe das Mädchen entführen wollen. Nachdem sich dieser Verdacht vor dem Friedensrichter, vor den Quentin gestellt wird, als unbegründet erweist, nimmt Quentin mit einigen Kommilitonen an einem Picknick teil, bei dem er allerdings eine Schlägerei beginnt. Er kehrt allein nach Harvard zurück und ordnet seine Habseligkeiten als Vorbereitung für seinen Selbstmord. Die Erzählung bricht ab, unmittelbar bevor Quentin sein Zimmer wahrscheinlich zum letzten Mal verlässt.

Quentins Ich-Erzählung ist natürlich deutlich klarer strukturiert als die Benjys, doch wird auch hier dem Leser einiges an Aufmerksamkeit und interpretierendem Lesen abverlangt. Quentins Denken ist getränkt von einem tiefem Schuldgefühl wegen seiner Liebe zu seiner Schwester Candace, die offenbar vor kurzer Zeit geheiratet hat. Wir werden später erfahren, dass Candy diese Ehe eingeht, um ihrer unehelich, nicht von ihrem Ehemann gezeugten Tochter eine Familie zu geben. Quentin verachtet Candys Ehemann und ist eifersüchtig auf ihn, macht sich zugleich aber schwere Vorwürfe wegen dieser Gefühle, die er selbst als inzestuös empfindet. Dieser innere Konflikt ist zumindest einer der Gründe für Quentins Entschluss, sich selbst zu töten.

Der dritte Abschnitt wird von Jason, dem dritten Sohn der Compsons erzählt. Auch Jason lebt immer noch im elterlichen Haus, und er ist es, der durch seine Tätigkeit als Verkäufer in einem Ladengeschäft die Familie finanziell über Wasser hält. Im Haushalt der Compson lebt außer der Mutter Caroline, Benjy und Jason auch Candys Tochter Quentin (!), die von ihrer Mutter nach der Scheidung ihrer ersten Ehe zur Familie in Jefferson gebracht wurde. Quentin ist 17 Jahre alt und rebelliert gegen ihren sie und die übrige Familie tyrannisierenden Onkel Jason. Jason ist nicht nur ständig schlecht gelaunt und geneigt, jedermann nach Möglichkeit zu quälen, er unterschlägt auch sys­te­ma­tisch die Unterhaltszahlungen, die Candy für ihre Tochter schickt. Der verbitterte und geldgierige Mann spekuliert mit diesem Geld an der Baumwoll-Börse, die aber im wesentlichen auch nur seinen Hass auf die Welt, die Juden und die Schwarzen schürt. Jasons Ich-Erzählung folgt am ehesten traditionellen Vorbildern, wie sie die Erzähler des 19. Jahrhundert geliefert haben.

Der vierte Abschnitt schließlich hat einen auktorialen Erzähler, der im Großteil seiner Erzählung dem Tagesablauf von Dilsey, der schwarzen Haushälterin der Compsons und Mutter Lusters, folgt. Dilsey hat außer Luster noch eine Tochter, Frony, die aber nicht im Haus lebt. Sie be­sorgt nicht nur den Haushalt, sondern hat auch die Kinder der Comp­sons erzogen, da weder die hypochondrische Mutter Caroline noch der stets betrunkene Vater Jason (sen.) dazu in der Lage waren. Sie ist das ausgleichende Element im Haus der Compson und sorgt immer wieder dafür, dass die Streitereien der weißen Familie nicht in Gewalt und Chaos enden. Allerdings muss Jason (jun.) an dem im letzten Ab­schnitt erzählten Ostersonntag 1928 feststellen, dass seine Nichte, die ihn zwei Tage zuvor flehentlich gebeten hatte, ihr das Geld aus­zu­zahlen, das ihre Mutter ihr gerade geschickt hatte, und von ihm mit 10 Dollars abgespeist wurde, in sein Zimmer eingebrochen ist, seine Geldschatulle aufgebrochen und mit 7000 Dollars das Weite gesucht hat. Ein Großteil dieses Geldes ist der von Jason un­ter­schla­ge­ne Unterhalt, so dass sich Quentin wenigstens zum Teil nur das Geld wiederholt, dass Jason ihr vorenthalten hat. Jason versucht noch, Quentin und den Schausteller, mit dem sie aus Jefferson geflohen ist, einzuholen, muss aber schließlich einsehen, dass der Versuch zwecklos ist. Mit einem letzten Wutanfall Jasons gegen Luster endet der Roman.

„Schall und Wahn“ ist 1928 entstanden und lässt überdeutlich den Einfluss von Joyces „Ulysses“ auf Faulkner erkennen: Der Wechsel der Erzählform und der Erzähler von Abschnitt zu Abschnitt, das ex­pe­ri­men­tel­le Zuspitzen der Subjektivität des Erzählens besonders im ersten Abschnitt, das Erzählen eher eines Zustands als einer Handlung, die Reduktion des Erzählten auf kurze Zeiträume lassen sich alle problemlos auf das Vorbild des „Ulysses“ zurückführen. Heutige Leser, die in der Rezeption dieser Art von Texten geübter sind als Faulkners zeitgenössisches Publikum (es gibt allerdings auch heute noch Ausnahmen), können durchaus den Eindruck haben, dass auch eine deutlich kürzere Fassung des Textes denselben Eindruck vermitteln würde. Doch sollte man nicht vergessen, dass diese Formen Ende der 20er Jahre noch weitgehend neu und wenig eingeübt waren und sowohl auf der Seite der Schriftsteller als auch auf der der Leser noch eine bedeutende Unsicherheit über die Wirkung und die Tragfähigkeit dieser Formen bestand.

Die Übersetzung Frank Heiberts ist sorgfältig und präzise und vermeidet es, den Text zu verflachen oder der sogenannten Lesbarkeit zu opfern. Auch typographisch geht diese Neuausgabe sehr sorgsam mit dem Original um und reproduziert Faulkners typographische Manierismen – etwa längere Folgen von Leerzeichen, um etwas ungesagt Bleibendes zu markieren, oder das Einfügen einer kleinen Graphik eines Auges an einer Stelle, wo eine Werbetafel mit einem entsprechenden Symbol beschrieben wird – zuverlässig.

Ein Klassiker der Moderne, der erheblichen Einfluss auf die Ent­wick­lung der US-amerikanischen Literatur gehabt hat und einen der Grund­stei­ne zu Faulkners Ruhm bildet. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt seine Reihe von Neuübersetzungen Faulkners noch lange fortsetzen wird.

William Faulkner: Schall und Wahn. Übersetzt von Frank Heibert. Reinbek: Rowohlt, 2014. Pappband, Lesebändchen, 381 Seiten.
24,95 €.

Lew Tolstoi: Anna Karenina

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Zum ersten Mal habe ich „Anna Karenina“ noch zu Schulzeiten gelesen, so habe ich damals wenigstens geglaubt. Es handelte sich um eine Ausgabe des Lingen-Verlages, der damals schon preiswerte Lizenzausgaben für Zeitungsverlage herstellte. Unter anderem gab es auch eine ganze Reihe von Klassikern der Weltliteratur, alle in sehr hässliches grünes Kunstleder eingebunden und auf sehr handfestem Papier gedruckt. Die Ausgabe der „Anna Karenina“ hatte in dieser Reihe knapp 430 Seiten. Als ich das Buch dann zum zweiten Mal während des Studiums las – ich versuchte, mir einen Überblick über die wichtigen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts zu verschaffen – war es der Text der Winkler-Ausgabe, übersetzt von Fred Ottow, im Einband der dtv-Weltliteratur. Hierbei handelte es sich angeblich um eine vollständige Ausgabe und sie hatte immerhin gut 970 Seiten, also deutlich mehr als das Doppelte an Text. Damals ist mir die Lektüre ungewöhnlich schwer gefallen, denn in Ottows Übersetzungen erschienen mir alle Hauptfiguren wie Karikaturen wirklicher Menschen und so die gesamte Konstruktion des Romans wenig überzeugend. Ob das an meiner damaligen Verfasstheit oder tatsächlich an der Übersetzung lag, habe ich nicht noch einmal geprüft. Bei der jetzigen, dritten Lektüre habe ich die Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze gelesen, in der es der Roman auf stattliche 1227 Seiten bringt. Dieser Ausgabe glaube ich nun auch, dass sie tatsächlich vollständig ist.

Allerdings muss ich gleich eingestehen, dass ich mich mit dieser dritten Lektüre recht schwer getan habe und sie, läge ihr nicht eine didaktische Verpflichtung zugrunde, wahrscheinlich nicht abgeschlossen hätte. Es lag nicht allein an der Länge des Buches, aber auch. Denn es erscheint mehr als verständlich, dass gerade „Anna Karenina“ ein massives Opfer der Textbearbeitung bzw. -kürzung geworden ist: Tolstoi verschränkt in diesem Buch zwei Romane miteinander, von denen nur einer zu Recht den Titel „Anna Karenina“ trägt. Die Fabel um Konstantin Lewin, die den anderen Roman ausmacht, kann für sich allein kaum einen berechtigten Anspruch auf Interesse machen und ist zudem so mit Reflexionen über Religion, Ökonomie und Philosophie überladen – immer durch den nicht wirklich umfassenden Horizont Tolstois beschränkt –, dass die meisten Leser sicherlich dankbar sind, nur den Roman um die Titelfigur vorgelegt zu bekommen und von all dem anderen weitgehend verschont zu bleiben. Andererseits muss man natürlich respektieren, dass Tolstoi die tragische Skandalgeschichte um Anna als Vehikel benutzt hat, um eine ihm wichtige Position zum Prozess der Säkularisierung der europäischen Kultur zu thematisieren. Dass gerade dieser Anteil für den überwiegenden Teil seiner heutigen Leser eher obsolet geworden ist, hat er zwar ahnen, aber nicht wirklich berücksichtigen können.

Es werden also eigentlich zwei Geschichten erzählt: Die bekanntere und vielfach verfilmte ist die der Ehebrecherin Anna Karenina. Anna verliebt sich wider Willen in den jungen, noch etwas unreifen Offizier Wronski, der eigentlich ihrer Nichte Kitty den Hof macht. Auch Wronski, der zu Anfang glaubt, sich auf ein gewöhnliches Abenteuer einzulassen, wird bald von seinen Gefühlen überwältigt. Die Affäre gerät zum Skandal, als Anna schwanger wird und in einem Moment emotionaler Aufgeregtheit ihrem Mann bestätigt, was dieser längst vermutet. Was folgt, ist das lange Leiden und schließlich der Zusammenbruch Annas: Sie stirbt beinahe bei der Geburt ihrer Tochter mit Wronski, erholt sich aber wieder, geht mit Wronski nach Italien, kehrt nach Russland zurück, versucht von ihrem Mann die Scheidung zu erreichen, leidet immer mehr daran, dass sie Wronski nicht durch eine Heirat an sich binden kann und tötet sich schließlich in einem sich wahnhaft zuspitzenden Anfall von Eifersucht und Verzweiflung, indem sie sich unter einen Zug wirft.

Die Geschichte Konstantin Lewins dagegen hängt mit der Annas nur darüber zusammen, dass Lewin wie Wronski einer der Bewerber um Kittys Gunst ist. Sein Antrag wird von Kitty abgewiesen, die zu dem Zeitpunkt noch glaubt, sie werde Wronski heiraten. Als diese Hoffnung in der Affäre Wronskis mit Anna untergeht, erkrankt Kitty ernsthaft und wird von ihrer Familie zur Erholung nach Westeuropa gebracht. Es dauert sehr lange, bis sich Kitty und Lewin wiedersehen; in dieser Zeit lässt der Autor seinen Zweithelden auf seinem Gut ökonomischen Theorien nachhängen und diese mit anderen Gutsbesitzern diskutieren. Als sich die beiden vom Autor für einander Bestimmten endlich erneut treffen, einigt man sich rasch. Anschließend muss die Hochzeit vorbereitet und abgehalten werden, und dann müssen die Eheleute ein Eheleben für sich finden. Zwischzeitlich stirbt ein Bruder Lewins, was ihn auf die Frage nach dem Leben nach dem Tode stößt. Schließlich durchläuft Lewin eine intensive Phase von Selbstzweifel und Sinnsuche, die sich am Ende des Romans in eine Epiphanie christlicher Einsicht auflöst. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Tolstoi gerade dieser letzte Teil, der seine eigene Rückwendung zum Christentum thematisiert, der wichtigste Teil des Romanes war. Es kann ebensowenig Zweifel daran bestehen, dass er schon 1878 obsolet und wenig überzeugend war und bis heute nicht an Kraft gewinnen konnte. Natürlich ist die Säkularisierung der europäischen Kultur eines der gewichtigsten Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Tolstois Lösung ist letztlich resigantiv und rückwärtsgewandt. Es nimmt wenig Wunder, dass Tolstoi mit dieser Position einer der säkularen Heiligen des späten 19. Jahrhunderts geworden ist.

Die neue Übersetzung von Rosemarie Tietze ist gut zu lesen und bietet einem Leser wie mir, der das Original nicht zum Vergleich heranziehen kann, kaum Widerstände. Der Gesamteindruck hat sich – sieht man von der oben bereits gemachten Einschränkung ab – um Welten von dem der Übersetzung Ottows unterschieden; nur ist der Roman eben unmäßig lang geraten. Was kein Plädoyer für die gekürzten Ausgaben darstellt; wer Tolstoi lesen will, muss schlicht in den sauren Apfel der ausschweifenden Philosopheme beißen, sonst soll er sich eben eine der zahlreichen Verfilmungen des Stoffs ansehen oder etwas anderes lesen.

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Hanser, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1285 Seiten. 39,90 €. Auch als Taschenbuch (dtv 13995) lieferbar.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe

Es gibt keinen Weg, der uns aus diesem trostlosen Labyrinth herausführt.

Hawthorne_BuchstabeHanser legt einen der ersten nordamerikanischen Klassiker in einer neuen Übersetzung vor. Hawthornes romantische Erzählung war nicht nur beim Publikum ein kontrovers diskutierter Erfolg, sondern wurde auch von Schriftsteller-Kollegen gelobt. Für ein romantisches Schaustück war das Buch 1850 etwas spät erschienen; um den Text literarhistorisch richtig einzuordnen, muss man sich klar machen, dass nur sieben Jahre später Flauberts „Madame Bovary“ erscheint.

Erzählt wird die Geschichte Hester Prynnes, die ursprünglich mit einem älteren Gelehrten in England verheiratet war und von diesem in die jungen Staaten Nordamerikas vorausgeschickt wurde. Nachdem ihr Ehemann als auf See verschollen gilt, lässt sich Hester auf eine außereheliche Beziehung ein, aus der eine Tochter hervorgeht. Die Erzählung setzt damit ein, dass Hester mit ihrer Neugeborenen an den Bostoner Pranger gestellt wird; sie weigert sich aber auch dort, den Vater ihres Kindes zu benennen. Wie der Zufall und die Forderungen der romantischen Dramatik es wollen, trifft an jenem Tag, als Hester als Sünderin öffentlich zur Schau gestellt wird, auch ihr tot geglaubter Ehemann in Boston ein. Die Eheleute erkennen einander, doch der Ehemann sagt sich von Hester los und verpflichtet sie, sein Inkognito – er nennt sich jetzt Roger Chillingworth – als Geheimnis zu bewahren.

In den kommenden Jahren lebt Hester, die zur Kennzeichnung ihres Status als Sünderin ein rotes A auf ihrem Kleid tragen muss, ein Leben am Rand der Bostoner Gesellschaft und beschäftigt sich in der Hauptsache mit Näharbeiten und dem Aufziehen ihrer Tochter Pearl, die als ein etwas wundersames, wildes und naturnahes Kind dargestellt wird. Roger Chillingworth dagegen praktiziert als Arzt und befreundet sich mit dem kränklichen Priester Arthur Dimmesdale, von dem er auf nicht näher erklärte Weise weiß, dass dieser der Vater Pearls ist. Chillingworth, der in der Zeit, in der er verschollen war, bei den Indianern die Geheimnisse der Naturmedizin erlernt hat, hegt einen verborgenen Hass auf Dimmesdale und verlängert und verschlimmert dessen Krankheit, während er vorgibt, ihn zu behandeln.

Erst nach sieben Jahren entschließt sich Hester, dieser Quälerei ein Ende zu machen, indem sie Dimmesdale die Identität Chillingsworth’ verrät. Dimmesdale und Hester entschließen sich daraufhin, Amerika gemeinsam zu verlassen und in Europa ein neues, gemeinsames Leben zu beginnen. Kurz vor der Abfahrt muss Hester allerdings erfahren, dass auch Chillingworth auf dem selben Schiff eine Passage gebucht hat, das Martyrium der beiden Liebenden sich also fortzusetzen droht. Doch am Tag vor der Abreise, am Tag der Gouverneurswahl, bekennt sich Dimmesdale vor der versammelten Bevölkerung Bostons zu seiner Vaterschaft und Sünde, bevor er in den Armen Hesters stirbt.

Man könnte nun meinen, dass diese Zusammenfassung der Fabel wesentliche Teile auslässt, aber ganz im Gegenteil ist es so, dass bis auf zwei, drei Episoden die Handlung des Buches damit vollständig beschrieben ist. Um aber die immerhin gut 320 Seiten zu füllen, scheint das etwas wenig zu sein, und so ist es auch. Hawthorne setzt zum einen eine mit der Erzählung nur sehr locker verbundene Einleitung von 60 Seiten vor die eigentliche Fabel, die aus der autobiographischen Skizze „Das Zollhaus“ besteht und Hawthornes Tätigkeit im Zollhaus von Salem und seine Entlassung aus diesem Dienst thematisiert. Nebenbei liefert diese Einleitung eine typisch romantische Herausgeberfiktion: Hawthorne behauptet, auf dem Dachboden des Zollhauses auf alte Notizen gestoßen zu sein, die die Geschichte Hesters erzählen und die Grundlage seines Buches liefern. Zum anderen kann man Hawthorne den Vorwurf der Geschwätzigkeit nicht ersparen. Dieser Eindruck verdichtet sich soweit, dass es als unfreiwillige Ironisierung des eigenen Stils erscheint, wenn er an einer Stelle einen seiner Ergüsse mit der Wendung „mit einem Wort“ zusammenzufassen sucht.

Wirklich genießen kann man das Buch wahrscheinlich nur in historischer Perspektive: Der romantische Ton, der das Buch prägt, ist offenbar eine bewusst gewählte Stilposition des Autors, wie besonders die vorgeschaltete Einleitung klar macht, in der die unverstellte Stimme des Autors zu hören ist. Das europäischen Mittelalters der romantische Ritterromane muss auf dem neuen Kontinent durch die frühe Neuzeit ersetzt werden, der aber ausreichend Züge des Dunklen Zeitalters beigegeben werden, um das romantische Bild zu vervollständigen. Ansonsten machen außer der schon erwähnten Geschwätzigkeit Hawthornes weitere manieristische Entscheidungen einen unmittelbares Genuss des Buches schwer: die Reduktion auf praktisch nur vier handelnde Figuren, die zudem kaum zum Handeln kommen, aber in jedem Moment exaltiert und unnatürlich erscheinen. Am schrecklichsten zeigt sich diese kontinuierlich überspannte Grundstimmung in der direkten Rede:

»Na, was ist das, Mutter?« rief sie. »Warum ließen die Leute ihre Arbeit heute liegen? Ist das ein Spieltag für die ganze Welt? Schau, dort ist der Hufschmied! Er hat sein rußiges Gesicht gewaschen und zieht sich Sabbatkleider an und sieht aus, als wäre er gerne fröhlich, wenn einer nur so nett wäre, es ihm beizubringen! Und da ist Herr Brackett, der alte Kerkermeister, der mir zunickt und mich anlächelt. Warum tut er das, Mutter?« (S. 283)

Auch Hawthorne wird bewusst gewesen sein, dass keine Siebenjährige im Lauf der Erdgeschichte jemals so geredet hat oder jemals so reden wird.

Was die neue Übersetzung angeht, so stellt man bereits durch einen ersten Vergleich mit dem Original fest, dass Übersetzer Jürgen Brôcat, der für seine Übersetzung von Walt Whitmans „Grasblätter“ 2009 sehr gelobt wurde, an grammatikalischen Strukturen kaum interessiert zu sein scheint. Er greift durchweg massiv in Wortstellung und Satzstruktur ein, ohne dass dabei ein Prinzip erkennbar wäre. Auch sonst fallen einige merkwürdige übersetzerische Entscheidungen auf: Hawthornes Gattungsbezeichnung für den Roman „A Romance“ (etwa „eine romantische Erzählung“) übersetzt Brôcan mit „Eine Phantasie“ (was vielleicht an E.T.A. Hoffmann erinnern soll, meiner unmaßgeblichen Meinung nach aber wenig passt); die Beschreibung Pearls als „elf-child“ wird bei ihm zu einen „Koboldkind“, was zu der nicht minder seltsamen Entscheidung führt, das später im Text tatsächlich vorkommende englische „imp“ (Kobold) mit „Wicht“ zu übersetzen, was im Deutschen doch sehr etwas anderes ist als der „Wichtel“, was das englische „elf“ durchaus auch bedeuten könnte. Als im Haus des Gouverneurs Pearls christliche Erziehung geprüft und sie dabei nach ihrem Schöpfer gefragt wird, antwortet sie, ihre Mutter habe sie von einem wilden Rosenbusch gepflückt, ein Einfall, den Hawthorne gleich im nächsten Satz mit der sehr merkwürdigen Wendung begründet, „Pearl stood outside of the window“, was im Kontext wohl bedeuten soll, Pearl stehe direkt neben dem Fenster; Brôcat entschließt sich dazu, das mit „da Pearl draußen vor dem Fenster stand“ zu übersetzen, was zwar semantisch richtig, ansonsten aber weitgehend sinnfrei erscheint. Und „a row of venerable figures, sitting in old-fashioned chairs, which were tipped on their hind legs back against the wall“ mit „eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen“ zu übersetzen, kann nur als mittlerer Unfall bezeichnet werden. Dies und viele weitere Kleinigkeiten haben wenigstens mir das Vergnügen an der Übersetzung verdorben; hier wäre ein schlichterer Zugriff auf den ohnehin stilistisch exaltierten Text wahrscheinlich glücklicher gewesen.

Alles in allem eine sehr anspruchsvolle Lektüre, die vom Leser einiges an historischem Einfühlungsvermögen und stilistischer Toleranz verlangt. Davon, dass sich wohl nur den wenigstens deutschen Lesern der tatsächlich geschichtliche Gehalt des Textes, der wesentlich zu seinem Status als Klassiker beiträgt, erschließen wird, muss dabei ganz abgesehen werden.

Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Aus dem Englischen von Jürgen Brôcat. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 480 Seiten. 27,90 €.

Iwan Gontscharow: Oblomow

»Er war nicht dümmer als andere, und seine Seele war rein und klar wie Glas; er war großmütig, zartfühlend und ist zugrunde gegangen!«

Gontscharow-Oblomow„Oblomow“, 1859 nach zehnjähriger, immer wieder unterbrochener Arbeit  erschienen, ist der einzige Roman Iwan Gontscharows, der in der europäischen Tradition Klassikerstatus erlangen konnte. Dass er nicht vergessen ist, liegt wohl in der Hauptsache an dem radikalen Charakter der Titelfigur und der beinahe modernen Liebesgeschichte, in die Gontscharow ihn verwickelt. Am Ende verdirbt der Autor das Buch ein wenig, als er seiner eigenen Radikalität misstraut und die Erzählung in ein sehr konventionelles, dem Publikumsgeschmack geschuldeten Ende rettet. Aber der Reihe nach:

Ilja Iljitsch Oblomow verschläft im Petersburg der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein ereignisarmes und untätiges Leben. Er ist Erbe eines Landgutes mit 300 Seelen, hat studiert und war auch einige Zeit in der Petersburger Verwaltung tätig. Doch seit dem Tod der Eltern lässt er sich gehen, überlässt sein Gut einem korrupten Verwalter, der ihm jedes Jahr unter immer neuen Ausreden immer weniger Geld schickt, und vertrödelt sein Leben. Er hat nur wenige Bekanntschaften, unter denen die zu Michej Andrejewitsch Tarantjew heraussticht, der Oblomows Trägheit und Gutmütigkeit ausnutzt, um ihn regelmäßig um kleinere Geldbeträge zu erleichtern. Der einzige wirkliche Freund, den Oblomow noch aus Kindheitstagen besitzt, ist Andrej Iwanowitsch Stolz, ein deutschstämmiger Russe, der mit seinem stets tätigen und erfolgreichen Wesen als idealisiertes Gegenbild zu Oblomow entworfen ist.

Der Roman setzt zu einem Zeitpunkt ein, als Oblomows Leben einer kleineren Krise ausgesetzt ist: Sein Wirt hat ihm die Wohnung gekündigt, und er müsste sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Und auch finanziell befindet er sich in einer etwas bedrängten Lage, da die Zahlung vom Gut auch in diesem Jahr wieder knapper ausgefallen ist als im Vorjahr. Stolz drängt Oblomow deshalb, sich auf sein Gut zu begeben und dort nach dem Rechten zu schauen, den Verwalter davon zu jagen und sich seiner Angelegenheiten selbst anzunehmen. Anschließend soll er Stolz nach Westeuropa nachreisen und sich dort Weltläufigkeit und Kultur aneignen.

Doch vorerst zieht Oblomow in die Sommerfrische vor die Tore Petersburgs, wo er durch Stolz mit Olga Sergejewna Iljinskaja und deren Tante bekannt gemacht wird. Nach Stolzens Abreise verbringen Olga und Oblomow viel Zeit miteinander und Oblomow weiß sich der Vorzüge der jungen Frau nicht anders zu erwehren, als sich in sie zu verlieben. Ungeschickt und naiv, wie er ist, plaudert er dieses Gefühl denn auch sogleich der Geliebten gegenüber aus, die sich, von diesem unkonventionellen Verehrer und seiner Empfindsamkeit überrumpelt, ebenfalls in ihn verliebt. Nach einigen idyllischen, wenn auch nicht unproblematischen Wochen auf dem Land kehren beide nach Petersburg zurück, wo sich der intensive Umgang der beiden nur aufrecht erhalten ließe, wenn sie sich auch offiziell verloben würden. Doch Oblomow zögert: Er misstraut seinem und ihrem Gefühl, fürchtet, dass sie sich künftig in einem anderen, attraktiveren Mann verlieben werde, kann sich auch nicht entschließen, endlich die Probleme auf seinem Gut selbst in die Hand zu nehmen etc. pp. Von Oblomows Zögern und Zweifeln enttäuscht, löst Olga die Verbindung zu ihm und Oblomow verfällt einer tiefen Depression.

An dieser Stelle müsste der Roman eigentlich zu Ende sein. Doch Gontscharow lässt den ersten drei Teilen des Romans noch einen vierten folgen, der den Stoff auf sehr konventionelle Weise zum Abschluss bringt: Stolz kehrt aus Westeuropa zurück, findet alles über die Liebe Olgas zu Oblomow heraus, heilt ihren Liebeskummer mittels vernünftigem Zureden, heiratet sie und rettet dann Oblomow aus den Fängen Tarantjews und eines Komplizen, die ihn beinahe komplett ruiniert haben. Schließlich wird Oblomows weiterhin träges, untätiges Leben bis zu seinem frühen Tod durch mehrere Schlaganfälle erzählt. Das alles ist nicht schlecht, aber so routiniert und gewöhnlich, wie man es auch in jedem anderen zweit- oder drittklassigen Roman des 19. Jahrhunderts finden kann. Die eigentliche Radikalität des Buches aber liegt in Gontscharows Kritik der romantischen Liebe zwischen Olga und Oblomow, die als Konzept ohne Ziel, als reines Gefühl ohne Lebenspraxis nur kurz in der Isolation der sommerlichen Zweisamkeit existieren kann, über die Länge der Zeit und unter den Anforderungen der Gesellschaft an das Paar aber zum Scheitern verurteilt ist.

Die Neuübersetzung von Vera Bischitzky scheint auch ohne Vergleich mit dem Original wesentlich detaillierter und differenzierter zu sein als etwa die von Clara Brauner aus den 1910er Jahren, die ich bislang kannte. Bischitzky verzichtet wohltuend auf jeglichen Versuch einer sprachlichen Modernisierung des Romans und ihre Anmerkungen beschränken sich auf das Wesentliche. Ein weiterer gelungener Band der Hanser-Klassiker.

Iwan Gontscharow: Oblomow. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2012. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 840 Seiten. 34,90 €.

Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel

Als jüngsten Band in seiner ebenso schönen wie verdienstvollen Reihe von Neuübersetzungen literarischer Klassiker legt der Hanser Verlag mit „Die Schatzinsel“ nach „St. Ives“ einen weiteren Stevenson-Band vor. „Die Schatzinsel“ ist völlig zu Recht Stevensons bekanntester Roman; er war nicht nur ein Bestseller seiner Zeit, sondern hat auch auf unzählige Nachfolger sowohl im Detail als auch der erzählerischen Form nach massiven Einfluss gehabt. Seine Fabel ist exzellent konstruiert und kompakt und ökonomisch erzählt, seine Figuren prägnant und klar motiviert, ohne einem zu simplem Gut-Böse-Schema zu gehorchen, seine Sprache eingängig, ohne simpel oder klischeehaft zu wirken. All dies hat das Buch zu einem der Muster der Abenteuererzählung werden lassen. So wäre es etwa kein kleiner Spaß, einmal alle direkten und indirekten Anspielungen auf die „Schatzinsel“ in Disneys „Pirates of the Caribbean“-Filmen aufzuspüren.

Es ist daher kein Wunder, dass die Neuübersetzung von Andreas Nohl die Fortsetzung einer langen Reihe darstellt, selbst wenn man von allen Ausgaben für die heranwachsende Jugend absieht, die ohne besondere literarische Ansprüche die Handlung paraphrasieren. Erzählt wird, wie bekannt sein dürfte, die Geschichte vom jungen Jim Hawkins, Sohn eines verstorbenen Gastwirts, der aus dem Nachlass eines merkwürdigen, seemännischen Gastes im elterlichen Gasthaus in den Besitz einer Schatzkarte gelangt, auf der das Versteck des Schatzes des berüchtigten Piraten Flint eingetragen ist. Jim findet im Doktor des Dorfes und einem benachbarten Gutsverwalter zwei Unterstützer bei der Suche nach Flints Schatz, die ein Schiff ausrüsten und sich zusammen mit ihm auf den Weg zur Schatzinsel machen. Wie sich herausstellt, besteht ein bedeutender Teil der Besatzung des Schiffes aus Flints alter Mannschaft, die dem eigentlichen Bösewicht des Buches, dem Schiffskoch Long John Silver gehorchen und eine Meuterei inszenieren, sobald man auf der Schatzinsel angekommen ist. Mehr muss von den Abenteuern Jims nicht nacherzählt werden, denn dass es gut ausgeht und die Richtigen am Ende mit dem Schatz nach Hause fahren, versteht sich von selbst.

Um die Neuübersetzung sollte man eigentlich auch nicht viele Worte machen müssen, da es völlig normal ist, dass ein so populärer Text mit schöner Regelmäßigkeit neu übersetzt wird. Nohl selbst betont einmal mehr, seine Übersetzung suche die „größtmögliche Nähe zum Original bei gleichzeitig größtmöglicher Lesbarkeit“. Die Auffassung, dass es Aufgabe des Übersetzers sei, die größtmögliche Lesbarkeit des Textes zu erzeugen, anstatt dem zielsprachlichen Leser einen möglichst genauen Eindruck vom ausgangssprachlichen Text zu vermitteln, hatte mir bereits das Vergnügen an seiner „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“-Übersetzung verdorben. Was Lesbarkeit in diesem Zusammenhang überhaupt anderes bedeuten soll als die Vorstellung eines Verlegers von der rezeptiven Dummheit seiner Kunden, bleibt denn auch diesmal unklar. Im Falle der „Schatzinsel“ ist dies nicht ganz so dramatisch, da das englische Original in weiten Teilen schon recht lesbar ist. Dennoch macht sich Nohl Sorgen um „ausgefallene“ nautische Fachausdrücke, die er versucht, in „leichter verständliche“ zu übersetzen. Ob der Reiz der Verwendung ausgefallener Ausdrücke nicht gerade darin liegen könnte, die Fremdheit der Welt an Bord eines Segelschiffs des 18. Jahrhunderts zu erhöhen, wird – zumindest im Nachwort – nicht reflektiert.

Dass Nohl die grammatikalisch oft falsche und stark mit Dialektausdrücken und Verschleifungen durchsetzte Sprache Long John Silvers im Namen der Lesbarkeit verflachen und verharmlosen würde, war nicht anders zu erwarten. Dabei ist er für die sprachliche Ausdifferenzierung des Originals durchaus nicht unempfänglich, wie sich an dem fein gemachten Tonwechsel in den wenigen Kapiteln zeigt, in denen nicht Jim Hawkins, sondern der Doktor als Erzähler fungiert.

Doch bleibt es wenigstens für mich fraglich, ob es bei der Übersetzung eines Romans aus dem 19. Jahrhundert, der zudem noch im 18. Jahrhundert spielt, wirklich glücklich ist, „cooling drinks“ mit dem Wort „Erfrischungsgetränke“ zu übersetzen; oder warum Billy Bones, der im Original den ihn behandelnden Doktor einen „fool“ (Narren) nennt, seine ehemaligen Schiffskameraden aber als „lubbers“ (Trottel) bezeichnet, in Nohls Übersetzung für beide Wörter den Ausdruck „Dösbaddel“ benutzen muss. Ob „gentleman of fortune“, für das es das schöne deutsche Wort „Glücksritter“ gibt, besser mit „Hasardeur“ übersetzt ist, mag noch immerhin Geschmackssache sein. Auch gestehe ich gern zu, dass sich der berühmte Fluch Long John Silvers „shiver my timbers“ nicht recht eindeutschen lässt, aber wenn es denn schon „hau mich der Lukas“ heißen soll – was meiner gänzlich unmaßgeblichen Meinung nach an und für sich schon ganz und gar schrecklich ist –, dann muss es eben auch so heißen und nicht mal so und mal „zum Donnerwetter“ (S. 218) und mal „Donnerkiel“ (S. 254), was nebenbei an anderer Stelle (S. 276) die Übersetzung von „by thunder“ ist. Von Schlampereien des Lektorats wie den missratenen Gradangaben auf Seite 59 und der Erwähnung einer „westlichen Breite“ in der dazugehörigen Fußnote will ich ganz absehen; sicherlich hätte man solche ausgefallenen nautischen Angaben am liebsten ganz aus dem Text fortgelassen.

Leser, denen solche literarischen Feinheiten gleichgültig sind, bekommen – wie immer bei Hanser – ein sehr schön ausgestattetes Buch mit einer weitgehend akzeptablen, modernen und lesbaren Übersetzung. Wir anderen gehen ins Antiquariat oder hoffen darauf, dass sich doch wieder einmal ein Verleger besinnt, die Übersetzung Friedhelm Rathjens (Haffmans, 1997) zum Druck zu befördern.

Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2013. Leinen, Fadenheftung, bedrucktes Vorsatzpapier, Lesebändchen, 383 Seiten. 27,90 €.