William Faulkner: Als ich im Sterben lag

Ab und zu macht man sich so seine Gedanken. Über all das Unglück und Leid in dieser Welt. Wie’s überall und jederzeit einschlagen kann, wie der Blitz.

Bereits 2008 hatte der Rowohlt Verlag eine Neuübersetzung von »Licht im August« vorgelegt, der er nun, zum 50. Todestag Faulkners, eine weitere folgen lässt. Der vergleichsweise kurze Roman »Als ich im Sterben lag« gehört ebenfalls zu denen um das fiktive Yoknapatawpha County, Faulkners Very Own County. »Als ich im Sterben lag« gehört zu Faulkners populären Romanen, was an der zwar wuchtigen und komplex erzählten, im Grunde aber einfachen und geradlinigen Handlung liegen mag.

Erzählt wird die Familiengeschichte der Bundrens um und nach dem Tod von Addie Bundren, Gattin Anse Bundrens und Mutter von vier Söhnen und einer Tochter. Addie stammt aus der Bezirkshauptstadt Jefferson und hat ihren Mann versprechen lassen, sie nach ihrem Tod dorthin zu überführen und bei ihren dortigen Verwandten beizusetzen. Die Fahrt nach Jefferson, die eine knappe Woche dauern wird, gerät zu einer Odyssee von Unglück zu Unglück, was Anse nicht daran hindert, sein Versprechen gegen alle Widerstände und koste es, was es wolle, einzuhalten. Zuerst verliert man bei der Überquerung eines Hochwasser führenden Flusses, der alle verfügbaren Brücken weggerissen hat, die beiden Maultiere, und Cash, der älteste Sohn bricht sich das Bein. Dann muss Anse, um neue Maultiere zu beschaffen, den einzigen Schatz seines dritten Sohn Jewel (der nicht sein leiblicher Sohn ist, was Anse aber nicht weiß), ein Texas-Pony, eintauschen. Inzwischen werden die Bundrens von zahlreichen Bussarden begleitet, da die Leiche Addies nun schon mehrere Tage alt ist; entsprechend unbeliebt sind sie bei ihren Mitmenschen. Da Cashs gebrochenes Bein sich gegen das Ruckeln des Wagens nicht ausreichend mit Holzschienen stabilisieren lässt, kommt man auf den grandiosen Einfall, das Bein einzuzementieren, allerdings ohne es zuvor verbunden oder sonstwie geschützt zu haben. Und um allem die Krone aufzusetzen, zündet auf dem letzten Halt vor Jefferson der Zweitälteste, Darl, ein geistig etwas zurückgebliebener junger Mann, die Scheune an, in der man den Sarg gelagert hat, um der schaurigen Reise durch Einäscherung der Leiche ein Ende zu bereiten. Bei der Rettung der Tiere und des Sargs aus den Flammen zieht sich Jewel schwere Verbrennungen zu.

In Jefferson angekommen geht es mit der Beerdigung (die selbst übrigens ungeschildert bleibt) vergleichsweise glatt: Man leiht sich bei einer Frau, die Anse zwei Tage später als neue Mrs. Bundren mit zur Farm zurücknehmen wird, zwei Spaten aus und bringt die Sache hinter sich. Doch fordert auch Jefferson noch Opfer: Der Besitzer der niedergebrannten Scheune hat Darl als Brandstifter angezeigt, der nun verhaftet und in eine Irrenanstalt eingewiesen wird, und die schwangere Tochter Dewey Dell bekommt von einem jungen Drogisten, von dem sie ein Abtreibungsmittel kaufen will, gegen eine sexuelle Dienstleistung nur ein Placebo ausgehändigt. Die zehn Dollar, die sie vom Kindsvater  für das Abtreibungsmittel bekommen hat, nimmt ihr Anse weg und investiert sie in ein Gebiss, das er sich seit Jahren sehnsüchtig wünscht. Cash wird von Doktor Peabody von dem Zementverband und seinem derweil nekrotisch gewordenen Fuß befreit, bevor die Familie sich schicksalsergeben auf den Rückweg macht.

Diese Abfolge von Katastrophen wird ausschließlich aus der Perspektive der Figuren erzählt, nicht nur der Familie (einmal kommt sogar die tote Mutter zu Wort), sondern auch ihrer Bekannten, des Doktors und derjenigen, die der Familie unterwegs Unterkunft und Nahrung gewähren. Insgesamt sind es 14 Erzähler, die aus ihrer Sicht und in ihrer jeweils eigenen Sprache die Geschichte erzählen. Während das zu Anfang dem Leser eine kurze Phase der Orientierung abverlangt, entwickelt die Erzählung bald einen derartigen Sog, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie die Geschichte anders hätte erzählt werden können.

Ein grandioses Buch und ein erzählerisches Kabinettstück, das eine Literatur erzeugt, wie sie entstehen würde, wenn diese Menschen denn tatsächlich schrieben. Der Neuübersetzung gelingt eine exzellente Wiedergabe des lakonischen, am Denken und Sprechen der Figuren ausgerichteten Tons der Erzählung. Es ist zu hoffen, dass Rowohlt diese Reihe von Neuübersetzungen Faulkners fortsetzen wird.

William Faulkner: Als ich im Sterben lag. Aus dem Englischen von Maria Carlsson. Reinbek: Rowohlt, 2012. Pappband, Lesebändchen, 248 Seiten. 19,95 €.

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann

Wenn es doch bloß aufklaren würde.

Da James Joyce am 13. Januar 1941 gestorben ist, wurde sein Werk Anfang dieses Jahres gemeinfrei, was es vor allen Dingen von den autoritären Verhinderungsaktionen seines Enkels Stephen befreit. Das Freiwerden der Texte gibt nun nicht nur Gelegenheit zum Nachdrucken, sondern natürlich auch zur Neuübersetzung. Überraschend schnell wurde dies mit Joyce’ erstem Roman, »A Portrait of the Artist as a Young Man« realisiert und das, obwohl mit der Übersetzung von Klaus Reichert (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972) eine sehr gute Übertragung ins Deutsche bereits vorliegt.

Auf die Frage, ob denn angesichts dieser Übersetzung der Aufwand einer neue Übertragung lohne, antwortete der Übersetzer Friedhelm Rathjen bei der Vorstellung seiner Neuübersetzung im Museum Folkwang: »Es gibt Bücher, von denen kann es gar nicht genug Übersetzungen geben.« Dass es sich beim »Porträt« um ein solches Buch handelt, steht, glaube ich, nicht zur Debatte. Rathjen will seine Übersetzung auch nicht als besser als die Reichertsche verstanden wissen, die er selbst sehr schätzt und mit der er, wie er selbst sagt, »aufgewachsen sei«. Nur sei Reicherts Übersetzung eben schon 40 Jahre alt und zeige für den heutigen Leser dieses Alter auch deutlich. Besonders was die Wiedergabe der Umgangssprache angehe, dränge sich eine Aktualisierung für heutige Leser förmlich auf.

Joyce’ erster Roman hat eine lange Entstehungszeit, die Joyce selbst mit den Daten 1904 bis 1914 am Schluss des Textes dokumentiert. Joyce hat in diesen zehn Jahren allerdings nicht kontinuierlich an dem Text gearbeitet, sondern die Entstehung ruhte in langen Phasen dieses Zeitraums. Zuerst entstand jene Fassung, die Joyce-Leser unter dem Titel »Stephen Hero« (deutsch: »Stephen der Held«, ebenfalls von Klaus Reichert, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972) kennen und die Fragment geblieben ist. Joyce hatte diesen Text als eine große Bekenntnis-Schrift angelegt, als eine Rechtfertigung für sein Sein und Handeln, aus der sich die Gründe für seinen Weggang aus Dublin sollten ablesen lassen. Dem Mythos nach, den Joyce selbst in die Welt gesetzt hat, hat er zu irgendeinem Zeitpunkt versucht, dieses Manuskript zu verbrennen, was aber angesichts seines unbeschadeten Zustands eher unwahrscheinlich erscheint. Joyce bemerkte aber, dass »Stephen Hero« nicht recht gelingen wollte. Erst als er auf den Bekenntnis-und Rechtfertigungs-Charakter des Textes verzichtete und den Erzähler einen deutlichen Abstand zum Protagonisten Stephen Dedalus einnehmen ließ, gelang die Bearbeitung des Stoffs.

»Ein Porträt des Künstlers als junger Mann« erzählt in personaler Perspektive von Aufwachsen des jungen Intellektuellen Stephen Dedalus im Irland der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Die Erzählung ist in fünf große Abschnitte gegliedert, die grob Altersstufen des Heranwachsenden entsprechen. Die Sprache und der Stoff der Erzählung sind dem jeweiligen Alter des Protagonisten angepasst und entwickeln sich von Kapitel zu Kapitel, von Abschnitt zu Abschnitt. Stephen ist ein begabtes Kind, das trotz dem ökonomischen Niedergang seiner Familie eine hervorragende Ausbildung an jesuitischen Schulen und der katholischen Universität Dublins erhält. Als Pubertierender durchläuft er eine Phase großer Verunsicherung und früher sexueller Erfahrung, die von einer Periode übergroßer Frömmigkeit und religiöser Disziplin abgelöst wird. Aufgrund dieser Hinwendung zur Religion wird Stephen aufgefordert, die Ausbildung zum jesuitischen Geistlichen aufzunehmen, doch scheint gerade dieses Angebot den ersten Anstoß zu Stephens letztlicher Abwendung von aller Religion zu liefern. Stephen wird zum Künstler (Joyce und Stephen sind sich des Zusammenhangs des Wortes Artist mit den Septem artes liberales dabei noch sehr bewusst) und beschäftigt sich als Student dementsprechend mit den ästhetischen Theorien des Aristoteles und Thomas von Aquin. Als Künstler wendet er sich nicht nur von der Religion, sondern auch von dem ihm von seinen Kommilitonen zugemuteten irisch-nationalistischen Engagement ab. Ihm wird bewusst, dass er Irland verlassen muss, um seinen eigenen Weg zu Kunst und Dichtung gehen zu können. Unmittelbar bevor Stephen Irland verlassen wird, bricht der Text der Erzählung ab.

Die Erzählung ist besonders im letzten Teil sehr anspruchsvoll: Es wird wohl nicht viele Leser geben, die den intellektuellen Eskapaden Stephens, seinen freien Variationen über Thesen des Aristoteles und des Aquinaten werden folgen, geschweige denn diese mit Vergnügen werden lesen können. Es scheint mir wenig zweifelhaft, dass das »Porträt« heute vergessen wäre, wenn ihm nicht das Jahrhundertbuch »Ulysses« gefolgt wäre, zu dem es so etwas wie eine Vorschule und -geschichte darstellt. Nicht, dass das Buch missraten wäre – das ist es in keinem Sinne –, es wäre für sich aber wohl kaum auf ein breites Interesse oder Verständnis gestoßen.

Die Neuübersetzung Rathjens muss an keiner Stelle den Vergleich mit der Reicherts scheuen. Sie bietet eine sprachlich präzise, gute Alternative an, die all jenen, denen das Original sprachlich unzugänglich bleibt, zur Lektüre empfohlen werden kann. Der kommentierende Anhang beschränkt sich auf das Notwendigste; die in den Text der Erzählung eingefügten Endnotenziffern, die auf den Kommentar verweisen, sind eine etwas vorlaute Lösung, die beim Versuch einer unbefangenen Erstlektüre eher stören werden. Mit dem als Nachwort angeklebten Essay von Marcel Beyer konnte wenigstens ich nichts anfangen.

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Aus dem irischen Englisch übersetzt von Friedhelm Rathjen. Zürich: Manesse, 2012. Leinen, Lesebändchen, 348 Seiten. 24,95 €.

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde

Endlich, sagte Fina, jetzt hat’s ihn erwischt, er ist verliebt.

vargas-llosa-hundeDiese Erzählung erschien zum ersten Mal 1967 in Barcelona, da Vargas Llosa damals bereits in Spanien lebte und in seiner Heimat Peru kein Verlag das zumindest für die 60er Jahre sowohl stilistisch als auch thematisch ungewöhnliche Buch drucken wollte. Die Erstveröffentlichung enthielt bereits die jetzt bei Suhrkamp erstmals auch von einem deutschen Verlag realisierte Kombination des Textes von Vargas Llosa und der 35 Schwarz-Weiß-Fotografien Xavier Miserachs’. Zwar dokumentieren die Bilder offensichtlich die frühen 60er Jahre in Spanien während die Erzählung selbst in den späten 20er und den 30er Jahren in Lima spielt, doch bis auf das veränderte Kostüm illustrieren die Bilder das von der Erzählung präsentierte Lebensgefühl ganz exzellent.

Der Text verweigert eine einfache Einordnung seiner Erzählform: Er wird offensichtlich als biografische Erinnerung eines älteren Erzählers an seine Jugend präsentiert, dort schwankt die Erzählperspektive ständig zwischen einer nahen, kollektiven Wir- und einer distanzierteren, auktorialen Position, wobei der Wechsel zumeist mitten im Satz stattfindet. Da zudem die wörtliche Rede nicht ausgezeichnet wird, kann es zumindest anfänglich zu Irritationen beim Leser kommen:

Auch ihnen, die wir anfangs noch aufpassten, Cuéllar, Kumpel, rutschte es immer öfter raus, ganz aus Versehen, Kamerad, ganz automatisch, Amigo: Pichulita, und er knallrot, wie?, oder kreidebleich, du auch, Chingolo?, die Augen aufgerissen, Mann, entschuldige, war keine böse Absicht, er also auch?, sein Freund? …

Doch liest sich der Text nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sehr flüssig (was sicherlich auch der Neuübersetzung zu danken ist, die Suhrkamp der Erzählung spendiert hat), und wenn man ihn in einem Zug liest, gewöhnt man sich so vollständig an den ständigen Perspektivwechsel, dass man gegen Ende bewusst nachschaut, ob er denn überhaupt noch benutzt wird. Wenigstens mir erging es so.

Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe von fünf Schulfreunden, wobei das Schicksal des jungen Cuéllar im Zentrum steht. Cuéllar wird kurz nachdem er in die Klasse der anderen gekommen ist und sich als ein exzellenter Schüler erwiesen hat, nach einer Sportstunde von einem Hund angefallen und durch einen Biss um sein Geschlechtsteil gebracht. Zwar überlebt er die Attacke, doch ist er von dem Augenblick an ein Außeseiter in der Gruppe, auch wenn das lange Zeit keiner seiner Freunde auch nur wahrnehmen will. Offensichtlich wird Cuéllars Lage aber, als die ersten der Clique Freundschaften mit Mädchen beginnen: Cuéllar, der inzwischen den Spitznamen Pichulita (Schwänzchen) trägt, reagiert zuerst aggressiv, sondert sich dann ab, kehrt jedoch immer wieder zur Gruppe zurück. Er huldigt dem Machismo auf seine Weise, indem er ein herausragender und waghalsiger Sportler und Autofahrer wird, aber er traut sich aus verständlichen Gründen nicht, eine Freundschaft mit einem Mädchen zu beginnen. Als er sich schließlich doch gegen seinen Willen verliebt, wird er für eine Weile geselliger und normaler, doch spitzt sich seine Lage durch diese Verliebtheit nur noch weiter zu, da sie seine Verzweiflung über die Unmöglichkeit einer sexuellen Erfüllung einer Beziehung zum Grundgefühl seiner Existenz werden lässt.

Es macht den Rang Vargas Llosas aus, dass er darauf verzichtet, Cuéllar ein noch tragischeres Ende nehmen zu lassen als ohnehin sein Leben schon war. Die Freunde verlieren sich über Studium, Arbeit und Gründung einer Familie wie zu erwarten mehr und mehr aus den Augen; Cuéllar lebt für eine Weile in den Bergen, geht dann in den Norden Perus und wird Opfer seines riskanten Fahrstils. Der Leser bleibt mit dem Erzähler ratlos zurück, wie diesem Jungen auf Erden zu helfen gewesen wäre; sein Elend ließ sich erzählen, aufzuheben war es nicht.

Ein beeindruckend dicht erzählter Text, dem es wie nebenbei gelingt, das Lebensgefühl wohl einer ganzen Generation junger Männer darzustellen. Unbedingt lesenswert!

Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Mit Fotografien von Xavier Miserachs. Berlin: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 98 Seiten, davon 48 Seiten mit 35 Schwarz-Weiß-Fotografien. 24,90 €.

Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler

Wie konnte er die Parodie eines Schriftstellers sein und zugleich der Einzige, der aufgrund der Zeit, die er seinem Beruf widmete, und des geschaffenen Werks diese Bezeichnung in Peru verdiente?

978-3-518-42255-7Wahrscheinlich der beste Roman Vargas Llosas (wenn ich auch zu wenig von ihm gelesen habe, um das wirklich beurteilen zu können, aber alles andere fiel deutlich ab), den Suhrkamp dadurch aufwertet, dass man ihn neu hat übersetzen lassen. Wohl um die Neuübersetzung als solche kenntlich zu machen, hat man den Titel variiert: Während die alte Übersetzung nicht sehr glücklich »Tante Julia und der Kunstschreiber« hieß (das Kunstwort Kunstschreiber sollte vielleicht an Kunstreiter erinnern?), ist der Schreibkünstler der Neuübersetzung beinahe noch unglücklicher gewählt, da das Wort zum einen sehr gekünstelt daherkommt und zum anderen eher einen Kalligraphen als einen Schriftsteller bezeichnet. Mit dem im spanischen Original »La tia Julia y el escribidor« verwendeten escribidor haben beide Wörter nur entfernte Verwandtschaft, denn das bedeutet auf Deutsch schlicht Schreiberling, was den unschlagbaren Vorteil hat, dass sich im Titel noch gar nicht entscheidet, welcher der beiden im Text vorkommenden Autoren denn dieser Schreiberling sein soll. Warum das im Deutschen gebräuchliche und passende Wort (von der wundervoll altertümelnden Variante Skribent will ich hier ganz schweigen) in beiden Fällen nicht zur Anwendung gekommen ist, blieb mir bislang unverständlich. (Die englische Übersetzung macht aus dem escribidor übrigens einen scriptwriter, was die lustige Folge hat, dass der Übersetzungsautomat von Google für escribidor als erste Wahl Drehbuchautor vorschlägt. Da sage nochmal einer, Literatur habe keine Folgen.)

Das Buch ist in alternierenden Kapiteln erzählt: In den ungerade bezifferten erzählt der halbautobiographische Ich-Erzähler Mario von seinen Erlebnissen des Jahres 1954. Mario ist 18 Jahre alt und studiert eher aus Pflicht als mit Lust Jura in Lima. Um sich ein wenig nebenbei zu verdienen, arbeitet er außerdem als Nachrichtenredakteur bei einem kleinen Radiosender, indem er Meldungen aus den Zeitungen umarbeitet. Eigentlich will Mario aber Schriftsteller werden, nur hat er bislang mit seinen Bemühungen weder bei seinem literarisch beschlagenen Freund Javier noch bei den lokalen Zeitschriften Glück gehabt. Zu Anfang des Romans treten zwei neue Personen in Marios Leben: Seine angeheiratete Tante Julia, eine 32-jährige, geschiedene Bolivianerin, die ihre Schwester in Lima besucht und auf der Suche nach einem neuem Ehemann ist, und Pedro Camacho, ein 50-jähriger Autor, ebenfalls Bolivianer, der beim Radiosender anfängt, um die täglichen Hörspielserien – vier an der Zahl – zu schreiben, zu produzieren und auch in ihnen mitzuwirken.

Während sich Mario mit seiner Tante Julia, die ihn als halbes Kind behandelt, zuerst nicht gut versteht, lernt er Pedro Camacho sehr bald zu respektieren. Zwar sind die von ihm produzierten Radio-Novellas nicht seine Welt, doch im Gegensatz zu ihm geht Camacho das Schreiben völlig mühelos von der Hand. Mit der Zeit entwickelt sich zwischen Mario und Pedro eine nähere Bekanntschaft, die der einzige soziale Kontakt zu sein scheint, den Camacho überhaupt pflegt. Auch mit seiner Tante versteht sich Mario immer besser: Die beiden gehen miteinander ins Kino, beginnen Händchen zu halten und sich sogar zu küssen, wobei das ganze lange Zeit nur ein Flirt bleibt und erst langsam in eine Verliebtheit übergeht.

In den gerade bezifferten Kapiteln (mit Ausnahme des letzten, das eine Art von Epilog liefert) dagegen wird immer eines der Hörspiele von Pedro Camacho nacherzählt. Camacho ist ein Meister der Seifenoper und wird in kurzer Zeit zum Star des Radiosenders; die Einschaltquoten und damit auch die Werbeeinnahmen vervielfachen sich. Allerdings legt Camacho von Anfang an bestimmte Marotten an den Tag: Vorlieben für gewisse religiöse Kulte, einen Hass auf Argentinier und ähnliches. Doch da er so erfolgreich ist, dass angeblich sogar der Staatspräsident seinen Hörspielen folgt, ist er für lange Zeit unantastbar. Aber die Belastung, vier Serien am Tag produzieren zu müssen, fordert Tribut: Je länger Camacho schreibt, desto mehr verliert er die Kontrolle über seine Geschichten. Zuerst tauchen Figuren  auch in Serien auf, zu denen sie ursprünglich nicht gehörten. Wird in diesem Fall noch an einen künstlerischen Trick geglaubt – man vermutet, Camacho ahme Balzac nach –, so wechseln Figuren bald auch ihre Namen oder haben plötzlich einen anderen Beruf, ebenso verändern sich ihre körperlichen Eigenschaften oder verwandtschaftlichen Beziehungen. Camacho, dem von Anfang an klar ist, dass er die Kontrolle verliert, versucht sich dadurch zu helfen, dass er einen bedeutenden Teil seines Personals sterben lässt, vergisst aber natürlich gleich wieder, wer nun schon tot ist und wer noch lebt.

»Alle sind ertrunken«, präzisierte die ausländische Dame. »Sein Neffe Richard und auch Elianita und ihr Mann, der Rotfuchs Antúnez, dieser Dummkopf, und selbst das Kind ihrer Blutschande, der kleine Rubencito. Sie waren auf dem Schiff, um sie zu verabschieden.«
»Bloß komisch, dass der Leutnant Jaime Concha ertrunken ist, der war schon bei dem Brand von Callao umgekommen, in einer anderen Serie, vor drei Tagen«, fiel die junge Frau wieder ein und lachte sich halb tot; sie hatte aufgehört zu schreiben. »Diese Radioserien sind ein Witz geworden, meinen Sie nicht?« [S. 325]

Während Camacho mit seinen Serien kämpft ist die Liebesgeschichte zwischen Julia und Mario ernsthaft geworden. Da aber nun die Eltern von Mario drohen, der Sache ein Ende zu machen, versuchen die beiden Verliebten durch eine Heirat vollendete Tatsachen zu schaffen. Doch um heiraten zu können, braucht der noch minderjährige Mario entweder die schriftliche Einwilligung seiner Eltern oder er muss einen Bürgermeister finden, der bereit ist, die Trauung auch ohne dieses Dokument vorzunehmen. Nachdem alle Versuche in Lima gescheitert sind, machen sich Julia und Mario zu einer Odyssee durch die Provinz auf, um irgendwo auf dem Dorf heiraten zu können …

Der Roman ist nicht nur äußerst witzig und erfindungsreich, er ist zugleich auch eine intelligente Auseinandersetzung mit der Schriftstellerei: Während der junge Autor Mario verzweifelt mit seinen Texten um Bedeutung kämpft, nur um dann von seinem Freund Javier in Grund und Boden kritisiert zu werden, hat er zugleich das Beispiel eines Schreibers vor Augen, der praktisch alles Material seines Lebens problemlos in triviale Literatur umgießt und auf diese Weise in kurzer Zeit große Mengen Text produziert. Der Witz besteht aber nun gerade darin, dass der Ich-Erzähler Mario mit seiner Geschichte von dem Vielschreiber Pedro und seiner Liebe zu Julia nichts anderes macht als der von ihm als Schreiberling angesehene Camacho. Und die im Buch wiedergegebenen Hörspiele machen mit ihrem Gebrauch und der Verwechslung der Versatzstücke klar, dass alles immer auch anders hätte sein können, dass die fiktive Welt immer nur eine Folge von Entscheidungen ihres Schöpfers ist, die leicht auch ganz anders hätten ausfallen können.

Das Buch ist zweifellos ein Glücksfall der Literatur! Die Neuübersetzung ist gut und flott zu lesen; ob sie tatsächlich besser ist als die alte von Heidrun Adler, ist eine Frage, die jemand mit besseren Spanisch-Kenntnissen entscheiden muss. Ich will’s bis zum Beweis des Gegenteils gern glauben.

Mario Vargas Llosa: Tante Julia und der Schreibkünstler. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Pappband, 447 Seiten. 22,90 €.

Robert Louis Stevenson: St. Ives

Einer der letzten Romane Stevensons, den er nicht hat zu Ende schreiben können. Wie unentdeckt Stevenson insgesamt im deutschen Sprachraum noch ist, zeigt sich auch daran, dass der Verlag weitgehend ungestraft behaupten darf, es handele sich hier um eine deutsche Erstausgabe des Textes. Das trifft nur in einem sehr speziellen Sinne zu: Für den Erstdruck 1896/1897 aus dem Nachlass heraus versuchte man den Roman für den normalen Leser zu retten, indem man die letzten sechs Kapitel von einem anderen Autor, A. T. Quiller-Couch, ergänzen ließ, um der Handlung einen Abschluss zu geben. Dabei handelt es sich immerhin um gute 20 % des Textes. In der Tat handelt es sich allein bei diesem nicht von Stevenson stammenden Nachklapp um eine deutsche Erstausgabe; den Text Stevensons hatte bereits Curt Thesing Anfang der 30er Jahre übersetzt. Ich habe auf die Lektüre des Nachklapps gänzlich verzichtet, da ohnehin klar ist, was geschehen wird, und die zusammengeklapperte Handlung durch eine Verlängerung sicherlich nicht besser wird.

Das Buch erzählt die Abenteuer eines französischen Adeligen, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege in Edinburgh auf der Festung inhaftiert ist. Er verliebt sich, wie es sein muss, in eine mitleidige junge Schottin, kann fliehen, sucht seinen in England im Exil lebenden Onkel auf, der ihm sein Vermögen vermachen will, gerät darüber in Streit mit seinem als Doppelspion arbeitenden Cousin, geht unter Gefahr für Leib und Leben zurück nach Edinburgh, wo er, kurz bevor der Text abbricht, knapp einer Verhaftung entgeht. Dass es am Ende alles gut ausgehen, der etwas eitle und leichtlebige Protagonist sich zum Besseren bekehren und sein Mädchen bekommen wird, ist daher so klar, wie die sprichwörtliche Kloßbrühe.

Stevenson, der damals schon schwer krank war, hat diesen Roman diktiert und wohl nicht mehr abschließend redigieren können, was besonders im ersten Teil einige Verwerfungen erzeugt hat. Ansonsten hangelt sich die Handlung sehr konventionell von Abenteuer zu Abenteuer, und es ist mehr als verständlich, dass sich bis dato niemand entschließen konnte, an diesen Text die Mühe einer erneuten Übersetzung zu wenden. Dass es nun gerade Andreas Nohl ist, der uns zuletzt mit einem glatt gehobelten »Huckleberry Finn« beglückt hat und nun versucht, dieses etwa dünne Fähnchen in den Rang eines bedeutenden Spätwerks zu heben, passt zumindest in mein Bild.

Gesamturteil: Eher enttäuschend. Hervorgehoben werden muss allerdings einmal mehr die exzellente Buchausstattung des Hanser Verlages: ein flexibler Leinenband, Dünndruckpapier mit Fadenheftung, ein passendes Lesebändchen! So sollten alle Bücher aussehen! Wenn nur der Inhalt etwas besser wäre …

Robert Louis Stevenson: St. Ives. Aus dem Englischen von Andreas Nohl. München: Hanser, 2011. Leinen, Lesebändchen, 520 Seiten Dünndruckpapier. 27,90 €.

Daniil Charms: Werke

978-3-86971-025-9Normalerweise werden hier nur Bücher vorgestellt, die bereits gelesen wurden, aber in diesem Fall soll und muss eine Ausnahme gemacht werden, da dieser Werkausgabe soviele Käufer und Leser wie möglich zu wünschen sind. Im Verlag Galiani, Berlin, einem Imprint von Kiepenheuer & Witsch, erscheint in vier Bänden die erste deutsche Werkausgabe der Schriften von Daniil Charms. Die ersten beiden Bände sind bereits erschienen, die beiden fehlenden sollen im kommenden Jahr folgen. Die Bände sind wie folgt aufgeteilt:

  1. Prosa
  2. Gedichte
  3. Theaterstücke
  4. Autobiografisches, Briefe, Essays

978-3-86971-029-7Bei Charms handelt es sich um einen der erstaunlichsten und humorvollsten absurden Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat zu Lebzeiten beinahe ausschließlich seine Geschichten und Gedichte für Kinder veröffentlichen können. Der Großteil seines Werkes lag nur in handschriftlichen Notizbüchern vor, die wie durch ein Wunder von staatlicher Beschlagnahme und Vernichtung im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben sind. Charms hat seine Werke unter größten Schwierigkeiten produziert und einen bedeutenden Teil seines kurzen Lebens unter politischer Verfolgung gelitten. Er ist in der Gefängnispsychiatrie während der Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht verhungert.

978-3-86971-023-5Trotz der staatlichen Versuche, Charms Werke zu unterdrücken, erschienen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre deutsche und englische Übersetzungen. In der Sowjetunion konnten Charms Schriften aber auch weiterhin nur in einzelnen Abschriften kursieren, und es kam erst ab 1997 zu einer Werkausgabe, die eine solide Textgrundlage lieferte.

Wie bereits gesagt, erscheint nun erstmals eine deutsche Werkausgabe, herausgegeben von Vladimir Glozer, einem Charms-Kenner, der leider bereits 2009 verstarb, und Alexander Nitzberg. Alle Texte werden in Neuübersetzungen vorgelegt. Begleitet wird die Werkausgabe mit einer Biografie, die Glozer aus Gesprächen mit Charms Lebensgefährtin Marina Durnowo zusammengestellt hat.

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich diese Bücher an!

Daniil Charms: Trinken Sie Essig, meine Herren! Werke 1: Prosa. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Hg. v. Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung. 271 Seiten. 24,95 €.

Ders.: Sieben Zehntel eines Kopfs. Werke 2: Gedichte. Übersetzt und hg. von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani, 2010. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen. 313 Seiten. 24,95 €.

Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Aus Gesprächen zusammengestellt von Vladimir Glozer. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin: Galiani, 2010. Pappband. 151 Seiten. 16,95 €.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen

978-3-499-23539-9Beim Suchen im SUB ist mir die Neu-Übersetzung von Salingers »The Cather in the Rye« durch Eike Schönfeld, die seit 2003 vorliegt, in die Hand gefallen. Ich habe nun endlich einmal hinein geschaut und bin einmal mehr enttäuscht. Zwar ist diese Übersetzung der Vorgängerversionen gleich in mehrfacher Hinsicht überlegen, schon allein deshalb, weil sie endlich auf das amerikanische Original zurückgeht anstatt auf englische Bearbeitungen, doch bleibt auch sie deutlich hinter dem Original zurück. Weder die vom Übersetzer erfundene Jugendsprache, die niemals von irgendeinem Jugendlichen zu irgendeiner Zeit gesprochen worden ist, noch die Übersetzung des Erzähltons schlechthin konnten mich überzeugen. Wenn Holden horny ist, ist er bei Schönfeld heiß; ist irgendetwas sexy, ist es bei Schönfeld heiß. Und wenn dann tatsächlich im Original mal jemand hot auf etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Und auch, wenn Holden crazy about etwas ist, ist er bei Schönfeld scharf darauf. Egal, ob ein Taxifahrer Holden Mac oder buddy nennt, in der deutschen Fassung nennt er ihn Meister, eine übersetzerische Entscheidung, zu der es schon einiger Dumpfheit bedarf. Mädchen, die deep down, gave me a pain in the ass, sind in der Übersetzung solche, die mich tief im Innern nerven. Das ist einerseits nicht falsch und andererseits so falsch, wie es nur sein kann.

Folgendes Zitat von Wilhelm Stekel, das Mr Antolini für Holden auf einen Zettel schreibt

The mark of the immature man is that he wants to die nobly for a cause while the mark of the mature man is that he wants to live humbly for one.

wird ohne erkennbaren Anlass in das grammatikalisch falsche

Der unreife Mensch kennzeichnet sich dadurch aus, dass er edel für eine Sache sterben will, der reife dadurch, dass er bescheiden für eine leben will.

übersetzt. Ganz abgesehen davon, dass hier massiv in die Struktur des Zitats eingegriffen wird und das doppelte das Kennzeichen eines […] Mannes einfach fortgelassen wurde.

Wie vielleicht bekannt sein dürfte, fehlte in der Erstausgabe dieser Neuübersetzung der viel zitierte Satz, dass Holden, wäre er ein Pianist, in the goddam closet spielen würde, um dem Applaus der Idioten zu entgehen. In der von Heinrich Böll durchgesehenen alten Übersetzung war aus dem closet ein Klosett geworden, was nur dem Ton nach und nicht inhaltlich falsch ist; inzwischen hat man in der Neuübersetzung eine verfluchte Wäschekammer ergänzt, was auch inhaltlich nur gerade so eben noch durchgehen dürfte. Dass der Satz in der Erstausgabe der Neuübersetzung gefehlt hatte, hat offenbar nicht zu einer gründlichen Revision des Textes geführt, denn auf S. 194 fehlt in dem nächtlichen Telefongespräch Holdens mit Sally ebenfalls ein kompletter Satz.

Solche Dinge sind ärgerlich, wenn schon der – unbestreitbar notwendige – Aufwand betrieben wird, eines der kanonischen Bücher der US-amerikanischen Literatur neu und besser zu übersetzen. Wenn auch diese Neuübersetzung einen deutlichen Schritt in die richtige Richtung darstellt, ist dennoch Salingers Klassiker auch weiterhin im Deutschen nicht adäquat übersetzt. Wer verstehen will, warum dieses Buch in der US-amerikanischen Kultur eine solche Rolle spielt, muss weiterhin zum Original greifen.

J. D. Salinger: Der Fänger im Roggen. Deutsch von Eike Schönfeld. rororo 23539. Reinbek: Rowohlt, 72007. 270 Seiten. 7,95 €.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn

Übersetzungen und Neuübersetzungen des Hanser Verlages kaufe ich normalerweise blind, da der Verlag allgemein für ein hohes Niveau und große Sorgfalt bei seinen Übersetzungen steht. Wenn dann auch noch eine feine Ausstattung des Bandes hinzukommt, freue ich mich ganz besonders auf die Lektüre. So auch diesmal: Zwei Klassiker der amerikanischen Literatur, bisher nicht gerade selten eingedeutscht, werden in einer Neuübersetzung vorgelegt, so wie es sich für Klassiker gehört: Leineneinband, feines Dünndruck-Papier und Fadenheftung – alles so, wie es sein soll. Da greife ich dann gern auch einmal tiefer in die Tasche.

Dann wird es Frühling, und an einem unerwartet sonnigen Tag greife ich mir den Band vom SUB (Stapel ungelesener Bücher) und nehme ihn mit ins Café. Als der Kaffee auf dem Tisch steht, schlage ich voller Vorfreude den »Huckleberry Finn« auf und beginne zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten  stutze ich: Das kommt alles so betulich daher, und als die ersten Dialoge erscheinen, wundere ich mich doch sehr darüber, wie diese Mississippi-Kinder miteinander reden:

»So«, sagte Ben Rogers, »was ist denn die Geschäftssparte der Bande?«
»Nix, nur Raub und Mord«, sagte Tom.
»Aber wen rauben wir denn aus. Häuser … oder stehlen wir Vieh … oder …«
»Quatsch! Vieh stehlen und so was, das hat nix mit Räuberei zu tun, das ist Diebstahl«, sagte Tom Sawyer. »Wir sind keine Diebe. Das hat doch keinen Stil. Wir sind Wegelagerer. Wir halten Postkutschen und andere Kutschen auf der Straße an und haben Masken auf und töten die Leute und nehmen ihre Uhren und ihr Geld.«
»Müssen wir die Leute immer umbringen?«
»Ja, klar doch. Das ist das beste. Manche Fachleute denken da anders, aber die meisten halten es für das beste. Außer ein paar, die man in die Höhle hier bringt und gefangen hält, bis sie ausgelöst sind.«
»Ausgelöst? Was soll’n das sein?«
»Ich weiß nicht. Aber das wird so gemacht. Ich hab’s in Büchern gelesen. Und also müssen wir’s genauso machen.«
»Aber wie sollen wir’s machen, wenn wir nicht wissen, was es ist?«
»Das ist doch egal, wir müssen’s eben machen. Hab ich nicht gesagt, dass es in den Büchern steht? Wollt ihr es anders machen, als es in den Büchern steht und alles durcheinander bringen?«
»Das ist ja alles schön und gut, was du sagst, Tom Sawyer, aber wie zum Kuckuck sollen diese Leute ausgelöst werden, wenn wir nicht wissen, wie man das macht? Das möchte ich gerne mal wissen. Was glaubst du denn, was es ist?«
»Naja, ich weiß nicht. Aber vielleicht, wenn wir sie behalten, bis sie ausgelöst sind, dann heißt das, dass wir sie behalten, bis sie tot sind.«
»Na, das hört sich schon anders an. Das kommt hin. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir behalten sie, bis sie zu Tode ausgelöst sind – aber es wird schon verdammt mühsam mit der Truppe, die werden uns die Haare vom Kopf essen und immer versuchen abzuhauen.«
»Wie du daherredest, Ben Rogers. Wie können sie abhauen, wenn eine Wache auf sie aufpasst und sie sofort abknallt, wenn sie einen falschen Schritt machen?«
»Eine Wache? Ja, das ist mal gut. Dann sitzt also jemand die ganze Nacht da, ohne zu schlafen, und passt auf sie auf. Das halte ich für den reinsten Blödsinn. Warum kann nicht jemand einen Knüppel nehmen und sie gleich auslösen, wenn sie ankommen?«
»Weil’s nicht so in den Büchern steht – deswegen. […]«

Stellen wir dem rasch mal die Original-Passage gegenüber:

»Now,« says Ben Rogers, »what’s the line of business of this Gang?«
»Nothing only robbery and murder,« Tom said.
»But who are we going to rob? houses – or cattle – or –«
»Stuff! stealing cattle and such things ain’t robbery, it’s burglary,« says Tom Sawyer. »We ain’t burglars. That ain’t no sort of style. We are highwaymen. We stop stages and carriages on the road, with masks on, and kill the people and take their watches and money.«
»Must we always kill the people?«
»Oh, certainly. It’s best. Some authorities think different, but mostly it’s considered best to kill them. Except some that you bring to the cave here and keep them till they’re ransomed.«
»Ransomed? What’s that?«
»I don’t know. But that’s what they do. I’ve seen it in books; and so of course that’s what we’ve got to do.«
»But how can we do it if we don’t know what it is?«
»Why blame it all, we’ve got to do it. Don’t I tell you it’s in the books? Do you want to go to doing different from what’s in the books, and get things all muddled up?«
»Oh, that’s all very fine to say, Tom Sawyer, but how in the nation are these fellows going to be ransomed if we don’t know how to do it to them? that’s the thing I want to get at. Now what do you reckon it is?«
»Well I don’t know. But per’aps if we keep them till they’re ransomed, it means that we keep them till they’re dead.«
»Now, that’s something like. That’ll answer. Why couldn’t you said that before? We’ll keep them till they’re ransomed to death – and a bothersome lot they’ll be, too, eating up everything and always trying to get loose.«
»How you talk, Ben Rogers. How can they get loose when there’s a guard over them, ready to shoot them down if they move a peg?«
»A guard. Well, that is good. So somebody’s got to set up all night and never get any sleep, just so as to watch them. I think that’s foolishness. Why can’t a body take a club and ransom them as soon as they get here?«
»Because it ain’t in the books so – that’s why. […]«

Wer ein Gespür für den Ton des Originals hat, bemerkt dass die neue Übersetzung den Dialog aufpoliert: Weder das »per’aps« noch das »reckon« des Originals sind angemessen übersetzt, überhaupt sind in der Übersetzungen die Verschleifungen reduziert und das sprachliche Niveau angehoben. Nicht, dass die Übersetzung falsch wäre, sie trifft nur den Ton des Originals nicht.

Doch ist das noch eine unproblematische Stelle. Jede Übersetzung des »Huck Finn« steht und fällt mit dem, was der Übersetzer aus der Sprache Jims macht:

I says:
»Hello, Jim!« and skipped out.
He bounced up and stared at me wild. Then he drops down on his knees, and puts his hands together and says:
»Doan’ hurt me – don’t! I hain’t ever done no harm to a ghos’. I awluz liked dead people, en done all I could for ’em. You go en git in de river agin, whah you b’longs, en doan’ do nuffn to Ole Jim, ’at ’uz awluz yo’ fren’.«
Well, I warn’t long making him understand I warn’t dead. I was ever so glad to see Jim. I warn’t lonesome, now. I told him I warn’t afraid of him telling the people where I was. I talked along, but he only set there and looked at me; never said nothing. Then I says:
»It’s good daylight. Le’s get breakfast. Make up your camp fire good.«
»What’s de use er makin’ up de camp fire to cook strawbries en sich truck? But you got a gun, hain’t you? Den we kin git sumfn better den strawbries.«
»Strawberries and such truck,« I says. »Is that what you live on?«
»I couldn’ git nuffn else,« he says.
»Why, how long you been on the island, Jim?«
»I come heah de night arter you’s killed.«
»What, all that time?«
»Yes-indeedy.«

Grundsätzlich sind hier drei Lösungswege versucht worden: Einige Übersetzer haben versucht, Jim einen bestimmten deutschen Dialekt reden zu lassen. Aber weder Bayerisch noch Sächsisch führen zu wirklich befriedigenden Ergebnissen. Andere Übersetzer haben versucht, einen Kunstdialekt zu erfinden, der den Ton von Jims Sprechweise im Deutschen nachzuahmen versucht. Wieder andere haben vor dem Problem kapituliert und ersetzen den starken Dialekt Jims durch einige wenige Verschleifungen. Diesen Weg geht auch die Neuübersetzung:

Dann sagte ich:
»Hallo, Jim!« und hüpfte hinter dem Busch hervor.
Er schrak hoch und starrte mich wild an. Dann fiel er auf die Knie und presste die Hände zusammen und sagte:
»Tu mir nix – bloß nix! Ich hab noch nie nem Gespenst was getan. Ich hab Tote immer gern gehabt und alles für sie getan, was ich konnte. Du gehst jetzt wieder innen Fluss zurück, wo du hingehörst, und tust dem alten Jim nix, der immer dein Freund gewesen is.«
Na, ich machte ihm schnell klar, dass ich nicht tot war. Ich war so froh, Jim zu sehen. Jetzt war ich nicht mehr allein. Ich sagte ihm, ich hätte keine Angst, dass er den Leuten verrät, wo ich war. Ich redete einfach drauflos, und er saß nur da und starrte mich an, sagte aber kein Sterbenswort. Dann sagte ich:
»Es ist schon richtig hell. Lass uns frühstücken. Mach dein Lagerfeuer ruhig wieder an.«
»Was hat’n das für ’n Sinn, das Lagerfeuer anzumachen, um Erdbeern und so ’n Grünzeug zu kochen. Aber du hast ja ’n Gewehr! Da können wir was Besseres wie Erdbeern holen.«
»Erdbeeren und so ’n Grünzeug«, sagte ich. »Was andres zum essen hast du nicht?«
»Ich hab sonst nix gefunden«, sagte er.
»Wieso, wie lang bist du denn schon auf der Insel, Jim?«
»Ich bin hier in der Nacht her, nachdem sie dich ermordet haben.«
»Was, die ganze Zeit?«
»Ja, so isses.«

Das ist natürlich im Vergleich zum Original gar nichts. Nun ist es aber so, dass die Verwendung der Dialekte im »Huck Finn« programmatisch ist. Der Verfasser stellt seinem Text ausdrücklich dies voran:

Explanatory

In this book a number of dialects are used, to wit: the Missouri negro dialect; the extremest form of the backwoods South-Western dialect; the ordinary ›Pike- County‹ dialect; and four modified varieties of this last. The shadings have not been done in a hap-hazard fashion, or by guess-work; but pains-takingly, and with the trustworthy guidance and support of personal familiarity with these several forms of speech.
I make this explanation for the reason that without it many readers would suppose that all these characters were trying to talk alike and not succeeding.

THE AUTHOR.

Mark Twain scheint also davon ausgegangen zu sein, dass die sprachliche Vielfalt seines Textes zum Vergnügen seiner Leser beitragen wird. Und er betont, dass er die  Ausdifferenzierung unter Mühen erarbeitet hat, um die Sprechweise seiner Figuren so genau wie möglich an die von ihm erlebte Sprachfülle anzunähern.

Natürlich weiß das auch der Übersetzer Andreas Nohl, denn er hat die entsprechende Passage des Buches mit übersetzt. Was also bringt ihn dazu, die sprachliche Färbung weiter Textpassagen einfach zu ignorieren und zu ein paar Verschleifungen zu verflachen? Es ist einmal mehr die »Lesbarkeit«, der dies angeblich geopfert wurde:

Grundsätzlich wurde darauf verzichtet, den Slang des Ich-Erzählers und der sprechenden Personen in einem künstlichen deutschen Slang oder in einem Dialekt abzubilden. Darin unterscheidet sich die neue Übersetzung grundlegend von den bisherigen Übersetzungen.
[…]
Bei Huckleberry Finn gibt es neben den älteren Jugendbuchbearbeitungen zwei neuere Übersetzungen, deren Lesbarkeit aber durch deutsche Dialekteinsprengsel bzw. einen deutschen Kunst-Slang stark beeinträchtigt ist.

Was glaubt denn wohl der Übersetzer, wie das Original in dieser Beziehung von Muttersprachlern wahrgenommen wird? Und was mag er wohl über deutsche Bücher denken, deren Hauptforce gerade darin liegt, einen Kunst-Slang (z. B. Herbert Rosendorfers »Briefe in die chinesische Vergangenheit«) oder Dialekte und Sprechweisen (z. B. Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium«) abzubilden. Wünscht er auch diese Bücher ins »Lesbare« übersetzt? Und was glaubt er wohl, warum sich ein deutscher Leser eine Übersetzung des »Huck Finn« kauft – um Mark Twain zu lesen oder Andreas Nohl?

Nun können sich deutsche Leser zum Glück entscheiden: Entweder sie folgen Andreas Nohl ins Land der sprachlichen Plattitüde, oder sie greifen zur Übersetzung von Friedhelm Rathjen und haben zusammen mit ihm und Mark Twain Spaß an der Sprache. Ich jedenfalls habe die Neuübersetzung bedauernd beiseite gelegt – so ein schönes Buch und so eine vertane Liebesmüh.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. München: Hanser, 2010. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruck, 711 Seiten. 34,90 €.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise …

978-3-86971-014-3 … durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick

Ganz selten hat man heute noch das Vergnügen, ein solches Büchlein in die Hand zu bekommen: Flexibler, bedruckter Leineneinband, abgerundete Ecken, Lesebändchen, exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen, ein informatives, illustriertes Nachwort. Wenn das Bändchen auch noch fadengeheftet wäre, wäre es vollkommen.

Michael Walter hat seiner ambitionierten Übersetzung des »Tristram Shandy« nun auch eine Übertragung von Sternes zweitem Roman an die Seite gestellt. Leider sind von der »Empfindsamen Reise« nur zwei Bände fertig geworden, bevor Sterne 1768 starb. Und so bleibt der empfindsame Ich-Erzähler Yorick, den der Leser bereits aus dem »Tristram Shandy« kennen konnte, nördlich von Lyon in einem Gasthaus stecken und erreicht nie das im Titel angekündigte Italien.

Das Büchlein war ein beinahe noch größerer Erfolg als der »Tristram Shandy« und besonders in Deutschland einflussreich, da von ihm eine kleine Literaturepoche, die Empfindsamkeit, angeregt wurde. Das Wörtchen »empfindsam« wurde übrigens von Lessing zur Übersetzung des englischen Neologismus »sentimental« erfunden; wer mehr dazu und zu der Geschichte der deutschen Übersetzungen erfahren möchte, lese das wohlgeratene Nachwort.

Auch bei dieser Sterne-Übersetzung wird betont, die Waltersche Neuübersetzung mache die erotische Unterfütterung des Textes deutlicher als alle vorangehenden. Das soll hier nicht bestritten werden, nur möchte ich darauf hinweisen, dass der Autor die sexuellen Beiklänge hier weit gemäßigter gehandhabt hat als in einigen Passagen des »Tristram Shandy«. An dieser Neuübersetzung scheint mir weit interessanter zu sein, wie souverän Michael Walter den Sterneschen Stil insgesamt nachzubilden versteht und dabei einen skurrilen und durch und durch originellen deutschen Text erschafft, der in keinem Moment vergessen lässt, dass wir hier ein Buch vor uns haben, das bereits im 18. Jahrhundert aus der Masse des literarischen Marktes herausgeragt hat.

Wer zuvor noch nichts von Sterne gelesen hat, sei ein wenig vorgewarnt: Es braucht einige Seiten, bis man sich eingelesen hat. Man bringe etwas Geduld mit, denn man wird reichlich dafür belohnt.

Dieses Bändchen ist sicherlich eines der Bücher des Jahres 2010, auch wenn das Jahr noch recht jung ist.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick. Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2010. Flexibler, bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 359 Seiten. 24,95 €.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / …

conrad_jugend … Das Ende vom Lied. Drei Erzählungen Joseph Conrads, die in dieser Zusammenstellung zum ersten Mal 1902 erschienen sind. In dem mitgelieferten Vorwort Conrads aus dem Jahr 1917 weist der Autor jegliche Idee einer zyklischen Anlage der Sammlung zurück und betont, dass die Texte nur aufgrund ihrer in etwa zeitgleichen Entstehung zusammengehören. Karriere gemacht hat bekanntlich Herz der Finsternis, das spätestens durch die freie Variation in Apocalypse Now in der westlichen Kultur Kultstatus bekommen hat.

Allerdings lag bislang keine wirklich gute Übersetzung vor. Ich selbst hatte mir nach der ersten Lektüre der englischen Originale Conrads eigentlich vorgenommen, keine weiteren Übersetzungen seiner Bücher ins Deutsche zu lesen. Doch als mir letztens von meinem Buchhändler der hier vorgestellte Band in die Hand gedrückt wurde, war ich erstaunt, wie genau der Ton der ersten Seite von Herz der Finsternis meiner Erinnerung an das Original entsprach. Dieser erste Eindruck hat sich gehalten: Die Übersetzungen haben durchgängig ein hohes Niveau und ein genaues Gespür für die von Conrad tonal erzeugten Stimmungen. Das lässt sich natürlich nicht in allen Fällen nachbilden, ist aber hier besser gelungen, als ich es bislang in irgend einer der älteren Übersetzungen gefunden habe.

Die beiden ersten Erzählungen haben eine Rahmenerzählung, in der Conrads Erzählerfigur Marlow in einem Kreis Londoner Bekannter eigene Erlebnisse berichtet: Jugend von seiner ersten Fahrt als Zweiter Offizier auf einem heruntergekommenen Frachter, der schließlich auf hoher See Opfer eines Schwelbrandes in der Ladung wird, Herz der Finsternis von seiner Zeit als Kapitän auf dem Kongo und seiner Begegnung mit dem Handelsagenten Kurtz, der – halb wahnsinnig, halb hybrider Philosoph – im Kern die Faszination und begriffliche Hilflosigkeit der Weißen angesichts der Konfrontation mit dem schwarzen Kontinent widerspiegelt.

Die wohl insgesamt weniger bekannte Erzählung Das Ende von Lied (deren Originaltitel The End of the Tether den sprichwörtlichen Geduldsfaden mit ins assoziative Spiel bringt), ist die Geschichte des alternden Kapitän Whalley, der sich, um seine verheiratete Tochter finanziell unterstützen zu können, noch einmal für drei Jahren als Kapitän verpflichtet. Dies erweist sich für ihn als ein Wettlauf mit der Zeit und der eigenen Gesundheit. Diese Erzählung kann als ein Musterstück retardierenden Erzählens gelesen werden, denn die Fabel bleibt wesentlich anekdotisch und ließe sich ohne großen Verlust auf zwei Seiten zusammenfassen. Doch die ausführliche Beschreibung zahlreicher Nebenfiguren, ihrer Motive und Geschichte sowie die beinah quälende Verzögerung der Auflösung des Rätsels um Kapitän Whalley machen diesen Text mit beinahe 130 Seiten zum längsten des Bandes.

Wer mit der Lektüre Conrads beginnen möchte, dem sei dieser Band ans Herz gelegt; die anderen, die Conrad nicht im Original lesen, mögen hier nachschauen, was einem sorgfältigen Übersetzer im Deutschen möglich ist.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / Das Ende vom Lied. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 379 Seiten. 19,90 €.