mein ideal. ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen.
Die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren eine fruchtbare Zeit für das, was man damals „experimentelle Literatur“ nannte. Dieses formal und stofflich recht uneinheitliche Genre hatte seine deutschsprachige Gründungsschrift wahrscheinlich in Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ (1960) und sah – pars pro toto – Merkwürdigkeiten wie Thomas Bernhards Romane („Frost“ (1962)), Peter Bichsels „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ (1964), Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ (1964), Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (1964), Günter Eichs „Maulwürfe“ (1968), Helmut Heißenbüttels „Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende“ (1970), Paul Wührs „Gegenmünchen“ (1970) und nicht zuletzt natürlich Arno Schmidts Mythos „Zettel’s Traum“ (1970). Alle diese und zahlreiche andere Texte dieser Zeit galten und gelten zum Teil heute noch als schwer oder gar unlesbar oder -verständlich und hätten bei dem heutigen Buchmarkt nur geringe Chancen, es an den Controllern und Finanzfachkräften in Lektorat und Vertrieb vorbei bis in die Druckerei zu schaffen.
Einer dieser Texte war Oswald Wieners Buch „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ (1969), das im Erscheinungsjahr erstaunliche drei Auflagen (achttausend Exemplare) erlebte, 1972 als Taschenbuch aufgelegt wurde (Abb. rechts) und 1985 nochmals erschien. Ob es sich 1985 auch verkauft hat, wage ich nicht zu mutmaßen. Weswegen das alles aber hier zur Sprache kommt, ist die überaus erstaunliche Tatsache, dass in den letzten Wochen im österreichischen Verlag Jung und Jung eine weitere Neuausgabe dieses Textes erschienen ist, von dem ich vermutet hätte, dass er inzwischen – sieht man von einigen wenigen eingepuppten Germanisten ab – komplett vergessen ist.
Oswald Wiener (geb. 1935) war einer der theoretischeren Köpfe der sogenannten Wiener Gruppe um H. C. Artmann. Er hatte sich schon früh mit Kybernetik beschäftigt, ist außergewöhnlich breit belesen und hatte schon damals mehr Seiten Prosa weggeworfen, als mancher in seinem Leben überhaupt geschrieben hat. „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ – es wäre aufgrund der dem Titel ironisch angeklebten Gattungsbezeichnung mit Sicherheit eines der am häufigsten falsch zitierten und bibliographisch erfassten deutschsprachigen Bücher, wenn es denn zitiert würde – ist ein Konglomerat kürzerer und längerer Texte, die sich im Wesentlichen mit allem beschäftigen, was dem Autor während der 60er Jahre durch den Kopf gegangen sein dürfte. Es finden sich philosophische und linguistische Reflexionen über Sprache, poetologische und literarische Aphorismen, Tagebucheinträge, ein langer Essay „zum konzept des bio-adapters“, „zwei studien über das sitzen“, die en passant allen Peter-Handke-Enthusiasten zur Lektüre empfohlen seien, (zumindest mir) völlig unverständliche Ein-, Zwei- und Mehrzeiler, Schimpfereien und Ressentiments, alles hinter- und untereinander gesetzt wohl in der Hoffnung, jene Authentizität der Literatur wiederzugewinnen, die durch die ewige Reproduktion derselben Formen verloren gegangen zu sein schien.
Der Leser muss für dieses Buch viel Geduld aufbringen und sich einlassen auf die sehr spezifische und unvermittelte Welt des Autors. Alternativ dazu kann er das Buch auch einfach nur durchblätternd anstaunen und lernen, was auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einmal möglich war. Jene Freiheit, die uns in den vergangenen 30 Jahren abhanden gekommen ist, scheint hier für einen Augenblick auf. Aber natürlich ist es zum Ausgleich heutzutage viel sicherer als damals. Wovor also fürchten wir uns?
Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Salzburg: Jung und Jung, 2013. Pappband, 220 Seiten (davon 205 römisch nummeriert). 25,– €.
Sinn hat dieses verrückte Leben keinen und scheinbar einen konstruieren kann man nur dann, wenn man eine Unmenge neuen Unsinns dem alten Unsinn hinzufügt. Alles was man tun kann, ist Märchen erzählen und sich und andere so vorübergehend zu unterhalten.
Der Band präsentiert wohl etwa die Hälfte oder auch etwas mehr des Briefwechsels zwischen Paul Feyerabend und Hans Peter Duerr, der den Band herausgegeben hat. Das heißt, es handelt sich in der Hauptsache um Briefe Feyerabends an Duerr, denn die Briefe Duerrs in umgekehrter Richtung haben sich leider nur in Einzelfällen erhalten, da Feyerabend mit ihnen gänzlich sorglos umgegangen ist.
Es ist natürlich hübsch, Briefe gerade von diesen beiden kreativen Außenseitern des akademischen Wissenschaftsbetriebs lesen zu können. Während Duerr eher durch seine Inhalten und Interpretationen verstört, nimmt Feyerabend den gesamten Betrieb nicht mehr ernst und nur noch im Sinne einer Lebensweise an ihm teil. Was die meisten Fachkollegen und Kritiker an Feyerabends Schriften am meisten irritiert haben dürfte, ist ihre prinzipiell skeptische Grundposition, die nicht versucht, dem Allmachtsanspruch des Rationalismus einen anderen entgegenzusetzen, sondern sich mit der Haltung des Kindes begnügt, das die Nacktheit aller Herrscher ausschreit.
Außer um das Elend des Wissenschaftsbetriebs im persönlichen und allgemeinen Sinne geht es in der Hauptsache ums Schreiben und Lesen, hier und da auch um Frauen, Familie und Essen. Am Rande fallen einige hübsche Kurzporträts ab – am reizvollsten ist vielleicht das Siegfried Unselds geraten.
Für mich persönlich war es hübsch zu lesen, dass Feyerabend als ehemaliger popperscher Rationalist seine Wandlung der Wittgensteinschen Gehirnwäsche verdanke.
Ein sehr menschliches Buch, aus dem vielleicht kommende Jahrhunderte ersehen könnten, dass nicht alle Menschen der sogenannten westlichen Kultursphäre des 20. Jahrhunderts dem Wahnwitz verfallen waren.
Paul Feyerabend: Briefe an einen Freund. Hg. v. Hans Peter Duerr. edition suhrkamp 1946. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Broschur, 291 Seiten. 11,50 €.
Es ist tatsächlich so, dass ich länger Schach spielen als lesen kann (die unerwiderte Liebe zu diesem Spiel habe ich – außer einem überdurchschnittlichen Gedächtnis – von meinem Vater geerbt; sonst war es nicht viel). Und seit ich vor mehreren Jahrzehnten zum ersten Mal Stefan Zweigs »Schachnovelle« gelesen habe, wollte ich immer mal etwas zu diesem Text schreiben, der wohl unter die überschätztesten der deutschsprachigen Literatur gerechnet werden darf. Insbesondere Menschen, die den Spinger hartnäckig Pferd zu nennen pflegen, zeigen sich begeistert über dieses angeblich feine Porträt eines intellektuellen Opfers nationalsozialistischer Gewalt, das zudem durch die Tatsache geadelt wird, dass der Autor als Exilant im fernen Südamerika über der Veröffentlichung verstorben ist.
Nun bietet eine neue Ausgabe bei dtv Anlass, diesen alten Vorsatz endlich umzusetzen. Die »Bibliothek der Erstausgaben« ist eine inzwischen gar nicht mehr so kleine Reihe, die gar nicht genug gelobt werden kann. Hier werden – entgegen dem derzeitigen verlegerischen Trend zur Anpassung, Glattschleifung und Vereinheitlichung der Literatur entlang der Vorgaben seelenloser Sprachbürokraten im Namen der sogenannten Lesbarkeit – deutschsprachige Bücher in der Form nachgedruckt, wie sie sich zum ersten Mal den Augen der Öffentlichkeit präsentierten, mit allen Manierismen, Verwerfungen und Fehlern, mit denen ein Text behaftet ist, von dem zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt, dass er sich einmal zum Klassiker mausern wird. Als die Reihe in den 90er Jahren zuerst erschien, habe ich die erste Charge, so um die 50 Bände, komplett gekauft, und trotz inzwischen erheblichem Platzmangel in der Bibliothek stehen die Bände immer noch im Regal:
Nun ist gerade auch Stefans Zweigs »Schachnovelle« in der Reihe erschienen und zwar in der Fassung, die 1942 in Buenos Aires gedruckt wurde. Normalerweise wird, aus verständlichen Gründen, diejenige Ausgabe reproduziert, die 1943 in Stockholm im Exilverlag von Bermann-Fischer erschienen ist. Beide Ausgaben halten sich nicht zeichengetreu an die jeweiligen Typoskripte des Autors, wenn auch, wie der Herausgeber der neuen Ausgabe, Joseph Kiermeier-Debre, betont, die Unterschiede in Orthographie und Interpunktion nicht so erstaunlich sind, wie gelegentlich behauptet wird.
Ein Reiz der argentinischen Ausgabe liegt sicherlich in der unsicheren Rechtschreibung, etwa an Stellen wie dieser:
Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben ausserstande war, in irgend einer Sprache einen Satz ohne ortographischen Fehler zu schreiben …
Zu schade, dass sich der Herausgeber an dieser Stelle genötigt fühlt, das fehlende »h«, zwar in eckigen Klammern, aber immerhin doch wieder in den Text einzufügen.
Doch kommen wir zum Inhalt der Erzählung: Wie über alles Maß bekannt sein dürfte, erzählt die »Schachnovelle« die Geschichte einer Schiffsreise von New York nach Buenos Aires im Jahr 1941. Als der Ich-Erzähler erfährt, dass sich der rezente Schachweltmeister Czentovic, dessen merkwürdige psychische Disposition den Erzähler fasziniert, an Bord befindet, will er zu diesem einen Kontakt herstellen, indem er versucht, ihm eine Falle zu stellen: Er platziert sich in einem Salon des Schiffes mit einem Schachbrett; zwar laufen ihm einige andere Schachspieler zu, aber der Weltmeister ignoriert diese Ansammlung von Patzern nicht einmal. Doch einer der Amateure zeigt schließlich, wie man das Interesse eines Weltmeisters erregt: Er bezahlt Czentovic ein ordentliches Honorar für eine Partie, die als Beratungspartie mit dem Weltmeister auf der einen, den vereinigten Patzern auf der anderen Seite gespielt wird.
Nachdem die Amateure die erste Partie rasch verloren haben, mischt sich in die Revanche unvermittelt ein neuer Teilnehmer ein, der diese zweite Partie ins Remis rettet und dadurch jene Einsicht in das Spiel verrät, die den anderen Herren offenbar fehlt. Vom Ich-Erzähler nach der Partie angesprochen, eröffnet ihm jener Dr. B. ohne Zögern und freimütig seine Lebensgeschichte: Wie er nach dem Anschluss Österreichs ans Reich als Treuhänder der Kirche von den Nationalsozialisten aufs Übelste festgehalten und befragt, dann aber schließlich laufen gelassen worden ist. Angesichts der monatelangen Gefangenschaft in einem Hotelzimmer, das auch noch von seinen Bewachern aufgeräumt wurde, konnte Dr. B. seine geistige Gesundheit nur dadurch bewahren, dass er sie verlor: Bei einer vom Autor günstigst erfundenen Gelegenheit stiehlt Dr. B. eine Partiensammlung von 150 Meisterpartien, wodurch sich Dr. B. infolge intensiven Studiums des Büchleins eine fiebrige Schachvergiftung zuzieht, die es ihm ermöglicht – ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode – den Verhören weitere Monate Trotz zu bieten. Offenbar beeindruckt von diesem intellektuellen Kabinettstückchen geben die Schergen des Bösen ihre niederträchtige Hotelzimmer-Folter auf und lassen den Zeugen ihrer überaus grausamen Praktiken ins Ausland reisen. Wie schrieb Bert Brecht so richtig über Schillers Dionys:
Und schließlich zeigte es sich ja auch dann:
Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!
Nimmt man all das beim Wort, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass es sich bei Dr. B. um einen der unverschämtesten Lügner der Weltliteratur und beim Ich-Erzähler um einen der naivsten handelt, oder wir müssen eingestehen, dass uns eine so schlecht erfundene Geschichte in der sogenannten Weltliteratur selten untergekommen ist.
Doch all das wäre mir keine Zeile wert, wenn ich nicht Zeit meines Lebens von jenen, die vom Schachspiel nur wenig verstehen (so wie ich) und gehört haben, dass ich mich über das gewöhnliche Maß hinaus mit Literatur beschäftige (also überhaupt), darauf angesprochen wurde und werde, welche großartige Darstellung des Schachspiels doch die »Schachnovelle« sei. Eben darum handelt es sich nicht, sondern mit um das ahnungsloseste Geschreibsel, das jemals zu diesem Thema verfasst wurde.
Beginnen wir mit dem lügnerischen Dr. B.: Er will in seiner Gymnasialzeit bereits ein Schachspieler gewesen sein, aber erst das Auswendiglernen und monatelange Rekapitulieren von 150 Meisterpartien macht ihn plötzlich und unvorbereitet zu einem Spieler, der auch dem Weltmeister die Stirn zu bieten vermag, ja der sogar in der Lage ist, ihn im Tempo eines Blitzspielers vom Brett zu fegen. Selbst wenn wir glauben wollen, dass es möglich sei, dass ein schlummerndes, überragendes Talent für das Schachspiel auf diese Weise geweckt werden könnte, so ist das Auswendiglernen von 150 Partien in wenigen Monaten für den Laien zwar eine herkulisch anmutende Leistung, sie stellt aber nur ein Kratzen an der Oberfläche dessen dar, was ein Schachspieler tatsächlich aufwenden muss, um in der Weltspitze, auch in der Weltspitze von 1941, mitspielen zu können. Dies ist, man entschuldige die Phrase, wie sich der kleine Fritz die Genese eines Schachspielers denkt.
Noch schlimmer ist es mit dem sogenannten Weltmeister. Über den heißt es gleich zu Beginn:
Czentovic brachte es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäss sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schachfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste immer das schwarz-weisse Karree mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren handgreiflich vor sich haben; noch zur Zeit seines Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit sich, um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginärer Kraft und wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren.
Diese Passage zeigt, dass Zweig auch nicht den blassesten Schimmer hatte, worüber er schrieb: Es mag immerhin noch angehen, dass Czentovic nicht in der Lage ist, eine ganze Partie blind (also ohne Ansicht des Bretts und der Figuren) zu spielen, aber dass er nicht in der Lage wäre das Schachfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen ist schlicht unmöglich. Er wäre dann nämlich nicht in der Lage, auch nur eine einzige Stellung zu visualisieren, die sich von der auf dem Brett vor ihm um einen oder gar mehrere Züge unterscheidet, kurz gesagt: Er könnte keine einzige Variante berechnen. Da man unter den möglichen Zügen aber nur dadurch erfolgreich auswählen kann, dass man die Stellungen beurteilt, die am Ende der mit ihnen eingeleiteten Varianten entstehen, wäre Czentovic aufgrund des ihm zugeschriebenen Unvermögens überhaupt unfähig Schach zu spielen. Dies mag als erzählerischer Kontrast zu Dr. B. gerade noch durchgehen; in der Sache ist es einfach nur Unsinn. Wie bemerkt Dr. B. so richtig:
Ich weiß nun nicht, bis zu welchem Grade Sie über die geistige Situation bei diesem Spiel der Spiele nachgedacht haben.
Zweig jedenfalls hat es nicht. Aber der ganze Rest ist sicherlich großartig!
Stefan Zweig: Schachnovelle. Buenos Aires 1942. dtv 2688. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2013. Broschur, 144 Seiten. 6,90 €.
Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter Angekleideten nackt.
Diese etwas lang geratene Erzählung von 1925 kam 1999 noch einmal zu unerwarteter Prominenz, als Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« in die Kinos kam. Der Film versetzt die Handlung zwar von Wien nach New York und verlegt sie vom Anfang ans Ende des Jahrhunderts, erweist sich aber sonst als eine behutsame und minutiöse Literaturverfilmung.
Erzählt werden einige Tage aus dem Leben des 35-jährigen Wiener Arztes Fridolin, der nach dem Geständnis seiner Gattin Albertine, sie habe sich im letzten Urlaub haltlos in einen jungen Mann verliebt, mit diesem aber nicht einmal ein Wort gewechselt, aus der Bahn seiner alltäglichen Routine geworfen wird. Er stürzt sich noch in derselben Nacht in eine sich steigernde Reihe erotischer Abenteuer, die darin gipfelt, dass er sich in eine geheime Orgie einschleicht, dort aber rasch enttarnt und aus dem Haus geworfen wird. Nach Hause zurückgekehrt, verwirrt ihn die Nacherzählung eines Traums seiner Frau noch tiefer. Am nächsten Tag vollzieht Fridolin seinen Weg aus der Nacht zuvor noch einmal nach, ohne die angestrebte Erlösung von seiner inneren Anspannung finden zu können. Erst seine erneute nächtliche Heimkunft bringt eine Wendung der Krise.
Obwohl die Erzählung beim Erscheinen von der Kritik zumeist freundlich aufgenommen wurde, war sie kein bedeutender Erfolg. Erst im Rückblick erweist sich diese Erzählung von der Gefährdung der Ehe durch die unterminierende Macht der Sexualität als überraschend klarsichtig.
Ich möchte schweigen, aber ich soll nicht schweigen und ich kann nicht schweigen.
Fritz Mauthner (1849–1923) dürfte sich hart an der Grenze des kulturellen Gedächtnisses bewegen. Während meines Studiums waren seine »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« noch viel besprochen, wenn auch wenig gelesen. Damals erschien auch noch einmal seine umfangreiche Geschichte des Atheismus im Abendland, und sein als Wörterbuch unbrauchbares, als Lektüre aber anregendes »Wörterbuch der Philosophie«, das er selbst als eine Fortsetzung der »Beiträge« verstand, war bei Diogenes als überdimensioniertes Taschenbuch lieferbar. Vom Dichter Fritz Mauthner wollte man aber schon damals nichts mehr wissen. Um so mehr überraschte es mich, dass mir jetzt eine Neuausgabe seiner Erzählung um den Tod Gautama Buddhas in die Hände fiel.
Der 1913 erstmals erschienene Text ist eine direkte Reaktion auf die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Popularisierung buddhistischen Gedankengutes in Europa. Erzählt werden die letzten Tage Gautama Buddhas, stofflich weitgehend orientiert an den Legenden. Inhaltlich allerdings nimmt Mauthner, ähnlich wie es später auch Hermann Hesse in seinem »Siddhartha« tun wird, eine deutlich distanzierte Haltung zu der offenbar als zu pessimistisch empfundenen Lehre ein. Mauthner lässt seinen Buddha nicht nur die Abkehr von allem Weltlichen hin zu einer Bewunderung der Schönheit der Welt und des Lebens überwinden, er erfindet auch eine letzte Lehrpredigt Buddhas hinzu, die sogenannte Schmetterlings-Predigt, in der die bunten Flattermänner zum großen Paradigma einer lebensbejahenden Existenz ohne Wollen und Denken geraten.
Etwas spannender als diese religiöse Gymnastik gerät die Beschreibung der Jünger des Erleuchteten. Während sich Buddha um letzte Einsichten und die Überwindung des Sterbens bemüht, finden unter seinen Schülern die ersten Verteilungskämpfe um Macht und Einfluss in der zukünftigen buddhistischen Kirche statt. Hier findet sich Mauthners eigentliche Absage an den Buddhismus: Die Lehre Buddhas ist diskutabel, der kirchlich organisierte Buddhismus ist es nicht.
Ergänzt wird die Erzählung durch einige Seiten mit Anmerkungen, in denen Mauthner auf die Quellenlage und die moderne Rezeption des Buddhismus im Westen eingeht. Sprachlich dürfte die Erzählung, ebenso wie Hesses Pendant, heute als etwas schwülstig empfunden werden, ansonsten ist sie ein nettes, kleines Schmuckstück für alle, die sich ein wenig für Buddhismus oder Fritz Mauthner interessieren. Hervorzuheben wäre auch die typographische Gestaltung des Bandes, die das gängige Niveau deutlich überragt; wenn nur das Büchlein nicht so viele Druckfehler hätte.
Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Konstanz: Libelle, 2010. Pappband, 125 Seiten. 18,90 €.
Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.
Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:
Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.
Oder:
In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.
Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.
Ich habe schon lange das Bedürfnis gehabt, es wieder einmal mit einer wenigstens einigermaßen ernstzunehmenden philosophischen Lektüre zu versuchen. Der Sermon der Romane ist doch auf einer langen Strecke ermüdend. Und naturgemäß kehrt man erst einmal zum alten Tatort zurück: Über Feyerabends Buch wurde während meines Studium von Professoren-Seite erheblich die Nase gerümpft (aus den unterschiedlichsten Gründen), während ich es damals mit erstaunlichem Gewinn gelesen habe. Ich selbst habe in der Philosophie als erkenntnistheoretischer Kantianer angefangen (und wahrscheinlich auch als solcher aufgehört), und hatte als potentieller Idealist eine entsprechend verklärte Vorstellung vom Gang wissenschaftlicher Forschung.
Feyerabends Analyse lässt demjenigen, der sich auf sie einlässt, kaum eine Chance, irgendeine ideale Vorstellung von den Wissenschaften und besonders ihrer Hohenpriester übrig zu behalten. Seine Darstellung der Galileisch-Kopernikanischen Revolution und ihrer grundlegenden sachlichen und argumentativen Schwächen ist ein Musterstück historischer Wissenschaftskritik. Die aus ihr entwickelte Kritik der Wissenschaften des 20. Jahrhundert ist durchschlagend und ernüchternd – und gibt die tatsächlichen Verhältnisse wohl grundsätzlich korrekt wieder. Ich muss also zugestehen, heute nicht weniger als damals von dem Buch beeindruckt zu sein. Dies war tatsächlich einer der wirklich freien Köpfe des 20. Jahrhunderts.
Ungebildete und stümperhafte Bücher überschwemmen den Markt, leeres Gerede, das von unverständlichen Ausdrücken strotzt, behauptet tiefe Erkenntnisse zu vermitteln, »Fachleute« ohne Geist und Charakter, ja ohne ein Mindestmaß intellektuellen, stilistischen und emotionalen Temperaments belehren uns über unsere »Situation« und die Möglichkeiten ihrer Verbesserung, und sie predigen nicht nur uns, die wir sie vielleicht durchschauen könnten, sondern sie werden auch noch auf unsere Kinder losgelassen und dürfen sie in ihre eigene geistige Verkommenheit hinabziehen. »Lehrer« kneten mit Hilfe von Zensuren und der Angst vor dem Versagen den Geist der Jugend, bis sie jeden Rest von Einbildungskraft verloren hat, den sie einmal besaß. Das ist eine katastrophale Situation, und sie ist nicht leicht zu beheben. [S. 290 f.]
Dass die hinteren Kapitel (ab 16) nicht weniger eloquent sind, aber im Detail weniger zu überzeugen vermögen, sollte man Buch und Autor verzeihen. Man hätte sich stattdessen eine detailliertere Kritik des Begriffs »Vernunft« gewünscht, doch man kann von einem Buch nicht alles erwarten.
Es ist zu befürchten, dass Feyerabends Kritik der Wissenschaft wirkungslos bleiben wird, da sie längst – wie alles Widerständige – vom Betrieb vereinnahmt und verharmlost worden ist. Wie es aussieht, wird er erst an einem Ende Recht behalten, an dem seine Gedanken niemandem mehr nützen werden.
Eine Pflichtlektüre für alle, die sich noch ernsthaft Gedanken machen.
Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Auf der Grundlage einer Übersetzung aus dem Englischen von Hermann Vetter. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 597. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 112009. 423 Seiten. 15,– €.
P.S.: Existiert eigentlich eine Ausgabe ohne den Satzfehler auf S. 282, auf der mindestens eine Zeile Text fehlt, dafür eine andere doppelt vorkommt. Sowohl meine alte Ausgabe von 1983 (aus dem »Weißen Programm«) als auch die aktuelle Taschenbuchausgabe weisen diesen Fehler auf.
Sogenannte autorisierte Biografie Marlen Haushofers, was auch in diesem Fall wenig anderes bedeutet, als dass sich die Verfasserin von der Nachlassverwaltung einen Maulkorb hat umhängen lassen müssen, um wenigstens an irgendein Material heranzukommen. Inwieweit die Biografie korrekt ist, lässt sich nicht beurteilen, da sie derzeit allein auf weiter Flur steht. Angesichts der naiven Laienanalyse, zu der Daniela Strigl neigt, bin ich eher geneigt, ihr nicht weit über die blanken Fakten und Daten hinauszutrauen; doch ist hier – wie gesagt – kein solider Grund zu gewinnen.
Was das Leben Marlen Haushofers angeht, so sind ihre »originellen« Lösungen bestimmter Lebenslagen zu bewundern: Als sie von ihrem ersten Verlobten ungewollt schwanger wird, heiratet sie ihn etwa nicht – was der Reflex der Zeit gewesen ist –, sondern löst die Verlobung und bekommt das Kind heimlich, wahrscheinlich um ihrer streng katholischen Mutter gegenüber den vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht eingestehen zu müssen. Auch als ihre spätere Ehe in eine scharfe Krise gerät, bewährt sich ihr Sinn für überraschende Lösungen: Die Eheleute lassen sich scheiden, verraten es aber niemandem und leben auch weiterhin in einem gemeinsamen Haushalt. Man gibt sich also nach innen hin gegenseitig die »Freiheit«, hält aber nach außen hin die bürgerliche Fassade aufrecht.
Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«. Marlen Haushofer – die Biografie. List Taschenbuch 60784. Berlin: List, 32009. 406 Seiten. 9,95 €.
Das Buch, mit dem sich Marlen Haushofer in die deutschsprachige Literatur eingeschrieben hat. Der bis heute anhaltende Erfolg ist wohl in der Hauptsache einer feministischen Lektüre des Buches zu verdanken, die aber nur einen der vielfältigen sich anbietenden Zugriffe darstellt.
Die Fabel des Buch dürfte weitgehend bekannt sein: Es handelt sich um den Bericht einer namenlosen Erzählerin, die sich bei einem Kurzurlaub im Gebirge unversehens von einer durchsichtigen Wand von der übrigen Welt abgeschnitten sieht, in der alle höheren Lebewesen gestorben zu sein scheinen. Weder die Existenz der Wand noch der allgemeine Tod außerhalb von ihr werden im Roman zureichend erklärt und müssen als Voraussetzung der Fiktion schlicht hingenommen werden. Den Hauptteil des Berichts, der eine Rückschau der Erzählerin nach 2½ Jahren darstellt, bildet die Beschreibung des blanken Überlebens im abgezirkelten Bereich der Wand. Die Autorin stellt ihrer Figur die notwendigsten Grundlagen zum Überleben zur Verfügung: Werkzeug, Saatgut (Kartoffeln und Bohnen), ein Gewehr mit Munition und schließlich auch eine trächtige Kuh. Zudem bekommt sie eine Katze und einen Hund als Gefährten zugesellt. Die Parallelen zum »Robinson Crusoe« sind offensichtlich, doch ist dies nicht die einzige Lesart, die das Buch anbietet.
Es lässt sich ebenso als Dystopie, Katastrophenroman, psychische Allegorie oder existentialistisches Experiment lesen; wie schon erwähnt, hat sich auch die feministische Literaturforschung den Text erfolgreich angeeignet. Der Text hält offenbar für alle diese Zugriffe ausreichendes Material bereit, ohne von seiner Autorin auf eines dieser Konzepte hin festgelegt worden zu sein. Es scheint vielmehr von seinem stofflichen Grundeinfall her geschrieben und ansonsten bewusst so offen wie möglich angelegt worden zu sein. Dies führt für manchen Leser sicher zu der unbefriedigenden Lage, dass viele Details schlicht als willkürlich gesetzt und unreflektiert erscheinen; andererseits muss man der Autorin zugestehen, dass sie aus der doch recht dünnen stofflichen Grundlage knapp 280 Seiten Text zu erzeugen verstanden hat, ohne die Geduld der Leser übermäßig zu strapazieren.
Ein ungewöhnliches Buch, das einerseits der apokalyptischen Stimmung seiner Zeit Rechnung trägt, andererseits das Thema vom Einzelnen und seiner Welt originell durchexerziert.
Marlen Haushofer: Die Wand. List Taschenbuch 60571. Berlin: List, 122009. 285 Seiten. 8,95 €.
Der dritte Band der Karl-Kraus-Werkausgabe, der den Fokus auf Literaturkritik legt. Neben einigen positiven Essays etwa zu Peter Altenberg oder Frank Wedekind stehen in der Hauptsache negative Kritiken des zeitgenössischen Literaturbetriebs und der Literaturgeschichte gegenüber. Nicht in allen Fällen scheint dem heutigen Leser der von Kraus betriebene kritische Aufwand der Bedeutung der Anlässe dieser Kritik angemessen; anders gesagt: Kraus scheint des öfteren mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.
Immer noch vergnüglich zu lesen sind die »Übersetzungen aus Harden« oder Kraus’ Dokumentation der zeitgenössischen Vorurteile der Literarhistoriker,
die in keinem Zusammenhang mit der Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen.
Auch der Essay zu Arthur Schnitzler enthält immer noch gültige und nötige Anmerkungen zur Einordnung dieses überschätzten Autors:
Es ist das Los der Süßwasserdichter, daß sie die Begrenzung spüren, sich unbehaglich fühlen und dennoch drin bleiben müssen.
Insgesamt hat aber auch die Lektüre dieses Bandes den Eindruck verdichtet, dass man Kraus mit größeren Pausen lesen sollte, damit er einem nicht mit seiner stets gleichbleibenden Intensität auf die Nerven geht.
Karl Kraus: Literatur und Lüge. st 1313. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 381 Seiten. 10,– €.