Robert Menasse: Permanente Revolution der Begriffe

978-3-518-12592-2 Ein Bändchen mit acht Sonntagsreden Menasses, eine davon über Sonntagsreden. Diese Lektüre hat meine Auseinandersetzung mit Menasse beendet. An einer Stelle heißt es:

Alle wirtschaftlichen Blütezeiten seit den bürgerlichen Revolutionen waren Zeiten, in denen die Politik, nicht zuletzt auch durch gesellschaftlichen Druck, stärker war als »die Wirtschaft«. Alles Elend und alle Menschheitskatastrophen aber geschahen in Zeiten, in denen »die Wirtschaft« der Politik ihre Interessen diktieren konnte.

Si tacuisses, …

Robert Menasse: Permanente Revolution der Begriffe. Edition Suhrkamp 2592. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 124 Seiten. 9,– €.

Karl Kraus: Die chinesische Mauer

3-518-37812-0 Der Band schließt unmittelbar an Sittlichkeit und Kriminalität an, weist aber insgesamt eine wesentlich größere thematische Bandbreite auf. Die gesammelten Aufsätze stammen aus den Jahren 1907–1910. Es finden sich hier einige Kraus-Klassiker wie zum Beispiel »Das Ehrenkreuz« oder »Der Biberpelz«, aber auch ungebrochen aktuelle pressekritische Stücke wie etwa »Die Entdeckung des Nordpols« oder »Das Erdbeben«, letzteres allerdings nur als Vorspiel zum späteren legendären Grubenhund. Erstmals finden sich auch zwei positive Stücke: »Girardi« und »Peter Altenberg« sind umfangreiche Lobreden.

Der Band vermittelt sicher ein realistischeres Bild vom Inhalt der Fackel als der Vorläufer, wenn auch die Gewichtungen der Themen in Zeitschrift und Buch immer noch deutlich voneinander abweichen.

Karl Kraus: Die chinesische Mauer. st 1312. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 338 Seiten. Derzeit anscheinend nur innerhalb der kompletten Werkausgabe lieferbar.

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität

978-3-518-37811-3 Start eines weiteren Langzeit-Projekts: Da es nur wenigen Fachleuten gegeben ist, in ihrem Leben wenigstens einmal Die Fackel komplett durchzulesen, hält man sich als normaler Kraus-Leser – falls es so etwas tatsächlich gibt – mehr aus Resignation, als dass man eine wirkliche Wahl hätte, an die insgesamt 20-bändige Werkausgabe, die von Christian Wagenknecht herausgegeben wurde und die sich in ihrer ersten Abteilung an den von Kraus selbst zusammengestellten Büchern orientiert.

Sittlichkeit und Kriminalität erschien erstmals 1908 und versammelt in weitgehend chronologischer Reihenfolge Aufsätze und Notizen, in denen sich Kraus mit der Gerichtspraxis im Österreich der Jahre 1902 bis 1907 auseinandersetzt, insbesondere mit Fällen, in denen das Sexualleben der Angeklagten thematisiert wurde. Dazu gehören natürlich sogenannte Unsittlichkeits- oder Prostitutions-Prozesse, aber auch Raub- oder Tötungsdelikte, in denen das Sexualleben der Angeklagten herangezogen wurde, um diese zu charakterisieren. Kraus’ Kritik an der Rechtspraxis ist gekoppelt mit starken Forderungen nach einer Legalisierung der Homosexualität und der Prostitution, die aber nur als Aspekt seiner zugrunde liegenden Ansicht erscheinen, dass Sexualität, solange sie aus freiem Entschluss zwischen erwachsenen Menschen stattfindet, niemanden anderen etwas angeht, am allerletzten die Gerichte. Dabei richtet sich seine Kritik nicht nur gegen Richter und Staatsanwälte, sondern auch gegen eine Presse, die die intimen Details der Prozesse zur Hebung ihrer Auflagenzahlen in der Öffentlichkeit breit tritt.

Kraus hat die Texte dieses Bandes für die Buchveröffentlichung noch einmal stark überarbeitet. Dies und die thematische Verdichtung, die der Band im Gegensatz zu den verstreuten Publikationen in der Fackel erreicht, lohnt allein die Lektüre. Er ist aber auch eine gute Einführung in das Werk von Kraus überhaupt. Nicht nur lernt man Kraus’ Ton kennen, der seine Texte aus der Menge der Veröffentlichungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich heraushebt, sondern deutlich wird auch die tiefe moralische Haltung, aus der heraus seine Kritik stets erwächst.

Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. st 1311. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987. 382 Seiten. 10,– €.

Joseph Roth – Leben und Werk in Bildern

978-3-462-04102-6 Zusammen mit der umfangreichen Biografie Joseph Roths hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch auch einen Bildband zu Leben und Werk herausgebracht. Es handelt sich um eine überarbeitete Neuauflage eines bereits 1994 erschienenen Bandes, dem wiederum ein Ausstellungskatalog von 1989 vorausgegangen zu sein scheint. Den Grad der Überarbeitung kann ich nicht einschätzen, da ich die erste Auflage nicht kenne. Umfangreicher ist der Band durch die Überarbeitung jedenfalls nicht geworden.

Das Buch präsentiert eine umfangreiche Auswahl an Bildern Roths und seiner Wegbegleiter, Freunde und Bekannten, Faksimiles von Briefen, Manuskripten, Zeitungsausschnitten, Verträgen, Buchumschlägen und anderen Dokumenten. Zusammen mit den Texten der Herausgeber ergibt sich eine reich bebilderte Kurzbiografie Roths, angereichert durch Briefe und autobiografische Texte Roths.

Lesern, denen die Biografie von Sternburgs zu umfangreich ist, bietet der Band eine zwar etwas kostspielige, aber knappe und attraktive Alternative.

Heinz Lunzer / Victoria Lunzer-Talos (Hg.): Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. Leinenband, Kunstdruckpapier, Fadenheftung, 280 Seiten. 39,95 €.

Wilhem von Sternburg: Joseph Roth

978-3-462-05555-9Derzeit einzige umfangreiche Biografie über Joseph Roth. Ihr Autor, Wilhelm von Sternburg, ist ein Routinier, was man auch diesem Buch anmerkt. Das Buch ist recht breit angelegt, was wahrscheinlich auf Leser mit geringem historischen Vorwissen abzielt. So sind die Ausführungen über Roths jüdisch-galizischen Hintergrund sicherlich gut gemeint und für einen Großteil der Leser nützlich. Ob dies allerdings auch für den seitenlangen Exkurs über Schriftsteller, vor allem US-amerikanische, als Alkoholiker zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Solche Tendenzen machen die Lektüre ein wenig langatmig und mühsam.

Die erzählerischen Werke Roths werden nahezu alle inhaltlich referiert und zum bedeutenden Teil kurz und sicher in den Zeithorizont eingeordnet. Wirkliche Interpretationen versucht von Sternburg nicht zu liefern; einmal vergleicht er Radetzkymarsch mit Budenbrooks, ohne dabei über den bekannten Jean Paulschen Vergleich der Tanz- und Fechtkunst hinauszukommen.

Die Biografie wird wohl so gut dargestellt, wie es die Datenlage derzeit erlaubt. Der Leser bekommt einen soliden Eindruck vom chaotischen und selbstzerstörerischen Pathos des Schriftstellers, der sich – besonders in den letzten Lebensjahren – einfach nicht mehr zu helfen wusste: Erzwungenes Exil, die private Verpflichtung für die im Sanatorium befindliche Ehefrau einerseits und die Lebenspartnerin mit ihren Kindern andererseits, der sich zunehmend verschlimmernde Alkoholismus und die aus all dem erwachsende andauernde Geldnot – es ist alles in allem erstaunlich, dass Roth unter diesen Bedingungen überhaupt noch in der Lage war Literatur und dann auch noch auf einem solchen Niveau zu produzieren. Eine bemerkenswerte Mischung von Haltlosigkeit und Disziplin beherrschte dieses Leben.

Wilhelm von Sternburg: Joseph Roth. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. Pappband, 559 Seiten. 22,95 €.

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha

978-3-518-46040-5 Es lassen sich nur schwer zwei gegensätzlichere Liebhaber in der europäischen Literaturtradition ausmachen als Don Juan und Don Quixote de la Mancha. Wo der eine sich in der Flüchtigkeit der Lust verliert und schließlich seinem eigenen Mythos als Liebhaber kaum mehr nacharbeiten kann, minnt der andere um ein einfaches Bauernmädchen als seine Hohe Frau. Es stellt daher schon einen gewaltigen Anspruch her, den Protagonisten eines Romans mit einem Titel zu belasten, wie dieses Buch es tut.

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag. Erinnern Sie sich an den etwas dümmlichen »Wettbewerb« um den schönsten ersten Satz, den schließlich der Prosa-Tölpel Grass gewann? Robert Menasse hat in diesem Buch, wenn auch nicht den schönsten, so doch einen der impressivsten ersten Sätze geliefert:

Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke.

Das hat ohne Frage Wucht und vertreibt gleich einmal alle feinsinnigen Leser (in diesem Fall natürlich auch ausdrücklich Leserinnen). Zusätzlich zu der – wahrscheinlich sogar beabsichtigten – Ambiguität, dass es sich bei Christa Chili-Schoten auch um einen Doppelnamen handeln könnte, ist der Satz zugleich obszön und blasiert, was für das Buch einiges hoffen ließ.

Leider hält der Autor das hier versprochene Niveau nicht. Don Juan de la Mancha ist der Roman eines ziemlich durchschnittlichen Kaspers, der mit seiner Ehe unzufrieden und von seinem Job als Lifestyle-Journalist angeödet ist, in seinen paar Affären unbefriedigt bleibt – ich habe das ganze Buch hindurch vermutet, weil er zu fantasielos ist, um seinen Fetisch zu finden; aber selbst darauf kommt der Autor nicht –, seiner Analytikerin Lügen auftischt, in eine tiefe Depression verfällt, als er seinen ungeliebten Job verliert und schließlich … Ja, was eigentlich schließlich? In die ihm angemessene langweilige Normalität zurückkehrt und aus der Literatur verschwindet.

Wahrscheinlich habe ich das Buch nicht verstanden. Wahrscheinlich verstehe ich den Humor des Autors nicht. Hier und da habe ich schon mal müde gegrinst:

Aber [Philip] Roth ist doch ein großer Realist: Ich las bei ihm den Satz »Da läutete das Telefon« – und es läutete das Telefon.

Zwischendurch setzt es mal ein Kleinkapitel, das den Eindruck macht, als habe auch der Autor sein Gekasper über:

Meine Frau ist mit dem Flugzeug abgestürzt.
Was erzählen Sie da, sagte Hannah, bitte Nathan, was erzählen Sie da?
Ja, erzählen, sagte ich. Ich wusste nicht mehr, wohin mit ihr.

Aber auch solche vereinzelten Perlen retten den Roman nicht. Er wird weder dem grandiosen Anspruch des Titels gerecht, noch hat er es auf andere Weise vermocht, mein Interesse zu fesseln. Zwischendurch kam in mir immer wieder einmal der Verdacht auf, er könne als Parodie oder gar Satire gemeint sein. Aber dann wusste ich nicht, was hätte parodiert werden sollen, und für eine Satire ist es deutlich zu geschwätzig und harmlos.

Aber, wie gesagt: Vielleicht habe ich auch einfach nur die Stellen zum Lachen überlesen …

Robert Menasse: Don Juan de la Mancha. Suhrkamp Taschenbuch 4040. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 275 Seiten. 8,90 €.

Miniaturen (10)

Weil ich Tante Lia erwähnt hatte. Sie starb just in dieser Zeit, als sich Martina und ich trennten. In ihrem Testament hatte sie verfügt, dass ich ihre Briefmarkensammlung erbe. Ich musste bei einem Notar etwas unterschreiben, bekam ein kleines Paket ausgehändigt. Das Briefmarkenalbum. Darin vier österreichische Marken und eine Ansichtskarte aus Tel Aviv, auf der stand: »Öfter hast Du nicht geschrieben! Dir möcht ich beibringen Familiensinn! Deine Dich liebende Tante Lia.«

Robert Menasse
Don Juan de la Mancha

Kafka: Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung

978-3-8321-8102-4 Eine kleine Auswahl von Kafka-Texten, vom einzelnen Satz bis zur knapp 30-seitgen Erzählung. Das Wichtige sind aber weder die Texte selbst (sie folgen der Kritischen Ausgabe bei S. Fischer), noch ihre Zusammenstellung, sondern die Illustrationen von Nikolaus Heidelbach, einem der spannendsten Illustratoren unserer Zeit. Allein für das Blatt zu dem Kafka-Satz »Tanzt ihr Schweine weiter; was habe ich damit zu tun?« lohnt die Anschaffung des Buches!

Frank Kafka: Gelegenheit zu einer kleinen Verzweiflung. Ausgewählt und illustriert von Nikolaus Heidelbach. Köln: Dumont, 2009. Leinenrücken, Kunstdruckpapier, Fadenheftung, Lesebändchen, 120 Seiten. 19,95 €.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte

978-3-406-58663-7 Der Band entstammt der Reihe der Oxford University Press A Very Short Introduction, aus der hier zuletzt Bände von Leofranc Holford-Strevens und Harry Sidebottom vorgestellt wurden. Nicholas Boyle ist in Deutschland bekannt durch seine großangelegte, bislang aber fragmentarisch gebliebene Goethe-Biografie. Seine Kleine deutsche Literaturgeschichte zielt wohl in der Hauptsache auf Studenten des Blütenfachs Germanistik an englischen und amerikanischen Universitäten. Es ist daher verständlich, dass Boyle einen bedeutenden Teil des Bändchens darauf verwendet, die historischen und sozialen Bedingungen zu vermitteln, unter denen die deutsche Literatur entstand. Dabei werden die Literaturen Österreichs und der Schweiz in kurzen getrennten Kapiteln behandelt, die allein vom Umfang her nur als ungenügend bezeichnet werden können.

Aber auch die im engeren Sinne deutsche Literatur wird in einer so abstrakten und oberflächlichen Weise vorgeführt, dass bezweifelt werden darf, ob das Buch überhaupt jemandem einen angemessenen Eindruck der deutschen Literatur vermittelt. So führt Boyle etwa die wichtigen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, die sich heute in der deutschen Literatur als wirksam zeigen, ausschließlich auf einen Konflikt innerhalb des bürgerlichen Lagers zurück: Hier habe es einen gesellschaftlichen Gegensatz von Staatsbeamten einerseits, die eine rationalistische Aufklärung betrieben hätten, und einer bürgerlich-liberale Aufklärung andererseits gegeben. Eine solche Dichotomie, die als hauptsächliches Erklärungsmuster Boyles bis ins 19. Jahrhundert hinein dienen muss, greift für die komplexe Lage des geistigen Umbruchs im 18. Jahrhundert offenbar zu kurz. Sie negiert, dass sich die Emanzipation des Bürgertums gegen eine höfisch geprägte Kultur mit zahlreichen aufklärerischen Bestrebungen kreuzt und auf diese Weise die unterschiedlichsten Position hervorbringt. Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts etwa als »Demontage der christlichen Heiligen Schriften« zu charakterisieren, beweist ein grundlegendes Unverständnis für bedeutende Teile der deutschen Aufklärung, zu deren Hauptforce neben Lessing auch Kant gehörte. Während sich diese deutschen Aufklärer einem französischen Projekt der Ersetzung des Christentums durch einen Kult der Vernunft gegenübersahen, versuchten sie selbst zu zeigen, dass sich Vernunft und ein Kernbestand an göttlicher Offenbarung nicht widersprachen, sondern als einander ergänzend gelesen werden konnten.

Als ebenso fragwürdig muss der Versuch angesehen werden, die Romantik in eine kritisch-fortschrittliche und eine »preußisch-eskapistische« aufteilen zu wollen. Die Behandlung Tiecks, Hoffmanns und Eichendorffs als Vertreter letzterer Richtung, die auf nicht mehr als 1½ Seiten geschieht, wird weder deren Einzelwerken noch deren Entwicklung innerhalb der Romantik in irgendeiner Weise gerecht.

Da sich Boyle nicht nur der Belletristik widmet, sondern sich immer auch Ausflüge in die Philosophie erlaubt, lässt sich leicht denken, dass man eine Rezension des Bändchen allein mit der Aufzählung all jener Schriftsteller füllen könnte, die Boyle nicht einmal erwähnt. Wenn dem wenigstens eine empathische und sinnvermittelnde Behandlung der erwähnten Werke gegenüberstünde, so wäre dies verzeihlich. Da Boyles Darstellung aber abgehoben und akademisch bleibt, ist das Buch für deutsche Leser überflüssig, und für die englischsprachige Welt ist seine Existenz nur zu bedauern.

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München: C. H. Beck, 2009. Pappband, 272 Seiten. 17,90 €.

Zum Tod von Gert Jonke

Höhepunkt und Abschluß des Programmes bildete der sogenannte »Seiltanz«. Die tüchtigen zwei Gehilfen hatten schon vor Beginn der Veranstaltung ein Seil von der Spitze eines Baumes über den Dorfplatz zur Spitze des gegenüberstehenden Baumes gespannt, etwa acht Meter (!) über dem Boden. Der Künstler stieg auf den Baum, erreichte die Höhe des Seiles, stellte sich regelrecht auf das Seil und begann, langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, am Seil in der Luft (!) den Dorfplatz zu überqueren. Der Ast des einen Baumes, an dessen Spitze das Seil angebunden war, wurde durch das Gewicht des Künstlers so stark belastet, daß er brach, und das Seil mit ihm zu Boden sauste.

Der Künstler hatte sich zu diesem Zeitpunkt in der Luft über dem Brunnen befunden, und unser Meister fiel auf solche Art und Weise vom Himmel, daß – keiner hätte es auch nur im entferntesten für möglidi gehalten – sein Rücken genau auf der Stange der Brunnenwinde aufkam, und dadurch seine Wirbelsäule genau in der Mitte (!) entzweibrach, so daß sein Körper vollkommen abgeknickt über dem Brunnen baumelte. Die Leute waren begeistert, bedankten sich mit enthusiastischem Applaus und brachen in frenetische Beifallskundgebungen aus. Allgemein bewundert und auf lebhafteste Weise diskutiert und kommentiert wurde auch die stille Bescheidenheit und Zurückhaltung des Künstlers. Endlich wieder einmal einer, der es kraft seiner edlen Herzensbildung, seiner ergreifenden Lebensweisheit und seines trefflichen und hintergründigen Humors nicht nötig hat, jenen linksfreundlichen, negativen, modernistischen Tendenzen zu huldigen, mit Hilfe derer gewisse subversive Elemente unter dem verhängnisvollen und falschen Deckmantel »Kunst« die natürliche Ordnung, die gesunde Disziplin und das einfache Empfinden der Bevölkerung untergraben möchten; aber es wird nicht gelingen, denn, wie wir sehen, es gibt noch Leute mit Rückgrat und Charakter, die dem Publikum aus tiefster Seele sprechen, das Herz auf dem rechten Fleck haben und wissen, wo der Pfeffer wächst, und wo man die Kirschen holt. Es muß unbedingt auch noch erwähnt werden, daß der Künstler sein Programm vollkommen frei aus dem Kopf (!), auswendig und ohne die Verwendung einer Vorlage bewältigte, was einmalig dastehend auf einsamer Höhe eine kolossale und geradezu phänomenale Gedächtnisleistung darstellt.

Gert Jonke
Geometrischer Heimatroman