Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen

Nabokov-Bastardzeichen„Das Bastardzeichen“ erschien nach einer längeren Pause im Schreiben Vladimir Nabokovs erst 1947 in den USA. Nach „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ (1941) hatte Nabokov nur als Auftragsarbeit seine Kurzeinführung zu „Nikolaj Gogol“ geschrieben, ansonsten war er damit beschäftigt gewesen, als Entomologe, Lehrer für Russisch und Dozent für zeitgenössische Literatur seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit „Bend Sinister“, wie der Text im Original heißt, kehrt er ab dem Herbst 1942 zur fiktionalen Prosa zurück.

Der Roman schließt in einem gewissen Sinne an „Einladung zur Enthauptung“ (1936) an: Auch hier bildet den Hintergrund der Fabel ein fiktives totalitäres System, das Züge sowohl des Sowjetstaates als auch des Dritten Reiches trägt. Protagonist ist der international berühmte Philosophieprofessor Adam Krug, der zu Beginn des Romans den überraschenden Tod seiner erkrankten Ehefrau erleben muss. Krug bleibt mit seinem kleinen Sohn zurück, dem er den Verlust der Mutter so lange wie möglich zu verheimlichen sucht. Zugleich versucht er nach Kräften, den politischen Umsturz in seinem Land zu ignorieren: Ein Schulkamerad Krugs, Paduk, genannt „Die Kröte“, hat mit seiner Partei des durchschnittlichen Menschen die Macht an sich gerissen und lässt umfangreich Verhaftungen vornehmen, die zuerst nur den Bekanntenkreis Krugs betreffen. Solange es noch problemlos möglich wäre, aus dem Land zu fliehen, weigert sich Krug dies zu tun, weil dies hieße, die Realität und Relevanz der politischen Welt anzuerkennen. Auch weigert er sich, für die Universität beim neuen Diktator vorstellig zu werden, ja, als er diesem schließlich mit sanftem Nachdruck vorgeführt wird, weigert er sich ebenso strikt, die Stelle des Rektors einer neuen Staatsuniversität zu übernehmen. Und als er schließlich wenigstens in seinen Träumen bereit ist, eine Flucht zu unternehmen, ist es zu spät: Krug wird verhaftet und in einer sich immer weiter zuspitzenden, alptraumhaften Sequenz der staatlichen Willkür zugeführt.

Das wesentliche erzählerische Mittel des Romans ist die Abfolge von Real- und Traumsequenzen, die, wie auch bereits in „Einladung zur Enthauptung“, nahtlos ineinander übergehen; nur von Zeit zu Zeit wird das Ende einer zu realistisch geratenen Traumsequenzen durch das Erwachen des Träumers markiert. Pointe dieser Technik ist hier allerdings, dass die letzte Sequenz des Buches, die die reale Vernichtung Krugs und seines Sohnes vorführt, alle Träume und Alpträume zuvor an Wahn übersteigt. Die totalitäre Wirklichkeit der Durchschnittsmenschen kann mit keiner Phantasie des Philosophen Schritt halten.

Die Leidenschaft, die der Autor offensichtlich in die Verdammung eines fiktiven Totalitarismus investiert, erklärt sich natürlich problemlos aus der Biographie Nabokovs, der aus Deutschland gleich zum zweiten Mal vor einer unmenschlichen Diktatur in eine Fremde und eine andere Sprache zu fliehen gezwungen war. Doch dem heutigen Leser mag es nicht unbedingt leicht fallen, sich auf diese Leidenschaft einzulassen, denn nicht nur sind Nabokovs Bilder der Gewalt gealtert, auch das Metaphernpaar Realität/Traum wirkt etwas zu abgegriffen und flach, um dem Grauen der Gewalt im 20. Jahrhundet gerecht zu werden. Das Schlimmste war es eben nicht, dass ein berühmter Philosoph und ein kleines Kind umgekommen sind, sondern das wahre Grauen lag ganz woanders; aber das konnte Nabokov kaum erahnen, als er das Buch schrieb.

Darüber hinweg trösten kann man sich vielleicht mit jenem Kapitel, indem sich Nabokov über einige Shakespeare-Deuter des 19. Jahrhunderts lustig macht, oder auch mit jener Passage, in der er eine Reihe unzusammenhängender Fakten als Notizen Krugs für einen Essay ausgibt, deren Zusammenhang allerdings nicht einmal mehr Krug noch zu durchschauen weiß.

Es mag auch sinnvoll sein, wenigstens einen Hinweis zu dem etwas kryptischen Titel zu geben: „Bend Sinister“ ist ein Fachbegriff aus der Heraldik, der auf Deutsch Bastardbalken oder Bastardfaden heißt und in Wappen dazu dient, den unehelichen Zweig eine Familie kenntlich zu machen. Wer allerdings in diesem Roman aus welchen Gründen der Bastard ist, wird jeder Leser mit sich selbst ausmachen müssen.

Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VII. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 23,– €.

Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist.

Novalis-Ofterdingen

Angeregt durch die erneute Lektüre von Heinrich Heines „Die romantische Schule“ habe ich auch den Band Novalis wieder einmal aus dem Schrank genommen. Novalis war mir zum ersten Mal zu Schulzeiten bei der Lektüre von Hesses „Der Steppenwolf“ begegnet, der den hübschen Aphorismus zitiert „Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, bis sie es können“, in das er seinen Harry Haller zudem noch ein gänzlich unnötiges „als“ einschmuggeln lässt. Damals habe ich zum ersten Mal versucht, den „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu lesen, ihn aber bald zur Seite gelegt. In den kleinen „Fragmenten“ war das eine oder andere Anregende zu finden, aber der „Ofterdingen“ war mir zu phantastisch und ziellos in seinem Erzählen. Während des Studiums habe ich die gesamte Erzählung dann als Pflichtlektüre hinter mich gebracht, ohne dass davon bis heute viel mehr geblieben wäre als eine sehr vage Erinnerung an eine märchenhafte Reise- und Liebesgeschichte.

Novalis-Werke

So war ich gespannt, was mir begegnen würde, doch ich muss eingestehen, dass es mir auch diesmal – mit dem Abstand von vielen Jahren und einem ungleich größeren Wissen über die Romantik als Stil- und historische Epoche – nicht gelungen ist, das Buch mit wirklichem Vergnügen zu lesen. Der erste Teil, der den Hauptteil des Fragment gebliebenen Romans ausmacht, ist im Wesentlichen genau das, was ich erinnert habe: Der gerade erwachsen gewordene Heinrich reist zusammen mit seiner Mutter von Eisenach aus zu deren Vater nach Augsburg. Man schließt sich zu diesem Zweck einer Gruppe reisender Kaufleute an, mit denen der bis dahin als Gelehrter erzogene Heinrich einige altkluge Gespräche führt. Man tauscht Lieder und Geschichten aus, entdeckt unterwegs einen Einsiedler in einer Höhle, in dessen Büchern einem der junge Heinrich auf geheimnisvolle Weise sein zukünftiges Leben vorgebildet findet. All dies dient wahrscheinlich zur Vorbereitung des zweiten Teils, von dem dann nur der Anfang niedergeschrieben wurde.

In Augsburg angekommen, lernt Heinrich nicht nur seinen Großvater kennen, er trifft bei ihm auch gleich eine der Figuren aus dem Buch des Einsiedlers, den Dichter Klingsohr, der ihn sofort als Schüler unter seine Fittiche nimmt und ihn mit seiner Tochter Mathilde verheiratet. Auch Klingsohr und Heinrich führen wieder jene künstlichsten Gespräche, die in ihrer Abstrusität nur vom Geturtel der beiden Liebenden Mathilde und Heinrich noch übertroffen werden. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein von Klingsohr einer Abendgesellschaft vorgetragenes Märchen, eigentlich nichts als eine leere Allegorie, die Tiefe vorspiegelt, jedoch kaum liefert.

Dieses Märchen, das sicherlich nicht zufällig an Goethes „Das Märchen“ (1795) erinnert, dient der Vorbereitung des ganz und gar auf jeglichen Realismus verzichtenden zweiten Teil, von dem nur wenige Seiten des Anfangs niedergeschrieben wurden. Hier begegnet uns Heinrich als Pilger wieder, ohne dass der Leser in der Lage wäre, eine auch nur ungefähre zeitliche Relation zum Geschehen des ersten Teils herzustellen, die über die Feststellung hinausginge, dass Heinrich erheblich gealtert ist. Er scheint Mathilde auf eine nicht näher erklärte Weise verloren zu haben, wandert durch einen Wald irgendwo in der Umgebung Augsburgs, trifft dort auf eine geheimnisvolle Figur mehr, mit der noch weitere abgehobene Gespräche geführt werden, bis ein gnädiges Schicksal dem Schwätzen ein Ende macht. Ergänzt wird der Text Novalis’ traditionell durch einen editorischen Nachbericht des ersten Herausgebers Ludwig Tieck, der aus Erinnerungen an Gespräche mit dem Dichter und aus dessen nachgelassenen Papieren die weitere Handlung rekonstruiert, die umfangreiche phantastische Fahrten an wirkliche und erfundene Örtlichkeiten und sicherlich ausgiebiges weiteres Geschwätz präsentiert hätte. Tieck bedauert sehr, dass der Literatur dieses Werk der reinsten Phantasie verloren gegangen ist; ich kann dem nur in einem sehr abstrakten, poetologischen Sinne zustimmen, wirklich teilen kann ich dieses Bedauern nicht.

Es ist sicherlich überflüssig, sich über Novalis’ phantastisches und im Detail anachronistisches Mittelalter lustig zu machen, in dem Wanduhren ticken und was der Späße mehr sind. Auch Tieck weist in seinem Nachbericht schon darauf hin, dass es dem Autor nicht um ein auch nur wahrscheinliches Abbild des Lebens des historisch ohnehin nicht greifbaren Heinrich von Ofterdingen gegangen ist. Das von Novalis vorgeführte Mittelalter des 13. Jahrhunderts ist schnell als ein ideal überhöhtes 18. Jahrhundert zu durchschauen, das nur dazu dient, in seiner Schlichtheit die Folie für Novalis’ idealen Dichter zu liefern. Ärgerlicher sind aber vollständig von jeglicher menschlichen Wirklichkeit abgehobene Stellen wie etwa diese:

„Der Krieg überhaupt“, sagte Heinrich, „scheint mir eine poetische Wirkung. Die Leute glauben sich für irgendeinen armseligen Besitz schlagen zu müssen, und merken nicht, daß sie der romantische Geist aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch sich selbst zu vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poesie, und beide Heere folgen einer unsichtbaren Fahne.“
„Im Kriege“, versetzte Klingsohr, „regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der geht geradezu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in die Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.“

Wollen wir hoffen, dass wir in diesem Urgewässer nie werden baden müssen!

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Werke und Briefe. Hg. von Rudolf Bach. Leipzig: Insel, 1942. S. 113–292. Flexibler Leinenband, Fadenheftung, Dünndruckpapier. (Bücher dieser Art werden heute nicht mehr hergestellt.)

Selbstverständlich ist der Text in diversen Ausgaben lieferbar und auch online verfügbar.

Vladimir Nabokov: Die Gabe

Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und obendrein dumm wie Beton.

Nabokov-Gabe„Die Gabe“, entstanden in den Jahren 1933 bis 1938 in Berlin und an der Côte d’Azur, ist der letzte Roman, den Nabokov auf Russisch schrieb. Er ist auch so etwas wie ein erster Abschluss seiner Aus­ein­an­der­set­zung mit der russischen Immigranten-Szene Berlins, in der Nabokov von 1922 bis 1937 gelebt hatte. Zudem ist es der bis dahin literarischste Roman Nabokovs, da sein Protagonist ein junger russischer Schriftsteller ist und die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eine der thematischen Ebenen des Romans bildet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Grafen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, der zu Anfang des Romans gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Er lebt in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als russischer Exilant in Berlin; seine Mutter und Schwester sind in Paris, sein Vater, ein berühmter For­schungs­rei­sen­der, ist auf seiner letzten Expedition verschollen und muss für tot gehalten werden. Seine sozialen Kontakte sind auf einen kleinen Kreis von Immigranten beschränkt, darunter auch einige Schriftsteller, die wie er selbst mit der kärglichen Bedingungen des Exils zurechtkommen müssen. Handlung hat das Buch nur wenig: Nach einer Zeit der Untätigkeit beginnt Godunow-Tscherdynzew die Biographie seines Vaters zu verfassen, gibt dieses Projekt aber nach einigen Monaten wieder auf, um stattdessen die Biographie Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis (1828–1889) zu schreiben. Nabokov lässt es sich nicht nehmen, diese Biographie im 4. Kapitel des Romans auf knapp 150 Seiten vollständig wiederzugeben. Das Buch wird ent­ge­gen der Intention ihres Verfassers weithin als Parodie oder sogar als Satire auf das Leben des frühen russischen Revolutionärs verstanden, weshalb Godunow-Tscherdynzew zuerst einige Schwierigkeiten hat, einen Verlag für das Buch zu finden; als es dann doch erscheint, wird es rasch zum Zentrum eines Sturms im Wasserglas der russischen Exil-Literatur.

Unterdessen hat sich der Protagonist verliebt: Sina, die Stieftochter seines neuen Vermieters, trifft sich täglich mit ihm zu Spaziergängen durch das abendliche Berlin. Sie unterstützt ihn bei der Arbeit an der Biographie, wahrscheinlich aber auch finanziell – sie arbeitet als Schreib­kraft bei einem Rechtsanwalt und gibt Fjodor zumindest ein­mal eine hohe Summe, damit er die ausstehende Miete bei ihren Eltern bezahlen kann. Dass das Paar füreinander bestimmt ist, macht Nabokov im letzten Kapitel klar, als er die Eltern Sinas nach Kopenhagen ziehen lässt; auf den letzten Seiten gehen die beiden Liebenden zur nun leeren Wohnung zurück, um ihre erste Liebesnacht miteinander zu ver­brin­gen. Nabokov wäre allerdings nicht Nabokov, wenn er für die beiden nicht noch eine kleine, böse Überraschung vorbereitet hätte, die am Ende aber unerzählt bleibt.

Das Buch ist sicherlich für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser. Besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie in Kapitel 4 sind etwas zäh; dagegen ist die von Na­bo­kov detailliert vorgeführte Rezeption des Buches eine hübsche Parodie auf Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, die sich bis heute nicht groß geändert haben. Erwähnt werden sollte wohl noch, dass Nabokov auch in diesem Buch mit den Grenzen zwischen Phantasie und Realität spielt: An zahlreichen Stellen des Buches geht die Wahrnehmung des Helden nahtlos in eine seiner Phantasien über; auch Träume spielen wieder eine bedeutende Rolle im Text.

Alles in allem ein routinierter Künstlerroman, der viel von der li­te­ra­ri­schen Kultur der russischen Exilanten in Berlin widerspiegelt; zugleich handelt es sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der rus­si­schen Literaturszene, sowohl der des 19. Jahrhunderts als auch der Opposition zwischen den revolutionär orientierten und den kon­ser­va­ti­ven Kräften des Exils. Die deutsche Übersetzung beeindruckt be­son­ders durch die Übersetzungen der Gedichte des Protagonisten, bei denen der Übersetzerin das nicht kleine Kunststück gelingt, einen halb originellen, halb eklektizistischen Tonfall zu erzeugen.

Vladimir Nabokov: Die Gabe. Deutsch von Annelore Engel-Braunschmidt. Gesammelte Werke V. Reinbek: Rowohlt, 42001. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 795 Seiten. 30,– €.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung

Ich brauche wenigstens die theoretische Möglichkeit, daß ich einen Leser habe, sonst könnte ich das eben­so­gut alles zerreißen.

Nabokov_Enthauptung

„Einladung zur Enthauptung“ ist ein kurzer Roman, den Nabokov 1934 in Berlin sozusagen zwischendurch geschrieben hat: Seine Niederschrift unterbrach die des deutlich umfangreicheren Romans „Die Gabe“. Erzählt werden die letzten Tage des Gefangenen Cin­cin­na­tus, der zu Anfang des Buches als soeben zum Tode Verurteilter in seine Zelle zurückkehrt. Cin­cin­na­tus ist offenbar Opfer eines totalitären Regimes, das ihn wegen eines Persönlichkeitsverbrechens verurteilt hat: Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern erscheint Cincinnatus als eine opake Person, die sich an den unter seinen Mitmenschen verbreiteten Aktivitäten und Ver­gnü­gun­gen nur ungern beteiligt.

Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als vierzehn Tage, in denen Cincinnatus auf seinen Hinrichtung wartet. Der Roman enthält ein selbst für die Grundkonstellation sehr reduziertes Personal: Ein Wächter, der Gefängnisdirektor, dessen Tochter Emmi, ein Rechts­an­walt, ein vorgeblicher Mitgefangener, der sich aber bald als der Henker herausstellt, eine Spinne sowie Cincinnatus vorgebliche Mutter und seine Ehefrau bilden im Wesentlichen das Personal. Der Text ufert hier und da ins Phantastische aus und lässt die Grenze zwischen einer ohnehin nur pseudorealistischen und einer Traumwelt immer wieder verschwimmen.

Es ist verführerisch einfach, den Roman als eine Kritik an der Ideologie und am Menschenbild der jungen Sowjetunion zu lesen, die, wie wohl alle totalitären Staaten, grundsätzlich ein stärkeres Interesse an gut funktionierenden Bürgern hatte, die sich ohne Rest in die Ansprüche und Bedürfnisse des Staatswesens eingliedern lassen, als an in­di­vi­du­el­len Charakteren. Dass Nabokov einen Einzelgänger und Eigenbrötler imaginiert, der allein aufgrund seines Charakters gleich zum Tode verurteilt wird, ist eine verständliche Zuspitzung dieses staatlichen Anspruches. Es mag auch sein, dass er vergleichbare Züge auch im Deutschland des Jahres 1934 erkannt hat, doch fehlen im Text jegliche Hinweise auf nichtrussische Verhältnisse.

Ein solche Deutung wäre nicht falsch, würde die Reichhaltigkeit des Textes aber klar un­ter­lau­fen. Wie immer interessieren Nabokov weit mehr Formen der Ge­fan­gen­schaft als diese eine: Die Gefangenschaft in Ehe und Familie, im Körper, in der Zeit und die der Sexualität spielen eine zumindest ebenso große Rolle wie die durch Staat und Gesellschaft.

Insgesamt ist der Roman etwas abstrakt geraten und erinnert – auch wenn sich Nabokov im Vorwort der späteren englischen Ausgabe dagegen verwehrt – unweigerlich an Kafkas Welten. Die be­schrie­be­ne Wirklichkeit bleibt eher undeutlich und kann allein von daher sehr vielfältig ausgedeutet werden. Das Ende wiederum, das die ab­schlie­ßen­de Hinrichtung eher auflöst als durchführt, erinnert stark an „Die Mutprobe“, so dass dieser kleine Roman am Ende als eine Variation bereits bekannter Themen Nabokovs erscheint: der gefangene Autor und sein Entkommen ins Reich der Phantastik.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke IV. Reinbek: Rowohlt, 22003. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 267 Seiten. 22,– €.

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw

Stein-Alphabet-3Der erste Roman von Benjamin Stein, der 1995 beim Ammann unter dem Titel „Das Alphabet des Juda Liva“ erschienen war, wird nun in einer sprachlich komplett überarbeiteten Neuausgabe erneut vorgelegt. Es handelt sich um einen phantastischen Roman in der Traditionslinie von E. T. A. Hoffmann, Michail Bulgakow, Gustav Meyrink und Karel Čapek. Die Handlung ist in der Hauptsache in Berlin und Prag angesiedelt, aber auch Wien kommt drin vor. Den erzählerischen Rahmen bildet die Begegnung des Ich-Erzählers mit dem anscheinend etwas aus der Bahn geratenen Jacoby, der sich eines Abends in einem Lokal an den Tisch des Erzählers setzt und sich ihm als Erzähler anbietet, der ihn und seine Ehefrau einmal pro Woche abends mit einer Geschichte unterhalten will.

Die Kern-Erzählung setzt allerdings erst mit dem Tod Jacobys ein, den dieser per Telegramm aus einer Irrenanstalt heraus ankündigt. Jacoby vermacht seinen Gastgebern testamentarisch eine Reihe von Tonband- und Videoaufzeichnungen, die die Fortsetzung seiner Geschichte enthalten, was den Erzähler dazu bringt, seinen Beruf aufzugeben und der Schriftsteller der Erzählung Jacobys zu werden.

Erzählt wird die ebenso ausschweifende wie phantastische Geschichte von Großmutter, Mutter und Tochter Marková und ihrer Liebhaber, von denen sie in schöner Reihe in der ersten und jeweils einzigen Liebesnacht geschwängert werden, wonach sich die Herren alle im Handumdrehen aus dem Staub machen, verfolgt vom durchaus nicht harmlosen Fluch ihrer Geliebten. Nach viel zu kurzer Schwangerschaft bringen die Mütter jeweils eine Tochter zur Welt, mit der es offenbar eine mehr als irdische Bewandtnis hat. Jacoby wird in diese Geschichte verwickelt, da er mit Alex Rottenstein, dem Liebhaber von Eva, der Jüngsten der Markovás, befreundet ist. Von der komplexen Fabel hier mehr nachzuerzählen, ist ganz unnötig; überhaupt gilt für das Buch, dass der Leser sich seinem lebendigen und verwickelten Gang schlicht anvertrauen sollte, um alle seine Wunder und Zeichen kennen zu lernen. (Wem die Beziehungen der Figuren allerdings über den Kopf zu wachsen drohen, der findet auf der Webseite des Autors eine kleine, interaktive Hilfe-Stellung.)

Das Buch ist nicht nur aufgrund seiner stofflichen Fülle für einen Erstling erstaunlich, sondern überzeugt auch durch die Beherrschung der phantastischen Erzähltradition, die auf ganz natürlich Weise mit Motiven und Mythen der jüdischen Kultur durchflochten wird. Wie auch bei den späteren Büchern Steins entsteht aus diesen Traditionslinien ein durch und durch außergewöhnlicher und origineller Text.

Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher Verlag, 2014. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 286 Seiten. 24,– €.

Valdimir Nabokov: Die Mutprobe

Die Aussicht, weitschweifige seichte Werke und ihren Einfluß auf andere weitschweifige seichte Werke zu untersuchen, reizte ihn nicht.

nabokov_werke_02Dieser 1930 unmittelbar im Anschluss an »Der Späher« auf Russisch geschrieben Roman macht lange Zeit den Eindruck eines konventionellen modernen (man entschuldige dieses in der Sache begründete Oxymoron) Entwicklungsromans: Erzählt werden die Jugend- und frühen Erwachsenenjahre des russischen Exilanten Martin Edelweiß (der seinen Namen Schweizer Vorfahren verdankt), der nach der Trennung der Eltern und dem Tod des Vaters mit der Mutter nach Westeuropa zieht, in Cambridge Irgendwas studiert, sich in Sonja, die Tochter einer anderen Exil-Familie verliebt, die aber nichts von ihm wissen will, und schließlich aus unklaren Gründen illegal nach Russland zurückkehrt und dort verschwindet. Eine oberflächliche Lektüre könnte dem Verdacht Vorschub leisten, dass Nabokov hier zur erzählerischen Harmlosigkeit seines ersten Romans »Maschenka« zurückkehrt.

Der Roman fällt allerdings durch zwei Eigenschaften auf: Zum einen wird die oft stagnierende Handlung durch sehr exakte atmosphärische Schilderungen aufgewertet, zum anderen wird das Verschwinden des Protagonisten nicht nur von langer Hand vorbereitet, sondern es wird auch als Verschwinden in eine phantastische, artistische Wirklichkeit dargestellt, was den vorherrschenden realistischen Ton des Romans komplett diskreditiert. Bereits als Kind träumt Martin davon, in dem Landschaftsbild über seinem Bett zu verschwinden, in dem er dem dort dargestellten Waldweg folgt, und Nabokov lässt für den aufmerksamen Leser wenig Zweifel daran, dass Martins letzter Weg ihn in das mit der von ihm geliebten Sonja zusammen erfundene Soorland führt. Dieser Übergang ins Phantastische ist allerdings auch das einzige, was sich vernünftigerweise mit dem durch und durch unpraktischen und weltfremden Martin anfangen lässt.

Der Roman ist alles in allem ganz nett zu lesen und wegen seines romantischen Gegenspiels unter scheinbar realistischer Flagge reizvoll. Am Ende wird ihn der Leser aber wahrscheinlich doch ein wenig enttäuscht zur Seite legen, denn der ästhetische Gewinn des artistischen Spiels fällt für die gut 300 Seiten doch ein wenig dünn aus.

Vladimir Nabokov: Die Mutprobe. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 327 (von 777) Seiten. 29,– €.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita

bulgakow_meisterMichail Bulgakow ist 1940 gestorben, so dass sein Werk zu Anfang des vergangenen Jahres gemeinfrei geworden ist. Nun legen Alexander Nitzberg und der Berliner Galiani Verlag, die mir zuletzt mit der inzwischen abgeschlossenen Ausgabe der Werke von Daniil Charms Vergnügen gemacht haben, eine Neuübersetzung von Bulgakows Hauptwerk »Meister und Margarita« vor. Da es noch nicht so sehr lange her ist, dass ich die alte Übersetzung von Thomas Reschke gelesen habe, habe ich mich bei der Neuausgabe vorerst auf Stichproben beschränkt.

Nitzbergs Übersetzung muss wohl als flott bezeichnet werden: Gleich aus den ersten drei grammatikalisch wohlgegliederten Sätzen Bulgakows macht Nitzberg ein parataktisches Prosageknatter von neun Sätzen, von denen einige nicht einmal ein Verb aufweisen können. Auf der zweiten Seite wird ein Satz des Dichters Besdomny dem Redakteur Berlioz zugeschustert. Bei jeder Gelegenheit wählt Nitzberg (im Vergleich zu Reschke) den knalligeren, lauteren, auffälligeren Ausdruck. In Ermangelung von nennenswerten Russischkenntnissen kann ich nicht beurteilen, wie weit Nitzbergs Entscheidungen vom Original gedeckt werden, aber ich habe den Verdacht, dass Bulgakow hier durch die Mühle eines Übersetzers gedreht wurde, der seinen Stil zuletzt auf einen Manieristen wie Charms eingerichtet und nicht ausreichend nachjustiert hat.

Den deutschen Leser muss nicht unbedingt interessieren, ob er eher eine Übersetzung oder eine Bearbeitung liest, wenn sich nur beim Lesen das erwartete Vergnügen einstellt. Und dafür ist Bulgakows »Meister und Margarita« allemal gut.

Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Berlin: Galiani 2012. Bedruckter Pappband, Leinenrücken, Lesebändchen, 604 Seiten. 29,99 €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3

Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären …

Strugatzki_Werke_3Der Band versammelt fünf Erzählungen, darunter zwei Romane. Zur Werkausgabe insgesamt ist bereits bei der Besprechung des ersten Bandes etwas gesagt worden, das hier nicht wiederholt werden muss.

»Die Schnecke am Hang« (entstanden 1965) erzählt zwei paralelle Handlungen, die auf einem nahezu gänzlich von Wald bedeckten Planeten spielen. Hintergrund der beiden Handlungsstränge bilden einerseits die von Menschen zum Zweck der Ausbeutung errichtete sogenannte Verwaltung, andererseits die Welt der Eingeborenen des Planeten, die sich wenigstens äußerlich von den Erdenmenschen nicht groß zu unterscheiden scheinen. Protagonist des in der Verwaltung spielenden Handlungsstrangs ist der Philologe Pfeffer, den es wohl aufgrund einer existenziellen Sehnsucht auf den Planeten verschlagen hat. Er hatte sich offenbar eine Art Erleuchtung von der Begegnung mit dem Wald erhofft, ist aber inzwischen angesichts der Absurdität der Anstrengungen der Verwaltung frustriert und möchte den Planeten wieder verlassen. An seinen vergeblichen, oft wie traumhaft wirkenden Bemühungen fortzukommen, offenbaren sich die Desorganisation und Ziellosigkeit aller Tätigkeiten der Verwaltung.

Im zweiten Handlungsstrang steht der Pilot Kandid im Zentrum. Er ist vor längerer Zeit mit seinem Helikopter über dem Wald abgestürzt und von Eingeborenen gefunden und gesund gepflegt worden. Kandids Ziel ist es, zur irdischen Verwaltung zurückzukehren, doch da die Eingeborenen, bei denen er lebt, nicht mehr als die nächste Umgebung ihres Dorfes einigermaßen kennen und den Wald fürchten, ist dies leichter gesagt als getan. Kandid macht sich trotz dieser Schwierigkeit zusammen mit einer eingeborenen Frau auf den Weg zur sogenannten Stadt, von der aus er den weiteren Weg zu finden hofft. Während er unterwegs ist, kommt er wenigstens zu einem rudimentären Verständnis der sozialen Struktur des Planeten: Offenbar existieren zumindest zwei verschiedene menschliche Spezies auf dem Planeten, eine hochentwickelte, rein weibliche, sich parthenogenetisch fortpflanzende, telepathisch begabte, die sich offenbar in einer Art Kriegszustand entweder untereinander oder mit einer weiteren Spezies befindet, und jene unter primitivsten Umständen existierende, die Kandid gerettet haben. Die erste scheint eine evolutionäre Weiterentwicklung der zweiten darzustellen. Zwar gelingt es Kandid, kurz die Aufmerksamkeit der höher entwickelten Art zu erregen, aber er findet sich doch schließlich in seinem Dorf wieder, wo er wie zu Anfang Pläne schmiedet, zur Stadt zu gelangen.

»Die Schnecke am Hang« wurde von der sowjetischen Zensur offenbar als Satire auf die sowjetischen Verhältnisse verstanden und dementsprechend wurde eine komplette Veröffentlichung des Romans vorerst nicht gestattet. So mussten die beiden Teile zuerst als eigene Erzählungen erscheinen, bevor das Werk 1968 erstmals komplett erscheinen konnte. Der Roman hat deutliche Längen, da er sich über weite Strecken absichtlich in Scheinbewegungen erschöpft, die die Protagonisten zu nichts führen. Die Hinweise darauf, was wirklich vorgeht, sind dünn gesät und drohen unter den albtraumartigen Erlebnissen der beiden Helden verloren zu gehen. So kann etwa vermutet werden, dass die mangelnde Effizienz der Verwaltung und ihr absurdes Abarbeiten an der offenbar nicht zu bewältigenden Aufgabe, den Wald auszubeuten, eine Folge von Interventionen der telepathischen Spezies der Eingeborenen ist; ebenso gut könnten es aber auch Einflüsse der Natur des Planeten selbst sein, die für die Orientierungslosigkeit der Menschen verantwortlich ist. All das und vieles mehr bleibt dem Leser so unklar wie den Menschen auf dem Planeten. Für diese erzählerische Technik scheint der Text zu lang geraten zu sein.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« (1967) ist eine längere Erzählung, die einerseits eine parodistische Fortsetzung von H. G. Wells’ »The War of the Worlds«, andererseits eine milde Satire auf bürgerliche Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Beschränktheit ist. Die Erzählung spielt in einer nicht näher bestimmten Gegenwart offenbar in Griechenland, was allein daran deutlich wird, dass alle Figuren Namen aus der griechischen Mythologie tragen. Das Land – und man darf vermuten der gesamte Planet – wird offenbar von den Marsmenschen erobert, wobei im ganzen Text kein einziger Marsmensch leibhaftig auftritt. Innerhalb kürzester Zeit stellen die Eroberer die Weltwirtschaft auf die Produktion von Magensaft um, dessen Qualität sie durch die Einführung einer neuen, schnell wachsenden, blauen Getreideart beeinflussen. Die Menschen werden weltweit offensichtlich zu einer Art Zuchtvieh umfunktioniert, dem regelmäßig sein Magensaft abgemolken wird.

Erzählt wird all dies aus der Perspektive eines pensionierten Lehrers in einem Dorf, in dem das Leben im Großen und Ganzen ungestört fortgeht. Zwar gibt es kurzzeitig einen Widerstand von vereinzelten Partisanengruppen, doch wird dieser bald von den Menschen selbst niedergeschlagen, da er den reibungslosen Ablauf der neuen Geschäfte mit blauem Getreide und Magensaft stört. Im Gegensatz zu Wells’ großer Schlacht um die Existenz der Menschheit, fügen sich die Menschen hier klaglos in die neuen Verhältnisse. Ihnen ist es ganz gleich, von wem sie beherrscht werden, und solange sie ihr Auskommen haben, sind ihnen auch Marsmenschen recht.

Auch der Roman »Die Last des Bösen« (1988) ist aus zwei Erzählsträngen zusammengefügt. Autor des Tagebuchs, das die Rahmenerzählung bildet, ist der Pädagogik-Student Igor Mytarin, der im Jahr 2033 in der fiktiven Stadt Taschlinsk an seiner Abschluss-Arbeit schreibt und seinen Pädagogik-Lehrer Georgi Analtoljewitsch Nossow tief verehrt, wenn er auch nicht immer einer Meinung mit ihm ist. Nossow hat seinem Studenten ein Manuskript in die Hand gedrückt, das von Ereignissen berichtet, die sich ungefähr 40 Jahre zuvor in derselben Stadt zugetragen haben sollen. Mytarin hält das Manuskript für eine offensichtliche Fiktion, ist sich aber nicht sicher, ob er Nossow die Autorenschaft an der seltsamen Erzählung zuschreiben soll.

Die Rahmenhandlung umfasst nur elf Tage, in denen sich in der Stadt Taschlinsk von offizieller Seite Widerstand gegen eine vor der Stadt lebende Jugendbewegung formiert. Die Jugendlichen verweigern die Teilnahme am bürgerlichen Leben und nehmen sich das vegetative Leben der Pflanzen zum Vorbild ihres Lebensentwurfs. Da immer mehr Jugendliche aus der Stadt zu den »Kindern der Flora« entlaufen, wächst der Druck auf die Stadtverwaltung, etwas gegen die Gruppierung zu unternehmen. So plant man, die Jugendlichen mit Hilfe der Polizei gewaltsam aus dem Stadtbezirk zu entfernen. Der Pädagoge Nossow ist der einzige unter den Honoratioren der Stadt, der sich für die »Kinder der Flora« einsetzt, auch weil – wie wir erst spät im Verlauf des Romans erfahren – sein Sohn einer der Führer der Gruppe ist. Trotz seines engagierten Einsatzes findet die Aktion statt, die selbst aber nicht mehr geschildert wird; jedoch deutet eine Bemerkung im Vorwort des Erzählers an, dass Nossow dabei wahrscheinlich ums Leben gekommen ist.

Das Manuskript im Manuskript, das peu à peu so wiedergegeben wird, wie es Mytarin während der Rahmenhandlung gelesen haben will, erzählt von der Wiederkehr Jesu auf die Erde. Begleitet wird er vom Evangelisten Johannes, der das Schicksal des »ewigen Juden« Ahasver hat übernehmen müssen, nachdem er diesen im Zorn getötet hatte. Er lebt zurzeit unter dem Namen Ahasver Lukitsch und gibt vor, ein Vertreter staatlicher Versicherungen zu sein, kauft aber in Wirklichkeit Menschen ihre Seele für die Erfüllung eines Wunsches ab. Die Binnenerzählung kommt nie bis zu einer Handlung im traditionelles Sinne, sondern gerät mehr und mehr ins Phantastische. Nach dem offensichtlichen Vorbild von Bulgakows »Der Meister und Margarita« wird einmal mehr die Geschichte Jesu und – in der Hauptsache – des Evangelisten Johannes neu erzählt. Der wiedergekehrte Jesus spielt nur eine Nebenrolle; überhaupt bleibt seine Rückkehr zur Erde ohne erwähnenswerte Folgen. In dem Moment, als der junge Nossow in der Binnenhandlung auftritt, bricht die Erzählung unvermittelt ab.

Der Roman ist offensichtlich sowohl eine unmittelbare Reaktion auf die politische Liberalisierung in der Sowjetunion unter Gorbatschow als auch ein Spiel mit der phantastischen Tradition der russischen Literatur. Was die politische Eben angeht, so ist es mehr als verständlich, dass die Strugatzkis die tatsächliche dramatische Entwicklung nicht voraussehen konnten, sondern von einer weit zahmeren gesellschaftlichen Veränderung ausgehen. Dabei steht im Vordergrund, dass das politische Establishment auch weiterhin Störungen der bürgerlichen Ordnung mit massiven Maßnahmen entgegentreten wird. Zugleich befürchten sie das Aufkommen latent vorhandener faschistischer Einstellungen. Der Gegenentwurf Nossows ist eine empathische Menschlichkeit, deren christliche Inspiration angedeutet wird, die sich aber jeder konkreten ideologischen Einbindung verweigert. Der Roman liefert so einen sowohl gesellschaftlich als auch literarisch höchst anspruchsvollen Kommentar zum tagespolitischen Geschehen. Es ist kein Wunder, dass die Brüder trotz den sehr verhaltenen Reaktionen von Kritik und Leserschaft auf diesen Roman sehr stolz waren.

Der Band wird ergänzt von zwei Erzählungen, die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew veröffentlicht wurden, das für eine relativ lange Zeit nicht gelüftet wurde. In »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984) unterhalten sich ein Moskauer Staatsanwalt und ein befreundeter Schriftsteller über einen merkwürdigen Todesfall: Ein älterer Mann, der eine Gruppe jugendlicher Rowdys zurecht weist, wird von einem der Jugendlichen niedergeschlagen und bleibt tot auf der Straße liegen. Bei der Autopsie stellt sich allerdings heraus, dass er Sekunden vor dem Schlag an einem Herzschlag gestorben ist und der Junge nur einen toten Mann geschlagen hat. Im Nachlass des Mannes findet sich ein Schulheft, in dem sein Todesdatum auf die Minute genau vorausgesagt wird. Weitere Befragungen Bekannter des Mannes durch den Staatsanwalt ergeben, dass der Tote wohl sein Leben immer und immer wieder durchleben muss: Nach jedem Tod findet er sich wieder als Jugendlicher nach einer schweren Erkrankung und durchläuft sein Leben erneut, wobei er sich an alle anderen Durchgänge erinnern kann. Die Erzählung ist eine harmlose Variation auf Schauergeschichten, wie man sie allenthalben finden kann.

Die längere Erzählung »Ein Teufel unter den Menschen« (entstanden 1991, jedoch erst 1993, zwei Jahre nach dem Tod Arkadi Strugatzkis veröffentlicht) verbindet eine nicht verwendete Idee für eine Nebenfigur in »Die Last des Bösen« mit der Katastrophe von Tschernobyl, die dabei allerdings nur eine nebensächliche Rolle spielt. Erzähler ist der Arzt Alexej Andrejewitsch Kornakow, der die Geschichte seines Schulfreundes Kim Sergejewitsch Woloschin aufschreibt: Kim, der im Zweiten Weltkrieg zur Waise wird, wächst in ärmlichen Verhältnissen in Taschlinsk auf und macht nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Als sich die Tochter eines Moskauer Journalistik-Professors in ihn verliebt, macht er kurzfristig eine Karriere als Journalist in Moskau, fällt dann aber in Ungnade und durchläuft eine Reihe von Gulags. Nach seiner Entlassung kehrt er zusammen mit seiner Frau nach Taschlinsk zurück, wo sie aber bald verstirbt. Als sich der Unfall in Tschernobyl ereignet, meldet er sich freiwillig als Hilfskraft, allerdings in der Absicht, von den dortigen Verhältnissen anschließend als Journalist berichten zu können.

Aus Tschernobyl zurückgekehrt, erkrankt er an den Folgen der radioaktiven Strahlung, doch stirbt er nicht. Er entwickelt stattdessen die unwillkürliche Fähigkeit, Lebewesen, die seinen Zorn erregen, auf telepathischem Weg zu töten. Nachdem er selbst diese Fähigkeit verstanden hat, gelingt es ihm, sie zu beherrschen und gezielt einzusetzen, was in der kleinen Stadt verständlicherweise zu einiger Aufregung führt. Am Ende verschwindet Woloschin spurlos aus Taschlinsk; in drei kurzen Epilogen versuchen die Strugatzkis, dieser etwas ziellosen Geschichte eine Wendung in eine Satire der Macht zu geben.

Alles in allem ein recht uneinheitlicher Sammelband, dessen Texte literarisch durchaus nicht alle auf gleicher Höhe sind. Inhaltlich und formal herausragend ist ohne Frage der Roman »Die Last des Bösen«, der besonders allen Liebhabern von Bulgakows »Der Meister und Margarita« als dunkles Gegenstück ans Herz gelegt sei.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3. Deutsch von Hans Földeak (Die Schnecke am Hang), Thomas Reschke (Die zweite Invasion der Marsmenschen), Kurt Baudisch (Die Last des Bösen), Edda Werfel (Aus dem Leben des Nikita Woronzow) und Erik Simon (Ein Teufel unter den Menschen). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2012. 897 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Walter Moers: Das Labyrinth der Träumenden Bücher

Hier fängt die Geschichte an.

978-3-8135-0393-7Es ist ein gewagtes Spiel, das Walter Moers mit seinem neuesten Zamonien-Roman treibt: »Das Labyrinth der Träumenden Bücher« setzt die Geschichte aus »Die Stadt der Träumenden Bücher« (2004) fort. Während dort der ich-erzählende Held Hildegunst von Mythenmetz, ein schreibender Lindwurm von der Lindwurmfeste, als junger, unbekannter Autor auf seine erste Aventiure auszieht, so ist er nun, 200 Jahre später, ein arrivierter Bestseller-Lieferant, eingebildet, eitel und dick, der längst des Orms, der zamonischen Quelle aller wahren Inspiration, verlustig gegangen ist. Da reißt ihn ein geheimnisvoller Brief aus seiner selbstzufriedenen Lethargie heraus, und er begibt sich ein weiteres Mal auf die Reise nach Buchhaim, das am Ende des letzten Buches einem verheerenden Feuer zum Opfer gefallen war. Inzwischen wieder aufgebaut, ist es weitgehend zu einer Touristenfalle verkommen, bietet aber auch noch letzte Reste der alten Buchkultur. Hier trifft Hildegunst einige alte Freunde wieder, ja Moers entblödet sich nicht, anlässlich einer Aufführung in einem Puppentheater in aller Breite die Geschehnisse des ersten Romans noch einmal zu erzählen. Als Hildegunst dann endlich wieder an jenem Ort angelangt ist, der, wenigstens dem Titel nach zu urteilen, den Hauptinhalt des Buches liefern sollte, sind die gut 400 Seiten voll fabuliert und das Buch ist aus. In einem kurzen Nachwort vertröstet Moers seine Leser auf den nächsten Band, in dem dann hoffentlich endlich so etwas wie Handlung zu finden sein wird.

Zugeben werden muss, dass das alles nicht ohne Witz gemacht ist: Moers erfindet im Zuge der vollständig anekdotisch bleibenden Fabel in Wort und Bild detailliert die Buchhaimer Kultur, die sich in der Hauptsache um Bücher und Puppentheater dreht. Den Höhepunkt bildet das Unsichtbare Theater, das einzig im Kopf der Zuschauer entsteht und das nichts anderes ist als die Spiegelung dessen, womit Moers am Ende seine Leser allein lässt: Der Held ist angekommen am Ort seiner schlimmsten Ängste, er ist dort allein gelassen und einer ungewissen Zukunft ausgesetzt, alles könnte Inszenierung sein oder auch tödlicher Ernst: Was wird nun geschehen? Die dankbareren unter den Moers-Lesern werden dieses Spiel sicherlich genussvoll mitspielen und nun in Foren und Chats zwei Jahre lang aufgeregt an ihrer jeweils eigenen Fortsetzung spinnen. Weniger dankbare oder auch ältere Leser wie ich werden eher enttäuscht mit den Schultern zucken und sich denken: Was soll schon geschehen? Das was immer geschieht.

Alles in allem ein nettes Buch mit einem etwas enttäuschenden Ende. Noch ist es Walter Moers nicht gelungen, an seinen großen Wurf der »Stadt der Träumenden Bücher« anzuschließen.

Walter Moers: Das Labyrinth der Träumenden Bücher. Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen und illustriert von Walter Moers. München: Knaus, 2011. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 430 Seiten. 24,99 €.

Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pym

Zur Vorbereitung der erneuten Lektüre von Arno Schmidts »Zettel’s Traum« habe ich noch einmal Schmidts Übersetzung des einzigen Romans von Edgar Allan Poe gelesen. Bei einer distanzierten Lektüre erweist sich das Buch als als eine ziemlich dreiste kompilatorische Arbeit, die in ihrem ersten Teil rein um des Effekts willen gegen jede Wahrscheinlichkeit alle möglichen Gräulichkeiten von Schiffsunglücken anhäuft. Die Darstellung ist derartig übertrieben, dass dem Leser der Verdacht kommen könnte, der Autor verfolge parodistische Absichten, wofür im Text allerdings sonst jegliche Anzeichen fehlen. Im zweiten Teil verwandelt sich die Erzählung dann in eine phantastische Entdeckungsreise im antarktischen Meer, bei der die Weißen auf der Insel Tsalal einem in steinzeitlichen Verhältnissen lebenden Stamm begegnen, der sich vorerst als freundlich, später dann aber als mörderische Bande erweist. Der Protagonist und Erzähler entkommt einem Massaker zusammen mit seinem Kameraden Dirk Peters, mit dem er schon die Katastrophe des ersten Teils durchlebt hatte, und treibt schließlich in einem Boot der Eingeborenen auf den Südpol zu. In unmittelbarer Nähe des Pols bricht der Bericht mit dem Auftauchen einer riesigen, weißen Gestalt ab, angeblich da der Erzähler Pym verstorben sei, bevor er die abschließenden Kapitel habe zum Druck befördern können.

Das Buch stellt den Versuch Poes dar, sich in die Reihe erfolgreicher Verfasser von Seestücken einzureihen und selbst ein Stück zu liefern, das nicht nur durch die Beschreibung der Gefahren, Entbehrungen und Gräulichkeiten  einer solchen Reise seine Leser fesselt, sondern das sich auch an die gerade in Mode befindlichen Berichte über Entdeckungen auf dem letzten weißen Flecken des Globus anhängen will. Es ist der letztlich gescheiterte Versuch Poes, einen Bestseller zu schreiben.

Die Übersetzung Arno Schmidts ragt in der deutschen Rezeption des »Pym« allein schon dadurch heraus, dass es sich wohl um die früheste vollständige Eindeutschung des Textes handelt. Schmidt hat Poe als Schriftsteller sehr ernst genommen – man kann auch die Meinung vertreten, er habe ihn zu ernst genommen, aber das ist eine Diskussion für einen anderen Ort –, so dass seine Übersetzung deshalb an zahlreichen Stellen dem Originaltext in Grammatik und sprachlichem Duktus ungewöhnlich treu bleibt. Leider wird diese Tendenz durch die sprachlichen und orthographischen Manierismen Schmidts, die er selbst für wesentliche Elemente im Fortschritt der Literatursprache hielt, überlagert. Der Leser muss sich daher an solche Dinge wie die Verwendung des &-Zeichens statt des Wortes und, die Ersetzung des Wortes ein durch die Ziffer 1, die Verwendung des Gleichheitszeichens anstelle des Bindestrichs und was der Dinge mehr sind, gewöhnen. Ist er dazu bereit, findet er eine sprachlich sehr sorgfältige und genaue Übersetzung des Textes vor. Inwieweit Schmidts Übersetzung von seiner sogenannten Etymtheorie beeinflusst war, wird andernorts zu erörtern sein.

978-3-86648-092-6 Im selben Zusammenhang habe ich mir auch die 2008 erschienene kommentierte Neuübersetzung des Texts angeschaut. Hier haben Übersetzer und Herausgeber aus dem doch relativ schmalen Text Poes einen umfangreichen Wälzer von mehr als 500 Seiten gezimmert. Den Umfang machen eine ausführliche Einleitung, die fortlaufende Textkommentierung in Fußnoten, die Dokumentation verschiedener Illustrationen zum »Pym« sowie eine ausführliche Chronologie zu Entstehung und Rezeption des Textes aus. Ergänzt wird dies durch zwei Bibliographien, von denen eine die vermutlichen Quellen Poes dokumentiert, die andere neuere Texte zum »Pym« versammelt, die der Herausgeber benutzt hat.

Die Neuübersetzung ist verglichen mit der Arno Schmidts natürlich eher brav, da sie auf Manierismen verzichtet. Stichprobenhafte Vergleiche mit dem Original lassen keine wirklichen Fehler erkennen; allerdings scheint der Übersetzer eine leichte Neigung zu haben, Poes hier und da etwas verschrobene Grammatik zu glätten, was aber wohl den meisten Lesern entgegenkommen wird.

Der mitgelieferte Apparat zum Text ist alles in allem als sehr gut zu bezeichnen. Die Einleitung zeichnet ein umfassendes Bild sowohl der biografischen als auch der politischen und literarhistorischen Voraussetzungen von Poes Text. Ein gewichtiger Teil der Fußnoten erschöpft sich im Nachweis der für einzelne Passagen verwendeten Quellen; hinzu kommen Anmerkungen zu den inneren Widersprüchen des Textes, die eine aufmerksame Lektüre gleich zu Dutzenden ans Licht fördert. Einige Anmerkungen bleiben wirr, so etwa jene zu Kapitel XVII, in dem Poe an einer Stelle die Position der Jane mit »latitude 73° 15′ E., longitude 42° 10′ W.« angibt, was der Übersetzer stillschweigend in »73° 15′ s. Breite, 42° 10′ w. Länge« korrigiert. Dazu heißt es dann in der Fußnote:

Es sollte besser »73° 15′ ö. Breite« heißen. In Baudelaires französischer Übersetzung und in manchen englischen Ausgaben wurde der Fehler stillschweigend korrigiert; Arno Schmidt behilft sich in seiner Übersetzung damit, dass er die Breite ohne Himmelsrichtung lässt.

Nun gibt es natürlich gar keine östliche Breite, so dass hier der Herausgeber dem Übersetzer, der es wie Baudelaire richtig hat machen wollen, mit einem unsinnigen Kommentar in den Rücken fällt. Sollte der Leser so wenig Ahnung von der Sache haben wie der Kommentator, ist die Verwirrung allseits komplett. Auch sonst macht das Buch an einzelnen Stellen einen unfertigen Eindruck, als habe sich der Herausgeber am Ende sehr beeilen müssen. So fehlen zum Beispiel auf S. 381 in den Fußnoten 9 und 10 offenbar faksimilierte Abbildungen aus dem von Poe verwendeten Hebräisch-Wörterbuch von Gesenius; stattdessen sind die Platzhalter für die Faksimiles stehengeblieben: »[Schriftzeichen]«.

Wen solche Kleinigkeiten nicht stören und wer sich bei der Lektüre darüber hinwegsetzen kann, dass ihm dauernd vom Fuß der Seite her in die Lektüre hinein geplappert wird, für den ist die Marebuch-Ausgabe eine gute Alternative zur etwas manierierten Übersetzung Schmidts.

  • Edgar Allan Poe: Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket. Aus dem amerikanischen Englisch von Arno Schmidt. In: Ders.: Werke II. Olten u. Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag, 1967. S. 112–400. Papband, Fadenheftung.
  • Edgar Allan Poe: Die Geschichte des Arthur Gordon Pym aus Nantucket. Übersetzt von Hans Schmid. Hg. v. Hans Schmid und Michael Farin. Hamburg: Marebuch, 2008. Pappband, Lesebändchen, stabiler, bedruckter Schuber. 526 Seiten, davon 32 Seiten Kunstdruckpapier mit Illustrationen. 39,90 €.