Philipp Blom: Böse Philosophen

[…] an unsere eigene Faulheit, an Gleichgültigkeit und intellektuelle Wirrheit.

978-3-446-23648-6Populär und bewusst parteiisch geschriebener biographischer Essay um einige Figuren der Hauptphase der französischen Aufklärung. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf Denis Diderot, als eigentliches Zentrum der Darstellung benutzt Blom aber den Salon des Baron Holbach, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigen Orte der intellektuellen Auseinandersetzung in Paris darstellte. Leider erfährt der Leser zu wenig über die allgemeine Pariser Salonkultur dieser Zeit, so dass er sich kein Bild davon machen kann, wie typisch bzw. außergewöhnlich der Salon der Holbachs war. Aber das ist noch das geringste Manko des Buches.

Für ein Buch, das über Philosophen und ihre Ideen berichtet, ist es immer schon ein schlechtes Zeichen, wenn sein Autor die Bedeutung grundlegender philosophischer Termini offenbar nicht kennt: So bedeuten transzendent und transzendental sehr unterschiedliches und können nur in ganz seltenen Fällen synonym verwendet werden. Auch sonst bleibt Bloms Darstellung der philosophischen Inhalte meist völlig unkritisch, entweder getragen von einem begeisterten Pathos oder von scharfer Ablehnung, je nachdem wie es dem Geschmack des Autor gerade entspricht. So ist Bloms Kritik der Positionen Rosseaus, so richtig sie in der Sache auch sein mag, stets durchsetzt mit mokanten und polemischen Bemerkungen, die auf die psychische Verfassung oder die persönliche Lebensführung Rousseaus zielen:

Rousseau war fasziniert von der kindlichen Entwicklung (solange sie sich nicht in seinem Haus vollzog, möchte man hinzufügen)

Nein, man möchte es nicht nur hinzufügen, man fügt es hinzu, und das einzig und allein in polemischer Absicht. Im Gegensatz dazu ist alles, was Diderot tut, wohlgetan. Während Rousseaus Gesellschaftsutopie wegen ihrer diktatorischen Konsequenzen scharf angeprangert wird, werden vergleichbare Ansichten Holbachs und Diderots verharmlosend kommentiert: Befürwortung der Todesstrafe durch Diderot? Naja, er hatte eben kein echtes Interesse an der Frage, und ansonsten hat er auch bedauert, dass so etwas notwendig sei. Und sowieso seien 300 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich ja auch keine so bedeutende Sache gewesen. Immerhin wird Friedrich Melchior Grimms These, dass »das Recht des Stärkeren […] die einzige Legitimität« schaffe, zitiert, bleibt aber unkommentiert stehen, anstatt als gesellschaftspolitische Konsequenz jener Ethik der Lust begriffen und kritisiert zu werden, die Blom zuvor seitenweise in den höchsten Tönen als Alternative zur christlichen Tugendlehre gepriesen hat.

Das Buch scheitert letztlich an den atheistischen und antichristlichen Affekten des Autors. Anstatt die historische Lage Mitte des 18. Jahrhunderts als die wichtige Stufe in der Entwicklung der modernen ethischen Theorien zu begreifen, die sie darstellt, versucht er eine einzelne, höchst disparate philosophische Position dieser Zeit zu verabsolutieren. Dabei legt er höchsten Wert auf den Atheismus der Vertreter dieser Position; selbst David Hume, dem er einen gewissen Rang im philosophiegeschichtlichen Prozess nicht abstreiten kann, muss leider abgewertet werden, da er nur Agnostiker gewesen ist und den Atheismus aus erkenntnistheoretischen Bedenken heraus ablehnte. Es ist dann kein Wunder, dass das, was Blom über die kantische Ethik schreibt, blanker Unfug ist und er über Kant und Hegel ansonsten nur anzumerken weiß, sie seien »wie Heilige verehrt« worden. Weder findet sich eine Auseinandersetzung mit der Lessingschen Geschichtsauffassung – einer der wichtigsten deutschen Reaktionen auf die Ideen der Aufklärung – noch mit der Kantischen Bestimmung der Pflicht. Stattdessen wird dem Leser nahegelegt, eines der pornographischen Romänchen Diderots für eine emanzipatorische Kampfschrift

gegen die Verschwendung der Leben der hinter Klostermauern sequestrierten Frauen, gegen die unnatürliche und »nutzlose Tugend« des Zölibats, gegen unterdrückte Leidenschaft und kirchliches Dogma

halten zu sollen. Diderot hätte mit der Leidenschaft der von ihm imaginierten Nonnen sicherlich besseres anzufangen gewusst.

Auch geistesgeschichtlich bleibt Bloms Darstellung naiv: So scheint ihm jeglicher Sinn dafür zu fehlen, dass die im 18. Jahrhundert zum paradigmatischen Referenzbegriff werdende Natur nur eine Metapher mehr ist, aus der die sich emanzipierende bürgerliche Kultur ihre Berechtigung, ja, Überlegenheit abzuleiten versucht. Es handelt sich bei der Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eben nicht um einen objektiven Gegenstand empirischer Forschung, sondern um ein inhaltlich höchst flexibles metaphysisches Konzept, das dazu dient, das propagierte neue Menschenbild als unverfälscht und echt auszuzeichnen. In diesem Sinne hätte auch der Terminus Naturwissenschaft bzw. Wissenschaft historisch eingeordnet werden müssen, anstatt stillschweigend so zu tun, als bestehe zwischen unserem Konzept empirischer Forschung und dem des 18. Jahrhunderts eine ungebrochene Kontinuität.

Und nicht zuletzt muss Blom darin widersprochen werden, das Erbe dessen, was er radikale Aufklärung nennt, sei vergessen worden. Das eben ist es nicht, sondern es ist im Prozess der historischen Entwicklung zur Moderne aufgehoben worden. Dass es in seiner kompromisslosen Idealität und Radikalität für die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft unbrauchbar war, erkennt sogar Blom an. Und der Glaube, dass die von Blom angepriesene Ethik der Lust praktisch überhaupt geeignet sei, eine funktionierende Gesellschaft zu begründen, setzt ein so illusionäres Menschenbild voraus, dass selbst Blom an jenen Stellen Bedenken zu hegen scheint, an denen sich seine radikalen Aufklärer in allzumenschliche Affären und Streitigkeiten verwickeln.

So bleibt Bloms Darstellung bei aller Detailkenntnis leider polemisch und geschmäcklerisch und kann außer für jene, die darin bestätigt finden wollen, was sie ohnehin schon immer denken, nicht empfohlen werden.

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Hanser, 2011. Pappband, Lesebändchen, 400 Seiten. 24,90 €.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen

Es gibt nicht viele große, entscheidende Schritte der Philosophie, trotz des Aufwandes und Windes, den sie durch die Geschichte hindurch gemacht hat.

978-3-518-29355-3Eine der zahlreichen Editionen aus dem Nachlass von Hans Blumenberg. Dort fand auch eine Mappe mit dem Titel des Buches, der auch der Titel eines der darin gesammelten Essays ist. Thematisch hängt die Sammlung nur locker zusammen: Es geht um Gefälligkeit von Philosophen und Philosophien, um Martin Heidegger und seine nationalsozialistischen Verstrickungen, es geht aber auch um Sigmund Freud – der Essay »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes« enthält eine der knappsten und präzisesten Analysen der Freudschen Psychoanalyse, die ich kenne – und Arthur Schnitzler, um Hegel und das Holstentor.

Insgesamt wie immer bei Blumenberg eine sehr anregende Lektüre, die in diesem Fall zwischen einem gehobenen feuilletonistischen und maßvollen philosophischen Niveau pendelt. Eine anspruchsvolle Lektüre für den Nachttisch.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen. stw 1755. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Broschur, 208 Seiten. 10,– €.

Hans Blumenberg: Löwen

Ein Löwe, wie dürfte es anders sein, ist so gleich wie der andere, und wenn es schon einmal Christen zu fressen gegeben hatte, dann eben auch für alle.

978-3-518-22454-0Wie bereits gesagt, hat Hans Blumenberg zahlreiche kurze Essays für Tageszeitungen geschrieben, die unter anderem auch in der Bibliothek Suhrkamp in einige hübschen Sammelbänden gedruckt worden sind. Angeregt durch die Lektüre von Sibylle Lewitscharoffs »Blumenberg« habe ich natürlich zu »Löwen« gegriffen. Das Bändchen umfasst, wie der Titel schon andeutet, eine Auswahl von Texten, in denen mehr oder weniger zentral jeweils von Löwen bzw. einem Löwen die Rede ist. Blumenbergs früheste Löwen, wenigstens der biographischen Chronologie nach, dürften jene beiden Lübecker Löwen gewesen sein, zwischen denen hindurch schon Tonio Kröger das »erste Haus am Platz« in seiner Heimatstadt betreten hatte und die Hans Blumenberg und seine Schulkameraden zu reiten pflegten, bis sie der Portier des Hotels einmal mehr davon jagte.

Die Themen sind breit gestreut und reichen von Reflexionen über biblische Stoffe und Legenden über philosophische Miniaturen und literarische Anmerkungen bis hin zu Anekdoten und Zeitgeschichtlichem. Manchmal steht der Löwe im Zentrum, manchmal schleicht er sich gerade noch am Rande in den Essay hinein. Eine schöne kleine Sammlung, die man ruhig peu à peu lesen sollte, und die, wie fast alle kurzen Texte von Hans Blumenberg, neugierig auf mehr macht.

Hans Blumenberg: Löwen. Bibliothek Suhrkamp 1454. Berlin: Suhrkamp, 2010. Pappband, Lesebändchen, 130 Seiten. 12,80 €.

Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance

When you’ve got a Chautauqua in your head, it’s extremely hard not to inflict it on innocent people.

978-0-06-058946-2Eines der Bücher, die auf meiner imaginären Liste der frühen Lektüren stehen, die ich noch einmal lesen will. Zwar habe ich versucht herauszufinden, wann genau ich dieses Buch gelesen habe, konnte aber zu keinem genauen Ergebnis kommen. Ich vermute, dass es 1977 oder 1978 gewesen sein muss, also bevor ich zum ersten Mal Philosophie-Unterricht hatte, denn die Passage über Kants »Kritik der reinen Vernunft« hätte später bei mir sicherlich zu einer heftigen Abwertung des Buches geführt; so habe ich sie wahrscheinlich nicht besonders gut verstanden und dementsprechend rasch vergessen.

Die größte Überraschung der erneuten Lektüre war die Einsicht, dass es sich hier wesentlich nicht um einen Roman handelt (so habe ich das Buch Ende der 70-er Jahre gelesen), sondern um eine Mischung aus weitgehend autobiographischem Bericht und philosophischem Essay. Der essayistische Anteil ist bewusst populär behandelt und wird von Pirsig an die Tradition der Chautauquas angeschlossen.

Den erzählerischen Rahmen bildet in der ersten Hälfte des Buches eine Motorradtour, die der autobiographische Ich-Erzähler zusammen mit seinem Sohn Chris und zwei Bekannten, Sylvia und John, nach Bozeman in Montana unternimmt. In der zweiten Hälfte besteigt er zusammen mit Chris einen Berg und setzt anschließend mit ihm die Motorradtour fort. Der Erzähler hat vor vielen Jahren an der Universität von Bozeman Rhetorik unterrichtet, dann aber offensichtlich eine schizophrene Episode durchlebt, während der er in der Psychiatrie mit einer Elektroschock-Therapie behandelt und geheilt wurde. Die Fahrt nach Bozeman ist somit zugleich eine Reise in die eigene, weitgehend vergessene Vergangenheit und zurück zu einem früheren Ich, das den Namen Phaedrus trägt und sich, je weiter die Handlung fortschreitet, immer deutlicher wieder im Erzähler manifestiert. Der sich immer mehr in den Vordergrund drängende essayistische Anteil ist vorgeblich der Versuch des Erzählers, die von Phaedrus entwickelte philosophische Theorie vorzuführen, wobei der Erzähler betont, dass er sie aus fragmentarischen Erinnerungen und Notizen habe rekonstruieren müssen.

Das philosophische Brett, das hier gebohrt wird, ist recht dünn: Es handelt sich um einen handgreiflichen Versuch in klassischer Metaphysik. Ausgehend von seiner eigenen Unfähigkeit, auf den Begriff zu bringen, was Qualität ist, obwohl er sie erkennen kann und sie ein wesentliches Ziel seiner Lehrtätigkeit darstellt, fasst der Rhetoriklehrer Phaedrus den Entschluss, Qualität sei eine nicht zu definierende essentielle Eigenschaft der Welt, die der dualistischen Teilung in Subjekt und Objekt vorausgehe. Diese all eine Qualität sei überhaupt die Verbindung zwischen allen wirklichen Philosophien der Welt und der westliche Irrweg der rationalistischen Analyse, den wesentlich Platon und Aristoteles erstmals beschritten hätten, sei von Übel und verantwortlich für das Unbehagen in der technischen Kultur des 20. Jahrhunderts. Man sollte nicht erwarten, dass dies tatsächlich irgendwie begründet wird; das verhindert allein schon der Charakter der Darstellung als fragmentarische Rekonstruktion. Auch fällt Phaedrus, obwohl er angeblich die »Kritik der reinen Vernunft« gelesen hat, nicht ein, dass dieser Begriff sich in der Kantischen Kategorientafel findet. Überhaupt beschränkt sich seine Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie auf den Mathematiker Poincaré, die einzigen wissenschaftstheoretischen Gedanken, die zitiert werden, stammen von Albert Einstein. Der Rest erschöpft sich in Namedropping, und das obwohl Phaedrus sich, man höre und staune, ein ganzes Jahr lang mit Philosophiegeschichte beschäftigt. Auch die auf den letzten 100 Seiten stattfindende Diskussion der Philosophie der griechischen Antike ist geprägt von einem unzureichenden Verständnis der antiken Problemstellungen.

Für jemanden, der sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts auskennt, dürfte aber am witzigsten sein, dass bereits 1953 ein Buch erschienen ist, das die gesamte metaphysische Gymnastik dieses Buches obsolet macht: Hätte Phaedrus einen wohlmeinenden Freund gehabt, der ihm Ludwig Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« in die Hand gedrückt hätte, wäre ihm wohl der Wahnsinn und uns gut 500 Seiten erspart geblieben.

Nett ist das Plädoyer für die hauptsächlich am Beispiel der Motorradwartung demonstrierten sekundären Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Sorgsamkeit, Konzentration und Geläufigkeit. Dies sind die angenehmsten Passagen dieses sich ansonsten bei aller vorgeblichen Demut selbst weit überschätzenden Textes. Sie sind es neben dem Titel wohl auch, die das Buch zum Bestseller haben werden lassen.

Insgesamt eine enttäuschende Wiederbegegnung.

Robert M. Pirsig: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. An Inquiry into Values. New York: Harper, 172006. Broschur, 540 Seiten. 5,20 €.

Plato: Phaedrus

Come here, then, noble creatures, and persuade the fair young Phaedrus that unless he pay proper attention to philosophy he will never be able to speak properly about anything.

Eins führt zum anderen: Da der »Phaidros« in »Der Tod in Venedig« aus thematischen Gründen eine prominente Stellung inne hat und er außerdem für das oben auf dem Stapel der wieder einmal zu lesenden Bücher liegende »Zen and the Art of Motorcycle Maintenance« von Bedeutung ist, habe ich den Dialog wieder einmal aus dem Schrank geholt. Erklärungsbedürftig ist aber wohl, warum hier eine englische Übersetzung gelesen wurde. Ich habe während des Studiums angefangen, griechische Klassiker auf Englisch zu lesen, zuerst weil es keine halbwegs preiswerte und vollständige deutsche Aristoteles-Ausgabe gab und zudem zahlreiche der erreichbaren deutschen Übersetzungen nicht unwesentlich ein Ergebnis christlicher Lektüre sind. Da als Alternative eine weitgehend vollständige und ordentlich übersetzte englische und altgriechische Ausgabe in der Loeb Classical Library vorlag, war dies fast selbstverständlich meine Wahl. Später bin ich dann auch bei Platon auf die Loeb-Ausgabe umgestiegen, da die Schleiermacher-Übersetzung selbst in der verwässerten modernisierten Form höchstens Altphilologen Vergnügen bereitet, die ebenso leicht das Original lesen könnten, und auch die Meiner-Ausgabe das Problem der gleichzeitigen Lesbarkeit und Korrektheit nicht wirklich zufriedenstellend löst. In letzter Zeit stellt die zweisprachige Ausgabe in der Universalbibliothek von Reclam eine gute deutschsprachige Platon-Ausgabe zur Verfügung, doch kommt diese Edition nur quälend langsam voran. Jedenfalls lese ich seit dem Studium die antiken philosophischen Klassiker bevorzugt in englischen Übersetzungen, auch da mein Altgriechisch nie so gut war, dass ich die Originale auch nur einigermaßen flüssig lesen könnte.

Der »Phaidros« gehört wahrscheinlich nach dem »Symposion« zu den meist rezipierten Dialogen Platons und ist nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern auch unter Schriftstellern seit der Neuzeit von bedeutendem Einfluss. Das liegt zum einen an der über weite Strecken vergleichsweise lockeren Diktion, zum anderen aber sicherlich auch daran, dass der philosophische Diskurs hier durch die Interaktion zwischen den Dialogpartner Phaidros und Sokrates und den Ort des Dialogs (der klassische locus amoenus) offensichtlich in einen literarischen Rahmen eingepasst ist.

Grundthema des Dialogs ist die Bestimmung dessen, was Liebe sei. Anlass ist eine Rede des Lysias über die Liebe, die Phaidros bei sich hat, als er Sokrates vor den Toren Athens trifft. Da es ein heißer Tag ist, suchen die beiden in einem den Musen geweihten Hain den Schatten auf, und Phaidros liest Sokrates die Rede des Lysias vor, von der er zuerst in höchsten Tönen schwärmt. Sokrates ist von ihr allerdings weniger angetan und entwickelt spontan zwei Gegenreden über dasselbe Thema. In einer davon findet sich die Bestimmung der Liebe als der höchsten von drei Sorten des Wahnsinns, die die Götter den Menschen eingeben. Von hier ausgehend entwickelt Sokrates die Allegorie vom Seelenwagen: Die dreigeteilte menschliche Seele gleiche einem Wagen, der von zwei Pferden gezogen werde. Das weiße, gute Pferd dränge zum Himmel und dem Reich der Ideen, das dunkle Pferd der Leidenschaft dagegen ziehe den Wagen erdwärts und hin zur konkreten Welt. Die dritte Komponente, die den Wagen lenkende Vernunft, versuche dieser beiden Tendenzen Herr zu werden und entgegen den störenden Leidenschaften den Seelenwagen hin zur Philosophie und zur Erkenntnis der Ideen zu lenken.

Anschließend wendet sich Sokrates der Kritik der zeitgenössischen Rhetorik-Lehrer zu. Es folgt eine Zusammenfassung der aus den Frühdialogen bereits bekannten Kritik an der sogenannten Sophistik, der vorgeworfen wird, sich nicht wirklich um die Erkenntnis der Wahrheit zu bemühen, sondern sich mit Vorstufen wahrer Erkenntnis zu begnügen und andere von der Hinwendung zur wirklichen Erkenntnis durch ihre Irrlehren abzuhalten. Es folgt eine Kritik des geschriebenen Wortes, wie sie ähnlich auch im berühmten Siebten Brief Platons zu finden ist, hier exemplifiziert an einem altägyptischen Mythos von der Erfindung der Schrift durch den Gott Theuth. Mit der berühmten Definition der Philosophen als »Liebhaber der Weisheit«, einem verhaltenen Lob des jungen Rhetors Isokrates und einem gemeinsamen Gebet der beiden Gesprächspartner schließt der Dialog.

Wie oft bei Platons Dialogen kann sich der halbwegs selbstständige Leser des Gefühls nicht erwehren, dass zu den verhandelten Themen noch so manches zu sagen wäre und zahlreiche der Argumente des Sokrates, die Phaidros widerstandslos schluckt, bei weitem nicht so überzeugend sind, wie sie erscheinen sollen. Da der Dialog sich selbst aber zugleich als nicht besonders ernstzunehmende intellektuelle Spielerei einordnet, stößt jede systematische Kritik ins Leere. Von daher geschieht es ihm wahrscheinlich recht, in der Neuzeit besonders häufig Schriftsteller angeregt zu haben.

Plato: Phaedrus. In: Plato in Twelve Volumes I. With an english translation by Harold North Fowler. Cambridge: Harvard University Press, 151982. Leinen, Fadenheftung, 583 Seiten. 24,– $.

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe

978-3-423-19511-9Nicht die aktuelle Lektüre, sondern eine neue Ausgabe des Buches ist der Anlass für diesen Artikel, und auch nicht der Inhalt, sondern mehr die Aufmachung. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat eine sehr schön gestaltete Jubiläumsreihe herausgebracht: Flexible, bedruckte Leineneinbände schmücken Klassiker und Erfolgsbücher des Verlags. Darunter in der Sachbuch-Reihe eben auch Weischedels inzwischen betagte, aber dennoch ungebrochen beliebte Einführung in die Philosophie.

Allerdings scheinen mit dem Buchhersteller in diesem Fall die visuellen Pferde durchgegangen zu sein, denn wie oben zu sehen ist, ist ihm die Hintertreppe doch etwas pompös geraten. Wenn das, was auf dem Umschlag zu sehen ist, tatsächlich die Hintertreppe sein sollte, was muss das für ein gargantueskes Gebäude sein und wie muss man sich erst das Haupttreppenhaus denken?

Andererseits könnte man hier einen Fall von subtilem Humor vermuten. Vielleicht hat er sich gedacht, dass das Gebäude der Philosophie, über mehrere Jahrtausende gewachsen, tatsächlich mittlerweile ein so pompöser und stilistisch heillos ruinierter Bau sein muss, dass es doch sein könnte, dass dieser prachtvolle und ehemals repräsentative Zugang schon seit langem als Hintertreppe dient. Dann könnte hier sogar eine kleine Erkenntnis versteckt sein, dass nämlich die allermeisten Leser philosophischer Einführungen niemals über diese hinauskommen. Sie lesen dann von Zeit zu Zeit mit immer größerer Ratlosigkeit eine Einführung um die andere, aber jedes Mal wenn sie dann endlich zur eigentlich Türe hinein wollen, finden sie sie so verschlossen wie beim letzten Versuch. So optimistisch einen solche Einführungen auch immer stimmen mögen, kaum eine von ihnen führt tatsächlich ins Gebäude hinein. Das gilt leider auch für Weischedels nette und durchaus anspruchsvolle »Hintertreppe«. Nachdem man auf ihr hinauf gestiegen ist, findet man, dass das Gebäude der Philosophie zwar eine Hintertreppe haben mag, aber keinen Dienstboteneingang.

In diesem Sinne sei das Buch wärmstens empfohlen!

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. dtv 19511. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Bedrucktes Leinen, 336 Seiten. 10,– €.

Janne Teller: Nichts

978-3-446-23596-0Bereits im Jahr 2000 in Dänemark erschienen, ist das Buch im skandinavischen Raum angeblich kontrovers diskutiert worden und nun auch auf Deutsch erschienen. Erzählt wird die Geschichte einer 7. Schulklasse im kleinen Ort Tæring, in der der Schüler Pierre Anthon zur Entdeckung der Konsequenzen des Nihilismus vordringt: »Nichts bedeutet irgendwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun.« Wie die meisten nihilistischen Schwätzer geht Pierre Anthon nun aber nicht zum Nichtstun über, sondern wird zum Propheten des Nihilismus, der seinen Mitschülern auf die Nerven geht.

Da seine Mitschüler philosophisch ebenso unbelehrt sind wie der Prophet (und wahrscheinlich auch die Autorin), entwickeln sie ein Projekt zu seiner Widerlegung: In einem aufgegebenen Sägewerk tragen sie einen Haufen von Gegenständen zusammen, die Bedeutung haben. Damit niemand schummelt, legt jeder Schüler jeweils für einen anderen fest, was für denjenigen von Bedeutung ist und was er hergeben muss. Zu Anfang sind die Opfer am Altar der Bedeutung harmlos, aber mit der Zeit übertrumpfen sich die Vorschläge: Die Unschuld von Sophie, der Sarg mit dem toten Bruder von Elise, ein abgeschnittener Hundekopf und zum Schluss der abgeschnittene Zeigefinger Jan-Johans, des Gitarrenspielers der Klasse.

Nach diesem letzten Opfer fliegt das Projekt der Schüler auf. Nun muss der Leser eine wahrscheinlich satirisch gemeinte Darstellung der modernen Medienlandschaft durchlaufen. Nachdem die Autorin auch das abgekaspert hat, kommt es zum Showdown: Der Prophet Pierre Anthon wird mit dem – inzwischen vom New Yorker MOMA als Kunstwerk angekauften – »Berg der Bedeutung« konfrontiert, aber da er (und wahrscheinlich die Autorin) kein ganz so großer Schwachkopf ist wie seine Mitschüler, macht er sich über deren hilflosen Versuch, Bedeutung anzuhäufen, zu Recht lustig. Er wird daraufhin von seinen Mitschülern ebenso zu Recht erschlagen und Leiche und Berg der Bedeutung anschließend verbrannt. Um ihren Kult um die Bedeutung abzuschließen, sammeln die Schüler schließlich die Asche ihrer Jugend ein und jeder kriegt ’ne Flasche.

Der Text funktioniert überhaupt nur, da er im pseudonaiven Ton einer der Mitschülerinnen erzählt ist. Jeder Hauch nur einer ernsthaft erwachsenen Perspektive würde den ganzen Unfug des Buches augenblicklich zusammenbrechen lassen. Es ist kein Wunder, dass ein solches Buch in einem Land, das Peter Sloterdijk für einen Philosophen hält, auf den Bestsellerlisten landet.

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. München: Hanser, 2010. Broschiert, 140 Seiten. 12,90 €.

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang

Ich habe schon lange das Bedürfnis gehabt, es wieder einmal mit einer wenigstens einigermaßen ernstzunehmenden philosophischen Lektüre zu versuchen. Der Sermon der Romane ist doch auf einer langen Strecke ermüdend. Und naturgemäß kehrt man erst einmal zum alten Tatort zurück: Über Feyerabends Buch wurde während meines Studium von Professoren-Seite erheblich die Nase gerümpft (aus den unterschiedlichsten Gründen), während ich es damals mit erstaunlichem Gewinn gelesen habe. Ich selbst habe in der Philosophie als erkenntnistheoretischer Kantianer angefangen (und wahrscheinlich auch als solcher aufgehört), und hatte als potentieller Idealist eine entsprechend verklärte Vorstellung vom Gang wissenschaftlicher Forschung.

Feyerabends Analyse lässt demjenigen, der sich auf sie einlässt, kaum eine Chance, irgendeine ideale Vorstellung von den Wissenschaften und besonders ihrer Hohenpriester übrig zu behalten. Seine Darstellung der Galileisch-Kopernikanischen Revolution und ihrer grundlegenden sachlichen und argumentativen Schwächen ist ein Musterstück historischer Wissenschaftskritik. Die aus ihr entwickelte Kritik der Wissenschaften des 20. Jahrhundert ist durchschlagend und ernüchternd – und gibt die tatsächlichen Verhältnisse wohl grundsätzlich korrekt wieder. Ich muss also zugestehen, heute nicht weniger als damals von dem Buch beeindruckt zu sein. Dies war tatsächlich einer der wirklich freien Köpfe des 20. Jahrhunderts.

Ungebildete und stümperhafte Bücher überschwemmen den Markt, leeres Gerede, das von unverständlichen Ausdrücken strotzt, behauptet tiefe Erkenntnisse zu vermitteln, »Fachleute« ohne Geist und Charakter, ja ohne ein Mindestmaß intellektuellen, stilistischen und emotionalen Temperaments belehren uns über unsere »Situation« und die Möglichkeiten ihrer Verbesserung, und sie predigen nicht nur uns, die wir sie vielleicht durchschauen könnten, sondern sie werden auch noch auf unsere Kinder losgelassen und dürfen sie in ihre eigene geistige Verkommenheit hinabziehen. »Lehrer« kneten mit Hilfe von Zensuren und der Angst vor dem Versagen den Geist der Jugend, bis sie jeden Rest von Einbildungskraft verloren hat, den sie einmal besaß. Das ist eine katastrophale Situation, und sie ist nicht leicht zu beheben. [S. 290 f.]

Dass die hinteren Kapitel (ab 16) nicht weniger eloquent sind, aber im Detail weniger zu überzeugen vermögen, sollte man Buch und Autor verzeihen. Man hätte sich stattdessen eine detailliertere Kritik des Begriffs »Vernunft« gewünscht, doch man kann von einem Buch nicht alles erwarten.

Es ist zu befürchten, dass Feyerabends Kritik der Wissenschaft wirkungslos bleiben wird, da sie längst – wie alles Widerständige – vom Betrieb vereinnahmt und verharmlost worden ist. Wie es aussieht, wird er erst an einem Ende Recht behalten, an dem seine Gedanken niemandem mehr nützen werden.

Eine Pflichtlektüre für alle, die sich noch ernsthaft Gedanken machen.

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Auf der Grundlage einer Übersetzung aus dem Englischen von Hermann Vetter. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 597. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 112009. 423 Seiten. 15,– €.

P.S.: Existiert eigentlich eine Ausgabe ohne den Satzfehler auf S. 282, auf der mindestens eine Zeile Text fehlt, dafür eine andere doppelt vorkommt. Sowohl meine alte Ausgabe von 1983 (aus dem »Weißen Programm«) als auch die aktuelle Taschenbuchausgabe weisen diesen Fehler auf.

Spieglein, Spieglein …

Im Prisma der Rubrik Wissenschaft/Technik des SPIEGEL 41/2010 (S. 164) findet sich die folgende Kurzrezension:

PHILOSOPHIE

Weise Reise

Sind weise Menschen glücklicher als andere? Was ist eigentlich Weisheit? Und wie wird man selbst weise? In ihrem Buch „Oma Hilde, Sokrates und der Dalai Lama“ begibt sich die Wissenschaftsjournalistin Kristin Raabe auf die Spuren weiser Menschen, um grundsätzliche Fragen des Lebens zu ergründen. Der Autorin gelingt es, dem altmodisch anmutenden Begriff Weisheit mit frischem Leben zu füllen. Weise wird man durch die Lektüre sicher nicht. Spaß macht sie trotzdem.

Als hätte er diese Meldung vorausgeahnt, hat Georg Christoph Lichtenberg vor über 200 Jahren folgendes über den Spiegel und seine Beziehung zur Weisheit geschrieben:

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen. Wir haben keine Worte mit dem Dummen von Weisheit zu sprechen. Der ist schon weise der den Weisen versteht.

Alexander Unzicker: Vom Urknall zum Durchknall

Breit angelegte Polemik gegen das Establishment in der Physik und deren Theorielastigkeit bzw. Em­pi­rie­feind­lich­keit. Das Buch ist weitgehend frei von Formeln und kann von einem interessierten Laien auch ohne tiefergehende Kenntnisse der mathematischen Grundlagen der Physik gut verstanden werden. Unzicker hebt sowohl in der physikalischen Kosmologie als auch in der Teilchenphysik die starken theoretischen Vorannahmen der sogenannten Standardmodelle heraus, zitiert ausführlich die Kritiker dieser Standardmodelle und macht sich über einzelne herausgehobene Personen des Forschungsbetriebs lustig. Seine Lieblingshassobjekte sind die Theorie der Inflation des frühen Universums und die Stringtheorie.

Für einen Außenstehenden ist das ganz witzig zu lesen, und es erhärtet den natürlichen Verdacht, dass die von zahlreichen Na­tur­wis­sen­schaft­lern angenommene Attitüde, sie seien die einzigen rechtmäßigen Verwalter der Wahrheit auf Erden, nicht viel mehr ist als die Fortsetzung des Priestertums mit anderen Mitteln.

Eine durch und durch erfrischende Lektüre von einem selbstkritischen, aber auch recht selbstbewussten Autor.

Alexander Unzicker: Vom Urknall zum Durchknall. Die absurde Jagd nach der Weltformel. Heidelberg: Springer, 2010. Pappband, 330 Seiten. 24,95 €.