Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation

Ich habe mich daher entschieden, diese ganze Komplexität der Wirklichkeit selbst zuzuschreiben, obwohl es natürlich gut möglich ist, daß wir einfach nicht alles hinreichend gut verstehen, um die verborgene Einfachheit zu entdecken.

Überzeugender Entwurf einer evolutionären Genese der menschlichen Sprache: Tomasello geht von Beobachtungen an Schimpansen aus, die sowohl hinweisende Gesten verwenden als auch ein Verständnis dafür zu haben scheinen, dass es sich bei anderen Artgenossen um Wesen mit Intentionen und Wahrnehmungen handelt. Sie scheinen in Gefangenschaft außerdem einen Sinn dafür zu entwickeln, dass Menschen im Gegensatz zu ihren Artgenossen bereit sind, ihnen in altruistischer Absicht zu helfen. Was Schimpansen aber offenbar im Vergleich zum Menschen fehlt, ist die Fähigkeit zusammen mit anderen Individuen gemeinsame Ziele zu entwickeln und zu verfolgen. Kooperationen zwischen Schimpansen basieren demnach nur auf der Verfolgung individualistischer Ziele der Kooperierenden, während bereits menschliche Kleinkinder nicht nur die Fähigkeit zeigen, mit Erwachsenen und anderen Kleinkindern echte gemeinsame Ziele zu verfolgen, sondern ihnen in einigen Fällen die Kooperation selbst wichtiger zu sein scheint als die Erreichung des Zieles.

Tomasello argumentiert dafür, dass die Verwendung von Zeigegesten, die in der kindlichen Entwicklung der Sprache allem Anschein nach als früheste Stufe auftritt, nicht nur ontogenetisch, sondern auch phylogenetisch den Übergang zwischen der beschränkten Kommunikation der Schimpansen und der Kommunikation des Menschen markiert. Er vermutet, dass das relativ späte Auftreten des für die differenzierte Lautbildungsfähigkeit des Menschen verantwortliche Gens vor ca. 150.000 Jahren ein Indikator dafür ist, dass der gesprochenen Sprache eine lange Phase der Evolution gestischer Verständigung vorausgegangen ist. Er macht die Möglichkeiten und Leistungsfähigkeit gestischer Kommunikation an der spontanen Entwicklung differenzierter gestischer Kommunikationssysteme bei gehörlosen Kindern einsichtig.

Tomasellos ergänzende Ausführungen zur Entstehung komplexer Grammatiken und zum Erzählen sind bewusst skizzenhaft gehalten und alles in allem weniger überzeugend als die Darstellung seiner Theorie der Sprachentstehung, was für den eigentlichen Gehalt des Buches aber nur wenig zur Sache tut. Der Hauptteil ist für den Laien verständlich und stilistisch gut geschrieben, wenn auch nicht frei von Redundanzen, was aber sicherlich ein Teil der Leserschaft bei der Differenziertheit mancher Argumentationsstränge nicht als nachteilig empfinden wird.

Spannend fände ich eine Anbindung dieser Theorie an die philosophische Ethik: Sollte sich tatsächlich aus evolutionsbiologischer Sicht argumentieren lassen, dass einer der grundlegenden Schritte der Menschwerdung in der Fähigkeit des Menschen zur Entwicklung altruistischer Konzepte und Zielsetzungen besteht, ließe sich damit wirkungsvoll gegen das Menschenbild aller sogenannten egoistischen bzw. egozentrischen Ethiken argumentieren.

Eine höchst fruchtbare Lektüre und die erste tatsächlich überzeugende Theorie der Sprachentstehung, die ich kennengelernt habe.

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. stw 2004. Berlin: Suhrkamp, 2011. Broschur, 410 Seiten. 15,– €.

Hans Peter Duerr: Die Fahrt der Argonauten

Duerrs Leser haben lange auf dieses Buch warten müssen: Es ist seit über zwei Jahren angekündigt gewesen, und das Vorwort ist mit »Herbst 2009« datiert, wobei ungeklärt bleibt, warum das Buch erst zur Frankfurter Buchmesse 2011 tatsächlich erschienen ist. Es handelt sich um eine unmittelbare Fortsetzung des Buchs über Rungholt; dort war in den letzten Kapiteln thematisiert worden, dass es sich beim Argonauten-Mythos um einen Reflex kretischer Fernreisen in den Norden Europas handeln könnte. Diese These wird hier nun ausführlich vorgeführt.

Dabei nimmt die Darstellung der oben genannten These nur einen relativ schmalen Raum ein: Es wird wahrscheinlich gemacht, dass kretische Seefahrer der Bronzezeit vom Mittelmeer aus über die Aude bis etwa Carcassonne und von dort über Land bis zur Garonne in der Gegend von Toulouse und anschließend über die Garonne in den Atlantik gelangt seien und sich so die zeitraubende und von widrigen Strömungen behinderte Fahrt durch die Straße von Gibraltar und nördlich entlang der spanischen und portugiesischen Atlantikküste erspart hätten. Der Transport des Schiffes Argo über Land findet sich denn auch in der Argonautensage bei Apollonios widergespiegelt und kann zudem durch schiffsbautechnische Erkenntnisse durchaus gestützt werden.

Ein Großteil des Buches ist aber der Deutung des Argonautenmythos als Fahrt ins Totenreich und der Rückkehr von dort als Variation des Fruchtbarkeitsmythos gewidmet. Dabei erzeugt Duerrs immer schon bestehende Neigung zum Enzyklopädischen diesmal noch mehr als sonst den Eindruck eines umgestülpten Zettelkastens. Wie immer bei Duerr besteht das Buch zu knapp 50 % aus Anhang (276 von 1111 Seiten sind mit Anmerkungen, 227 Seiten mit Literaturnachweisen und 22 Seiten mit einem Register gefüllt), wobei sich allerdings ein bedeutender Teil des Textes von dem in den Anmerkungen aufgeführten zusätzlichen Material kaum anders als durch die gewählte Schriftgröße unterscheidet. Lange Passagen des Buches enthalten einfach umfangreiche Auflistungen von motivisch verwandtem Material aus diversen Kulturen zumeist des Mittelmeerraums, aber oft auch darüber hinaus. So finden sich unzählige Beispiele vom Vorkommen von Widdern in den unterschiedlichsten Fruchtbarkeitsritualen und -mythen, ebenso unzählige Beispielen für die Verbindung von Unterwelts- und Fruchtbarkeitsmythen, ebenso unzählige für die Verwendung des Motiv des Hieros gamos in den diversen Kulturen etc. pp. All dies bezeugt einmal mehr Duerrs Fleiß und seine ungeheuerliche Belesenheit bzw. seine Fähigkeit, große Mengen von Material zu organisieren, die allerdings in Zeiten elektronischer Datenbanken nicht nur an Überzeugungskraft, sondern auch an Bedeutung zu verlieren scheint. Die in weiten Teilen hauptsächlich reihende Präsentation des Materials ergab bei mir jedenfalls eine eher ermüdende Lektüre.

Hans Peter Duerr: Die Fahrt der Argonauten. Berlin: Insel, 2011. Pappband, 1111 Seiten. 34,90 €.

Michel Onfray: Anti Freud

978-3-8135-0408-8Ich habe mich sehr schwer getan, zu diesem Buch etwas zu schreiben, auch überlegt, ob ich es nicht einfach stillschweigend übergehen sollte, da es ein sehr schlechtes Buch ist und ich die Lektüre nach 150 Seiten eingestellt habe, weil kein neuer, geschweige denn ein origineller Gedanke mehr zu erwarten war. Ich selbst bin als Fachmann für Arno Schmidt auch ein halber, vielleicht auch nur ein drittel Fachmann für Freud geworden, weshalb mich die Auseinandersetzung mit ihm immer noch interessiert, während mir der Rest der psychoanalytischen Literatur inzwischen weitgehend gleichgültig ist.

Um das Buch angemessen zu rezensieren, ist es leider notwendig, zuvor einige Sätze zu meiner eigenen Position in der Sache zu schreiben, damit man meine Kritik an Onfray nicht als ein Plädoyer für die Psychoanalyse missversteht. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds ist eine der bedeutendsten Begründungen einer Weltanschauung (um nicht Religion zu schreiben) des 20. Jahrhunderts. Das in ihr implizit und explizit zum Ausdruck kommende Menschenbild hat einen nicht zu unterschätzenden weltweiten Einfluss auf die Kulturentwicklung gehabt, und niemand kann hoffen, die Entwicklung der westlichen Kultur in den letzten gut 100 Jahren zu verstehen, wenn er diesen Einfluss zu ignorieren versucht. In Freuds Denken fokussieren sich bedeutende geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts: die Säkularisierung der Kultur, die Verbreitung atheistischen Denkens, der naive Glaube an die Erklärungsmächtigkeit rationaler Wissenschaft, das romantische Bewusstsein vom notwendig widersprüchlichen Charakter unseres Selbst und nicht zuletzt die Einsicht, dass es sich beim Bild vom Menschen als autarkem Herrn im eigenen Haus um eine weit verbreitete Selbsttäuschung handelt. Das Freudsche und in der Folge dann psychoanalytische Menschenbild im Allgemeinen hat das von Christentum und Humanismus geprägte der Neuzeit soweit gewandelt und aufgelöst, dass grundlegende Thesen der Psychoanalyse heute so weit zum selbstverständlichen und weitgehend popularisierten Grundbestand der westlichen Kultur gehören, dass sich selbst prinzipiell konkurrierende Glaubenssysteme (wie etwa das Christentum) dem anzupassen gezwungen sind.

Dies ist allerdings nicht der einzige Aspekt, unter dem die Psychoanalyse zu betrachten ist: Wie die meisten Weltanschauungen enthält auch die Psychoanalyse ein Heilsversprechen. In ihrem Fall ist dies erst sekundär ein gesellschaftliches oder soziales, primär ist es eines, das auf das Individuum zielt. Die Psychoanalyse versteht sich selbst in erster Linie als Therapie, und ihr wichtigstes Kriterium für die Richtigkeit des eigenen Menschen- und Weltbildes ist der therapeutische Erfolg. (Ob sich ein solcher nachweisen lässt oder nicht, ist eine so komplexe Frage, das sie hier nicht thematisiert werden kann.)

Dass es sich bei der Psychoanalyse nicht um eine Wissenschaft in dem Sinne handelt, wie sich dieser Begriff in den letzten beiden Jahrhunderten herausgemendelt hat, ist – auch entgegen den Ansprüchen einiger ihrer Adepten – offensichtlich und durch die Arbeiten von Wissenschaftstheoretikern wie Adolf Grünbaum hinreichend eindeutig nachgewiesen worden. Insbesondere die freie und freizügige Verwendung der logischen Negation, durch die in der psychoanalytischen Interpretation am Ende beinahe alles beinahe alles andere bedeuten kann, desavouiert die psychoanalytische Methode in den Augen empirischer Wissenschaftler. Im Gegensatz zu ihrem weit verbreiteten Selbstverständnis untersucht die Psychoanalyse nicht empirisch vorhandene Phänomene, sondern sie erzeugt wesentlich den Gegenstand ihrer Untersuchung im Vollzug dieser Untersuchung selbst. Sie ist daher – und bereits Sigmund Freud wusste dies sehr genau – eher eine historische als eine empirische Wissenschaft. Als Gegengewicht zu dieser sehr grundsätzlichen Kritik sollte man sich allerdings an die Einsicht des Aristoteles erinnern, dass von jeder Wissenschaft nur jener Grad von Genauigkeit erwartet werden sollte, den der behandelte Gegenstand tatsächlich hergibt (Nikomachische Ethik, 1094b).

Nach diesem ungewöhnlich langen Vorwort nun endlich zu Michel Onfrays Buch. Onfrays Kritik an Freud ist kein Versuch einer objektiven Einschätzung des wissenschaftlichen Anspruchs seiner Theorie oder ihrer Rolle in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Vielmehr handelt es sich um eine Polemik, die versucht, Freuds Person zu verleumden und dadurch seine Theorie zu entwerten. Zu diesem Zweck wiederholt Onfray etwa alle fünf Seiten seine Behauptung, dass Freud seine Theorie zum einen hauptsächlich bei Nietzsche abgeschrieben habe, zum anderen aus seiner persönlichen psychischen Disposition abgeleitet und verallgemeinert habe. Diese Verallgemeinerung sei unzulässig, da Freud dadurch von ihm als universell ausgegebene psychische Gesetzmäßigkeiten von einem einzigen, noch dazu seinem eigenen Fall ableite.

Diese beiden Behauptungen werden von Onfray mit großer rhetorischen Beharrlichkeit immer erneut abgewandelt. Zwischen diesen Wiederholungen des ewig Selben beschuldigt Onfray in der Hauptsache Anna Freud, Ernest Jones und Peter Gay der systematischen Legendenbildung im Fall Freuds. Dies alles wird in einem Ton vorgebracht, als würden hier große Neuigkeiten verkündet, was wahrscheinlich nur diejenigen Leser Onfrays überzeugen wird, auf die das Buch zielt. Jeder dagegen, der sich auch nur oberflächlich mit der Literatur zu Freud beschäftigt hat, weiß, dass der Einfluss der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts und insbesondere Nietzsches auf Freud inzwischen breit dokumentiert und diskutiert wurde. Onfray rennt hier unter großem Gebrüll Türen ein, die bereits seit mehreren Jahrzehnten weit offen stehen.

Was die methodologische Kritik angeht, so bemerkt Onfray offenbar nicht (oder er will es nicht bemerken), dass seine Kritik gänzlich ins Leere geht: Zum einen hat Freud nie bestritten, dass er selbst und die Angehörigen seiner Familie bevorzugte Objekte seiner Studien waren, zum anderen ist es nicht verwunderlich, dass Freud allgemein gültige psychische Gesetzmäßigkeiten auch an sich selbst feststellen kann. Onfrays Argument folgt in etwa der Struktur, dass Newtons Gravitationsgesetz nicht gültig gewesen wäre, hätte Newton es bloß dadurch herausgefunden, dass er es an der Schwere seiner eigenen Person studiert hätte. Wollte Onfray tatsächlich nachweisen, dass hier ein Fehler vorliegt, so müsste er – wie dies andernorts durchaus fruchtbar praktiziert worden ist – zuerst auf empirischem oder logischem Weg nachweisen, dass die von Freud als allgemein gültig angesehen psychischen Gesetzmäßigkeiten diesem Anspruch nicht genügen, um dann Freuds Schluss von sich auf andere als Fehlschluss nachweisen zu können. Selbstverständlich macht sich der Philosoph Onfray die Mühe eines solchen Nachweises nicht, besonders auch weil dessen langwierige Erarbeitung und detaillierte Darstellung am Interesse seiner Zielgruppe gänzlich vorbeigehen würde.

Von der logischen Schwierigkeit, dass Onfrays Argument gegen Freud auf ihn selbst zurückschlägt und so seine Kritik Freuds als nichts anderes erscheinen muss als ein Ausfluss seiner – Onfrays – persönlichen psychischen Disposition, wollen wir hier ganz schweigen; ein beschämendes Bild mangelnder Reflexion für einen, der sich als Philosophen ausgibt. Bleibt nur noch festzuhalten, dass Onfray eine Diskussion des wichtigen Arguments, dass sich die Richtigkeit der psychoanalytischen Theorie letztlich nur an den Erfolgen bzw. Misserfolgen der therapeutischen Praxis entscheiden wird (eine Entscheidung, die noch lange nicht gefallen ist und wahrscheinlich auch erst fallen wird, wenn sie vollständig unerheblich geworden ist), in keiner einzigen Zeile auch nur versucht.

Insgesamt lässt sich das Buch völlig ausreichend beurteilen, wenn man einen Blick auf das Cover der deutschen Ausgabe wirft: Da hat ein frecher, kleiner Junge dem Papa Sigmund Hörner, eine Brille und eine herausgestreckte Zunge angemalt und eine Teufelsgabel in die Hand gedrückt. Man kann das witzig finden, aber es ist weder ein Argument gegen die Psychoanalyse, noch wird Freud auf diese Weise tatsächlich zum Teufel. Das Buch ist ein alberner und etwas kindischer Versuch Onfrays, mit einem seiner geistigen Väter abzurechnen – und es folgt damit so klassisch dem Freudschen Mythos vom Vatermord, dass es schon wieder lächerlich ist.

Michel Onfray: Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. München: Knaus, 2011. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,99 €.

Wieland in Oßmannstedt

978-3-937434-23-0Kleines Heft aus der Reihe »Menschen und Orte«, die ich bislang noch nicht kannte. Bekanntlich erwarb Christoph Martin Wieland 1797 ein Landgut in Oßmannstedt in der Nähe Weimars, um sich, ohne rechten Erfolg, als Landwirt zu versuchen. Das Haus ist, nachdem es zuletzt als Schule gedient hatte, von der Stiftung Weimarer Klassik zu Anfang des 21. Jahrhunderts endlich renoviert und die ehemals winzige Gedenkstätte (zwei Räume) erweitert worden, um den Begründer des Weimarischen Musenhofs an dieser Stelle angemessen präsentieren zu können. Der Ort ist natürlich allein deshalb wichtig, weil Wieland dort zusammen mit seiner Frau Dorothea und der »Seelentochter« Sophie Brentano in einem der schönst gelegenen deutschen Dichtergräber liegt.

Das nur 32 Seiten starke Heft enthält zahlreiche Abbildungen und Fotographien, und in der sie begleitenden, kenntnisreichen Biographie lassen sich auch vom Kenner noch nette Funde machen:

Mit Sorge betrachtete er [Wieland] die zunehmende Schwäche Dorotheas. Vierzehn Kinder hatte sie ihm geboren. „Es wären noch mehr geworden, wenn sich die Eheleute nicht zeitlebens gesiezt hätten“, hatte Goethes Freundin Charlotte von Stein gespottet.

Christoph Martin Wieland in Oßmannstedt. Text: Bernd Erhard Fischer. Photographien: Angelika Fischer. Berlin: Ed. A·B·Fischer, 2008. 32 Seiten, geheftet. 7,80 €.

Claus Priesner: Geschichte der Alchemie

978-3-406-61601-3Eine kurze, leider aber auch etwas kurzatmige Geschichte der Alchemie von den antiken Anfängen bis zum 20. Jahrhundert. Der Autor ist Chemiker und, soweit es die Alchemie im engeren Sinne angeht, fraglos kompetent und von erfrischend nüchterner Grundhaltung zu seinem Thema. Sobald es aber über den engen Umkreis des Hauptthemas hinausgeht, wird die Darstellung rasch oberflächlich, was den Autor aber nicht hindert, auch anspruchsvolle Thesen mit starkem Selbstbewusstsein zu formulieren:

Die Vorstellung, dass sich geistig-kulturelle Entwicklungen sprunghaft, in Form abrupter Paradigmenwechsel vollziehen wird hier eindrucksvoll ad absurdum geführt. Mit anderen Worten: Das Schlagwort von der «Scientific Revolution», das Thomas S. Kuhn mit seinem gleichnamigen Buch 1962 berühmt machte, eignet sich nicht zur Beschreibung historischer Prozesse […].

Andere Formulierungen, insbesondere dann, wenn es um philosophische Inhalte im engeren Sinne geht, geraten auch gern einmal zur Stilblüte:

Descartes entwickelte eine universelle Methode zur Erforschung der Welt, nämlich das rationale Denken.

Welche Methode mögen da wohl Platon oder Aristoteles verwendet haben?

Sieht man von dieser grundsätzlichen Schwäche ab, ist das Büchlein für einen ersten Überblick recht gut geeignet. Insbesondere die Darstellung der Genese und frühen Entwicklung der Alchemie in Ägypten und Griechenland überzeugt. Ebenso ist der Übergang zur modernen Chemie gut und auch für chemische Laien verständlich dargestellt. Da das Büchlein als kurze und sachliche Darstellung der Geschichte der Alchemie weitgehend konkurrenzlos sein dürfte, kann es wohl oder übel empfohlen werden.

Claus Priesner: Geschichte der Alchemie. Beck’sche Reihe 2718. München: C. H. Beck, 2011. Broschur, 128 Seiten. 8,95 €.

Bill Bryson: At Home

Victorian rigidities were such that ladies were not even allowed to blow out candles in mixed company, as that required them to pucker their lips suggestively.

978-0-552-77753-3Nach seinem Bestseller »Eine kurze Geschichte von fast allem« liefert Bryson nun ein weiteres umfangreiches Sachbuch, das sich im Wesentlichen als eine Kulturgeschichte des Alltags im 19. Jahrhundert liest. Sein Titel verdankt sich der Grundidee, das Buch durch einen Gang durch sein eigenes Haus zu strukturieren. Bryson lebt in einem Pfarrhaus in Norfolk, das Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Anhand der Baupläne und der tatsächlich existierenden Räumlichkeiten erzählt Bryson eine breit gefächerte Kulturgeschichte, deren Fokus auf den Entwicklungen und Erfindungen im England des 19. Jahrhunderts liegt, sich aber bei einzelnen Themen auch bis in die Antike zurückbegibt.

Wie schon im Vorgänger erweist sich Bryson nicht nur als ein begabter Erzähler, der ein exzellentes Gespür dafür hat, was erzählt werden muss und was fortgelassen werden kann, sondern auch als ein brillanter Rechercheur und Organisator des Materials. Obwohl das Buch zu Abschweifungen neigt, die sich oft nur mehr sehr locker an das vom gerade besprochenen Raum vorgegebene Thema anschließen, ist die Lektüre stets unterhaltsam und kurzweilig, von den unzähligen kuriosen Informationen, die dabei abfallen, ganz zu schweigen. Ein gutes, erschließendes Register rundet die englische Ausgabe ab; ich will für die deutschen Leser hoffen, dass auch die Übersetzung mit einem ausgestattet sein wird.

Bill Bryson: At Home. A Short History of Private Life. London: Black Swan, 2011. Broschur, 700 Seiten. 9,– €.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

978-3-446-23634-9Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.

Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:

Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

Oder:

In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.

Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.

Matthias Matussek: Wir Deutschen

978-3-596-17151-4Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte. Matussek ist ein unerträglicher Aufschneider, der lauter tolle Leute kennt, die auch wie er der Meinung sind, dass es aufwärts und vorwärts und überhaupt am besten und schönsten deutschwärts geht. Endlich ist der Deutsche wieder stolz, und das mit gutem Recht. Denn Beethoven und Goethe, Heine und Thomas Mann, damit kann man sich doch sehen lassen, oder? Dass der eine nach Wien gegangen ist, der andere nur in Rom erfahren konnte, was Glück ist, dass der dritte nach Paris fliehen musste, weil man ihn in Deutschland als Autor in den Kerker geworfen hätte und der vierte nach der Flucht vor den Nationalsozialisten dann doch lieber in der Schweiz geblieben ist, muss man ja nicht allzu sehr betonen.

Dass Matussek sich dem Leser als Nachfolger, wenn nicht gar als letzter legitimer Erbe Heines präsentiert und das in einem Kapitel, das nur so von Fehlern wimmelt, von halb Gewusstem und schlecht Erinnertem, das ist die eine Sache. Dass sich die Herrschaften des deutschen Feuilletons nicht entblöden, ihm das nachzuquatschen, ist die andere. Es ist sehr, sehr schade, dass uns heutzutage ein Karl Kraus fehlt, der eine aufgepumpte Schweinsblase wie Herrn Matussek einmal öffentlich zum Platzen bringen könnte.

Für die Engländer ist Nation etwas so Selbstverständliches, dass die »Encyclopaedia Britannica« dem Begriff »Nation« keine einzige Zeile widmet […].

Erstens ist die EB ein US-amerikanisches Lexikon, zweitens weiß jeder, der mit der EB umgehen kann, dass man in den Index schauen muss, um feststellen zu können, ob über irgend etwas tatsächlich keine Zeile in der EB steht. Und natürlich steht mehr als eine Zeile über den Begriff »Nation« in der EB, nur eben nicht an der Stelle, wo Herr Matussek nachgeschaut hat; falls er nachgeschaut hat. Und so ist das ganze Buch; nun, wenigstens die erste Hälfte, denn darüber hinaus habe ich mir diesen Schwachsinn nicht angetan. Das Übrige ist aber sicher ganz toll!

Matthias Matussek: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. Fischer Taschenbuch 17151. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 22009. 352 unerträgliche Seiten. 9,95 €.

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen

978-3-15-021702-3Ein kurze, gut lesbare Einführung in die Geschichte der Entzifferung antiker Schriftsysteme von den ägyptischen Hieroglyphen über verschiedene andere Hieroglyphen und Keilschriften bis hin zu Linear B. Es folgen dann noch kurze Kapitel zu nicht bzw. nur teilweise entzifferten Schriften wie Linear A, das Etruskische, die Indus- und die Osterinselschrift.

Das Buch ist für ein Sachbuch schon etwas betagt. Es wurde erstmals 1957 veröffentlicht und dann 1993 in einer Neubearbeitung erneut aufgelegt; in dieser Fassung wurde es 2008 von Reclam noch einmal gedruckt. Auch der überarbeiteten Fassung merkt man noch deutlich ihre Herkunft aus den 50er Jahren an, als Sachbücher noch versuchten, mit lebhaften Darstellungen zu glänzen. Leider bemerkt man das Alter auch an anderen Stellen:

Sayce war nicht, wie heute außerhalb Großbritanniens gerne behauptet wird, Engländer, sondern Waliser, stammte beiderseits von altadeligen und begüterten walisischen Familien ab und hatte auch das Walisische zur Muttersprache. So findet sich auch in diesem ungewöhnlichen Forscher der keltische Hang zum Grübeln und Sinnieren, die keltische Lust am fabulieren (die ihm in seinen Arbeiten so manchen Streich spielte), aber auch die impulsive Wärme und das überschäumende Temperament, das man seinen Stammesgenossen gerne nachsagt.

Zum Glück sind solche Passagen, in denen der Autor dem germanischen Hang zum Unsinnreden nachgibt, eher selten.

Insgesamt eine gute, informative Darstellung, die den Laien weder unter- noch überfordert.

Ernst Doblhofer: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. Reclam Taschenbuch 21702. Stuttgart: Reclam, 22008. 350 Seiten. 9,90 €.

Alexander Unzicker: Vom Urknall zum Durchknall

Breit angelegte Polemik gegen das Establishment in der Physik und deren Theorielastigkeit bzw. Em­pi­rie­feind­lich­keit. Das Buch ist weitgehend frei von Formeln und kann von einem interessierten Laien auch ohne tiefergehende Kenntnisse der mathematischen Grundlagen der Physik gut verstanden werden. Unzicker hebt sowohl in der physikalischen Kosmologie als auch in der Teilchenphysik die starken theoretischen Vorannahmen der sogenannten Standardmodelle heraus, zitiert ausführlich die Kritiker dieser Standardmodelle und macht sich über einzelne herausgehobene Personen des Forschungsbetriebs lustig. Seine Lieblingshassobjekte sind die Theorie der Inflation des frühen Universums und die Stringtheorie.

Für einen Außenstehenden ist das ganz witzig zu lesen, und es erhärtet den natürlichen Verdacht, dass die von zahlreichen Na­tur­wis­sen­schaft­lern angenommene Attitüde, sie seien die einzigen rechtmäßigen Verwalter der Wahrheit auf Erden, nicht viel mehr ist als die Fortsetzung des Priestertums mit anderen Mitteln.

Eine durch und durch erfrischende Lektüre von einem selbstkritischen, aber auch recht selbstbewussten Autor.

Alexander Unzicker: Vom Urknall zum Durchknall. Die absurde Jagd nach der Weltformel. Heidelberg: Springer, 2010. Pappband, 330 Seiten. 24,95 €.