John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces

You could tell by the way that he talked, though, that he had gone to school a long time. That was probably what was wrong with him.

Ich muss gestehen, dass mich dieses Buch sehr spät erreicht hat. Geschrieben in den 1960er-Jahren, erschienen nach langem Widerstand diverser Verlage erst 1980, erhielt es 1981 den Pulitzer-Preis für Fiction und wurde schon 1982 zum ersten Mal und dann 2011 ein weiteres Mal ins Deutsch übersetzt. Dennoch ist mir das Buch bewusst erst letztes Jahr über den Weg gelaufen. In den USA wird es als wegweisendes Buch der sogenannten Southern literature gelesen und steht auf zahlreichen Must-read-Listen. In Deutschland scheint es mir immer noch ein Geheimtipp zu sein; aber da kann ich mich irren.

Erzählt werden einige Wochen aus dem Leben des Ignatius J. Reilly, eines übergewichtigen 30-Jährigen, der in New Orleans im Haus seiner Mutter Irene wohnt, den Kontakt zur Außenwelt so gut wie möglich meidet und sich in exzessiver Kritik des Kinos und Fernsehprogramms übt. Ignatius hat Mediävistik studiert und auch einige Zeit an der Universität unterrichtet, konnte sich aber nicht ins Hochschulsystem einpassen und wurde entlassen. Seitdem liegt er seiner Mutter auf der Tasche.

Erzählanlass ist ein Autounfall, bei dem Ignatius’ entnervte Mutter versehentlich beim Ausparken in ein Gebäude fährt und einen Balkon beschädigt. Der Hauseigentümer verlangt, dass die Reillys ihm den Schaden, gut 1.000 $, ersetzen, und um eine juristische Auseinandersetzung zu vermeiden, stimmt Irene dieser Forderung auch zu. Da aber völlig unklar ist, wie die beiden das Geld auftreiben sollen, bleibt als einziger Ausweg, dass Ignatius in die von ihm gehasste Welt zieht und sich Arbeit sucht. Er nimmt zuerst eine Stellung im Büro einer Hosen-Fabrik an, wobei er seinen Vorgesetzten über seine wahre Archivierungs-Methode hinwegtäuscht, die schlicht im Wegwerfen der ihm zur Ablage übergebenen Akten besteht, um schließlich unter den Arbeitern der Fabrik eine Art von Aufstand in Szene zu setzen. Nach seiner Entlassung beginnt er als Hotdog-Verkäufer zu arbeiten, dies aber auch nur, weil er dabei als sein bester Kunde nahezu unbegrenzten Zugriff auf die Würsten hat.

Neben dieser scheinbaren Haupthandlung entwickeln sich zahlreiche Nebenhandlungen, die nicht im Einzelnen erzählt zu werden brauchen. Es ist genug zu sagen, dass sich die Konsequenzen der einzelnen Handlungsstränge zu einem immer bedrohlicheren Szenarium für den Protagonisten aufzubauen scheinen, wobei die drohenden Schicksalsschläge Ignatius immer wieder auf wundersame Weise verfehlen.

Ein etwas überdrehter, aber intelligenter und witziger Roman von einer überraschenden Welthaltigkeit. Er steht klar in der Tradition des modernen Schelmenromans und erweist sich trotz seiner anekdotischen Struktur als gut konstruiert. Ein Tipp für ein verregnetes Wochenende.

John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces. Kindle-Edition. Penguin / Random House, 2016. 338 Seiten (Druck-Ausgabe). 8,99 €.

Nikolai Gogol: Tote Seelen

… die Bauern hatten alle gescheite Gesichter; das Hornvieh war von bester Güte; sogar die Schweine der Bauern sahen aus wie Aristokraten.

Gogols einziger Roman, der zudem Fragment geblieben ist. Von den drei geplanten Teilen erschien 1842 der erste; der zweite soll wohl fertiggestellt worden sein, aber Gogol verbrannte das Manuskript kurz vor seinem Tod unter dem Einfluss eines religiösen Fanatikers. So sind vom zweiten Teil nur einige Kapitel erhalten, aus denen sich aber kein geschlossener Handlungsverlauf ablesen lässt und die zudem Lücken und leichte Unstimmigkeiten aufweisen. Trotzdem ist dem Roman anhaltender Erfolg beschieden gewesen: Nach seinem Erscheinen kontrovers diskutiert, wurde er für die nachfolgende Schriftsteller-Generation zu einem wichtigen Orientierungspunkt, sowohl in der Nachfolge als auch in der Opposition.

Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Zollbeamten Pawel Iwanowitsch Tschitschikow, der irgendwann nach 1812 in die Provinzstadt N. einfährt, die irgendwo zwischen Moskau und Petersburg liegt. Tschitschikow weiß mit seinen Schmeicheleien rasch die gesamte Oberschicht des Städtchens für sich einzunehmen, und beginnt, nachdem er sich so eingeführt hat, mit einer Rundfahrt zu diversen, im Umland gelegenen Güter. Dort kommt er zumeist recht direkt zu seinem eigentlichen Anliegen: Er möchte jene leibeigenen Bauern kaufen, die auf der aktuellen, staatlichen Revisionsliste verzeichnet, seit Erstellung dieser Liste aber verstorben sind. Für diese „toten Seelen“ hofft Tschitschikow, kaum etwas bezahlen zu müssen, da er die Gutsbesitzer von der Verpflichtung zur Zahlung der Kopfsteuer für diese Verstorbenen bis zur Erstellung der nächsten Revisionsliste befreit. Zwar stößt dieses Ansinnen bei allen Gutsbesitzern auf Kopfschütteln, aber angesichts der Aussicht auf einen, wenn auch noch so geringen Gewinn einer- und die Einsparung der Abgaben andererseits gehen nahezu alle darauf ein. Auch der Abschluss der entsprechenden Kaufverträge bei Gericht geht reibungslos über die Bühne, so dass sich Tschitschikow nach wenigen Tagen im Besitz einer stattlichen Anzahl von Leibeigenen sieht, die nur den winzig kleinen Fehler aufweisen, dass sie verstorben sind.

Wozu Tschitschikow diese toten Seelen benötigt wird im gesamten ersten Teil des Romans nicht ausdrücklich gesagt. Da das elfte Kapitel aber seine bisherige Karriere als Beamter zusammenfasst, die eine Abfolge von Korruption und betrügerischer Bereicherung darstellt, lässt sich zumindest vermuten, dass es sich um einen weiteren Betrug handeln dürfte. Anstatt nun N. auf dem schnellsten Weg zu verlassen, verkuckt sich Tschitschikow in die blonde Tochter des Gouverneurs, und weil ihn am Ort alle so sympathisch finden, bleibt er noch einige Tage. Doch kommt es in diesen wenigen Tagen zu einem Sturm der Klatsches und wilder Gerüchte, ausgelöst durch den einzigen Gutsbesitzer, dem Tschitschikow seine toten Seelen nicht hatte abkaufen können. Und ausgerechnet dieser Gutsbesitzer warnt Tschitschikow auch, dass ihm Ärger ins Haus stehe, was zu Tschitschikows fluchtartiger Abreise aus N. führt. Damit endet der erste Teil des Romans.

Der zweite Teil zeigt einen etwas gealterten Tschitschikow, der aber immer noch dasselbe Projekt verfolgt. Es wird nun klar, dass er die Bauern, die in einem verwaltungstechnischen Sinne immer noch am Leben sind, verpfänden möchte, um genug Kapital zu erwerben, um selbst ein Gut zu kaufen. Die Handlung des zweiten Teils bleibt rudimentär: Einerseits erwirbt Tschitschikow, begeistert über die ökonomische und höchst erfolgreiche Führung eines Gutes durch seinen Besitzer, selbst ein heruntergekommenes Gut zu einem Spottpreis, andererseits verwickelt er sich offenbar in einen Erbschaftsbetrug zu Lasten des Vorbesitzers seines gerade erworbenen Landgutes. Auch der zweite Teil sollte mit der Flucht Tschitschikows enden, allerdings diesmal aus wesentlich ernsterer Gefahr als zum Ende des zweiten Teils.

Es ist nur zu selbstverständlich, dass ein solcher Roman, der die Honoratioren der Provinz als eine Gruppe etwas eitler, um sich selbst kreisender Dummköpfe darstellt, die mit einigen Schmeicheleien gefügig, durch einige Gerüchte aber ebenso leicht kopfscheu gemacht werden können, als Satire gelesen wurde. Und sicherlich ist es auch so, dass in vielen Verfassern satirischer Schriften ein Moralist am Grunde ruht, der aufgeschreckt, wenn man seine Hervorbringung als Satire liest und entsprechend belacht. Wie sehr das bei Gogol der Fall war, lässt sich leicht aus den moralisierenden und überhaupt belehrenden Passagen des zweiten Teils ersehen, die wohl zum Ziel hatten, Tschitschikows letztendliche Läuterung in die Wege zu leiten. Es ist daher verständlich, dass sich Gogol von der allgemeinen Rezeption seines Romans missverstanden fühlte. Das ändert aber wenig an der Tatsache, dass die Satire die gelungenste Ebene des gesamten Romans ist. Von daher ist es vielleicht ein Glück, dass es dem Autor verwehrt geblieben ist, diesen Eindruck durch die nachfolgenden Romanteile zunichte zu machen.

In der Übersetzung Vera Bischitzkys ein frisches und humoristisches Buch auf der Höhe der europäischen Literatur seiner Zeit. Und man darf getrost die Lektüre mit dem Ende des ersten Teils einstellen; das Übrige dient nur literarhistorischen Zwecken.

Nikolai Gogol: Tote Seelen. Ein Poem. Aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky. dtv 14263. München: dtv, 52021. Broschur, 637 Seiten. 14,90 €.

Petron: Satyrica

Petrons Episodenroman, wahrscheinlich aus Neronischer Zeit (zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts), ist leider nur fragmentarisch überliefert. Die zeitliche Einordnung und die Verfasserfrage sind nicht ganz sicher zu klären, aber als wahrscheinlichste Variante gilt immer noch, dass der aus dem Umfeld Neros bekannte Titus Petronius Arbiter das Buch geschrieben hat. Es ist offensichtlich als Parodie auf die Homerische Odyssee angelegt; sein Erzähler Enkolp durchläuft eine lockere Folge von sozialen, intellektuellen, sexuellen, kulinarischen und handgreiflichen Abenteuern, die ein zugespitztes Panorama des Lebens der römischen Unterschicht liefern.

An einigen Stellen ist der Humor des Buches für den heutigen Leser wahrscheinlich etwas zu behäbig, an anderen Stellen zu grob, doch wenn man sich auf es einlässt, ist das Buch eine durchweg vergnügliche Lektüre. Leider macht sich der fragmentarische Charakter der Überlieferung an zu vielen Stellen bemerkbar, doch dem lässt sich nicht aufhelfen.

Die Neuübersetzung durch Karl-Wilhelm Weeber, der für eine ganze Flut von Büchern über römische Kultur und insbesondere römisches Alltagsleben verantwortlich zeichnet, ist sehr flott zu lesen, ohne dass sie sich, soweit ich das erkennen kann, vom Original entfernt. Im Gegenteil bildet Weeber zahlreiche grammatikalische Verwerfungen, die dazu dienen, sich über die Bildung diverser Figuren lustig zu machen, getreulich ab. Seine Übersetzung trifft auf jeden Fall den Tenor des Buches besser als so mancher der philologisch disziplinierteren Vorläufer.

Petron: Satyrica. Aus dem Lateinischen von Karl-Wilhelm Weeber. RUB 19553. Stuttgart: Reclam, 2018. Broschur, 297 Seiten. 7.– €.

Salman Rushdie: Quichotte

Solche Geschichten gehen alles in allem nicht gut aus.

Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gemeint:

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe I. München: Hanser, 1968. S. 659. [J 46]

Woran allein man gut erkennen kann, dass Lichtenberg mit der Literatur unserer Zeit nicht hinreichend bekannt war. Denn die meisten Rezensionen zu Salman Rushdies neuem Roman, in die ich hineingeschaut habe, werden mit dem Buch spielend fertig, weil ihre Verfasser das Buch offenbar nicht oder wenigstens nur flüchtig gelesen haben. Hat man dagegen den Roman und halbwegs gründlich gelesen, sieht man sich vor die herkulische Aufgabe gestellt, das Buch in aller Kürze vorzustellen zu sollen, ohne es entweder in einem vollständig falschen Licht erscheinen zu lassen oder sich komplett in kryptisches Raunen zu verlieren. Versuchen wir es dennoch:

Erzählt wird diese Geschichte auf mindestens zwei fiktionalen Ebenen – Arno Schmidt hätte von einem Längeren Gedankenspiel gesprochen –, erstens der des fiktiven Schriftstellers Sam DuChamp (das ist nur sein Pseudonym, seinen wahren Namen erfahren wir nicht), eines mäßig erfolgreichen Verfassers von Agenten-Thrillern, der gerade dabei ist, die Geschichte eines Quichottes des 21. Jahrhunderts zu schreiben, die die besagte zweite Ebene bildet. Dieser Schriftsteller, der wie die meisten Figuren dieser Ebene nur nach seiner verwandtschaftlichen Beziehung benannt wird, Bruder also, lebt in New York und ist seit vielen Jahren mit seiner Schwester, Schwester genannt, zerstritten, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, sich am väterlichen Erbe betrügerisch bereichert zu haben. Schwester ist Rechtsanwältin und lebt, verheiratet mit einem Richter, mit dem sie die Tochter Tochter hat, in London. Sie steht kurz vor dem Gipfel der gesellschaftlichen Anerkennung, da sie Sprecherin des englischen Oberhauses werden soll. Aber auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.

Weder Bruder noch Schwester sind ihre Karrieren an der Wiege gesungen worden: Beide stammen – wie der sie erfindende Autor Salman Rushdie – aus Bombay. Auch der von Bruder erfundene Quichotte stammt aus dieser Stadt, lebt aber ebenfalls schon lange in den USA; er ist etwa 70 Jahre alt, wird zu Anfang des Buches von seinem Cousin zwangspensioniert – er hat zuletzt als Pharmavertreter gearbeitet. An seine Vergangenheit kann er sich nur lückenhaft erinnern, da er früher einmal einen Schlaganfall erlitten hat; seitdem ist er etwas wunderlich geworden, verbringt seine Freizeit hauptsächlich vor dem Fernseher (das sind seine Ritterromane!) und ist verliebt in die ebenfalls aus Indien stammende Talkshow-Moderatorin Salma R. (!) In die Freiheit des Ruhestandes entlassen, begibt er sich auf eine Quest, Salmas Liebe zu erlangen. Um den langen Weg nach New York nicht alleine zurücklegen zu müssen, erfindet er sich einen Sohn, Sancho, der auf gewisse Weise eine dritte fiktionale Ebene in das Buch einzieht. Dieser erfundene Sohn, obwohl zuerst eindeutig ein Gedankenprodukt Quichottes, gewinnt rasch an Selbstständigkeit und wird zur dritten Hauptfigur des Romans. Er erweist sich dabei weniger als ein Abbild des Sancho Pansa des Cervantes, sondern ist offenbar an Collodis Pinocchio entlang erfunden.

Das Buch erzählt in alternierenden Abschnitten die Geschichten Quichottes, Bruders und schließlich auch Sanchos. Dabei nutzt Rushdie alle Freiheiten des traditionellen pikarischen Romans: Immer wieder finden sich Nebengeschichten und unvorbereitete Abschweifungen, Pfade der Erzählung, die letztlich nirgends hin führen, fantastische Einschübe, albtraumhafte Sequenzen und was der Tricks mehr sind. Die Flut der Anspielungen auf Literatur, aber besonders auch auf Film und Fernsehen ist überwältigend – allein mit der Aufzählung der Offensichtlichsten ließen sich Seiten füllen –; ganz nebenbei wird ein Agententhriller eigebaut, in den Bruders Sohn Sohn verwickelt ist; es wird die Opioid-Sucht in der amerikanischen Gesellschaft thematisiert; der alltägliche Rassismus in den USA kommt ebenso vor wie das Problem des Kindesmissbrauchs in Familien; und nicht zuletzt sind auch Verschwörungstheoretiker prominent vertreten und ein wirtschaftlich erfolgreiches Genie, das den Weltuntergang prophezeit und die Menschheit auf die Erde eines Paralleluniversums hinüber retten will. Und bei all diesen Wendungen und Themen findet Rushdie immer erneut einen Weg, sie auf den Ritter von der traurigen Gestalt und seinen verzweifelten Kampf gegen die Realität zu­rück­zu­be­zie­hen.

Ich weiß wohl, dass Rushdies Bücher immer so sind, wenn ich auch von seinen Romanen zu wenige gelesen habe, um dieses Vorurteil tatsächlich inhaltlich füllen zu können, aber es hat mich überwältigt. Dieses Buch ist von einem Reichtum an Erfindung, einer Freiheit der Phantasie, einer Stringenz des Gedankens und nicht zuletzt einem so souveränen Humor, dass ihm eine Besprechung wohl nicht gerecht werden kann. Um auch mit Lichtenberg zu schließen, sei einmal mehr gesagt:

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Ebd. S. 359. [E 79]

Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. München: C. Bertelsmann, 2019. Pappband, 461 Seiten. 25,– €.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz

978-3-596-18074-5Roman um einen jungen, jüdischen Tausendsassa, der in den Nachkriegsjahren in Montreal eine fieberhafte geschäftliche Tätigkeit entwickelt, um in den Besitz eines Sees zu gelangen, an dem er Hotels und ein Ferienlager errichten möchte. Er gründet zu diesem Zweck eine Filmproduktion, die Hochzeiten und Bar-Mizwa-Feiern dokumentiert. Da Duddy jedoch einen in Hollywood durchgefallenen, avantgardistischen Regisseur anheuert, muss er all seine Überredungskünste aufbringen, um seinen ersten Film als Kunstwerk verkaufen zu können. Nebenbei holt er seinen weggelaufenen Bruder Lennie wieder zurück und rettet dessen Medizinstudium, fährt, wenn das Geld mal wieder knapp wird, zusätzliche Schichten im Taxi seines Vaters, vereinigt seinen totktranken Onkel wieder mit dessen Frau, vermittelt hier und da einige kleinere Geschäfte, wird unfreiwillig als Drogenkurier eingesetzt und erleidet, wie nicht anders zu erwarten, einen ordentlichen Nervenzusammenbruch. Und natürlich kommt auch die Liebe vor:

»Ich kapier’s nicht«, sagte Duddy nachher. »Stell dir mal vor, Kerle heiraten und hängen sich für ihr ganzes Leben an ein einziges Weib, dabei laufen so viele herum.«
»Menschen verlieben sich«, sagte Yvette. »Das kommt vor.«
»Es stürzen auch Flugzeuge ab«, sagte Duddy.

Erzählt wird all dies in einem hohen Tempo und mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Sowohl die Milieuschilderungen als auch die Charaktere sind durchweg überzeugend. Nur das Ende des Romans fällt ein klein wenig ab; hier scheint Richler der entscheidende Einfall gefehlt zu haben.

Erstaunlich ist, dass dieser Roman bereits 1959 erscheinen ist – er war Richlers Durchbruch –, seine Verfilmung 1975 sogar für einen Oscar nominiert war, er aber erst 2007 auf Deutsch erschienen ist. Das scheint dafür, dass Richler als einer der bedeutendsten Autor Kanadas gilt, eine ungewöhnlich lange Zeitspanne zu sein. Wollen wir hoffen, dass Richler auch spät noch die Leser findet, die er verdient.

Mordecai Richler: Die Lehrjahre des Duddy Kravitz. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Fischer 18074. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. 432 Seiten. 9,95 €.

Aravind Adiga: The White Tiger

adiga_tiger Bemerkenswerter Erstling eines jungen indischen Autors, auf den ersten Blick eine Kombination aus Schelmenroman und monologischem Briefroman. Beim Ich-Erzähler bzw. Verfasser der »Briefe«, die vorgeblich als E-Mails daherkommen, handelt es sich um Balram Halwai, Sohn eines Rikscha-Wallahs aus der indischen Provinz, der nun als erfolgreicher Unternehmer in Bangalore lebt. Seine E-Mails sind an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao gerichtet, dessen Staatsbesuch in Indien unmittelbar bevorsteht. Ziel der E-Mails sei, dem Premier das Wesen freien Unternehmertums zu erklären, über das dieser sich angeblich in Bangalore unterrichten will.

Balram, der unter falschen Namen lebt, weil er wegen Mordes gesucht wird, präsentiert sich als ein Muster eines neuen indischen Unternehmertums. Seine Karriere beginnt, als es ihn aus seinem Dorf nach Delhi verschlägt, wo er zufällig eine Stelle als Fahrer im Haushalt eines seiner ehemaligen Grundherrn erhält. Er wird schließlich Fahrer des westlich beeinflussten, liberalen Sohnes der Familie, den er eines Tages ermordet, um mit 700.000 Rupien, die als Bestechungsgeld für die Regierung vorgesehen waren, nach Bangalore zu fliehen. Balram eröffnet dort ein Taxiunternehmen, besticht die örtliche Polizei, um sich einige Konkurrenten vom Hals zu schaffen, und etabliert sich als zwar korrupter, doch zugleich »moralischer« Mittelständler.

Die überraschende, aber überzeugende Erzählstrategie des Buches, seinen inzwischen zynischen Protagonisten sein Leben und seine private »soziale Revolution«, d. h. den Mord an seinem Brotherrn, in der Ich-Form erzählen zu lassen, erzeugt eine reizvolle ironische Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Und dass das Buch von seinen humoristischen und pittoresken Anfängen ausgehend am Ende bei einem tief schwarzen und pessimistischen Bild des heutigen Indien ankommt und aus seinem armseligen, naiven Narren einen »modernen« Geschäftsmann mit der Moral eines Mafiapaten macht, der den Tod zahlreicher Familienmitglieder als Folge seiner »Karriere« billigend in Kauf nimmt, ist eine überzeugende und nur konsequente Schlusspointe. Ein Schriftsteller geringeren Rangs  wäre hier in die Harmlosigkeiten eines letztlich unverbindlichen Humors ausgewichen – sapienti sat.

Ein mutiger Erstling eines Autors, den man nicht aus den Augen verlieren sollte. Das Buch hat in diesem Jahr den renommierten und verlässlichen Booker Prize gewonnen. Eine deutsche Übersetzung von Ingo Herzke ist gerade bei C. H. Beck in München erschienen.

Aravind Adiga: The White Tiger. New York u. a.: Free Press, 2008. Pappband, Fadenheftung, Buchblock mit Büttenkante vorn, 276 Seiten.  Ca. 15,– €.