Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick?

philbrick_moby-dickNathaniel Philbrick hat nicht nur einen Roman über die Tragödie des Walfangschiffs Essex verfasst, sondern auch eine verdienstvolle, vollständige Sammlung der Augenzeugenberichte über dieses Vorbild für den Untergang der Pequod in Herman Melvilles »Moby Dick« herausgegeben (darüber bald mehr an dieser Stelle). Das kleine Büchlein »Why Read Moby-Dick?« ist eine sehr persönlich gehaltene Anregung zur Lektüre dieses nicht einfachen Klassikers der amerikanischen Literatur. Es reißt zahlreiche Themen des Buches an, gibt kurze Einblicke in die Biographie Melvilles, zitiert einige Stellen aus seinen Briefen an Nathaniel Hawthorne, erzählt anekdotisch von der Niederschrift des „Moby-Dick“ und ist insgesamt getragen von einer aufrichtigen Begeisterung für das Buch.

Ich habe es als Anregung gelesen, weil bei mir in den nächsten Wochen Melville dran ist, da ich im November wieder einmal einen Vortrag über ihn und seinen großen, weißen Wal halten werde. Als (Wieder-)Einstieg ins Thema ist das Buch exzellent und kann allen Neugierigen für eine nachmittägliche, kurzweilige Lektüre empfohlen werden.

Nathaniel Philbrick: Why Read Moby-Dick? New York: Viking, 2011. Wachstuch, Leinenrücken, rauer Schnitt, 131 Seiten. Ca. 15,– €.

Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht

Berghaus_LuhmannWährend meines Philosophie-Studiums in den 80er Jahren war Luhmanns Systemtheorie gerade der neuste Schrei. Ich war nun zu der Zeit mehr an antiker Philosophie, Kant, Hegel und Wittgenstein interessiert und auch im Nebenbei kam Luhmann nicht vor. Doch neugierig bin ich immer geblieben. Und da der Ort des Verbrechens mich nicht loszulassen scheint, kehrt immer wieder einmal das alte Interesse an reiner Theorie zurück. Zum Einstieg habe ich Margot Berghaus durchweg gelobte Einführung angelesen und kann mich der allgemeinen Meinung nur anschließen. Die Illustrationen der Autorin sind zwar etwas zu niedlich und in einem strengen Sinne sicherlich überflüssig, aber sonst ist alles an dieser Einführung gelungen. Sie ist geeignet für absolute Einsteiger, die es wahrscheinlich sogar etwas leichter haben werden, als philosophisch oder anderweitig kommunikationstheoretisch vorgebildete Leser, da Luhmann zentrale Begriffe der Kommunikation doch recht ungewöhnlich fasst. Berghaus zielt auf Studierende der Soziologie und Kommunikationswissenschaften (ihr wichtigstes praktisches Beispiel sind die Massenmedien). Ich selbst habe vergeblich nach einer Einführung aus philosophischer Sicht gesucht und kann auch nicht einschätzen, welche Rolle Luhmanns Systemtheorie innerhalb der aktuellen Philosophie überhaupt spielt.

Für mich persönlich war die Einführung nach etwa einem Drittel dann doch etwas zu grundlegend, und ich werde es in absehbarer Zeit mit Luhmanns eigener Einführungsvorlesung zur Systemtheorie probieren. Von da aus werde ich versuchen, mir die Theorie langsam von den Rändern her anzueignen.

Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. UTB 2360. Köln u.a.: Böhlau 32011. Broschur, 314 Seiten. 19,90 €.

Albert Meier: Goethe

Meier_GoetheAuf knapp 320 Seiten einen Überblick über das Werk Johann Wolfgang von Goethes zu geben, ist alles andere als eine einfache Aufgabe. So sollte jeder Versuch mit einer gewissen Milde betrachtet werden und eher darauf hin betrachtet werden, was gelungen ist, als was fehlt. Meier liefert eine grob chronologisch geordnete, thematisch gebündelte Einführung in Goethes Schreiben und Denken. Er konzentriert sich auf die wichtigsten, meist rezipierten Werke, fügt aber auch ein Kapitel über Goethes naturwissenschaftliche Versuche ein, bevor er sich am Ende ein wenig in der Begeisterung für den zweiten Teil des »Faust« verliert. Es wird nur ein rudimentäres biographisches Gerüst geliefert; biographische Details erfährt man nur dort, wo sie zum Verständnis eines einzelnen Werks notwendig erscheinen.

Abgesehen von der Frage, ob man Meiers Deutungen und Gewichtungen zustimmt, macht das Buch einen soliden Eindruck und informiert seinen Leser über alle wichtigen Aspekte des Werks. Die historische Einordnung des Werks hätte ich mir detaillierter und kritischer gewünscht, es ist ihr aber prinzipiell nicht widersprechen. Eine durchaus anspruchsvolle Einführung, die aber nicht für sich allein stehen kann und weitere Lektüre notwendig macht.

Albert Meier: Goethe. Dichtung, Kunst, Natur. Stuttgart: Reclam, 2011. Pappband, 346 Seiten. 24,95 €.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol

«Nun ja», sagte mein Verleger …

Nabokov_GogolDas Büchlein über Gogol ist 1942 als zweites auf englisch geschriebenes Buch Nabokovs entstanden und 1944 im selben Verlag wie sein Vorgänger »The Real Life of Sebastian Knight« erschienen. Es ist der erste umfangreiche literaturwissenschaftliche Text Nabokovs, dem später seine Vorlesungen über russische und westeuropäische Literatur folgen sollten. In allen diesen Büchern erweist sich Nabokov als ein – um es positiv zu formulieren – sehr origineller Leser, der oft die Ansätze anderer Interpreten als unsinnig oder irrelevant verwirft und weitgehend nur den ihn selbst interessierenden Zugriff gelten lässt. Dies bedeutet in den meisten Fällen eine unnötige Verengung der Werke auf einzelne Aspekte.

So verwirft Nabokov im Fall Gogols alle gesellschaftskritischen und politischen Aspekte von dessen Texten, auf die sich ein bedeutender Teil der Rezeption konzentriert hat, als Missverständnis. Er weiß sich in dieser Ablehnung einig mit dem Autor, wenn er auch zugleich dessen religiös gefärbte Selbstdeutungen ebenso verwirft. Nabokov schätzt in Gogols Werken wesentlich zwei Aspekte: Die sprachliche Originalität und die Fülle der Randfiguren und nebensächlichen Details, die mit der eigentlichen Handlung wenig oder nichts zu tun haben. Nabokov liest Gogol wesentlich als phantastischen Autor, dessen Bücher eine autarke Realität etablieren, der der Leser nachzuspüren habe. Dem mag man folgen wollen oder nicht, doch wird es in der Exklusivität, mit der es vorgetragen wird, weder der Fülle möglicher Deutungsansätze, die die Texte stützen, noch ihrer tatsächlichen historischen Wirkung gerecht. Am Ende sagen Nabokovs literarhistorische Texte mehr über ihn als Leser und Autor aus als über die Autoren und Werke, über die er schreibt.

Was das Buch nicht enthält, ist eine auch nur einigermaßen vollständige Biographie Gogols oder Inhaltsangaben der behandelten Werke. Dies wurde bereits vor dem Erstdruck kritisch von Nabokovs Verleger angemerkt (was Nabokov im Anhang des Büchleins genauer dokumentiert als irgend ein biographisches Detail aus dem Lebens Gogols) und wurde mehr als notdürftig durch einen Anhang ausgeglichen. Auch hierin zeigt sich deutlich Nabokovs Desinteresse an hergebrachten interpretatorischen Zugriffen auf Autoren. Dass er selbst nach Jahren mit dem Buch nicht mehr sehr zufrieden war, ja, auch betont hat, dass es Gogol sicherlich missfallen hätte, markiert diese Haltung nur noch deutlicher. Das Buch ist daher eher für Nabokov-Leser aufschlussreich als für jene, die eine Einführung zu Gogol suchen.

Vladimir Nabokov: Nikolaj Gogol. Deutsch von Jochen Neuberger. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Lesebändchen, 213 Seiten. 19,– €.

Peter Rüedi: Dürrenmatt

In einer beispiellosen autobiographisch-erzählerisch-essayistischen Mischform, einer Art Ruinenbaumeisterei, stößt er zu einer neuen, multiperspektivischen Form von Literatur vor und entkommt mit ihr selbst dem Scheitern, indem er es akzeptiert.

978-3-257-06797-2Die Auseinandersetzung mit Friedrich Dürrenmatts Werk ist heute alles andere als simpel. Sie scheint gespannt zu sein zwischen zwei Polen: Einerseits ist ein Teil seines Werks offenbar obsolet geworden: »Die Physiker« etwa hat sich thematisch überlebt und ist dramaturgisch zu geradlinig, um außerhalb der Schullektüre noch Spannung zu erzeugen. Das Thema der christlichen Stücke – »Die Wiedertäufer«, »Der Blinde« oder »Ein Engel kommt nach Babylon« – ist zumindest in Europa sehr an den Rand der öffentlichen Diskussion geraten. Anderseits erscheint ein anderer, größerer Teil des Werks vielen Lesern nicht zu Unrecht esoterisch, philosophisch und schwer zugänglich. Einzig die Kriminalromane dürften sich noch einiger, ungebrochener Beliebtheit erfreuen. Dementsprechend dünn fällt die essayistische und germanistische Beschäftigung mit Dürrenmatt aus.

Vor diesem Hintergrund muss Peter Rüedis Buch über Dürrenmatt gelesen werden, das vom Verlag wohl aus Hilflosigkeit mit dem phantasielosen Etikett Biographie gekennzeichnet worden ist, die damit verbundenen Erwartungen aber nur unvollkommen erfüllt. Sicherlich handelt es sich auch um eine – unvollständig bleibende – Biographie, vielmehr ist es aber ein weit ausholender Essay über Dürrenmatts Werk, der in der bisherigen Literatur über den Autor, wenigstens soweit ich sehe, völlig einzig dasteht. Für Rüedis Lektüre der Werke sind zwei Aspekte zentral: Er analysiert das Werk in weiten Teilen als das eines Christen, der sich Zeit seines Lebens mit dem Glauben seines Vaters auseinandergesetzt hat, und er liest Dürrenmatt wesentlich von der Selbstreflexion der späten »Stoffe« her. Während der erste Aspekt in der Literatur zu Dürrenmatt traditionell breit vertreten ist, scheint der zweite, besonders so, wie er bei Rüedi erscheint, die Möglichkeit einer grundsätzlichen Neuentdeckung und -bewertung Dürrenmatts zu eröffnen. Wenn Dürrenmatt als deutschsprachiger Autor überhaupt eine Zukunft – im Sinne eines Klassiker des 20. Jahrhunderts – hat, so wird sie hier begründet. In diesem Sinn ist Rüedis Buch wahrscheinlich der wichtigste Text der überhaupt bislang über Dürrenmatt geschrieben wurde.

Trotz dieser im Gesamturteil überwiegenden positiven Einschätzung sollen die schwerwiegenden Schwächen des Textes nicht unterschlagen werden: Das Buch macht einen durch und durch unfertigen Eindruck. Rüedi scheint nicht die Kraft oder Übersicht gehabt zu haben, die mehr als 730 Textseiten zu irgendeiner Form von Abrundung oder zu einem Abschluss zu bringen. Der biographische Anteil bleibt wesentlich in den 50er Jahren stecken; zwar werden auch die späteren Jahre erwähnt, aber ihre Behandlung bleibt im Gegensatz zu den ersten gut fünfzehn Nachkriegsjahren flüchtig und oberflächlich, fast als handele es sich um den ersten Teil einer deutlich umfangreicher konzipierten Biographie, die dann unter dem Druck der Ökonomie oder auch der Zeit gewaltsam zu einem Ende gebracht wurde.

Auch beim essayistischen Gehalt bleiben wesentliche Desiderate: Bestimmte Stücke werden gar nicht oder nur marginal behandelt, so etwa »Frank der Fünfte«, zu dem nur das Schlagwort Shakespeare fällt, oder das wichtige, späte »Achterloo«, mit dem Dürrenmatt entgegen seinen Plänen doch noch einmal zur Bühne zurückkehrt und die Irrenhaus-Metapher, die sich durch das gesamte Werk zieht, einmal mehr durchspielt. Was die Dramaturgie angeht, ist es schade, dass »Das Sterben der Pythia« offenbar unterschätzt wird. In diesem einen Stück hätte Rüedi viele wichtige Themen, Motive und Vorbilder der Dürrenmattschen Dramaturgie beieinander gehabt: Shakespeare, Wedekind und Brecht, die Gegenbildlichkeit von Tragödie und Komödie, die Dramaturgien vom Stoff und von der Idee her, sie alle lassen sich an diesem kurzen Stück Prosa exemplarisch vorführen und analysieren.

Was vollständig fehlt, ist ein literarhistorischer Horizont: Zwar gibt es Auseinandersetzungen mit Frisch – dessen schwieriges Verhältnis mit Dürrenmatt Rüedi bereits an anderer Stelle ausführlich gewürdigt hat – und Brecht, aber es findet sich auch nicht der kleinste Ansatz, Dürrenmatt in den Kanon der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Nirgends wird zum Beispiel »Der Tunnels« mit den Romanen des französischen Existenzialismus in Beziehung gesetzt, obwohl hier wie dort die Wirkung Kierkegaards und Nietzsches mit Händen zu greifen ist. Nirgends werden Dürrenmatts Stücke in der Geschichte des deutschen oder gar des europäischen Dramas (Sartre, Ionesco, Beckett) verortet. Auch die sehr spezifische Sprache der Bühnenfiguren Dürrenmatts, ihr verknapptes,karges, emotionales und zugleich distanziertes Sprechen wird nur an einer Stelle kurz erwähnt, der Versuch einer Analyse unterbleibt aber. Das alles mag vielleicht verzeihlich erscheinen, da Rüedi offensichtlich ohnehin zu viel für die ihm zur Verfügung stehenden Seiten zu sagen hatte, ein Mangel bleibt es dennoch.

Doch auch entgegen allen Einwänden ist zu betonen, dass dies wahrscheinlich das Wichtigste Buch über Dürrenmatt ist, das bislang erschienen ist, und es steht zu befürchten, dass dies auch lange so bleiben wird. Ein Muss für jeden, der sich ernsthaft mit der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt.

Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Zürich: Diogenes, 2011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 960 Seiten. 28,90 €.

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit

Alfred Denker liefert eine »Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger« als Vorarbeit einer umfassenden, dreibändigen Biografie, deren Erscheinen er bereits auf der ersten Seite der einleitenden Bemerkungen androht. Ob wir darauf sehr gespannt warten sollten, ist angesichts von biographischen Plattitüden wie etwa der folgenden eher fraglich:

Freilich übte er [Martin Heidegger] auf Frauen eine fast magische Anziehungskraft aus. Der Eros war in vielfacher Hinsicht bestimmend für sein Leben und Werk und funkelte aus seinen Augen!

»Und ach! sein Kuß!«

Zum Glück verschont uns das vorliegende Buch über weite Strecken mit solch enthusiastischen Einsichten in das Leben Martin Heideggers und konzentriert sich auf seine Philosophie. Das macht die Sache aber nur bedingt besser. Denn während rein sachlich die Darstellung der Denkentwicklung Heideggers (zumindest mich) zu überzeugen vermag, weist das Buch insgesamt doch schwere Mängel auf, die ich im folgenden etwas ausführlicher ansprechen werde. Hinzukommt die Frage, ob die Darstellung als Einführung geeignet ist. Nun besteht ein grundsätzliches Problem philosophischer Einführungen darin abzuschätzen, welche Voraussetzungen sie beim Leser machen können. Dies wird im Fall Heideggers zusätzlich dadurch erschwert, dass seine Philosophie extrem hohe Zugangshürden setzt: Nicht nur hat sie umfangreiche inhaltliche Voraussetzungen (der Leser Heideggers sollte idealerweise nicht nur gute Kenntnisse der antiken Philosophie von den Vorsokratikern bis Aristoteles mitbringen, sondern sollte sich auch grundlegend in der Scholastik auskennen, umfänglich Nietzsche und Kierkegaard gelesen haben und sowohl mit der Phänomenologie Edmund Husserls als auch dem neukantianischen Ansatz Emil Lasks vertraut sein), sondern der Einstieg wird zudem durch die Terminologie Heideggers erschwert, der nicht nur den Gebrauch traditioneller philosophischer Begriffskonzepte bewusst vermeidet, sondern oft auch einzelne philosophische Begriffe inhaltlich neu fasst oder gleich durch Neologismen ersetzt. Wenn es ohnehin häufig so ist, dass der Laie philosophische Texte erst zu verstehen beginnt, wenn er bereits weiß, was sie sagen, so gelingt ihm das im Falle Heideggers oft nicht einmal dann. Für denjenigen, der eine Einführung in das Denken Martin Heideggers liefern will, kommt als Schwierigkeit hinzu, dass sich Heideggers Gedanken zwar im Ungefähren paraphrasieren lassen, eine exakte Darstellung aber in den meisten Fällen von der Verwendung der heideggerschen Wortwahl abhängig bleibt. Und so ist eine Einführung in Heideggers Denken alles andere als eine einfache Aufgabe.

Angesichts dieser Schwierigkeiten zielt Denkers Darstellung offenbar auf ein akademisch vorgebildetes Publikum. Auch Denker gelingt es nicht, sich vom Jargon Heideggers zu lösen und zu einer terminologisch einfacheren und klareren Formulierung der Position zu gelangen, die nicht nur dem Charakter einer Einführung angemessener wäre, sondern auch die dringend notwendige kritische Durchdringung der heideggerschen Metaphysik ermöglichen würde. Stattdessen liefert er eine – soweit ich das beurteilen kann – zwar sachlich einwandfreie, bis auf Details aber unkritisch bleibende Wiedergabe der heideggerschen Denkentwicklung. Dies wird denn auch programmatisch formuliert:

In der Öffentlichkeit hat sich das Bild Heideggers in den letzten Jahrzehnten von einem großen Denker in eine unsympathische und fragwürdige Figur und einen philosophischen Scharlatan gewandelt. […] Es ist meines Erachtens Zeit, endlich Widerspruch einzulegen.

Doch auch wenn der Leser alle diese Voraussetzungen als mehr oder weniger unvermeidlich akzeptiert, bleiben, wie bereits gesagt, schwerwiegende Einwände gegen Denkers Buch: Der grundsätzlichste Einwand dürfte der sein, dass Denker an keiner Stelle versucht, Heideggers Philosophie zur historischen Gesamtentwicklung des 20. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Zwar findet sich Heideggers Auseinandersetzung mit Karl Jaspers in einiger Breite, aber alle anderen philosophischen Ansätze, auf die Heidegger nicht selbst unmittelbar reagiert hat, fehlen. Weder wird Heideggers Denken in den Rahmen der allgemeinen Existenzphilosophie des vergangenen Jahrhunderts eingestellt, noch wird sein Denken in Zusammenhang mit oder Gegensatz zu Positivismus, Pragmatismus, Sprachphilosophie oder Wissenschaftstheorie gebracht, von nichtphilosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen ganz zu schweigen. An einer einzigen Stelle erscheint einmalig das Wort »Quantenphysik« und dies auch nur, um deren Weltbild als »unvorstellbar« zu qualifizieren. Denkers Einführung bleibt hier ebenso wie ihr Gegenstand in einem wesentlichen Sinne provinziell: Die Welt bleibt außen vor, man bewegt sich nahezu ausschließlich in den selbstgeschaffenen bzw. nachgestellten Beziehungen.

Doch auch in dieser Provinzialität ließe sich von Denker ein deutlich kritischerer Abstand zur heideggerschen Position erwarten: Zwar kann er sich dazu durchringen, Heideggers Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus explizit als »Versagen« zu kennzeichnen, doch sieht er dieses Versagen nicht im vollständig mangelhaften Wirklichkeitsbezug Heideggers oder der Unmenschlichkeit seines Verhaltens, sondern »darin, dass er den eigenen methodischen Ansprüchen nicht gerecht wurde.« Dass dies vielleicht ein schlechtes Licht auf eine Methode werfen könnte, wenn sie in Zeiten der Not und Notwendigkeit zu solchem Verhalten führt, spielt in Denkers Überlegungen keine Rolle. Daher wird Heideggers Antisemitismus zwar nicht verschwiegen, aber er wird auch nicht groß thematisiert. Stattdessen erfahren wir ausführlich von Heidegers »misslungenem Versuch von 1933, das deutsche Volk zu einem metaphysischen Volk zu erziehen«. Weder hier noch an anderen Stellen findet sich ein angemessenes Wort über die Hybris Martin Heideggers.

Absurde Züge nimmt dieser Mangel an Distanz dann bei der Wiedergabe von Heideggers Äußerungen zur Kunst an. Denker scheint jeglicher Sinn dafür zu fehlen, um was für einen hochtrabenden Unfug es sich dabei handelt. Sind Heideggers Interpretationen einzelner Kunstwerke, so willkürlich und sachlich unbedarft sie auch sein mögen, sicherlich diskussionsfähig, so ist die auf diesem ganz schmalen Brett erstellte heideggersche Kunstauffassung von einer Borniertheit und Ignoranz, wie sie selten anderswo zu finden sein wird. Denker scheint Heideggers Gedanken über Kunst ohne jegliche Ironie gelesen zu haben. Dies scheint mir nur möglich zu sein, wenn man vom Phänomen der Kunst, insbesondere der Kunst des 20. Jahrhunderts, ebenso weit entfernt lebt wie der Meßkirchner Meister.

Und selbst bei der Darstellung der Spätphilosophie gelingt es Denker nicht, sich vom Faszinosum Heideggers zu befreien. Statt nach seiner endlich doch noch erreichten Einholung des Denkhorizonts Nietzsches die einzige verbleibende Konsequenz zu ziehen und endlich das Reden dort einzustellen, wo nichts mehr zu sagen ist, berauscht sich Heidegger auch weiterhin am eigenen Wort, um nahtlos zu einer neuen Metaphysik des Seyns überzugehen, die jetzt allerdings den unüberbietbaren Vorteil hat, ihre unausgesprochenen Voraussetzungen nicht mehr rational ausweisen zu müssen, da sich angeblich alle Rationalität im historischen Gang der Metaphysik inzwischen selbst terminiert habe. Die Vollendung der Metaphysik ist zugleich die Befreiung zur Neubegründung des philosophischen Geschwätzes aus dem Geist der Vorsokratik unter der Marke »Besinnung«. Das eine wird von der Erfahrung der Wirklichkeit so wenig berührt wie das andere.

Man muss Denker zugestehen, dass er alles Notwendige bereitstellt, um den Leser zu dieser Einsicht gelangen zu lassen, und sich zugleich glücklich dem Formulieren dieser Einsicht entzieht. Er bleibt in der heideggerschen Provinz und erklärt sie zur Welt des Eigentlichen und damit zur eigentlichen Welt. In diesem Sinne kann Denkers Buch als eine nützliche Hilfestellung zur Erledigung der heideggerschen Philosophie gelesen werden: Es ist gut, dies einmal angeschaut zu haben; kehren wir nun zur Realität zurück.

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Bedruckter Pappband, 238 Seiten. 22,95 €.

James Wood: How Fiction Works

A great deal of nonsense is written every day …

978-1-845-95093-4Da gerade die deutsche Übersetzung dieses in der englischsprachigen Welt nahezu durchweg positiv besprochenen Büchleins erschienen ist, habe ich mir endlich einmal das Original besorgt und angelesen. Wood selbst stellt seine Einführung in die Belltristik in eine Reihe mit Ruskins »The Elements of Drawing« (1857); es scheint also für alle jene geschrieben, die zwar die Literatur lieben, aber wenig Bewusstsein für ihre Gemachtheit besitzen. Von daher gehöre ich eher nicht zur Zielgruppe des Autors, und ich sollte mich vielleicht eines Urteils gänzlich enthalten. Da nun aber zumindest einige Leser hier ebenfalls nicht zur Zielgruppe gehören, mögen wenigstens diese gewarnt sein und Zeit und Geld sparen.

Ich habe mich bei der Lektüre gehörig gelangweilt, da ich weder originelle noch sonst überraschende oder erhellende Gedanke finden konnte. Die zweite Hälfte habe ich denn auch nur noch kursorisch angeschaut, und die Lektüre dann schulterzuckend abgebrochen. Damit soll nicht gesagt sein, dass das Buch für den Normal-Leser nicht anregend sein kann. Die meisten Leser begegnen einem fiktionalen Text in der Regel wie einem Naturereignis. Nur wenige machen sich bewusst, dass in einer Fiktion jedes einzelne Detail auf einer bewussten oder unbewussten Entscheidung des Autors beruht, dass jedes einzelne Detail auch anderes hätte ausfallen können – natürlich oft mit weitreichenden Folgen für den gesamten Text.

Es ist sicherlich so, dass Wood die Grundelemente, die die Erscheinung und das Gelingen eines Textes bestimmen (so etwa Erzählperspektive, grammatikalische und ontologische Zeit, Bestimmtheit oder Vagheit, Charakterbildung und Sprache), kurz und prägnant anreißt. Dabei verzichtet er sowohl auf jeden systematischen Balast als auch auf akademische Sprache und Gestus. Er plaudert in kürzeren und längeren Abschnitten über das, worauf man beim Lesen achten könnten, liefert zahlreiche Beispiele aus der gehobenen Literatur, die er zumeist angemessen erläutert. Hier und da zuckt der professionelle Leser auch einmal zusammen, weil Wood deutlich zu kurz greift, aber so richtig falsch gerät es an keiner Stelle; so richtig richtig aber eben auch nicht.

James Wood: How Fiction Works. London: Vintage, 52009. Broschur, 194 Seiten. 10,– €.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa?

978-3-446-20963-3Kleine, aber höchst nützliche Aufsatzsammlung zu Fernando Pessoa, die auch zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit diesem Autor sehr geeignet ist. Die meist kurzen Aufsätze sind thematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin sortiert: Es beginnt mit einer recht ausführlichen Darstellung von Pessoas Leben und Werk, gefolgt von einer Übersicht über die Heteronyme und ihre Werkanteile, Porträts einiger der Dichterpersönlichkeiten,  die Pessoa in sich erzeugt hat, und geht schließlich zu spezielleren Fragen über. Und obwohl Tabucchi Literaturwissenschaftler ist, sind diese Aufsätze frei von Jargon und theoretischem Gehabe. Ergänzt wird das Büchlein durch eine kleine Auswahl von Texten Pessoas, auf die in den Aufsätze Tabucchis Bezug genommen wurde.

Alles in allem ein musterhaftes kleines Büchlein, das einen schnellen und kompetenten Zugang zum Werk dieses anspruchsvollen, portugiesischen Schriftstellers eröffnet.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa? Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1992. Broschur, 156 Seiten. 14,90 €.

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand

978-3-458-17452-3 Worauf man sich wahrscheinlich mit den meisten ernsthaften Shakespeare-Lesern würde einigen können, ist, dass uns die Person des Stratforder Kaufmanns, der angeblich der Autor von Shakespeares Werken sein soll, nicht wirklich überzeugt. Andererseits werden die meisten im selben Atemzug einwenden, dass es um die anderen Kandidaten nicht so sehr viel besser bestellt ist.

Allerdings wird seit etwa 90 Jahren ein möglicher Autor von Shakespeares Werken diskutiert, der alle Eigenschaften in sich vereint, die uns notwendig erscheinen, um das Genie Shakespeares zu erklären: Er ist Adeliger und Höfling, er hat eine breite höhere Bildung genossen, er hat Frankreich und – was wichtiger ist – Italien bereist, in seiner Bibliothek fanden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit all jene Bücher, die Shakespeare gelesen haben sollte etc. pp. Es handelt sich um Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford, geboren 1550, gestorben 1604, Lebemann, Frauenheld, stets tief verschuldet, lange Zeit in London und am Hofe Elizabeth I. lebend und nachweislich Autor diverser Gedichte, die er unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte. Auch war er fraglos der Theaterwelt seiner Zeit verbunden – nur, ob er der Autor von Shakespeares Werken war, scheint fraglich.

Kurt Kreiler, der sich seit längerem darum bemüht, den Autor Edward de Vere dem deutschen Publikum nahe zu bringen, hat nun die erste umfangreiche deutschsprachige Biografie über ihn vorgelegt. Das Buch muss in zweierlei Hinsichten betrachtet werden: Zum einen als Biografie eines elisabethanischen Autors, zum anderen als Kampfschrift zur Shakespeare-Frage. Was die biografische Seite angeht, so ist Kreiler zu attestieren, dass er ein beeindruckender Kenner des Lebens und der Lebensumstände de Veres ist. Wie auch im Falle des Stratforder Shakespeares ist die Quellenlage gemessen an heutigen Vorstellungen eher dünn. So greift auch Kreiler zu dem üblichen Trick der Biografen, fehlende persönliche Details durch allgemeine Historie zu ersetzen. Dabei wird unvermeidlich vieles erzählt, was man eventuell bereits anderswo gelesen hat. Andererseits finden sich bei Kreiler auch immer wieder interessante Einzelheiten. Nur als Biografie betrachtet ist das Buch verdienstvoll und lesenswert.

Natürlich würden sich nur sehr wenige Leser für Edward de Vere interessieren, wenn nicht die These im Raum stünde, er habe Shakespeares Werke verfasst. Kreiler vertritt diese These geschickt, indem er deutlich macht, dass der Autor der »italienischen Stücke« seine Kenntnisse nicht aus einer auch noch so breiten Lektüre gewonnen haben kann, sondern höchstwahrscheinlich Italien bereist haben muss. Da sich eine solche Reise nicht in das Leben des Stratforder Kaufmanns hinein konstruieren lässt, erscheint er schlicht als unzureichende Persönlichkeit. De Vere dagegen hat die Vorzüge, die wir Shakespeare zuschreiben möchten: Er hat Italien selbst besucht, kennt die meisten Orte, an denen die Stücke spielen, aus eigener Anschauung, könnte all jene Kenntnisse, die Shakespeare nicht aus den Büchern seiner Zeit hätte extrahieren können, vor Ort in sich aufgenommen haben usw.

Das Bild ist verführerisch, nur ist es eben ein Bild und kein Beweis und sei es nur einer mittels Indizien. Denn leider ist die uns suggerierte Alternative zwischen einem Stratforder Stubenhocker einer- und einem weltmännischen Earl andererseits künstlich. Warum sollte ein Shakespeare allein auf Lektüre angewiesen sein, um die entsprechenden Kenntnisse zu erwerben? Was hinderte ihn daran, sich mit Italienreisenden, wenn nicht sogar mit Italienern selbst zu unterhalten? Das Problem der Shakespeare-Frage besteht nicht darin, den Unbekannten aus Stratford durch einen attraktiveren Autor zu ersetzen, sondern darin, dass wir über die Person Shakespeares und seine Arbeitsweise kaum konkretes, durch Quellen belegtes Wissen haben. Daher kann jeder das Bild malen, das zu seiner eigenen Theorie am besten passt.

So verweist Kreiler etwa auf das Stück The Jew, das bereits 1579 von Stephen Gosson erwähnt wird. Kreiler schreibt:

Gossons Beschreibung läßt aufhorchen: »Es handelt von der Gier derer, die Weltliches wählen, und von der blutdürstigen Gesinnung der Wucherer.« […]

Kein Zweifel: Gosson bezieht sich mit dem Wort »the greedinesse of wordly chusers« auf die Kästchen-Szene und mit »bloody minders of Usurers« auf die blutdürstige Gesinnung Shylocks in The merchant of Venice. [S. 214]

Kein Zweifel? Gleich im nächsten Absatz formuliert Kreiler selbst den ersten Zweifel, in dem er einräumt, es könne zu Shakespeares Der Kaufmann von Venedig ein Vorläufer-Stück gegeben haben, auf das sich Gosson bezieht und von dem das Shakespeare-Stück eine Bearbeitung darstellt. Das wäre zu Shakespeares Zeit kein ungewöhnliches Vorgehen und ist auch schon für andere Stücke unterstellt worden. Und geht es denn bei Shakespeare tatsächlich um das, was Gosson behauptet oder ist dessen Beschreibung nicht eher sehr oberflächlich? Und stammt diese Oberflächlichkeit daher, dass Gosson das Stück nur unvollständig verstanden hat oder gar nur vom Hörensagen her kannte, oder daran, dass es sich eben nicht um Shakespeares Stück handelt, sondern nur um eine uns nicht überlieferte Vorlage? Kein Zweifel? Ich wenigstens habe da noch erhebliche, ganz zu schweigen von Kreilers im Anschluss vorgenommener sogenannter Datierung von Shakespeares Stück, in der er ohne weiteres Portia mit Elizabeth I. gleichsetzt, um anschließend einfach Portias Freier mit denen Elizabeth’ zu identifizieren. Da wird der »neapolitanische Prinz« des Stücks als Don Juan d’Austria identifiziert, da der sich als Admiral in Neapel aufgehalten habe, was an sich schon fabelhaft genug wäre, was aber völlig unsinnig wird (und Kreiler weiß dies auch), wenn man sich Don Juan d’Austria als Bewerber um die Hand der Königin vorstellen soll. Derartige Holzwege der Spekulation sind leider typisch für alle Alternativtheorien und eben auch für Kreilers Buch.

Dass man mich richtig versteht: Edward de Vere ist eindeutig der beste Kandidat, der bislang als Autor für Shakespeares Stücke vorgeschlagen wurde. Er wäre eine sehr elegante und in vielen Einzelheiten passende Lösung der Shakespeare-Frage, so viel eleganter und passender als der Stratforder Kaufmann, dass das allein zu genügen scheint, die These stark zu machen. Nur ist das allein eben noch kein Beweis der Tatsache, sondern höchstens die Grundlage für eine Glaubensgemeinschaft.

Schauen wir uns noch kurz an, was gegen die de-Vere-These spricht und wie Kreiler damit umgeht: Was Kreiler selbstverständlich nicht lösen kann, ist die Frage, warum alle Zeitgenossen de Veres, die wussten, wer sich hinter dem Pseudonym Shakespeare versteckte, geschwiegen haben bzw. sich einzig in Anspielungen ergingen, die nur mit detektivischem Spürsinn zu enträtseln sind. Während man Freunden und Angehörigen de Veres noch als Motiv unterstellen kann, dass sie das für sie Offensichtliche aus Gründen der Standesehre verschwiegen haben, bestand für die Gegner und Feinde de Veres – und solche hatte er hinreichend – keinerlei Grund für eine solche Zurückhaltung. Aber selbst nach de Veres Tod findet sich keine einzige Quelle, die Shakespeare und de Vere eindeutig und klar miteinander identifiziert. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass alle derartigen Quellen verloren gegangen sind – was immer noch wahrscheinlicher ist als die Annahme, sie hätten niemals existiert –, aber glaubhaft ist das nicht. Hier ist der Punkt, wo die de-Vere-These an Verschwörungstheorien grenzt, was eher gegen als für sie spricht. Natürlich kann Kreiler diesen Eindruck nur abzuschwächen versuchen, aufheben kann er ihn nicht.

Das größere Problem stellt aber der Tod de Veres im Jahr 1604 dar. Da die akademische Shakespeare-Forschung ihren Autor noch mindestens acht, wenn nicht gar zehn Jahre nach diesem Datum aktiv sein lässt, muss Kreiler eine weitgehend veränderte Chronologie der Stücke entwickeln. Nach dem Motto »Wo gehobelt wird, fallen Späne« wird dabei einmal mehr Perikles, Fürst von Tyrus für unecht erklärt; Cymbeline und Das Wintermärchen werden aufgrund dünner Indizien deutlich vordatiert. Die eigentliche Crux stellt aber Der Sturm dar: Hier geht die Forschung davon aus, dass das Schiffsunglück zu Anfang des Stücks angeregt wurde von den Berichten über das Scheitern der Sea-Adventurer auf den Bermudas im Jahr 1609. Allgemein wird angenommen, der Autor des Stückes habe neben zwei Buchveröffentlichungen aus dem Jahr 1610 auch einen Brief gekannt, der 1610 geschrieben, aber erst 1625 abgedruckt wurde. Kreiler wendet ein, dass zum einen auch andere Quellen die entsprechende Vorlage geliefert haben könnten und dass zum anderen Der Sturm bereits 1605 in Eastward Ho! parodiert worden sei. Das alles geschieht auf einer halben Seite (vgl. S. 548).

Ein wenig mehr erwarte ich hier schon: Zumindest müsste man mir vorführen, was die früheren Deuter an Übereinstimmungen zwischen dem Stück und den Vorlagen (von denen Kreiler selbst nur eine erwähnt) gefunden haben bzw. nicht gefunden haben. Und auch die angebliche Parodie hätte ich gerne vorgeführt bekommen, anstatt mich mit der blanken Behauptung bescheiden zu müssen. Nicht, dass ich ohne Augenschein anderen Forschern von Haus aus mehr glauben würde als Kreiler; ihm glaube ich aber eben auch nicht.

Alles in allem ein interessantes und über Strecken informatives Buch, das die Vorteile der ohnehin starken Theorie der Autorenschaft de Veres an Shakespeares Werken deutlich herausarbeitet, aber aufgrund des unvermeidlich spekulativ bleibenden Ansatzes auch nicht über den Status einer Glaubensfrage hinausheben kann. Die Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die These bleibt insgesamt dünn, was den Verdacht erregt, Kreiler habe keine schlafenden Hunde wecken wollen. Meine Position zur Shakespeare-Frage wurde durch die Lektüre nicht verändert: Es wäre nett, wenn sich die Autorenschaft de Veres nachweisen ließe, doch bis auf weiteres sollten wir annehmen, dass die Werke Shakespeares weder von ihm noch von dem Stratforder Kaufmann geschrieben wurden, sondern von einem Mann, der ungefähr zur selben Zeit lebte und Shakespeare hieß, über den wir aber sonst gar nichts wissen.

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand. Edward de Vere, Earl of Oxford. Frankfurt/M.: Insel, 2009. Pappband, 595 Seiten. 29,80 €.

Philipp Theisohn: Plagiat

978-3-520-35101-2 Eine Geschichte des Plagiats, nicht der Plagiate. Natürlich werden auch klassische und moderne Fälle von Plagiaten behandelt, doch das Buch stellt im Wesentlichen die Entwicklung des Begriffs und der Funktion des Plagiats von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart dar. Die Darstellung scheint für alle Epochen souverän und auf der Höhe des Gegenstandes zu sein. Dabei erscheint als Gegenstand nicht ein objektiver Tatbestand, der als Plagiat zu identifizieren wäre, sondern das Plagiat erweist sich seit den Anfängen der schriftlichen Literatur im Kern als Plagiatserzählung, also die Behauptung und Darstellung des Plagiats entweder durch den, der sich bestohlen glaubt, oder durch den, der meint, einen Dieb gestellt zu haben. Der Plagiatserzählung steht einerseits die Einsicht entgegen, dass es sich bei Literatur erfahrungsgemäß nahezu immer um Plagiate handelt und dass andererseits Plagiatserzählungen nur in den wenigsten Fällen ein objektiver Tatbestand entspricht, der diese Erfahrung überschreitet. So erscheint die Plagiatserzählung in vielen Fällen als nichts anderes denn die Ausstellung der unvermeidlichen Partizipation eines Werks am Bestand der Literatur.

Diese Spannung zwischen dem individuellen Werk und der Referenz des literarischen Horizonts wird in unterschiedlichen Epochen auf sehr verschiedene Weise genutzt bzw. scheinbar aufgelöst. Die historische Entwicklung dieser Lösungen ist es, was Theisohns Literaturgeschichte darstellt. Theisohn ist dabei, wenigstens soweit ich es beurteilen kann, immer auf der Höhe der verhandelten Epoche und ihm gelingen – im Gegensatz zur Behauptung des Untertitels des Buchs – an vielen Stellen durchaus originelle und anregende Einzelinterpretationen. Auch seine Paraphrasen poetologischer und theoretischer Konzepte sind klar, ohne im Anspruch nachzugeben. Eine anspruchsvolle und anregende Lektüre, für die eine grundlegende Kenntnis der Tradition der westlichen Literatur eine hilfreiche Voraussetzung ist.

Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner, 2009. Leinen, 577 Seiten. 26,90 €.